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LEÏLA SLIMANI Autorin und Gewinnerin des Prix Goncourt

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FUSSNOTEN

FUSSNOTEN

Genaue Beobachterin der Wünsche und Identitäten von Frauen

LEÏLA SLIMANI

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A U T O R I N U N D T R Ä G E R I N D E S P R I X G O N C O U R T

NUR SELTEN HABE ICH DIE GELEGENHEIT, den Arbeitsplatz einer Künstlerin besuchen zu dürfen. In einem solchen heiligen Gral bin ich versucht, jedes Staubkorn zu inhalieren, mir jedes Buch, jedes Bild und jeden unordentlichen Zeitungsstapel ins Gedächtnis einzuprägen, um diese Sensation für immer mit mir zu tragen. Ganz, als ob mich diese Erfahrung für immer ver ändern würde. Genau dieses Gefühl habe ich, als ich die preisgekrönte Autorin Leïla Slimani in ih rem Homeoffice treffe. Sie trägt ein Keith Haring-T-Shirt, weite Jeans und hellgrüne Sneakers, bittet mich zügig herein und zieht mich zu ihrem Plüschsofa, auf dem ich Platz nehme, während sie sich mir gegenüber auf den Schreibtischstuhl setzt. Mit ihren wirren Locken aus festem Haar mit goldfarbenen Spitzen schenkt sie mir ein warmes Lächeln und lehnt sich gegen den langen von handschriftlichen Notizen und Zeitschriften übersäten Schreibtisch. Direkt neben ihrem Compu ter liegt eine Kopie von Joseph Anton: Die Autobiografie von Salman Rushdie. »Das ist Forschung«, er klärt sie. Links von mir hängt ein gerahmtes Portrait von Slimani aus dem Jahr 2016, als sie den Prix Goncourt erhielt, die höchste Literaturauszeichnung Frankreichs, die ihr für ihren verstörenden zweiten Roman D a nn schlaf auch du verliehen wurde. Daneben sehe ich bunt durcheinander gewürfelt Familienfotos, Buntstiftzeichnungen ihres Sohnes, Ausschnitte aus Zeitschriften und Briefe ihres Verlegers. Rechts von mir erhebt sich eine Bücherwand mit Werken von Koryphäen mehrerer Generation wie Oscar Wilde, Simone de Beauvoir, Sophie Calle und ihrer persönlichen Heldin Simone Veil.

Das ist ihre Welt, ihr kreativer Raum, in dem sie Louise, Myriam, Adèle und zahllose weitere komplexe und häufig problembehaftete Charaktere zum Leben erweckt. In diesen meditativen Kokon wickelt sie sich ein, wenn sie Zeit für sich hat. Die beginnt, wenn die Kinder zur Schule gehen, bis sie um 16:30 Uhr wieder nach Hause kommen, und startet erneut nach Mittagessen, Badewannensessions, Zubettbringen und Mahlzeiten mit ihrem Mann, an den meisten Tagen bis tief in die Nacht. In diesem einen Zimmer kreiert sie Geschichten, die ein Millionenpublikum begeistern.

Noch bevor ich ein Werk von Slimani gelesen hatte, war sie mir bereits oberflächlich als die neue bedeutende Stimme im Kanon der großen, lange von Männern beeinflussten Literatur bekannt. Seit 2016 ist sie eine von zwölf Frauen und erst die zweite Marokkanerin, die den erstmals 1903 ausgelobten Preis gewonnen hat. Der Erfolg ihres Buches katapultierte sie sofort ins R a mpenlicht der Öffentlichkeit und sie gewann die Aufmerksamkeit der politischen und intellektuellen Elite des Landes. Präsident Macron ernannte sie kurz nach seiner Amtseinführung zu se iner persönlichen Referentin für frankophone Angelegenheiten. Ein Amt, unter dem sie Frankreich vertritt und die französische Sprache international bewirbt. So wurde sie von einer relativ Un bekannten zur Verkörperung der französischen Kultur.

