Eine inszenierte Abfolge von stadträumlichen Bildern als Strategie zum Erhalt der Stadtidentität
Thesisbuch
Herbstsemester 2021 von Gabriela Shabo
Abstract
Das vorliegende Thesisbuch verbindet das Thesisprojekt mit dem Semesterthema «Lugano – Città in Transizione» und beleuchtet das daraus resultierende Subthema:
STORYBOARD LUGANO
Eine inszenierte Abfolge von stadträumlichen Bildern als Strategie zum Erhalt der Stadtidentität
Komplex fügt sich die Stadt in die unverwechselbare Topografie Luganos ein. Hin und her mäandernde Wegführungen überraschen mit plötzlichen Ausblicken und Esplanaden. Diese bilden die Bühne für die Stadtbevölkerung. Die Vorstellung, Luganos Stadtbühne auf dem Areal Piazza exPestalozzi weiterzudenken und fortzusetzen, bildet die Ausgangslage für diese Arbeit. Die Theorien von Gordon Cullen – Townscape, Das Vokabular der Stadt – und das Essay «Montage und Architektur» von Sergej Eisenstein spielen darin eine wegweisende Rolle. Im Zentrum der Arbeit steht die Frage, wie die Stadtidentität durch eine inszenierte Abfolge von alten und neuen stadträumlichen Bildern fortgeschrieben werden kann.
Das Skizzieren vor Ort, das Fügen von Gross und Klein sowie das Verbinden von Neuen mit Alten wird mittels eines Storyboards vermittelt. Es erzählt die Perspektiven der Protagonisten Paul und Maria. Paul nimmt das zukünftige Areal Piazza exPestalozzi als (Durch-)Reisender wahr, Maria als Bewohnerin des Stadthochhauses.
Thesisbuch Herbstsemester 2021
STORYBOARD LUGANO
Eine inszenierte Abfolge von städträumlichen Bildern als Strategie zum Erhalt der Stadtidentität
Verfasserin
Gabriela Shabo
Neuburgstrasse 9
8840 Einsiedeln SZ
Begleitung Thesisbuch
Dr. Marcel Bächtiger
Begleitung Thesisprojekt
Prof. Luca Deon
Druckerei/Buchbinder
Gegendruck GmbH
Neustadtstrasse 26
6003 Luzern
Lucerne University of Applied Sciences and Arts
HOCHSCHULE LUZERN
Technik & Architektur
Technikumstrasse 21
6048 Horw
Master in Architektur
Herbststemester HS 21
Datum: 18. Januar 2022
1 Prolog Auszug aus meinem Tagebucheintrag
Donnerstag, den 23. September 2021:
«Auf einen Kaffee bei Antonio»
Heute verbrachte ich den Tag in Lugano. Jedes Mal, wenn ich die Alpen und den Gotthard hinter mir lasse, fällt der Ballast, der auf mir lastet, von meinen Schultern. Es ist ein sonniger Tag, die Temperatur wohlig warm, eine dunkle Sonnenbrille schützt meine Augen vor dem vielen Licht.
«Es hat doch ein paar Menschen auf der Strasse», dachte ich, als ich auf dem Weg in Richtung Altstadt flanierte. Lange war es her seit meiner letzten «Bummeltour». Umso grösser war die Vorfreude, in jeden Laden reinzuschauen und «Goodies» mit nach Hause zu nehmen. Neugierig sah ich mich um und fand einen coolen Bücherladen. Ich ging nur kurz hinein; da ich schon viel zu viele Bücher gekauft habe, die ich lesen wollte, bevor ich weitere kaufen würde. Als ich mich weiter umsah, kam Barista Antonio* um die Ecke und fragte, ob ich etwas brauche. Er sah meine Unentschlossenheit und wusste noch vor mir, dass ich wohl einen Kaffee für unterwegs benötige. Typisch, für eine Touristin wie mich.
Antonio meinte, er würde mir «Bella Signora» natürlich nicht einfach so einen Kaffee andrehen. «Die Zeiten seien gerade schwierig», nörgelte er in einem vortrefflich guten Deutsch daher. «Die ganze
Covid-Situation macht den Unternehmern das Leben
schwer. Madonna, niemand weiss, was uns diesen Winter bevorsteht. Vorher lief mein Laden eins A.
Beschweren darf ich mich aber nicht! Ich bin alleine für meinen Betrieb zuständig und wohne gleich über meinem Laden. Andere haben es viel schwerer. Ich konnte ja immer Kaffee und Snacks zum Mitnehmen verkaufen.» Daraufhin fragte ich ihn, wie er der Zukunft entgegenblickt und was er von den neusten Infrastrukturentwicklungen [die neue Tramlinie] in Lugano halte. Erst neulich hatte ich in einer Medienmitteilung des Bundesrats1 darüber gelesen. «Seit dem der Norden und der Süden durch die Bahn näher gerückt sind, gibt es für mich alten Mann keine Grenzen mehr. Ihr Deutschschweizer kommt gerne zu uns runter; das ist nichts Neues. Aber jetzt hat es eine andere Dimension erhalten! Wie schnell ihr bei uns seid und umgekehrt. Lange wurde am Bahnhof gewerkelt und geflickt. Aber ich glaube, jetzt ist es ein angemessener Ankunftsort geworden – einer mit allem Drum und Dran. Schon verrückt, das mit der kleinen Bahn [Standseilbahn Sassellina]. Für Ältere ist es super, damit sie die Topografie besser überwinden können. Aber ich! Ich bin doch ein fitter Mann. Ich liebe diese Wegführungen und Abzweigungen.»
