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KAT BORLONGAN Direktorin von La French Tech

Bizarre Lebenserfahrung für das Technologie- und Start-up-Netzwerk

KAT BORLONGAN

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D I R E K T O R I N V O N L A F R E N C H T E C H

DÉBROUILLARDE – KLUG UND EINFALTSREICH , mit der Cleverness, Dinge herauszufinden, unüberwindliche Probleme zu meistern und Lösungen zu finden – so lassen sich Kat Borlongan und ihr atypischer Karriereverlauf am besten beschreiben. Dieses französische Wort kommt mi r in den Sinn, als wir unser etwa zweistündiges Gespräch an einem Sommernachmittag im Station F-Campus für Technologie-Start-ups beenden, wo sich ihr Büro befindet. Und doch werde ich damit der Direktorin von La French Tech, einer Arbeitsgruppe unter Leitung der französischen Regierung zur Förderung des Technologie-Netzwerks in Frankreich, und der Bedeutung dieser hochkarätigen Rolle nur zum Teil gerecht. Um das Bild von ihr zu vervollständigen, muss ich ihre unglaubliche Anpassungsfähigkeit und die Vision hinzufügen, die sie als Außenstehende mit einer eindeutig globalen Perspektive an den Tag legt.

Borlongan wurde auf den Philippinen geboren und verbrachte dort ihre Kindheit. Die High School absolvierte sie in Japan, den ersten Teil ihres Studiums verbrachte sie in Bordeaux an der Universität Sciences Po und den Studienabschluss machte sie an der McGill University in Montreal. Anschließend zog sie nach Paris und gründete mit anderen eine Innovationsagentur. Doch der Weg nach Paris verlief nicht gerade und war gespickt mit persönlichen Turbulenzen. Auch ihr bereits in der Kindheit aufkeimendes Interesse an Technologie ist eher das Resultat ihrer Lebensumstände.

Ihr Vater, der Unternehmer war, wurde mit fünfunddreißig Jahren Geschäftsführer einer jungen Bank und übernahm damit eine sehr sichtbare, hochkarätige Position, die viel Aufmerk samkeit auf sich zog – nicht immer im positiven Sinne. Unglaublich, aber wahr: »Mein Vater wurde gekidnappt als ich vierzehn war«, erzählt sie. Als sie meine vor Schreck geweiteten Augen sieht, fügt sie schnell hinzu, dass er achtundvierzig Stunden später wieder freikam. »Danach wurde er sehr technikaffin. Er war besessen von der neuesten IoT-Hardware im Bereich Sicherheit

und Überwachung – Bewegungsmelder, Kameras und Sensoren. Außerdem wurden alle unsere

Fahrzeuge mit Tracking-Geräten versehen. Heute ist das alles schon Standard, aber in den Neunzigern waren es absolute Neuheiten.«

Au ch sie und ihre Geschwister trugen Tracking-Geräte. Ihr Vater konnte damit jederzeit abfragen, wo sich die Kinder befanden, und erhielt die genauen Koordinaten. »Das war für uns nichts Be sonderes. An der katholischen Mädchenschule, die ich besuchte, lernten wir programmieren. Die Philippinen sind ein Land, in dem Technologie eine große Rolle spielt und allseits akzeptiert ist. Bis heute werden pro Kopf die meisten sozialen Netzwerke genutzt«, erklärt sie. Ihr eigentliches Interesse galt dabei weniger der Technologie als dem Zugriff auf Informationen, was sich wiede rum durch einen Unglücksfall des Vaters als ihr direkter Weg in die Technologiebranche erwies. »1 998 wurde er der Wirtschaftssabotage angeklagt. Mein Onkel, der den Fall für meinen Vater übernahm, bedauert bis heute, dass sie damals keine Leute eingestellt haben, die sie bei der Verwaltung der Informationen unterstützten konnten. Es wurden so viele Unwahrheiten veröffentlicht u n d außerdem wurden Journalisten zur damaligen Zeit sehr zensiert«, beschreibt sie die Situation, die sich doch sehr nach einem Kriminalroman anhört. An bestimmten Stellen in ihrer Erzählung betont sie, dass diese Geschichte, so unglaublich sie ist, wirklich wahr sei. »Mein Vater konnte sich in den Medien nicht selbst verteidigen. Er hatte den Nachweis, dass die Anklage unrechtmäßig, war, aber die Medien weigerten sich, dies zu veröffentlichen. Damals wurde mir klar, wie schwer der Zugang zu Informationen ist und dass die Philippinen die höchste Dunkelziffer für Morde an Journalisten verzeichnet.