Die in der marokkanischen Politik- und Verwaltungshauptstadt Rabat geborene Slimani wurde in einem ihrer Meinung nach friedlichen, familienorientierten und geschützten Umfeld großge zogen. Doch ihre Familie war stark konformistisch und hatte keine Verbindung zu der Kultur, die si e geprägt hat. Dennoch hatte sie Zugang zu Literatur, pflegte ihre lebhafte Fantasie und genoss eine französische Ausbildung, die die Grundlagen für eine Zukunft in Frankreich legte. Mit achtzehn kam sie zum Studieren nach Paris und betrat eine andere Welt, in der ihr Leben einsam und i n dividualistisch war, ihr jedoch auch verführerische kulturelle Angebote zeigte, die ihre Seele fütterten. »Ich konnte alles machen. Anonym sein, mich selbst neu erfinden, ohne dass jemand meine Vergangenheit kannte«, erzählt sie und zeichnet damit ein Bild ihrer Sehnsüchte, die ihr erst bewusst wurden, als sie erkannte, wie schnell sie einen Neuanfang bewältigen konnte.

Nach dem Studienabschluss arbeitete sie als Journalistin für die Wochenzeitung Jeune Afrique, reiste regelmäßig für Aufträge nach Marokko und Tunesien und bekam ihr erstes Kind, noch bevor sie sich überhaupt als Schriftstellerin versucht hatte. Viele Punkte ihres Lebens in Paris waren bestimmt durch Einsamkeit, die Schwierigkeit, Kontakte zu schließen, und die Angst, beim Versuch, sich anzupassen, die eigene Identität zu verlieren. »Ich habe fast vergessen, wie sich das damals anfühlte, aber ich weiß, dass ich immer Angst hatte, die Leute könnten mir misstrauen. Ich glaubte, besser Französisch sprechen, höflicher und diskreter sein zu müssen als jeder andere, um zu beweisen, dass ich gut bin. Als Frau aus Nordafrika musste das einfach so sein.«

Aber egal, was sie tat oder wie gut sie war, ihre Arbeit und ihre neue Berühmtheit lösten Ent täuschung aus. »Für manche war ich keine Nordafrikanerin mehr. Ich hatte die entsprechenden Ei genschaften verloren, weil ich keine Religion oder andere Überzeugung ausübte. In gewisser Weise war ich ›weißgewaschen‹. Und für Nordafrikaner bin ich kein Vorbild, weil ich keine gute Nordafrikanerin bin. Ich bin nicht devot, bescheiden und gehorsam.« Aber sie besteht darauf, dass ihr die Menschen wichtiger sind, die sie als unabhängiges Individuum wahrnehmen. »Ich hoffe, dass die Frauen, die so aussehen wie ich und Angst davor haben, frei und unabhängig zu sein, meine Arbeit sehen und erkennen, dass es sich lohnt.«

Gegenüberliegende Seite: Die wunderbare Bücherwand im Arbeitszimmer von Leïla Slimani.

Kurz gesagt geht es in ihren Büchern um den Alltag und alltägliche Menschen. Aber sobald man eingetaucht ist, erweist sich der Alltag als Sprungbrett für prägnante Verweise auf die dunkleren Seiten des Lebens und der Gesellschaft. Themen wie Mutterschaft, Liebe, Sexualität, Vergnügen, psychische Zustände, Identität und Traditionen behandelt sie mit erfrischender Offenheit, s e lbst wenn das die Leser verunsichert. In ihrem preisgekrönten ersten Roman All das zu verlieren sorgen die lähmende Langeweile der Protagonistin Adèle als nihilistische Zeitungsjournalistin, Ehefrau und Mutter in Paris und ihre unersättliche Sexsucht, die sie vor ihrem Mann zu verber gen versucht, dafür, dass sie tief in die Selbstisolation versinkt. Obwohl sich die meisten Leser wa hrscheinlich nicht mit Adèle identifizieren, sind ihre chronisch sexuellen Zwänge, die Frage der Befriedigung und des Auslebens ihrer unverhüllten Eigenschaften in hohem Maße nachvollziehbar. Die Prosa in all ihren Werken ist zugänglich, büßt aber nie an Kraft ein. Mit ihren wohl gewählten Worten, die noch lange nach dem ersten Lesen wie ein unerwarteter Schlag nachwirken, hat sie im stilistischen Spektrum das perfekte Mittelmaß zwischen starker Vereinfachung und unnötiger Aus schmücken gefunden. Gleichzeitig ist das aber auch der Grund dafür, warum einige Leser Dann sc hlaf auch du bereits nach der ersten Zeile aus der Hand legen: »Das Baby ist tot«. Sie fordert ihre Leser auf, ein – h äufig schmerzhaftes – G efühl zu empfinden und sich ganz darin zu verlieren. »Ich möchte, dass meine Leser eine menschliche Verbindung zu diesen Charakteren empfinden«, erzählt sie mir. »Sie sollen sich aufgerüttelt und unwohl fühlen. Sie sollen anhand der Geschichten über ihr eigenes Leben nachdenken und einen Freund oder einen neuen Bekannten mit anderen Augen betrachten, weniger beurteilen.«

