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Frühe Beziehungsmuster
«Spinne ich, du oder wir beide?»
Oft steckt hinter einem bestimmten Verhalten ein Muster aus der Kindheit.
Warum sind meine Beziehungen, wie sie sind? Psychotherapeutin Stefanie Stahl erklärt, wie uns die Kindheit prägt und wie wir uns von schädlichen Mustern
lösen können. Text: Anne-Sophie Keller
Sie sprechen oft von Altlasten. Sind also unsere Eltern schuld, wenn wir heute Probleme haben? Es geht nicht um Schuldzuweisungen. Aber das menschliche Gehirn ist in der Kindheit noch nicht fertig entwickelt, und in den meisten Fällen sind die Eltern die wichtigsten Bezugspersonen. Somit tragen sie eine grosse Verantwortung. Eine meiner Klientinnen zum Beispiel war als Kind sehr vernachlässigt worden. Sie klagte, sie kenne es gar nicht, jemanden zu vermissen oder richtig zu lieben. Diese Gefühle hatte sie als Kind gar nicht erlebt und somit auch nicht erlernt. Was macht das mit uns? Was man als Kind erlebt, verwebt sich mit der Hirnstruktur, das führt zu einer sogenannten Prägung. Als erwachsener Mensch nimmt man mit diesem geprägten Gehirn die Welt wahr, sortiert Eindrücke, wertet diese aus und agiert entsprechend. So entstehen Muster. Können Sie ein Beispiel machen? Wenn ich als Kind vernachlässigt wurde, läuft das in mein Selbstbild hinein. Man kann nämlich in diesem Alter noch nicht verstehen, dass das Problem vielleicht bei den Eltern liegt – zum Beispiel, dass sie gestresst sind und keine Zeit haben. Also denkt man, es liege an einem selbst, und schlussfolgert, man sei nicht wichtig. Als Erwachsener strengt man sich dann besonders an, um alle Erwartungen zu erfüllen, und ordnet sich unter. Oder man lässt sich nicht auf Beziehungen ein, weil man sich nicht verletzbar machen will. Ist man in diesen Mustern gefangen, läuft man immer wieder in die gleichen Situationen rein. Wie lassen sich solche Muster aufbrechen? Indem man sich mit sich selbst auseinandersetzt. Nur so schafft man die Unterscheidung zwi-
Zur Person
Bestsellerautorin Stefanie Stahl (58) ist eine deutsche Psychotherapeutin, Autorin und Podcasterin. Ihr Buch «Das Kind in dir muss Heimat finden» steht seit 2016 auf Platz 1 der «Spiegel»Jahresbestsellerliste. Mit «Jein!» und «Jeder ist beziehungsfähig» widmete sie sich seit 2008 Beziehungsfragen. Im Oktober 2022 ist ihr neues Buch «Wer wir sind» erschienen.
Die Bücher bei exlibris.ch: www.migmag.ch/stahl
Bild: Susanne Wysocki schen der eigenen Interpretation und dem, was tatsächlich passiert. Man kann dann etwa einordnen, warum man sich in manchen Situationen so unsicher fühlt. Dabei stellt man häufig fest, dass die Empfindungen gar nichts mit der Situation zu tun haben, sondern mit alten Erfahrungen, die man in der Kindheit gemacht hat. Das schafft Distanz zu den Botschaften der Kindheit, und man kann sich weiterentwickeln. Landen wir in Paarbeziehungen wegen solcher Muster so oft bei jemandem, der einen an die eigenen Eltern erinnert? Ja. Ich möchte das wieder am Beispiel einer jungen Frau, nennen wir sie Ellie, erklären. Sie verliebt sich oft in Männer, die emotional so unerreichbar sind, wie ihr Vater es war. Sie hofft – unbewusst – diese von sich überzeugen zu können. So, wie sie damals um die Liebe ihres Vaters gekämpft hat. Das bezeichnet man in der Psychologie als Wiederholungszwang. Ausserdem ist ihr die Situation vertraut. Sie kennt es, um Liebe zu kämpfen. Würde ein Mann sich hingegen emotional auf die Beziehung mit ihr einlassen, dann wäre auf ihrer Seite Vertrauen gefragt – und das wäre etwas völlig Neues und somit auch Beängstigendes für sie. Verfügt jemand wie Ellie überhaupt über die emotionalen Ressourcen, um mit seinen Mustern aufzuräumen? Die meisten Menschen sind dazu fähig, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Und zwar, indem sie lernen, für sich ein paar Dinge zu reflektieren und richtig einzuordnen. Menschen sind entwicklungsfähig. Wenn jemand das aber nicht will, muss man das respektieren und sich selbst abgrenzen. Man kann niemanden zwingen. Sie schreiben vom «gesunden Erwachsenen». Was ist das? Das ist unser vernünftiges Denken: Es kann zwischen der Vergangenheit und der heutigen Realität unterscheiden. Mit Hilfe ihres ErwachsenenIchs kann Ellie verstehen, dass sie heute noch wie das kleine Mädchen agiert, das es allen recht machen will. Diese Erkenntnis ist die Voraussetzung dafür, dass sie an ihrem Verhalten etwas ändern kann. Wie können wir uns von diesen verinnerlichten Glaubenssätzen lösen – etwa, dass man nicht genügt? Wenn Ellie erkennt, dass ihre Glaubenssätze aus der Kindheit stammen, kann sie zu diesen einen kleinen Abstand gewinnen.
In einem zweiten Schritt könnte man die negativen durch posi tive Glaubenssätze ersetzen. Auf der emotionalen Ebene kann sich Ellie klarmachen: «Ich genüge doch, wenn ich mit meinen Freunden zusammensitze!» Das kann man trainieren, wie einen Muskel. Warum bleibt man dennoch so oft in alten Mustern stecken? Weil sie einem auch dienen. Zum Beispiel, indem sie uns vor der schmerzhaften Erkenntnis bewahren, dass die eigenen Eltern vielleicht doch nicht perfekt gewesen sind. Oder man beschützt aktuelle Beziehungen, weil man nicht anerkennen will, dass der Partner das Problem ist. Man denkt dann, man müsse nur an sich selbst arbeiten, dann komme alles gut. Das gibt einem ein Gefühl von Kontrolle. Optimalerweise setzen sich in einer Beziehung beide Parteien mit sich selbst auseinander. Aber ich wage die These, dass Frauen einen grösseren Teil dieser Arbeit übernehmen. Ja, bestimmt. Frauen gehen Beziehungen differenzierter ein und sind tendenziell eher dazu bereit, sich selbst zu reflektieren. Was macht denn eine gesunde Beziehung zwischen zwei gesunden Erwachsenen aus? Dass sich beide selbst gut kennen. Dass sie unterscheiden können, was eigene Anteile sind und warum es für andere manchmal schwierig ist mit einem. Dass Zuneigung vorhanden ist und eine offene Kommunikation stattfindet. Und dass man nicht zu viele Kompromisse eingehen muss. Denn wenn jemand auf Dauer ganz anders tickt, ist das sehr anstrengend Ab wann empfehlen Sie eine Paartherapie? Wenn immer wieder Konflikte auftauchen, die man nicht mehr miteinander lösen kann. Und wenn man trotzdem noch will, dass die Beziehung weiter besteht. In einer Paartherapie kann man auf gut Deutsch gesagt herausfinden: Spinne ich oder du? Oder wir beide? Und wann soll man Schluss machen? Wenn man nicht mehr weiterkommt und es nicht schafft, sich von alten Mustern zu lösen. Oder wenn die Beziehung einen unter dem Strich öfter unglücklich als glücklich macht. MM