Erschlagen von seinen Erzählungen kam ich kaum zu Wort, blickte stattdessen um die Ecke seines Cafés und denke: Recht hat er. Prompt fügt er hinzu: «Nur die
1 Bundesrat/Bundesamt für Verkehr/Generalsekretariat UVEK (Hrsg.), vom 11.08.2021
Rückseite hinter dem Bahnhof müsste man noch verbessern. Ah, und neben die Tramlinie kommt noch ein Busbahnhof mit Kreiselverkehr. Traffico, Traffico – es ist einfach mühsam hier. Aber die Stadtplaner bekommen das hoffentlich in den Griff. Das ist alles gut und recht, was die da machen, aber sie dürfen uns [die Bewohnenden] nicht vergessen!» ...
*) Antonio ist ein leidenschaftlicher Barista und stolzer Bewohner dieser Stadt. Ich habe ihm versprochen, wann immer ich in Lugano bin, bei ihm auf einen Kaffee vorbeizukommen und weitere spannende Erzählungen von ihm zu hören
2
Ausgangslage: Piazza exPestalozzi
Abb. 3. Lugano, Blickrichtung vom San Salvatore. Bergpanorama, See und der hochgelegene Bahnhof prägen die Stadt.
2.1 Der Ort Lugano
Lugano hat eine spezifische Identität, geprägt durch die markante Topografie, die die urbane mit der natürlichen Landschaft um Lugano verbindet. Umgeben von Bergen und in alte Steinmauern eingebettet liegt die Stadt an einem Hang, am Ufer des Luganersees. Palmen wachsen hier. Der Fluss Cassarate bildet eine Schneise im Flachgebiet. Der hochgelegene Bahnhof wacht über die Altstadt und trennt die Rückseite der Stadt ab. Schnittdarstellungen durch die Stadt Lugano machen sichtbar, was ihr Wesen ausmacht:
Die in die Topografie eingebetteten Plateaus, die Kathedrale San Lorenzo mit ihrem fantastischen Ausblick auf Stadt und See, die Bergflanken des Monte Brè und des Monte San Salvatore.2 Taucht man in die Tiefe der Stadt ein, zeigt sich das ganze Ausmass der gestalteten Topografie. Da werden unterschiedliche Raumanordnungen und komplexe Wegführungen sichtbar; plötzliche Ausblicke auf die Bergpanoramen überraschen. Lugano ist eine Bühne mit unterschiedlichen, sinngenerierenden Raumabfolgen.
Monte San Salvatore 912 m ü M
Abb. 4. Schnitt durch die Topografie von Lugano bis Massagno mit den umliegenden Bergen Monte Brè und Monte San Salvatore
Gemeinde Massagno 352 m ü M
Marine und Alluviale Sedimente Talregionen
1.8 Mio. Jahre - heute
2.2 Ausgangslage Piazza ex Pestalozzi
Die wirtschaftlich wichtige Stadt Lugano entwickelt sich durch mehrere Gemeindefusionen zu einer Schweizer Top-TenStadt. Ihre Einwohnerzahl nähert sich derjenigen der Stadt Luzern. Lugano ist städtischer geworden, tut sich mit der städtebaulichen Entwicklung jedoch schwer. 3
Die freistehenden Villen, die landschaftliche Enge, die Begrenztheit des bebaubaren Bodens und die antreibenden Infrastrukturprojekte, die einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung Luganos nehmen, zwingen die Architekten, die Stadt neu zu denken.
Der südliche Landesteil der Schweiz, das gesamte Tessin, befindet sich heute mitten in einem Wandel. Durch die Fertigstellung der AlpTransit der Bahn bis Lugano nähern sich die Kantonsgrenzen an und die Stadt rückt näher zur Deutschschweiz und zu Mailand (I). Meilensteine des Langzeitprojekts sind die Eröffnung des Ceneri-Basistunnels 2020 sowie der Gotthard-Basistunnel. 4
Durch das Wegbleiben der Industrialisierung blieb zunächst das Bevölkerungswachstum aus . Anstelle einer raumbildenden und dichten Stadt, finden sich in den Talsohlen und an den Steilhängen rund um die Altstadt freistehende Villen für die gehobene Mittelschicht. Der wirtschaftliche Aufschwung durch den Tourismus setzt spät ein, erst ab den
1960er-Jahren. Das hat zur Folge, dass sich das Siedlungsgebiet weit und unkontrolliert ins Hinterland ausbreitet. 5 Die Nachfrage nach Zweitwohnsitzen und das rasche Wachstum des Finanzund Immobiliensektors sorgen dafür , dass die umliegenden Gebiete sich zu Schlafzonen für Pendler entwickelt haben. Parallel dazu entvölkerten sich die Täler. 6 Heute ist die Landschaft in und um Lugano weitflächig zersiedelt.7 Urbane Kultur ist kaum vorhanden. 8 Noch zur Verfügung stehender Raum ist ein beschränktes Gut und der Umgang damit äusserst komplex.
3 FH Zentralschweiz 2021, S. 63 4 werk, bauen + wohnen 2018, S. 5
5 werk, bauen + wohnen 2018, S. 13
6 werk, bauen + wohnen 2018, S. 19
7 FH Zentralschweiz 2021, S. 64
8 FH Zentralschweiz 2021, S. 64
2.3 Projektaufgabe und ihre Besonderheiten
Durch die entstandenen infrastrukturellen Gelenkverbindungen der Bahn erhält das Bahnhofsareal in Lugano eine neue, hohe städtebauliche Bedeutung. Dies eröffnet Chancen für die Stadtgestaltung. In diesem Bahnhof konzentrieren sich die zentralen Kontenpunkte für den Nah- und Fernverkehr des Tessins sowie diejenigen des öffentlichen Verkehrs und des privaten Autoverkehrs der Stadt. Der Bahnhof liegt auf dem im 19. Jahrhundert errichteten Plateau. Er bildet eine Zäsur zwischen der Altstadt und dem Quartier Di Besso, wo sich der Planungsperimeter Areal Piazza exPestalozzi befindet. Der Bahnhof selbst wurde im Zuge einer Grossintervention optimiert und umgestaltet. Seine Rückseite harrt jedoch einer neuen städtebaulichen und architektonischen Absicht .
