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SARAH SAUQUET Lehrerin und Gründerin von Un Texte Un Jour
Sammlerin klassischer Literatur für Leser jeden Alters
SARAH SAUQUET
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L E H R E R I N , A U T O R I N U N D G R Ü N D E R I N V O N U N T E X T E U N J O U R
ALS SARAH SAUQUET MARCEL PROUSTS Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gelesen hatte, wusste sie, dass sie zur Lehrerin berufen war. Mehr als ein Jahrzehnt unterrichtete sie im Lycée de Foucauld im 18. Arrondissement Fünfzehnjährige in Literatur und vermittelte ihnen ihre ansteckende Liebe für die Klassiker. Aber wie bekommt man die Digital-First-Generation dazu, Interesse für einen dreihundert Seiten dicken Wälzer zu entwickeln? Eine wahre Herausforderung. Sie wollte die Aufmerksamkeit der Jugendlichen mit einem Format wecken, für das sie empfäng lich sind, und startete Un Text Un Jour (Ein Text pro Tag; später folgte die englische Version A Te xt A Day), eine mobile App, auf der täglich Auszüge aus etwa vierhundert Texten aufpoliert mit Quizfragen, Autorenbiografien und semantischen Anekdoten angeboten werden. Sehr schnell wurde diese App zu der am meisten im App Store heruntergeladenen Literatur-App. Damit wurde Sauquet zu einer Art literarischem Vormund erhoben – eine Rolle, die sie gern annimmt.
Ich treffe Sauquet – s ie mit einem Buch in der Hand – a uf eine Tasse Tee im Café Marly, um mit ihr die heilenden Kräfte von Büchern, ihre lebenslange Faszination für Kunst und den Zustand der allgemeinen Bildung in Frankreich zu diskutieren.
Bist du in einer Familie von Lesern aufgewachsen? Ich war eine passionierte Leserin in einer Familie voller Sportler! [Sie lacht] Zwar lasen wir alle gern, aber ich liebte Büchern ganz besonders. Sie eröffneten mir eine Welt, machten mich neu gierig. Ich erkannte früh, dass es keinen besseren Trost für mich gab als ein gutes Buch oder einen B e such im Kino.
Also hat Kunst im Allgemeinen deine Kindheit geprägt. Welche Frauen haben dich inspiriert? Romy Schneider, Vivien Leigh und Marie Trintignant. Als Kinoliebhaberin habe ich diese Schau spielerinnen in verschiedenen Situationen meines Lebens für mich entdeckt und jede von ihnen hat mich mit ihrer Persönlichkeit einfach umgehauen. Die Stimme von Janis Joplin, die mich mein
ganzes Leben lang sozusagen begleitet hat, hat eine so brennende Kraft, dass ich eine instinktive, in gewisser Weise unbeschreibliche Wildheit mit ihr assoziiere, ein Amerika voller Motels und eine gewisse Mythologie, die ich gern in meiner Nähe weiß. Und dann gibt es noch Hélène [Gordon] Lazareff, die Gründerin des Magazins Elle, und Régine Deforges, eine Verlegerin, Dramatikerin und Romanautorin, die sich bemüht hat, erotische Literatur in Frankreich zu verbreiten. Denn obwohl über dieses Genre viel gesprochen wird, wird es nur selten gelesen. Sie hat Geschichten veröffent licht, die unerlaubt und unter der Ladentheke gehandelt wurden. Damit hat sie neuen Stimmen eine Öffentlichkeit gegeben. Als T eenager habe ich ihre Reihe Das blaue Fahrrad verschlungen.
Gibt es Bücher, die du als Erwachsene immer wieder liest? Ja, viele und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Aber Sarahs Schlüssel von Tatiana de Rosnay hat einen besonderen Platz in meiner Bibliothek und das nicht nur, weil die Protagonisten Sarah heißt. In diesem unglaublich wichtigen und notwendigen Buch wird die Geschichte des Vélodrome d’Hiver diskutiert, eine beschämende Zeit in der französischen Geschichte, die wir auf keinen Fall vergessen dürfen. Sarah ist eine sehr bewegende und robuste Persönlichkeit, die uns daran erinnert, dass kein Weg im Leben einfach ist, dass wir das Recht haben, Fehler zu machen und von Neuem zu beginnen. Komplizierte Lebenswege sprechen mich an und in diesem Buch finde ich immer Antworten auf die Fragen, die ich mir stelle.