Sie infiltriert den Alltag mit dem Dunklen und Bösen und erinnert uns damit daran, dass selbst hinter einem nach außen perfekten Leben Menschen stehen, die ihre Wünsche, ihre Kämpfe durch die soziale und berufliche Dynamik immer wieder neu ausfechten müssen und manchmal vor Verzweiflung wild um sich schlagen. Slimanis Anhänger und Kritiker schenken ihr viel Aufmerk samkeit wohl weniger aufgrund ihres literarischen Scharfsinns als vielmehr, weil ihre Geschichten al le Erwartungen über den Haufen werfen. Sie stellt Paris, wo ihre Geschichten spielen, sowohl als Schönheit als auch als Biest dar – ein ehrliches, wenn auch schrilles Bild der Stadt.

»Paris ist die schönste und interessanteste Stadt der Welt. Sie ist eine riesige Theaterbühne und behält trotzdem ihre Dunkelheit und ihr Mysterium bei. Sie ist so außergewöhnlich, weil sie nicht nur schön ist.« Je nachdem, was ein Mensch in seinem Leben durchmache, fährt sie fort, komme er entweder mit dieser Schönheit oder mit Traurigkeit, Gewalt, Elend oder Verdorbenheit in Kontakt und manchmal mit allem gleichzeitig. Deshalb sei die Stadt keine Fantasie, sondern real. Sie spiegele das ganze Spektrum des Lebens, von Gefühlen und Umständen wider.

Und dann gebe es noch die Menschen selbst, die Beziehungen und die Rollen z. B. zwischen Mutter und Kindermädchen, zwischen berufstätiger Mutter und Gesellschaft und natürlich die Wünsche einer Frau. Ständig wird sie gefragt, warum sie nicht über Themen schreibt, die ihrer Heimat, ihrer Herkunft näher sind. Warum ist sie so provokativ? Zum Teil ist sie sicherlich so

»Ich bin stolz darauf, die französische Sprache zu vertreten. Sie ist das Tor zur Freiheit. Jeder, der die Sprache sprechen möchte, darf das auf seine Weise tun. Man darf sie verändern, umbauen, ausschmücken – die Sprache ist kein Heiligtum.«

erfolgreich, weil sie über etwas schreibt, das außerhalb ihrer eigenen Erfahrung liegt. Sie wagt es, über Themen zu schreiben, auf die sie, wie man ihr sagte, kein Recht habe. »Jede Schriftstellerin und jeder Schriftsteller hat etwas zu sagen. Ich bin in einem sehr bürgerlichen Milieu groß geworden und die Literatur hilft mir das auszudrücken, was ich im echten L e ben nicht sagen kann. Hier kann ich über Gewalt, Sexualität und Brutalität sprechen«, erklärt Slimani und fügt hinzu, dass ihr die Ideen wie Geistesblitze kommen und häufig mit ihrer eigenen Erziehung zusammenhängen. Die Inspiration für die Psychologie und das Unglück im Zusammen hang mit der Hypersexualität von Adèle zum Beispiel holte sie sich bei der Dominique StraussKa hn-Affaire im Jahr 2011. Dagegen findet der Kindsmord in Dann schlaf auch du Parallelen im Jahr 2012, als die Krim-Kinder in New York City von ihrem Kindermädchen ermordet wurden. Sie taucht in Welten ein, die sie erforschen muss, wie eine Schauspielerin, die eine Rolle spielt, der sie sich voll und ganz unterwirft. »Ich habe mich nicht bewusst entschieden, ob ich über meine marokkanische Herkunft oder etwas anderes schreiben möchte. Die nationale Identität ist bereits

ein so dominantes Thema im Alltag, dass ich davor fliehen wollte. Vielleicht wäre dieses Thema einfacher gewesen, weil es auf der Hand liegt, aber es interessiert mich nicht.«