Wo heute im Areal ein öffentlicher Parkplatz liegt, soll der Planungsperimeter zu einem erweiterten, zentralen Dreh- und Knotenpunkt des öffentlichen Verkehrs gewandelt werden. Oberirdisch – auf der Platzebene des heutigen Parkplatzes – entstehen ein Busbahnhof mit einem neuem Kreiselverkehr, mehrere Abgänge mit Unterführungen zu den Zügen sowie der (tiefste) Abgang, der zu einer unterirdischen Tramstation führt (diese soll gemäss Planung 20299 in Betrieb gehen). Ebenfalls unterirdisch wird eine 9 FH Zentralschweiz 2021, S. 66
Park-and-Ride-Einrichtung die neue Verkehrsinfrastruktur vervollständigen. Die neue Infrastruktur wurde grosszügig angelegt, um die Stadt wirksam zu entknoten. Die definierten infrastrukturellen Parameter und deren umliegende Ränder verlangen nach einer angemessenen Dichte und einer neuen urbanen Ausprägung10 des Quartiers. Sie bilden die Ausgangslage für die Thesisaufgabe.
Die AlpTransit-Bahninfrastruktur und die Ausdehnung der infrastrukturellen Ergänzungen für Bus- und Privatverkehr könnten ein Schlüssel dafür sein, nach innen, zum Zentrum hin zu verdichten. Dies würde der unkontrollierten flächendeckenden Zersiedelung entgegenwirken.
10 FH Zentralschweiz 2021, S. 66
Abb. 8. Luftbild mit den geplanten Interventionen
Potenzial städtebauliche Entwicklung / Richtplan Aufgang II der Unterführung / Piazza ExPestalozzi Milano Altstadt neuer Busbahnhof Aufgang I der Unterführung neuer Kreiselverkehr Zürich Autobahn SUPSI Campus, abgeschlossener Wettbewerbsbeitrag3 Vorgehen und Methode: Stadtgeschichte weiterschreiben
Abb. 9. Brings uf d'Strass. Geschichten und Handlungen werden in den Strassenraum verlegt
Der Stadtraum ist ein Handlungsort des Erleben und der Reflexion.11 Diese haben ihre eigene Physiognomie12, geformt von Gerüchen, einem eigenen Klima und unzähligen Faktoren wie Topografie, Frequentierung durch Auto und Fussgänger, Ausstattung mit Ladengeschäften und Zugang zu öffentlichem Verkehr. Sie bilden einen Raum für Protagonisten wie Bewohnende, Konsumenten, Spaziergänger, Reisende. Jeder Mensch wohnt an einer Strasse, nimmt am Geschehen teil und leistet eine Mitwirkung an der gesellschaftlichen Identität einer Stadt.13 Die Menschen schreiben Geschichten, welche die Stadt prägen und umgekehrt. Es ist eine wechselseitige Beziehung zwischen Menschen und Stadt.
So schreibt Rolf Lindner: «Städte sind keine unbeschriebenen Blätter»14, sondern «narrative Räume, in die bestimmte Geschichten (von bedeutenden Personen und wichtigen Ereignissen), Mythen (von Helden und Schurken) und Parabeln (von Tugenden und Lastern) eingeschrieben sind.»15
Die Stadt fordert uns permanent zur Lektüre auf.16 Sie verlangt von uns
Architekt*innen eine vertiefte Ausein-
andersetzung mit der gebauten Umwelt, deren politischen Geschehnissen sowie den bewohnenden Menschen. Alles zusammen bildet den Stadtraum, machen diesen zu einem Erlebnisraum und Bildungsraum zugleich.
Von der Strasse lernen
Eine lange Zeit war das Lernen von der Strasse tabu. Strassenräume, Bewegungsräume hatten ihren heimlichen Anklang. Strassenkinder galten nach der Kriegszeit in den 1950er-Jahren als vernachlässigt und gefährdet.17 Gewalt, Diebstahl und Misstrauen sorgten dafür, dass der Stadtraum anfänglich nur dem funktionalen Zweck der Fortbewegung diente – bis das Auto und der neue Individualverkehr ab den späten 1950er-Jahren die Städte eroberten. Die neue Erreichbarkeit der Innenstädte und Parkplätze vor den Geschäften, sorgten für eine Wiederentdeckung des Strassenraums und dem Schaffen einer neuen Kultur des Zusammenlebens. Das Leben «Zuhause» wurde allmählich nach draussen verlegt.18
11 Herbert/Samssuli 2014, S.11
12 Herbert/Samssuli 2014, S.18
13 Herbert/Samssuli 2014, S.18
14 Lindner 2008, S.86
15 Lindner 2008, S.86
16 Herbert/Samssuli 2014, S.13
17 Herbert/Samssuli 2014, S.18
18 Herbert/Samssuli 2014, S.18
Abb. 10. Windscheibenspaziergang von Studentierenden. Aus der Perspektive der Autofahrenden.
Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt untersuchte in den 1980er-Jahren die Entscheidungsmechanismen von entscheidungsberechtigten Personen: Wie sie zu ihren Entschlüssen kommen und durch diese auf die Umwelt einwirken.
