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AMÉLIE VIAENE Schmuckdesignerin

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FUSSNOTEN

FUSSNOTEN

Mit Leidenschaft zum Luxus AMÉLIE VIAENE

S C H M U C K D E S I G N E R I N

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AMÉLIE VIAENE TRÄGT NIE EINE UHR. Sie mag keinen Zeitdruck. Die Schmuckdesignerin lässt sich lieber vom Pausengong und den Abholzeiten an der Grundschule neben ihrer Wo hnung und ihrem Atelier leiten. Sieben Jahren lang stand ihre klobige Holzwerkbank gegenüber dem Fenster des zweiten Schlafzimmers ihrer Wohnung aus der Jahrhundertwende. Diese Werkbank war wie ein kreativer Kokon, an dem sie Hunderte einzigartiger Schmuckstücke entwarf und v on Hand fertigte.

Ich treffe sie zum ersten Mal in ihrer Wohnung im Esszimmer. Hier unterhalten wir uns an einem Vintage-Tisch über ihre Leben als Juwelierin – ein Leben mit familiären Schwierigkeiten und persönlichen Rückschlägen, Ausdauer und verdienter Anerkennung. Aber der Kreis ihrer Geschichte schließt sich erst in ihrer ersten eigenen Werkstatt und Boutique.

Viaene wuchs in einem winzigen Dorf am Rande von Troyes in der Champagne auf – r undum nichts als Himmel und Felder. »Wir hatten Pferde und Hühner, und in dieser offenen Landschaft fühlte ich mir immer frei«, erzählt sie mir. Ihr Vater war ein erfahrener Holzhandwerker und renovierte das Bauernhaus der Familie eigenhändig. Ihre Mutter war Hausfrau und erzog sie und ihre beiden Geschwister. Ein erfülltes, wenn auch einfaches Leben. Ihr Studium der Angewandten Kunst in einer Fachschule in der angrenzenden Region führte sie weg von zu Hause und gab ihr ein erstes Gefühl der Unabhängigkeit.

Als sie mit siebzehn ihren Abschluss in der Hand hielt, plante sie, an eine Schule für Modede sign zu gehen. Doch mitten in ihrer Zukunftsplanung wurde der Vater sehr krank. »Eine unglaublich schwere Zeit für uns alle. Wir hatten ohnehin nicht viel Geld, aber nun wurde es noch enger. Ic h konnte mir eine Universität und die Lebenshaltungskosten auf keinen Fall leisten.«

Ihr Studium verzögerte sich und sie zog nach Paris. Mit ihren dunkelbraunen Locken und ihrer schlanken, großen Figur weckte sie die Aufmerksamkeit von Scouting-Agenten, denen sie auf der Straße auffiel. »Ich unterschrieb einen Vertrag bei einer Modelagentur und rutschte damit in

das Erwachsenenleben«, erinnert sie sich. »Ich wollte unbedingt unabhängig und gleichzeitig für meine Familie da sein. So habe ich letztendlich nie mein eigenes Zuhause gefunden. Ich übernachtete mal bei der einen Freundin, mal bei der anderen – nicht besonders toll.« Sie hat keinen romantischen Blick auf ihre Erfahrungen; es gab positive Momente, die ihr eine Idee der Luxuswelt und von kreativer Kunst gaben, aber im Allgemeinen musste sie sich um ihren Lebensunterhalt kümmern – ein rapider Karrierestart war außer Reichweite. Ein paar Jahre lang ging es ihr gut: Dank verschiedener Jobs im Einzelhandel verdiente sie genug Geld, um eine eigene Wohnung zu mieten und Wurzeln zu schlagen.

Nach dem traumatischen Verlust ihres Vaters im Jahr 2011 entschied sie sich, sich wieder der Kunst zu widmen.

