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INNA MODJA Singer-Songwriterin

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FUSSNOTEN

FUSSNOTEN

Überlebenskünstlerin dank Musik und humanitärer Hilfe

INNA MODJA

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S Ä N G E R I N , S O N G W R I T E R I N U N D A K T I V I S T I N

WIE SIEHT EINE ÜBERLEBENSKÜNSTLERIN AUS? Dafür gibt es kein Rezept. Sie ist eine von Hunderttausenden junger Frauen auf der ganzen Welt. Aber sie ist die Singer-Songwriterin und Aktivistin Modja aus Mali. Sie ist bereit, mit mir bei einem Teller Trüffelpasta über ihr Kindheitstrauma und ihre humanitäre Einsatzbereitschaft zu sprechen – ein Beweis dafür, wie weit ein schon langer Heilungsprozess bei ihr fortgeschritten ist.

Modja ist das sechste von sieben Kindern von Bamako und die letzte der Schwestern, die Opfer weiblicher Genitalverstümmelung wurde. Damals war sie fünf Jahre, die Familie lebte in Ghana, und die Beschneidung wurde von einer älteren Frau vorgenommen; ihre Eltern wussten nicht, wer diese Frau war. Wie bereits bei ihren Schwestern hat ihre Familie diesen Akt als gemeinsames Trauma erlebt. »Bei jedem Mal wurde die Beschneidung von einem anderen Familienmitglied vorgenommen. Und jedes Mal fühlten meine Eltern sich schuldig, weil sie es nicht verhindern konnten«, erzählt Modja. Der Schmerz sitzt immer noch tief, aber alle Mitglieder der Familie haben einfach weitergemacht, ohne dieses Thema zu einem wichtigen Teil ihrer Gespräche zu machen. »Wir wussten, dass unsere Eltern dagegen waren, aber was hätten wir tun sollen?« Bis zu 91 Prozent aller Frauen in Mali sind beschnitten, ohne jemals zu wissen, was der Grund dafür ist. 41 »Es ist seit Generationen einfach Tradition. Daher fragt auch niemand nach dem Warum. Es wird einfach ignoriert. Traditionen werden ja auch anerzogen«, beginnt sie. »In einigen Dörfern glauben die Menschen, dass die Klitoris der Frau bei langen Fußmärschen zu anderen Höfen oder zu Wasserstellen aufgescheuert wird. In anderen Orten behauptet man, es sei ein männlicher Teil im weiblichen Körper, den man entfernen muss, damit die Männer zeugungsfähig bleiben. Total verrückte Geschichten.« Beschneidung sei ein Akt der Gewalt gegen Frauen, fährt sie fort, der sich nie und nimmer rechtfertigen lässt.

Erst später, als sie als junge Frau in Frankreich Sprachen und Literatur studierte, verstand sie richtig, welche Unmenschlichkeit man ihr angetan hatte. Der bislang unterdrückte Schmerz

trat wieder auf. Inzwischen kannte sie allerdings seine langfristigen Auswirkungen. Das Gefühl der Scham kam erst auf, als ihre erste Gynäkologin in Frankreich ihr sachlich mitteilte, dass sie beschnitten worden sei und dass das nicht mehr rückgängig zu machen sei. »Sie sagte einfach: ›Sie haben eine Narbe, wo eigentlich Ihre Klitoris sein sollte. Das ist deutlich zu erkennen.‹ Bis dahin kannte ich meinen eigenen Körper nicht und verstand nicht, was geschehen war.« Plötzlich begriff Modja, dass sie ein sichtbares Zeichen der Vergangenheit trug und damit ihre Geschichte nicht mehr leugnen konnte.

Sie musste das mit ihrem Partner besprechen und alte Wunden wieder aufbrechen. »Damals wurde ich mir meiner selbst plötzlich bewusst. Ich zog mich zurück, fühlte mich wertlos und hatte Angst, nie eine richtige Frau sein zu können.« Sie lehnt sich zurück, atmet tief ein und schaut dann ihren Mann an, der uns zum Essen begleitet hat. Sie lächeln sich freundlich an. Er hat diese Geschichte unzählbare Male gehört, beruhigt sie aber, als erzählte Modja ihre Geschichte zum ersten Mal. In dieser kurzen Stille wurde mir klar, dass sie den Druck dieses Verlustes eines sehr intimen Körperteils als Kind gar nicht empfunden hat, weil ihr gar nicht klar war, was ihr genom men wurde. Aber mit Beginn des Erwachsenenalters kam der Schmerz und verbrannte sie förmlich. Und wenn sie es früher erfahren hätte? Hätte das einen Unterschied gemacht?