Die von ihm eingeführte Promenadologie, bekannt als Spaziergangswissenschaft, ist eine von ihm entwickelte Vorgehensweise für Planer*innen und Architekt*innen. Sie ist ein hilfreiches Instrument, um ein anderes Verständnis von Landschaft und urbanem Raum zu erhalten.19
«Entscheidungen des Menschen beeinflussen die Umwelt – die veränderte Umwelt beeinflusst den Menschen. Es ist ein gegenseitiges Spiegelbild.»20 Es bleibt aber nicht beim Wechselspiel zwischen den genannten Parametern. Burckhardt führt eine dritte Instanz ein, die Politik. Den Begriff verstand er als ein Dachbegriff, unter dem sich einflussnehmende Fachleute wie Architekten, Verkehrsplaner und politisch aktive Personen sammeln liessen.
Diese dritte Instanz sorge dafür, dass die Ist-Auffassung der Umwelt bewusster erlebt wird, potenzielle Missstände entdeckt und der Entschluss, diese zu ändern, gefasst werden kann. Die Lösung wirkt auf die Umwelt ein, verändert sie.
In der Stadtplanung sind Verkehrswege, Fussgängerwege und gebaute Architektur prägende Einflussgrössen für die Veränderung. Infrastrukturen, zum Beispiel getaktete Busverkehrsnetzwerke, genormte Wegdurchführungen und ähnliches, müssen ineinander spielen.21 Zahlreiche Veränderungen muss die Stadtbevölkerung oft einfach hinnehmen; dann, wenn die Behörde ihren Einfluss «von oben herab» geltend macht.
19 SRF Kultur Extra 1985
20 SRF Kultur Extra 1985
3.2 Fragestellung und Vorgehen/ Methodik
Aus den unvoreingenommenen Spaziergängen vor Ort gewinne ich die Erkenntnis, dass die Wegführungen und die strukturellen Raumanordnungen der Stadträume eine zusammengesetzte, dramaturgische Kulisse bilden. Den Gedankengang, die Kulisse in einem neuen Planungsperimeter neu zu formen und fortzusetzten, stufe ich als interessant ein.
Durch die Begegnungen in der Stadt, durch die Spaziergänge am Planungsperimeter und die Wertschätzung des Vorgefundenen entstand die Leitfrage, wie man eine Stadt so weiterentwickeln kann, dass sie ihre wesentliche Stadtidentität beibehält.
Konkret enthält das Thesisbuch die Untersuchungen; das Thesisprojekt zeigt den Balanceakt zwischen grossstädtebaulicher Entwicklung im gerechten Massstab zum Menschen und zum Ort.
Dabei liegt der Fokus auf den vorgefundenen räumlichen Anordnungen; charakterspezifische Merkmale werden miteingebunden – neu interpretiert und im Projekt auf eigene Weise fortgesetzt. Die komplexe Stadtfügung Luganos und die bevorstehenden Veränderungen verlangen nach einer unkonventionellen Herangehensweise, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Ort zulässt. An theoretischem Hintergrund fliessen Erkenntnisse aus Gordon Cullens Buch «Townscape, das Stadtvokabular» sowie Sergej Eisensteins Essay «Architektur und Montage» ein. Das theoretische
Hintergrundwissen schärft den Blick, um die charakterspezifischen, architektonischen Merkmale einzufangen. Diese werden mittels «Fast Sketches» in einer Sammlung von Impressionen dargelegt und beschrieben. Der zweite Schritt ist die Anwendung der Theorie sowie die vor Ort gesammelten Eindrücke neu miteinander zu formen und zu fügen. Dies in Form von sinnstiftenden Abfolgen von Bildern und Räumen als Storyboard und mittels Gegenüberstellungen von Alt und Neu. In Bildpaaren werden das Alte und das Neue in Relation gesetzt, einander neu gegenübergestellt. Die Abfolgen und die Gegenüberstellungen vermitteln die Perspektiven von zwei Protagonisten. Zusammen zeigen sie auf, wie die Stadt im neuen Zukunftsbild erlebt wird.
4 Theoretische Grundlage
Unter einer «ortsspezifischen Identität» in der Architektur gibt es keine allgemeingültige Übereinstimmung. Jede Stadt fügt und formt sich anhand von vorhandenen Gegebenheiten anders. Die beigezogenen Theorien Gordon Cullen (Townscape - Das Vokabular der Stadt) und Sergej Eisenstein (Architektur und Montage) helfen, meinen unvoreingenommenen Blick zur Stadtidentität zu schärfen, so dass eine erneute Begehung vor Ort, zusätzliche Merkmale, Auffälligkeiten und Potenziale aufdecken kann.
4.1 Eisenstein und die Theorie der architektonischen Montage
Eisenstein (1898-1948) ist ein sowjetischer Regisseur. Er befasste sich intensiv mit der Montagetechnik, um für einen Ausdruck in der Sprache den passenden Ausdruck in der Bildsprache zu finden. Neben seinem filmischen Engagement beschäftigte er sich sein Leben lang mit Architektur. Seine Montage-Theorie, sie prägte die spätere Filmszene gravierend, ist das Resultat seiner Faszination für Räume. 22
Unter der Attraktionsmontage werden
einzelne Bildausschnitte wie Bausteine aneinandergefügt, um zu einem montierten Rhythmus zu finden. Die einzelnen Elemente müssen dabei nicht effektiv zeitlich oder räumlich zusammenpassen. Vielmehr geht es darum,
aus den ungewöhnlich montierten Bildern emotionale Impulse auszulösen und darauf aufbauend das Bild in einem zusammenhängenden Ganzen darzustellen.