Dieses neue Bewusstsein für die Bedeutung von Informationen und Transparenz brachten Borlongan zu ihrem ersten Job bei Reporter ohne Grenzen in Kanada, wo sie an Richtlinien- und Sicherheitsproblemen für Journalisten in Konfliktzonen arbeitete. Durch das Trauma mit ihrem Vater hatte sie eine unerwartete, aber höchst nützliche Eigenschaft entwickelt: Gelassenheit auch in Krisensituationen. »Ich erinnere mich daran, wie ein Journalist im Iran festgehalten wurde und ich den Fall managen musste, weil unser Direktor im Urlaub war. Gleichzeitig gab es einen anderen Fall, bei dem ein Häftling getötet wurde. Ich war damals dreiundzwanzig Jahre alt, war aber die Einzige, die nicht durchgedreht ist«, erzählt sie ruhig.

Das Martyrium ihrer Familie hat sie zwar nicht stressresistent gemacht, aber sie hat gelernt, mit Stress anders umzugehen. »Meine Toleranz ist ganz anders. In diesem Job hast du es mit Men schen zu tun, die erschossen werden oder in höchster Gefahr sind – wir sprechen da nicht über ein Start-up, dass Probleme mit seiner Weiterfinanzierung hat«, rückt sie ihre Rolle in ein anderes Licht. »Ich bekam mitten in der Nacht einen Anruf, dass jemand erschossen wurde. Ich musste die Familie dieser Person aus Kabul wegschaffen und übergangsweise in Mumbai unterbringen, damit sie dort auf ihr Visum nach Kanada warten konnte. Das alles musste innerhalb von vierundzwanzig Stunden passieren.«

Sie kämpfte sich durch und stieg schnell zur Direktorin von Reporter ohne Grenzen auf. Sie ist in der Lage, über den Tellerrand zu schauen, womit sie sich ihrer Meinung nach das Vertrauen der

»Ich habe als Frau in unterschiedlichen Ländern gelebt. Die Identität ist nirgendwo die gleiche, genauso wie die Diskriminierung. Ich wusste in Frankreich nie, ob ich als Frau oder als Einwanderin gelte. Was sehen die Menschen? Welcher Nachteil springt ihnen am meisten ins Auge? Behandeln mich die Menschen auf eine bestimmte Weise, weil ich sehr jung bin? Weil ich eine Frau bin? Oder weil ich Einwanderin bin? Ich weiß es nicht.«

Menschen verdient, mit denen sie arbeitet. Aber der Grund dafür ist hauptsächlich, dass ich nie gelernt habe, was auf dem Teller liegt. »Ich war vierundzwanzig und wusste eigentlich nicht, was man von mir erwartete. Ich habe einfach für jedes Problem eine Lösung gefunden. Und ich habe gelernt, andere schnell um Hilfe zu bitten, bevor es zu spät ist.«

Diese natürliche Flexibilität führte sie zu einem Job im Kommunikationsbereich der ICAO (Internationale Zivilluftfahrt-Organisation) bei den Vereinten Nationen, bei dem sie für die Trans parenz jeglicher Richtlinien zuständig war. Als sie danach wieder nach Paris kam, rutschte sie über Op en Data in die Technologiebranche. »Viele Monate habe ich nach einem Job im Bereich der [Technologie-]Politik gesucht, habe aber nichts gefunden, das zu mir und zu meinem verrückten Hintergrund passte.« Also suchte sie sich eine eigene Nische. Bis 2018 war sie Mitgeschäftsfüh rerin von Five by Five, einem Beratungsunternehmen, das sie zusammen mit der Open-Data-Pionierin Chloé Bonnet gegründet hatte und das Innovationsteams für große Organisationen und St art-ups zusammenstellte oder ausbaute. Gleichzeitig wurde sie zur Expertin für Marketing- und Produktstrategie bei Google ernannt, leitete das Open Data Institute in Paris und fungierte als Open-Data-Beraterin für die französische Regierung. Alle diese Rollen waren in einem Netzwerk verankert, das sich schnell als Start-up-Hub in Europa entwickelte.

Und dann ermutigte sie Mounir Mahjoubit, ehemaliger Staatssekretär für digitale Angelegen heiten in der Macron-Regierung, sich auf den Direktorenposten von La French Tech zu bewerben. In d ieser Position sollte sie Frankreich vertreten und sicherstellen, dass die Regierung ein besserer Partner für wachsende Start-ups ist. Sie bewarb sich, bekam den Job und nahm die Herausforderung an – teilweise auch wegen der Symbolik dieser großartigen Chance. »Ich wollte den Job annehmen, weil es für mich ein sehr deutliches Zeichen war, dass Frankreich sich verändert hat.

Denn das Frankreich, in das ich 2003 zum ersten Mal zog, hätte mich niemals als Direktorin für eine französische Institution eingestellt.« Mahjoubi schätzte ihre offenbar widersprüchlichen Erfahrungen und ihre atypischen Fähigkeiten.