Si e erklärt, dass sie sich diese Frage nicht stelle. Wichtig sei, dass sie eine Möglichkeit der Heilung finde. »Diese Gynäkologin hätte mich zu einem Arzt überweisen müssen, der meinen Körper chirurgisch wiederherstellen kann. Aber das wusste sie nicht oder es war ihr egal. Das ist bei vielen Ärzten so.« Das Thema ist an vielen Stellen in der internationalen medizinischen Com

munity immer noch ein Tabu. Erst nach einigen Jahren fand sie einen französischen Chirurgen, de r die Operation durchführte. »Er hat nicht nur die Technik entwickelt, sondern auch um die Erstattung der Operationskosten durch die Krankenkassen gekämpft – h eute ist diese Operation kostenlos.«

Mit der OP erlangte sie neues Selbstvertrauen und eine neue Sicht auf ihr Leben. Sie hatte etwas zurückerobert, das sie völlig verloren glaubte. »Nach der Operation fühlte ich mich nicht mehr minderwertig, sondern hatte meine Kraft zurückgewonnen. Also sagte ich mir, jetzt wo ich das habe, was alle Frauen haben, gibt es keine Ausreden mehr«, beschreibt sie den Beginn des nächsten Schrittes in ihrer Musikkarriere. Zuvor hatte sie Musik für andere Künstler geschrieben, aber nun wollte sie sich auf ihre eigene Arbeit konzentrieren. Sie hatte ausreichend Geld, um ihre Miete zu bezahlen und sich Studiositzungen zu leisten. So nahm sie ein Demo auf, das sie Freun den in der Branche vorspielte. Innerhalb eines Jahres hatte sie einen Vertrag mit Universal France in d er Hand und produzierte in der Folge drei Alben. Paris ist für sie ein Refugium geworden, in das sie sich nach langen Touren im Ausland zurückziehen kann. 2018 trat sie der Revival-Band des berühmten Quartetts der 1960er Jahre »Les Parisiennes« bei und ist häufig auf Tour im Ausland.

Das Trauma, auf dem sie ihr Durchhaltevermögen aufgebaut hat, hätte sie leicht zerstören können. Aber Modja ist eine Kämpferin, die ihren Schmerz in ihre Kunst, in Optimismus und

in eine Interessenvertretung kanalisiert hat. Es war unvermeidlich, so sagt sie, dass sie ihre Erfahrungen in Aktivismus umsetzt. Ihre Mutter arbeitete in einer Stiftung zur Sensibilisierung für HIV und AIDS, mit der junge Mädchen aus Bamako oder Dörfern in Mali, die noch nicht einmal schreiben können, aufgeklärt werden. »Ich habe gelernt, mich um andere zu kümmern«, sagt M odja.

Mit zwanzig Jahren begann sie, sich für ihre ganz persönliche Sache einzusetzen: Sie arbei tete in Kampagnen für unterschiedliche Organisationen, mit denen die Genitalverstümmelung be i Frauen und die Konsequenzen für den Körper und die allgemeine Gesundheit der Frauen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht werden sollten. Sie sprach bereits vor den Vereinten Nationen über die Schande, die über die Opfer gebracht wird, und über die Gefahr einer Gesellschaft, d i e Frauen dafür verurteilt, dass sie misshandelt werden. Außerdem kämpft sie standhaft für ein Gesetz, das in Mali Beschneidung endgültig verbietet. In ihrer Wahlheimat ist sie als Botschafterin des wegweisenden Familienzentrums von Dr. Ghada Hatem-Gantzer »La Maison des Femmes« (siehe Seite 145) tätig.