Die verkörperte Zuschauerschaft Für Eisenstein ist die Architektur ein Fundament, für das er als Regisseur in der filmischen Konzeption Raum und Zeit entwickelt. Er war in engem Kontakt mit den Architekten der Avantgarde und kam durch diese Verknüpfung in Berührung mit Le Corbusier. Es kam zu gegenseitigem Anklang und Bewunderung. Dies verwundert kaum: Le Corbusier schuf mit seiner Konzeption ‘Promenade architecturale’ dieselben Grundsätze wie Eisenstein. Beide verstehen den architektonischen Raum als eine Form von sinn-generierender Abfolge von Bildern und Räumen, die auch das «Serielle Sehen» umfasst. 23
22 Binotto (Hg.)/Stierli 2007, S. 60
23 Binotto (Hg.)/Stierli 2007, S. 63
Im Essay «Montage und Architektur» beschreibt Eisenstein das Konzept der Montage anhand der Akropolis. Er sieht die Akropolis als Schauplatz eines protokinematografischen Urbanismus. 24 Eisensteins Prämisse sieht vor, dass ein architektonischer Raum zwingend physisch oder mental durchquert werden muss, um ihn erfassen und erleben zu können.
In einem Kompositionsschema beschreibt Eisenstein die Montagetheorie. Sie ist als eine räumliche, entgegengesetzte Aufspannung zu verstehen. 25 Aneinanderfügen von Raumeindrücken, die sich durch Kontraste oder Entsprechung gegenseitig aufladen. Eine Abfolge von montierten Bildern bzw. Räume schafft so ein intensives Erlebnis von Raum und Architektur.
Abb. 12. Kompositionsschema anhand der Akropolis: Bild a) und b) sind in ihrer räumlichen Ausdehnung einander entgegengesetzt. Bild c) und d) sind spiegelsymmetrisch und fungieren als Erweiterung des "Montageplans" der Bilder a) und b). So formt sich ein ausgewogenes montiertes Bild.
24 Bois/Eisenstein/Glenny 1989, S. 120
25 Binotto(Hg.)/Stierli 2007, S. 64
Weiter kann nach Eisensteins Auffassung kann der Pfad auf zwei Arten gelesen werden: Einmal als Differenzierung zwischen einem bewegungslosen und einem sich bewegenden Zuschauer; einmal als Reise durch den Raum. Diese kann durch das effektive Bewegen durch eine Serie von Raumabfolgen erlebt, aber auch durch blosse Augenbewegung vollführt werden. 26
Beschrieb zur Abbildung rechts:
a) Akropolis, umfasst von isolierten Felsen.
b) Im Vordergrund erhebt sich die Statue der Athena Promachos; im Hintergrund befinden sich das Erechtheion und der Parthenon, so dass das Panorama der Statue untergeordnet ist.
c) Der Parthenon erhält seine Bedeutung erst nachdem der Blick von der Statue abwendet wird.
d) Der Parthenon ist so platziert, dass er dem Betrachter schräg gegenübersteht.
e) Folgt man dem Pfad über der Akropolis, erreicht man den Erechtheion als neuen Mittelpunkt des Panoramas. 27
26 Binotto(Hg.)/Stierli 2007, S. 66
27 Bois/Eisenstein/Glenny 1989, S. 118/119
Abb. 13. Ein protokinematografischer Schauplatz: Der Pfad der Akropolis ist als ein ganzer Montageplan zu verstehen.
Abb. 14. Wirkung eines Raumes vor dem Verlassen eines engen Raumes. Cullen
Abb. 15. Wirkung eines gerahmten Blickfeldes.
Burckhardt
4.2 Cullen und das Stadtvokabular
Gordon Cullen (1914-94) ist ein britischer Architekt und Stadtplaner. Er nahm eine prägende Schlüsselrolle in der Urbanistik ein. Fast ein Jahrzehnt lang beschäftigte er sich mit der Analyse der Stadt und ihrer Elemente. 28
Das enge Zusammenleben in einer Stadt bringt viele Vorteile mit sich. Eine Familie im Dorf kann sich zum Beispiel nicht spontan entscheiden, eben mal so ins Theater zu gehen. Wer in der Stadt wohnt, kennt die Annehmlichkeiten, die man geniessen kann. Die Stadt ist viel mehr als die Summe ihrer Einwohner. 29 Sie hat die Kraft, zahlreiche gesellschaftliche Angebote hervorzubringen. Dies entspricht der Natur des Menschen 30 , der evolutionär bedingt ein soziales Wesen ist.
Im Dorf wird ein freistehendes Haus als ein Stück Architektur erfahren; eine Ansammlung von Gebäuden wie in der Stadt löst eine andere Wirkung aus: Wir sind überrascht vom Eindruck der Gruppe, nicht von einzelnem Bauwerk selbst; hinter jeder weiteren Hausecke öffnen sich unerwartete Kompositionen.
Jede Gruppierung von Häusern hat ihr Eigenleben. Vielleicht stechen Häuser heraus, die eine besondere Funktion erfüllen. Das kann eine Bank oder eine Kirche sein. Wobei: Die Kirche auf einer freien Fläche auf sich alleine gestellt in ihrer Grösse wirkt nicht so effektiv, wie im Vergleich mit anderen Häusern in kleineren Massstab. 31
Wie Lucius Burckhardt in der Spaziergangswissenschaft schildert: Durch unser Sehvermögen können wir unsere gebaute Umwelt immer wieder neu entdecken. Unser Sehsinn ist weitaus mehr als ein zweckdienliches Organ. Er lässt unsere Erfahrungen lebendig erscheinen und uns in Erinnerungen schwelgen. Das Sehen löst emotionale Reaktionen aus, die direkt oder indirekt mit einem Ereignisort verknüpft sind. 32
Cullen beschreibt drei Ebenen der Wahrnehmung: Serielles Sehen, die räumliche Empfindung und die Ordnung der Dinge. Sie alle erzeugen eine Art von emotionaler Reaktion, die mit dem Ort verknüpft ist und diesen charakterisieren.