Zwar ist dieses Querdenken in einem Land, das auf Tradition und Bewährtes setzt, eher ein rotes Tuch. Aber für die Zukunft des französischen Technologienetzwerkes benötigte man frischen Wind, eine Person, die sich am Schnittpunkt mehrerer Welten – G eschäft, Regierung, Start-ups, Risikokapital – wohlfühlt und alle diese Welten vertreten kann. »Ich bin die Geschäftsführerin, die ihren Auftritt hat, wenn nichts anderes mehr geht. Das hat es vorher noch nicht gegeben und einen Leitfaden habe ich dafür auch nicht bekommen«, lacht sie.

Vor allem muss sie in dieser Rolle als Allround-Hilfsmittel ein wirtschaftliches Problem lösen.

Zwar haben Start-ups in Frankreich genauso viel, wenn nicht mehr Mittel eingeworben als in allen anderen europäischen Ländern, aber es sind weniger global tätige Unternehmen daraus hervor gegangen. 2018 wurden in Frankreich sage und schreibe 3,6 Milliarden Euro investiert, damit verzeichnet das Land das schnellste Investitionswachstum in Europa. Und doch hat Frankreich bisher nu r sechs Leuchtturmunternehmen hervorgebracht, private Unternehmen mit einem Schätzwert von über 1 M illiarde US-Dollar. In Deutschland sind es dagegen neun, im Vereinigten Königreich achtzehn und in den Vereinigten Staaten 147. »Das Problem liegt nicht bei den Gründern oder den Ideen. Die Herausforderung entsteht in der Wachstumsphase«, erklärt sie. »Aus Gesprächen mit Gründern weiß ich, dass das größte Hindernis der Mangel an talentierten Führungskräften ist. Leute, die bereits Unternehmen von zwanzig zu zweihundert oder zweitausend Mitarbeitern ent wickelt haben. Die französische Tech-Szene ist sehr jung und hat einfach noch nicht ausreichend T a lente für diesen Bereich großgezogen oder aus dem Ausland geholt. Auch gibt es nicht genug Giganten, 74 deren Abgänge in das Netzwerk eingebracht werden könnten.«

Der Job verlangt viel Verantwortung und der Druck, die Zukunft der französischen Techbranche zu gestalten, ist groß. Doch Borlongan sieht sich selbst als die Kraft im Hintergrund, so wie es i hre Mutter für ihren Vater war – die Frau hinter der Bühne, die aber ungeheuerlichen Einfluss hat. »Ich muss keine Berge versetzen, tolle Reden halten oder dem Land eine Vision geben. Meine Aufgabe ist es, die Dinge ins Rollen zu bringen«, erklärt sie mir. Und dazu muss sie dafür sorgen, dass Paris trotz aller Wachstumsschmerzen zu dem Start-up-Knotenpunkt wird, zu dem es Präsi dent Macron erklärt hat.

»D ie Wahrheit ist«, Borlongan lehnt sich vor, als wollte sie mir ein Branchengeheimnis verraten, »es gibt nicht nur eine Zukunft für die Technologiebranche, sondern viele. Und alle konkurrieren miteinander. Nimm doch mal die USA, das Silicon Valley und schau, was Technologie zu Zeiten von Cambridge Analytica bewirkt hat. Du kannst auch nach China gehen, dort sind die großen Märkte wichtig. Und in der Vision Frankreichs bauen wir wichtige Unternehmen auf. Wenn du ein Start-up gründen möchtest, das eine Lösung für die Probleme seiner Kunden gefunden hat, dann ist das hier möglich und du wirst von vielen Menschen dabei unterstützt.« Und mit ein bisschen Glück, wird man von Borlongan unterstützt.

Zuhause in Paris

DEIN VON EINER FRAU GEFÜHRTES LIEBLINGSGESCHÄFT?

Frichti, ein Lieferservice für hausgemachte Mahlzeiten, die über eine App bestellt werden. Das Unternehmen wird von einer der engagiertesten Unternehmerinnen geleitet, die ich kenne: Julia Bijaoui. Es spiegelt genau ihre Persönlichkeit und ihre Leidenschaft für Essen wider.

WAS TUST DU, WENN DU ALLEIN SEIN MÖCHTEST?

Wenn möglich, verabrede ich mich mit mir selbst in einem Restaurant oder einem Bistro wie Tannat, das ich sehr mag. Meistens gehe ich in ein Lokal, dessen Besitzer oder Mitarbeiter ich kenne. Ich setze mich dann mit meinem Notebook oder einem Buch an die Bar.

WO GEHST DU GERN AM WOCHENENDE HIN?

Wenn wir nicht Lebensmittel bei einem Einzelhändler, also dem Käsemacher, dem Metzger, dem Bäcker, kaufen, gehen mein Mann und ich meist ohne ein bestimmtes Ziel spazieren oder wandern, um Fotos zu machen.

Oben: Café und Treffpunkt im Station F, wo sich die Büros von La French Tech befinden.

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