Tagsüber arbeitete sie im Einzelhandel und abends nahm sie an der Volkshochschule Unter richt in der Schmuckherstellung, lernte Edelsteinkunde und den Umgang mit Modellierwachs. »I ch war fasziniert von Luxusschmuck, musste aber sichergehen, dass es nicht nur eine dumme Fantasie von mir war, sondern dass sich dieser Weg lohnen würde«, erklärt sie. Viaene lernte schnell und war sehr geschickt. Nicht nur ihre Lehrer ermutigten sie, sondern sie fand auch die Anerkennung der Haute École de Joaillerie in Paris, einer der berühmtesten Fachschulen für Schmuckherstellung der Welt. Als Stipendiatin erhielt sie ein Jahr lang Intensivunterricht und ent deckte ihre Leidenschaft für die traditionellen Aspekte des Geschäfts: Wachsausschmelzverfahren und die Kunst der Gouachemalerei.

»Wenn du ein Schmuckstück aus einem Wachsmodell herstellst, brauchst du eine Art

3D-Blick. Ich beginne mit einer Skizze des Schmuckstücks, schnitze ein Modell und dann wird die Form im Wachsausschmelzverfahren mit Metall ausgegossen. So kann das Stück in einem Arbeits gang ohne Schmiedearbeiten hergestellt werden«, fährt sie fort, während sie ihren Verlobungsring vo m Finger zieht und mir in die Hand gleiten lässt, damit ich die glatte Form fühle. Ihr Stil ist ganz modern – sie spielt mit Volumen, Proportionen und Form und erzeugt damit Emotionen. »Ich wollte nicht sofort meine eigene Marke gründen, aber ich war mir sicher, dass ich keinen Alltags schmuck machen wollte. Ich wollte etwas schaffen, das eine Spur hinterlässt.«

Si e greift nach dem samtenen Kästchen und nimmt »mon coeur« heraus, einen herzförmigen Ring aus Weißgold in weichen, eleganten Linien. »Jetzt kannst du das Herz erkennen. Aber wenn der Ring am Finger ist, ändert sich die Form und das Herz ist nicht mehr zu sehen. Dies ist das erste Stück, das ich gemacht habe.«

Zunächst arbeitete sie für die besten Schmuckwerkstätten der Stadt und gründete schließ lich eine Kollektion mit ihrem Namen, in der sie ihrer Kreativität freien Lauf lassen konnte. »Bei

me inem ersten Job als Designerin in einer Werkstatt zeichnete ich Gouachen in einem staubigen

Gegenüberliegende Seite: Jedes von Viaene gefertigte Schmuckstück beginnt mit einer Skizze und einer Gouachezeichnung.

»Ich trage nur Schmuck, der eine persönliche Bedeutung hat. Heute fordere ich meine Studenten auf, die Rolle von Schmuck in einer Gesellschaft des übermäßigen Konsums zu berücksichtigen. Wie sieht ein Schmuckstück aus, das für einen bestimmten Zweck entworfen wurde?«

Hinterzimmer. Aber die Handwerker – fast immer Männer – produzierten immer etwas anderes als meinen Entwurf«, erzählt sie. Die Arbeit war nicht nur mühevoll und einsam, sondern sie und ihre Kolleginnen wurden einfach nicht respektiert. »Wir wurden ausgequetscht wie Zitronen und dann ohne Zögern ersetzt.« Eine Arbeit in einem fensterlosen Raum, bei der nur ein Bruchteil ihres Talents zutage kam, war nicht ihre Bestimmung.