28 Cullen 1991, S. 2
29 Cullen 1991, S. 6
30 Cullen 1991, S. 6
31 Cullen 1991, S. 7
32 Cullen 1991, S. 8
Serielles Sehen (Bewegung)
Die erste Betrachtungsebene ist das Optische. Bewegen wir uns unvoreingenommen beispielsweise durch die Altstadt in Lugano, durch ihre engen Strassengassen: Plötzlich öffnet sich ein kleiner Platz. Durch diesen und weitere enge Gassen hindurch zeigt sich die Piazza Riforma. Sie liegt gegenüber dem Rathaus. Die zufällig aneinander gereihten Bilder fügen sich zu einer Szene zusammen. Das ist das beschriebene Serielle Sehen: Es ist eine Darlegung der Kunst der Beziehung33, es ist ein Werkzeug, das die menschliche Vorstellungskraft befeuert. Damit kann die Stadt als ein zusammenhängendes Drama gesehen werden. 34
Abb. 16. aus einzelnen Szenen fügt sich eine sinn-generiende Abfolge, das Serielle Sehen.
33 Cullen 1991, S. 9
34 Cullen 1991, S. 9
Abb. 17. Oben: Ein nach aussen geöffneter Innenraum mit freiem Zugang.Ein Raum zum Hindurchschreiten. Enge.
Abb. 18. Unten: Ein umschlossener Garten. Endpunkt einer Fortbewegung. Ein Raum zum Verweilen. Erlösung.
Räumliche Empfindung (Standort)
Der zweite Punkt behandelt die Reaktion des Körpers in einer Umgebung. Diese Ebene der Bewusstheit hat mit einer Anzahl von Erfahrungen zu tun, die von zwei entgegengesetzten Gefühlen definiert wird (zB. eng und weit). Der Mensch wird unweigerlich in eine Beziehung zur Umwelt gesetzt, ähnlich wie ein Fotograf die Lichtquellen von aussen in den Prozess einbezieht. 35
In der Stadt entsteht räumliche Empfindungen demselben Prinzip folgend: Typische emotionale Reaktionen tauchen auf, wenn man sich über oder unterhalb der Erdoberfläche befindet – oder den Gegensatz der Enge eines Tunnels und der Weite eines Platzes erlebt. Die Stadt ist eine plastische Erfahrung, die durch gegensätzliche Paarungen wie Druck und Vakuum, Spannung und Erleichterung, Nah und Fern, Hier und Dort gebildet wird.
Ordnung der Dinge (Inhalt)
Die letzte Kategorie widmet sich der Untersuchung, was an Gestaltungsmitteln vor Ort zur Verfügung steht: Farbe, Materialien, Massstab, Stil, Charakter, Die meisten Städte bestehen aus alten Gründungen, die in den verschiedenen Stilen unterschiedlicher Bauepochen und durch viele Zufälle entstanden sind. Es sind Mischungen aus Stilepochen, Materialien und unterschiedlichen Massstäben. Jede Stadt ist ein immer wieder neu überschriebenes Sammelsurium, für das Stadtplaner stets eine gewisse Konformität anstreb(t)en. Es gibt dazu unterschiedliche Auffassungen: Le Corbusier teilt in seinem Buch ‘An die Studenten – Die «Charte Athènes»’37 die Stadt minuziös in Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Freizeit ein – um das vermeintliche Chaos zu beseitigen. Cullen sucht eine andere Auslegung. Er plädiert dafür, eine allgemeingültige Konformität durch Differenzen zu erzeugen und in Nuancen von Massstab, Stil, Oberfläche und Farbe zu arbeiten. Dadurch erlange man Vorteile für alle. Auf diese Weise wird die Umgebung nicht zur Konformität gezwungen, sondern sie bewege sich innerhalb eines allgemein akzeptierten Rahmens. In diesem lasse sich ein lebendiges Spiel zwischen Dies und Das verwirklichen. Die Bereitschaft zu differenzieren, erzeugt Leben.38
Cullen 1991, S. 11
Grassi 1962, S. 73-113
38 Cullen 1991, S. 12
4.3 Fazit und Ausgangspunkt
Eisenstein legt mit der Montagetheorie den Fokus auf die Sequenzialisierung und Gegenüberstellung der einzelnen Abfolgen, die sich durch Kontraste oder Gegenüberstellung aufspannen. Cullen hingegen untersucht die Stadt durch die drei Wahrnehmungsebenen. Dadurch können verborgene identitätsstiftende Potenziale hervorgehoben werden.
Im Seriellen Sehen finden diese zu einem Konsens: Darunter ist das Aneinanderreihen von sinnstiftenden Bildern zu verstehen, das in der Abfolge ein intensives, emotional verknüpfendes Erlebnis für den Betrachter schafft.
Aus den herbeigezogenen theoretischen Grundlagentexten resultiert die Erkenntnis, dass sich das Serielle Sehen als Entwurfsmethode für die Entwicklung neuer, fortsetzender Bilder im Projektentwurf eignet. Die Technik der Montage wird der Thesisaufgabe angepasst. Dies, um die Gegenüberstellung zwischen dem Alten und dem Neuen nachvollziehbar und die Anknüpfungspunkte sichtbar zu machen. Beide methodischen Anwendungen zeigen die Kontinuität der Stadtidentität auf.
Durch das theoretische Hintergrundwissen ist der Blick geschärft. Mit diesem Vorwissen wird vor Ort recherchiert und untersucht. Die entstandene Sammlung der Impressionen zeigt die folgenden charakteristischen Merkmale von Lugano:
- die Fortbewegung ist durch stetigen Wechsel der Ebenen geprägt: unterirdisch durch die Unterführungen oder oberirdisch zwischen Häuserzeilen, Treppenaufgängen.
- die Enge- und Weitwirkung vor historischen Bauten oder von den engen Gassen kommend.
- Arkaden, die den Schwellenraum prägen und den Flanierenden durch den erlebenden Raum begleiten.