Selbst wenn ihre eigene Identität und ihre persönlichen Erfahrungen beim Verlassen der Heimat keine Inspiration für sie sind, bleibt sie fasziniert von den häufig anonymen Frauen, mit denen sie in Marokko aufgewachsen ist, und deren Kampf gegen die Widrigkeiten des Lebens. Häufig denkt sie an ihre algerische Mutter, die in Marokko Zuflucht gefunden hat, an ihre Tante, die Algerien wegen drohender Enthauptung verlassen hat, weil sie keinen Schleier tragen wollte, und an all die jungen Mädchen so um die vierzehn Jahre, die sie im Bahnhof von Casablanca gesehen hat – Mädchen, die vergewaltigt und geschwängert wurden und deshalb ihre Heimat in Schande verlassen müssen. »Diese unbekannten Frauen haben mich verstört und verfolgen mich genauso wie die Ungerechtigkeiten, die sie erfahren haben«, beklagt sie. »Sie haben aus mir eine Feministin gemacht.«

Die unbekannten Frauen, die in den Werken von Frauen wie Virginia Woolf und Gisèle Halimi dargestellt werden, dienen ihr als intellektuelles Werkzeug, mit dem sie dem Kampf für die Frauenund Menschenrechte ein Gesicht gibt. »Mein Ziel ist es, das, was ich zu sagen habe, möglichst deutlich zu sagen. Dann liegt es an den Lesern, ob sie mich verstehen oder interessiert sind oder

nicht. Ich kämpfe dafür, dass Frauen Zugang zum Lesen und Schreiben haben, denn hier herrscht nach wie vor eine grundlegende Ungerechtigkeit. Selbst in der heutigen Zeit können oder dürfen Millionen von kleinen Mädchen nicht zur Schule gehen und werden nie lesen oder schreiben lernen.« Slimani wurde von einem Kindermädchen aufgezogen, die das gleiche Schicksal hatte, sodass sie die Demütigung, die ihre Vertraute aufgrund ihres Analphabetismus erfuhr, sehr gut beobachten konnte. Slimani hat den Prix Goncourt gewonnen, aber ihre Großmutter konnte nicht lesen und schreiben. Die Unterdrückung von Frauen auf der ganzen Welt ist inakzeptabel und ist der eigentliche Grund für ihren Kampf.

Wenn sie schreibt, dann geht es ihr weniger um die Liebe zum Geschichtenerzählen, sondern vielmehr um die Macht, die sie damit ausüben kann. »Das einzige, was ich kann, ist Wörter zu benutzen. Aber ich weiß, dass ich damit ein großes Privileg und eine schlagkräftige Waffe habe.«

Oben: Eine von Slimanis weiteren Arbeiten: Eine Ode an ihre Heldin Simone Veil. Das Werk von Leïla Slimani umfasst fiktionale und nicht fiktionale Texte, Essays sowie Kommentare zu Menschenrechten und aktuellen Ereignissen. Ihr erstes Sachbuch, Sexe et mensonges: La Vie sexuelle au Maroc (Sex und Lügen: Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt) behandelt Sexualität in Marokko, dargestellt durch Gespräche mit fünf Frauen.

Zuhause in Paris

DEIN VON EINER FRAU GEFÜHRTES LIEBLINGSGESCHÄFT?

Die BNF (Bibliothèque Nationale Française) in der Rue de Richelieu. Sie ist eine der schönsten Bibliothek en der Welt und beherbergt eine unermessliche Auswahl an Büchern. Die Direktorin ist die Hüterin der größten Schätze der Menschheit.

DEIN LIEBLINGSSTADTTEIL?

Pigalle, in diesem Stadtteil wohne ich und seine Geschichte fasziniert mich. Jede Straße erinnert mich an etwas, einen Film, einen Roman, ein Lied oder einen Augenblick. Alles ist verhext und belebt von Menschen aus der Vergangenheit und der Gegenwart – und meine Familie lebt hier. Ich kenne alle Besitzer der Cafés und Restaurants. Es dauert sehr lange, bis man in Paris sein »Dorf« gefunden hat. Die Pigalle ist meines.

AN WELCHEM ORT BIST DU ALS SCHRIFTSTELLERIN GLÜCKLICH?

Das Musée d’Orsay ist ein außergewöhnlicher Ort, an dem ich literarische Inspiration finde. Die Museums-Buchhandlung ist wunderbar – da musst du unbedingt hingehen.

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