Aber ein Alleingang stellt jeden Menschen vor große Herausforderungen. Und für die Grün dung eines Geschäfts in Paris braucht man die Ausdauer und die Überzeugung eines Übermenschen. Scheitern, egal aus welchem Grund, ist nie angenehm und im Schmuckgeschäft ist es z u dem sehr teuer. Bevor Viaene mit der Fertigung ihre ersten eigenen Stücke begann, testete sie den Markt und zeigte kleine Beispiele ihrer Werke auf Edelschmuckmärkten. Viele der Kunden, die sie vor zehn Jahren auf diesen Märkten kennenlernte, sind heute Stammkunden. Sie lassen ihre Edelsteine und Familienerbstücke von Viaene umarbeiten oder kommen einfach vorbei, um ihre herausragende Kunstfertigkeit zu bewundern. Dass sie so weit gekommen ist, hat aus ihrer Sicht viel mit Glück zu tun. »Es ist ein teures Geschäft. Da ich nicht mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen bin, musste ich viele Kredite aufnehmen. Erfolgreiche Menschen haben häufig eine wohlhabende Familie im Rücken oder verfügen über viele Kontakte. Es geht auch ohne diesen Rückhalt, aber es ist nicht leicht«, stellt sie fest.

Ihre Stützpfeiler auf dem Weg zum Erfolg waren eine ausgeprägte Arbeitsmoral, eine frische, ästhetische Sichtweise, ein eigener Stil und eine hervorragende Kunstfertigkeit. 2016 wurde sie vom Japanischen Wirtschaftsministerium und dem Französischen Staatssekretariat für Wirt schaft und Handwerk auserwählt, Frankreich beim G7-Gipfeltreffen der Gewerbetreibenden zu ve rtreten, der ersten Konferenz, die sich mit der Rolle von Frauen im Kunsthandwerk beschäftigt. Im gleichen Jahr wurde sie mit dem Preis für Kunsthandwerk der Stadt Paris (Grand Prix de la Création de la Ville de Paris) ausgezeichnet – eine wichtige Anerkennung nicht nur für sie selbst, sondern für alle Frauen, die einen ähnlichen Weg verfolgen. Doch den größten Einfluss auf ihre geschäftliche Zukunft hatte die Auszeichnung mit dem Preis der Stiftung der Banque Populaire im Jahr 2017, der mit einem Stipendium verbunden war, das sie für die Gründung ihrer ersten Werk statt-Boutique verwenden konnte.

D i ese Werkstatt mit Verkaufsraum eröffnete Viaene schließlich Ende 2018 im 7. Arrondisse

ment gleichzeitig mit dem 20. Jubiläum ihrer Ankunft in Paris. Sie strahlt vor Freude, als ich sie in i hrem neuen Zuhause besuche. »Bei meiner Arbeit ging und geht es immer nur darum, Geduld zu haben«, erklärt sie lachend. »Meine Kunden müssen bereit sein zu warten, bis ich ein Stück entworfen und gefertigt habe.« Sie hört jetzt keine Schulkinder und Pausenglocken mehr bei ihrer kreativen Arbeit und auf meine Frage, wie sich das anfühlt, antwortet sie: »Ich fühle mich frei, darüber nachzudenken, was als Nächstes kommt.«

Zuhause in Paris

DEIN VON EINER FRAU GEFÜHRTES LIEBLINGSGESCHÄFT?

Maison Aleph, die wunderbare Pâtisserie von Myriam Sabet (siehe Seite 227). Sie hat das Gebäck für mein Eröffnungswochenende geliefert – jedes S tück schmeckt intensiv und ist einfach köstlich!

WOHIN GEHST DU GERN MIT DEINEM MANN FÜR EINEN ABEND ZU ZWEIT?

In die Weinbar Verjus. Lola ist herzlich und gastfreundlich. Mein Mann und ich treffen uns gern nach der Arbeit auf ein Glas Wein und eine kleine Mahlzeit. Wenn möglich, würden wir jede Woche dort hingehen.

WO KANN MAN DIE KUNST DER SCHMUCKFERTIGUNG ERKUNDEN?

Die Galerie des Bijoux im Musée des Arts Décoratifs zeigt eine außergewöhnliche Sammlung zur Geschichte des Schmucks seit dem Mittelalter.

Oben: Eine Auswahl von Viaenes einzigartigen Ringen, die sie in ihrer Werkstatt-Boutique im 7. Arrondissement fertigt.

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