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MEHRWERT

GESCHICHTEN DES KRIEGES UKRAINISCHE FAMILIE FÄNGT IN KEMPTEN EIN NEUES LEBEN AN Blick auf Kiew vor dem Krieg

von Jasmin Kaiser Am 24. Februar 2022 hält die Welt den Atem an. Was sich kaum jemand in der heutigen Zeit hätte vorstellen können, wird zur Wirklichkeit: Krieg in Europa. Der russische Befehlshaber Wladimir Putin greift mit einem groß angelegten Militäraufgebot die Ukraine an. Die ganze Welt ist in Schockstarre und in der Ukraine wird es dunkel. Hunderttausende Menschen werden verletzt, sterben oder müssen ihre geliebte Heimat verlassen. Auf der Suche nach Schutz flüchtet der Mathematik-Professor Volodymyr Shramenko mit seiner vierköpfigen Familie. In Kempten haben sie eine neue Heimat gefunden; obwohl ihnen hier nicht nur Gutes begegnet, fühlen sie sich endlich wieder zuhause. Der 45-jährige Familienvater hat uns seine Geschichte erzählt. „Meine Frau und ich stammen aus Donezk, einer Stadt, die bereits seit 2014 von Russland besetzt wird. Wir wissen also, wie es ist, seine Heimat, sein bisheriges Leben zu verlassen und neu anzufangen. Viele unserer Bekannten spürten damals bereits, dass das, was 2014 begann, weitergehen würde, und zogen nicht von einer Stadt zur anderen, sondern verließen direkt das Land. Wir allerdings wollten nicht gehen, sondern kauften eine Wohnung in Kiew, bekamen drei wunderbare Kinder und reisten viel. Meine Frau arbeitete als Eventmanagerin und ich als Mathematik-Professor an der Universität. Alles war gut – bis zum Frühjahr 2022. Wir hatten großes Glück, dass wir eine Woche vor Kriegsbeginn Kiew verlassen konnten, um in unserer Zweitwohnung in den Karpaten unterzutauchen. Am Morgen des 24. Februar erfuhren wir die schreckliche Nachricht, dass der Krieg begonnen hatte und dass fast das gesamte Gebiet der Ukraine unter Raketenbeschuss stand. Nur wenige Tage später waren bereits einzelne Gruppen russischer Soldaten in Kiew eingedrungen. Ich sah Bilder von ausgebrannten Militärfahrzeugen vor meiner Universität, wir standen unter Schock und wussten nicht, was wir tun sollen. Die Hauptautobahn stadtauswärts war blockiert und das russische Militär hatte bereits viele Zivilisten erschossen, die versuchten, die Stadt zu verlassen. Meine Freunde aus Kiew schafften es trotzdem zu uns und schlugen vor, dass wir gemeinsam zu Verwandten nach Deutschland flüchten. Wir woll-

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ten nur die Kinder in Sicherheit bringen. An der slowakischen Grenze verbrachten wir über drei Tage im Auto. Ohne Geld konnten wir nur auf die Unterstützung von Freunden zählen, die seit vielen Jahren als Wissenschaftler und Programmierer in Europa arbeiten. Ich erinnere mich an den Moment, als wir über die ukrainische Grenze fuhren; das einzige positive Gefühl, das ich spürte: meine Kinder, meine Frau und ich waren in Sicherheit. Alles andere war Angst und ein Gefühl der Unwirklichkeit.

„WIR WAREN SCHOCKIERT UND GERÜHRT, DASS MAN UNS GELD ZUM LEBEN GIBT. ICH ERINNERE MICH, DASS MIR DIE TRÄNEN KAMEN.“ Unsere Bekannten in Kempten halfen uns, eine Unterkunft beim Sozialamt zu beantragen. In der Warteschlange trafen wir Menschen aus Charkiw, Odessa, Nikolajew, Mariupol und vielen anderen Städten. Jeder hatte seine eigene Geschichte zu erzählen. In der Nähe spielten Kinder auf dem Spielplatz und an den Tischen eines Cafés tranken die Leute Kaffee und Prosecco Aperol. Das ‚normale‘ Leben um uns herum begann uns langsam wieder zu wärmen. Wir waren schockiert und gerührt, dass man uns Geld zum Leben gibt. Ich erinnere mich, dass mir die Tränen kamen. Es war das gleiche Gefühl wie als wir drei Tage lang in einer Schlange an der Grenze standen und Fremde uns Essen und heißen Tee brachten. Es zeigte sich, dass es in dieser grausamen Welt einen Platz für Freundlichkeit und Menschlichkeit gibt. Wir waren das erste Mal in Kempten und in Bayern im Allgemeinen. Vorher lebten wir in Großstädten mit großen Entfernungen, Hektik und schlechter Ökologie. Kempten hat alles, was ein schönes Leben ausmacht: den Fluss, Denkmäler, Geschäfte, Cafés und schöne Natur mit beeindruckenden Bergen. Was mir am meisten gefällt, ist, wie gut es unseren Kindern im Allgäu geht. Am tollsten für sie ist der Kindergarten. Sie springen jeden

Das Kemptener Stadtmagazin Ausgabe November/Dezember 2023


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