- die Beziehung zwischen Innen und Aussen, wenn man sich langsam vom Aussenraum in den Innenraum begiebt.
- die Erwartung eines Raumes, wenn man einen Pfad durchschreitet, ohne weit voraus sehen zu können, was als nächstes kommt.
Die beschriebenen Kernpunkte werden transformiert und in einer Neuinterpre-
tation am Thesisprojekt angewendet. Sie prägen das Thesisprojekt und stellen sicher, dass die Fortsetzung der Stadtidentität durch eine inszenierte Abfolge von alten und neuen stadträumlichen Bildern sichergestellt werden kann.
Die beschriebenen Elemente werden durch die Perspektive der sich im stadtraumbewegenden Protagonisten aufgegriffen und erzählt.
4.4 Impressionen
Skizzen und Fotos zur Charakterisierung der Räume
Abb. 22. Enge und Weite. Unterführung. Blick zum Monte Brè
Abb. 23. Gebäude "fliegt" über die Stadtmauern
Abb. 24. Esplanade bei der Kathedrale San Lorenzo
Abb. 25. Plateau; Autoabstellplatz und somit Nebensache
Abb. 26. Steinmauern und Einzäunungen treffen aufeinander
Abb. 27. Gebäude schmiegt sich an die dominierende Strasse
Abb. 28. Eingangssituation: Einladung ins Haus
Abb. 29. In der Eingangshalle: üppiger Marmor und Pflanzen
Abb. 30. Über den Dächern von Lugano: Bergpanoramen.
Abb. 31. Blick zum alten Postgebäude. Tonnendächer
Abb. 32. Häuserzeile über Häuserzeile. Der Weg bahnt sich durch
Abb. 33. Freistehende Villa mit viel grünem Umschwung
Abb. 34. Ladenlokal mit Bay-Window. Steile Strasse
Abb. 35. Unterführung Bahnhof. Eng, dunkel: Ende in Sicht
Abb. 36. Via Basso. Loggien sind aus den Volumen gehöhlt
Abb. 37. Treppenmeer. Die Topografie wird überwunden
Abb. 38. kleinere Wegführungen - kleinere Esplanaden
Abb. 39. Via Baso. Die Strasse schiesst in Richtung Altstadt
Abb. 40. Anordnung. Gebäude zum Strassenraum
Abb. 41. Einbettung in die Topografie. Nüchterne Tiefgaragen
Abb. 42. Eingangssituation. Geschickt gelöst im 1. Obergeschoss
Abb. 43. Fassadengestaltung. Sockel, Mittelstuck, Abschluss
Abb. 44. Zwischen den Häusern. Wegführungen und Grünraum
Abb. 45. Zuggeleise schneiden eine Zäsur in die Topografie
Abb. 46. Plötzliche Kleinterrassen beim passieren der Treppen
Abb. 47. Eingangssituation mit Treppenstufe zu einem Ladenlokal
Abb. 48. Das alte Postgebäude in desolatem Zustand
Abb. 49. Baustelle: Absperrtafen signalisieren den Umweg.
Abb. 50. Der Blick öffnet sich, sobald die Tafeln ein Ende nehmen
Abb. 51. Bahnhof Lugano unter dem grossen Bahhofsdach
Abb. 52. Bahnssteig, Strassenraum, Blechwand
Abb. 53. Wegführung in der Altstadt. Blick zum Eckgebäude
Abb. 54. Schaufenster nehmen die steile Topografie auf
Abb. 55. Piazza Cioccaro. Der Blick öffnet sich zum Haus
Abb. 56. Neuer Strassenraum führt über die Häuserzeile hindurch
Abb. 57. Arkaden als Schwellenraum zwischen Innen und Aussen
Abb. 58. Blick nach dem man unter der Hauszeile hindurch schreitet
Abb. 59. Arkaden verbinden Häuser zu einer Gruppe
Abb. 60. Blick zur zur Santa Maria degli Angioli
Abb. 61. Häusergruppierung an der Via Basso. Steinernder Sockel
Abb. 62. Bahnhof Süd, Einfahrt des Zuges in die Endstation
Abb. 63. Die TPL Bahn Sasselina schiesst durch die Häuser hindurch
Die Skizzen entstanden an einem regnerischen Tag; ich war alleine unterwegs. Kälte und Nässe hielten mich nicht davon ab, vor Ort zu skizzieren. Warm eingepackt und mit einer bis an den Rand gefüllten Thermoskanne unterm Arm begab mich auf einen phänomenologischen Skizzen-Spaziergang. In der heutigen, so hektischen und schnellen Zeit, war diese Erfahrung für mich sehr entschleunigend. In dieser ganz anderen, langsameren Dynamik erlebte ich die Räume in einer gesteigerten Bewusstheit.
Mit einem fetten Strich sind charakterspezifische, architektonischen Merkmale in der Skizze hervorgehoben.
mich hin-und-her durch die Stadt. Die Zugänge zu den Häusern werden durch die Topografie anders gestaltet. Weil die Strassenwege um ein Geschoss höher liegen als der Eingang, schaffen kleinere Brücken eine Verbindung ins Haus. Der Eingang ist nicht immer klassisch im Erdgeschoss angeordnet, sondern häufig im 1. Obergeschoss. Das Ausarbeiten dieser Adressierungen, von den vermeintlich topografischen Hindernissen ausgehend, finde ich interessant.