Kürzlich arbeitete sie an The Great Green Wall mit, einem von den Vereinten Nationen und von dem für einen Oskar nominierten Regisseur Fernando Meirelles produzierten Dokumentarfilm über die Wüstenbildung – ein Thema, das in ihrer Heimat von Bedeutung ist. »Ich komme aus der Sahelzone, die sich vom Senegal bis nach Dschibuti erstreckt und unter der Wüstenbildung leidet. Der Klimawandel ist ein Grund dafür, dass die Menschen auswandern. Hier wächst nichts mehr; die Menschen können hier einfach nicht mehr leben«, erklärt sie. »Man sieht schwarzafrikanische

Flüchtlinge in Booten, die ihr Leben riskieren, um Libyen zu durchqueren. Aber niemand über legt, warum diese Menschen flüchten. Weil sie als Eindringlinge empfunden werden, ist niemand b e reit, auf all die Dinge zu verzichten, die die Erde verschmutzen und diese Menschen in Gefahr bringen.« Mit dem Dokumentarfilm wird ein gleichnamiges 8 M illiarden US-Dollar teures Projekt der Afrikanischen Union und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen unterstützt, mit dem 8 0 00 Kilometer aufgrund der Wüstenbildung zerstörtes Land wieder kultiviert und nutzbar gemacht werden sollen. Und damit soll wiederum die Migration ein gedämmt werden. »Das Projekt läuft seit zehn Jahren, aber wir haben erst 15 Prozent Land wiederhergestellt. Wir werben in anderen Ländern um Unterstützung und hoffen, dass der Rest der Welt er kennt, wie wichtig das Projekt ist. Im Senegal kann man die ersten Ergebnisse bereits deutlich erkennen«, erklärt sie aufgeregt. »Ich habe ganz ausgetrocknete Gebiete besucht und Menschen [gesehen], die gemeinsam Gärten angelegt und Bäume gepflanzt habe. Jeder tut, was er kann.«

Ihr politisches und humanitäres Engagement steht wie ein Leuchtfeuer in ihrer Musik und beherrscht das unstete Leben, das sie mit ihrem Ehemann führt. Aber Modja sagt ohne Ein schränkung, dass sie glücklich ist. Sie nutzt ihre Plattform für mehr als die Musik, genauso, wie ih re Eltern es ihr beigebracht haben, und ihre Stimme ist für sie nicht nur ein kreatives Werkzeug, sondern auch eines, mit dem sie Gutes tut. »Das Leben ist in jeder Hinsicht politisch. Die

Aufmerksamkeit, die ich bekomme, muss ich für die Dinge nutzen, an die ich glaube«, erklärt sie. »Aber das gefällt natürlich nicht allen.«

Bei allem Engagement und Aktivismus fühlt sie sich auf der Bühne am wohlsten – überall auf der Welt. »Da bin ich sicher und lebendig. Das war bei Weitem nicht immer so, aber heute fühle ich mich wohl mit dem, was ich zu sagen habe«, erzählt sie mir.

Wenn sie sehr lange auf Tour ist und Heimweh nach ihrer ursprünglichen Heimat hat, denkt sie daran, dass der Niger immer in ihren Adern fließt. Und sofort wärmt die Wüste ihre Seele. Dieses Gefühl gibt sie an ihre Fans weiter , denn sie erinnert sie mit ihrem Lächeln und ihrer Charakterstärke daran, dass sie – mit all ihren Träumen und Kämpfen – eine ganz normale Frau ist.

Oben: Unter dem Dach des Peonies findet man Blumen und Kaffee – eines der von einer Frau geführten Lieblingsgeschäfte von Inna Modja in Paris.

Zuhause in Paris

DEIN VON EINER FRAU GEFÜHRTES LIEBLINGSGESCHÄFT?

Peonies, ein Blumenladen und Café. Die Inhaberin ist eine Freundin von mir, die ich bei der Geschäftsgründung und all den damit verbundenen Kämpfen begleitet habe. Sie kann sehr stolz auf das sein, was sie geschaffen hat!

WOHIN GEHST DU IN PARIS, UM ZU SCHREIBEN?

Ich verbringe viele Stunden im Used Book Café im Merci. Hier kann man wunderbar lesen, schreiben und sich die Zeit vertreiben.

DEIN LIEBLINGSORT FÜR MUSIKVERANSTALTUNGEN?

Ich gehe gern ins La Cigale, wo ich schon ein paar Mal aufgetreten bin, und ins Folie Bergère (siehe oben), ein unglaublich bezaubernder Konzertsaal. Einer der schönsten Orte zum Singen!

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