Beim Durchschreiten des Quartiers Di Besso und der Altstadt von Lugano fiel mir die Dominanz der Topografie auf. Unzählige Treppen, Dutzende kleinere und grössere Esplanaden prägen die Zwischenräume der Stadt. Teils zufällig geformt, widerspiegeln sie die heterogene Umgebung. Die Patinen von Steinmauern und Treppen lassen darauf schliessen, wie dauerhaft diese Struktur ist. Über das Treppenmeer bewege ich
Die Grenze zwischen dem grossen und kleinen Massstab ist in den jeweiligen Quartieren spürbar. Während die Altstadt kleinteilig und verschachtelt organsiert ist, sind im Quartier Di Besso die Häuser kubischer, grösser und in einer anderen Formensprache gebaut. Die solitären Prunkbauten drücken sich in den Fassaden fächerartig aus – in einem Spiel von geschlossenen Wandscheiben und geöffneten Loggias.
Wo immer möglich sind in künstlich angelegten Esplanaden oder seitlich an den Strassenräumen Auto-Parkplätze eingerichtet. Das Auto scheint das dominierende Vehikel der Fortbewegung zu sein. Über einen Zeitraum von eineinhalb Stunden stand der Verkehr am
Knotenpunkt Areal Piazza exPestalozzi lahm. Lärm und Hupgeräusche dominieren den frühen Morgen. Unweit davon fand ich im Quartier eingebettet einen von Palmen und Häusern gesäumten Grünraum – Ruhe inmitten des lauten Zentrums. Auf übrigen Freiflächen und in nicht genutzten Pavillons parkieren die Müllcontainer.
Die Vielfalt von Farben und Materialität in der Umgebung ist gross. Während in der Altstadt wärmere, fröhliche Fassadenfarben in Form von verputzten Aussenfassaden angebracht sind, dominieren steinerne oder glatt geschliffene Fassadenplatten beide Quartiere. Das Farbenspektrum reicht von orange, rot, rosa, gelb bis zu schlammigen Grautönen. Balkone, Loggien und Terrassen nehmen Bezug zur Topografie; sie sind jeweils an die Fassaden angefügt oder aus den Volumen herausgeschnitten. Sie erlauben einen Blick zum See oder auf die umliegenden Bergpanoramen. Das nichtbenützte Mobiliar auf den Balkonen lässt ahnen, wie wichtig Präsenz und der Bezug nach Aussen für die Stadtbevölkerung sind. Die Sockelgestaltung der Häuser ist meist mural; vermutlich um einen Übergang
zur markanten Topografie und zu den steinernen Treppen und dem oberirdisch Gebauten zu schaffen. Weiter zu erwähnen sind die klassischen Lochfassaden. Steineinfassungen rahmen sie ein, farbige Klappläden reichern sie an. Sind die Klappläden geschlossen, erkennen wir markante Spuren, die sie an der Fassade hinterlassen.
Im Bereich des Bahnhofs (altes Postgebäude) finden sich Materialen wie Blech und Metall wieder. Sie spiegeln den Zeitgeist einer florierenden Arbeitergesellschaft und der damaligen Industrie. Diese war in der 5oer- Jahren in der Nähe des künstlich angelegten Bahnhofplateaus angesiedelt.
Der Strassenraum ist geprägt von Arkaden und Enfiladen. Eine Aneinanderreihung von Schichten bildet einen weichen Übergang: Aussen – Innen –Aussen. Es ist eine Transition vom lärmintensiven Geschehnis zur ruhigen Idylle. Die Häuser sind meist an den Strassenwegen oder den Piazzen orientiert. Die rote Strassenpflästerung, sie markiert den historischen Kern Luganos, schlängelt sich hinauf bis zur flachen Ebene des Bahnhofs; sie endet im Quartier Di Besso.
5 Gegenüberstellungen von Alt und Neu
5.1 Enge und Weite
Der Aufgang der Unterführung zur Via Basso: Oben die bestehende Öffnung in Richtung Altstadt, unten der neue Aufgang zur Kreuzung von Via Basso und Via Sorengo. Die Formgebung des Dachs folgt den Linien der Strassenzüge.
Lineare Lichtkuppeln durchschneiden das Dach und folgen der Tiefe des Abgangs.
Abb. 72. Gegenüberstellung der alten und neuen Unterführung
5.2 Arkaden
Oben: Arkaden über Arkaden reihen sich aneinander; sie verbinden die unterschiedlich ausgestalteten Häuser miteinander; deren Erdgeschosse bilden für den sich Bewegenden jeweils eine Einheit.
Unten: Im Thesisprojekt laufen die Arkaden entlang des Areals Piazza exPestalozzi; sie orientieren sich zur Metrostation hin; Erdgeschoss und Topografie greifen ineinander.
5.3
Aussen : Innen : Aussen
Oben: Der Garten aus der Perspektive der Treppe; unten der Garten von innen.
Umhüllt von alten Umgebungsmauern liegt der Hof geschützt, wie in einer Enklave eingeschlossen. Palmen und Laubbäume bespielen den inneren Garten. Kinder, Eltern und kultivierte Menschen bewegen sich frei darin und verweilen nach Lust und Laune. Mehrmals in der Woche spielt eine Band im hauseigenen Hof. Der rote Porphyr-Pflastersteinbelag der Piazza zieht sich durch bis hierher.
Abb. 74. Gegenüberstellung der Aussen - Innen Beziehung in dem ein Garten in die Topografie eingefasst wird
5.4 Erwartung
Die räumliche Anordnung der Gebäude: Links die Piazza Cioccaro – umhüllt von aneinandergereihten
Gebäuden; rechts der Blick nach dem Aufgang aus der Unterführung.
Das neue Hochhaus öffnet
sich in Richtung der Hauptstrasse, die zur Autobahn
führt. Es signalisiert Anfang und Ende der Via Basso.
Gleichzeitig markiert es das Ende einer steilen Gasse, deren Anfang eine Häusergruppe bildet.
Abb. 75. Gegenüberstellung der Raumöffnung bei der Piazza Cioccaro und dem Areal Piazza exPestalozzi