Du hast eine solche Faszination für das geschriebene Wort. Damit hättest du gut und gern auch andere Wege beschreiten können. Warum hast du dich für die Bildung entschieden? Ich wollte eine Karriere machen, die Sinn ergibt, und da gibt es nur wenige Berufe, die wirklich sinnvoll sind. Unterrichten ist sehr bereichernd, genauso wie der Kontakt zu meinen Schülern. Ich bin regelmäßig erstaunt, dass ich Eindruck bei ihnen hinterlasse. Sie sollen verstehen, dass klassische oder zeitgenössische Literatur zwar kein Ausweg ist, aber einen Lösungsvorschlag für fast alle Probleme bietet. Für mich ist es in Ordnung, dass sie anders lesen als ich in ihrem Alter, denn sie haben andere Fähigkeiten. Sie wollen, dass ich ehrlich zu ihnen bin und sie wie Erwach sene behandele. Was das angeht, sind sie sehr empfindlich. Für mich ist das nicht immer einfach. Ic h gebe ihnen nur Bücher, die ich selbst mag, die ich sozusagen abgesegnet habe. Wenn wir diese dann besprechen, wissen die Schüler, dass meine Analysen ehrlich sind. Aus diesem Geben und Nehmen habe ich viel gelernt. Und da ich nur in Teilzeit unterrichte, habe ich genug Zeit, um selbst zu schreiben (ich habe einige Bücher veröffentlicht) und mich um mich selbst zu kümmern. Ich habe eine chronische Krankheit, wegen der ich mich immer wieder ausruhen muss.
»In Paris gibt es fünfzig öffentliche Bibliotheken, die kostenlos genutzt werden können. Ich finde es toll, dass der Zugang zur Kultur nichts kostet.«
Un Texte Un Jour ist eine intelligente, mobile und sehr zurückhaltende Art, Menschen zum Lesen der Klassiker zu überzeugen. Welcher Stein hat diese Idee ins Rollen gebracht? Meine Mutter. Sie war Ingenieurin und hatte bereits einige Apps für ihre Arbeit produziert. Ein Jahr nachdem ich jedem in meiner Familie eine gedruckte Literaturanthologie in die Hand gedrückt hatte (wie du siehst, ist das meine Art, mit der Welt in Kontakt zu treten), schlug sie mir vor, eine Art digitale Literaturanthologie zu erschaffen. Wir haben die App zusammen entwickelt und sie ging 2012 online. Damals gab es kaum Literatur-Apps auf dem Markt, sodass wir sofort bekannt wurden. Später haben wir dann noch Un Poème Un Jour und anschließend die englische App A Text A Day entwickelt. Heute haben wir sechs verschiedene Apps im Angebot.
Welche Erwartungen hast du? Ich habe die App als pädagogisches Werkzeug entwickelt. Ich habe sie mit meinen Schülern ange wendet und wollte, dass andere Lehrer sie ebenfalls im Unterricht nutzen. Doch zu meinem großen E r staunen wurde die erste App vor allem von einem allgemeinen Publikum heruntergeladen und verwendet, Nutzer im Alter von fünfundzwanzig bis fünfzig Jahren. Ein Beweis dafür, dass es nie zu spät ist zu lernen.
In deiner App werden Texte von Männern und Frauen, Franzosen und Ausländern vorgestellt. Der fran zösische Lehrplan hat dagegen eine notorische Tendenz zu männlichen Autoren: Erst 2017 wurden die Bü cher von Madame de la Fayette im Lehrplan für das Abitur in Literatur aufgenommen. Wie wählst du die Werke aus, die du in deinen Unterricht aufnimmst? Es stimmt, dass im letzten Jahr vor dem Literatur-Abitur laut Lehrplan kein Werk einer Schriftstel lerin im Unterricht besprochen wurde, bis eine Petition durchgeführt und La Princesse de Montpensier ( Die Prinzessin von Montpensier) aufgenommen wurde. Im zehnten und elften Schuljahr können die Lehrer selbst bestimmen, welche Werke sie im Unterricht behandeln möchten. Und
zum Thema Literatur habe ich eine sehr nuancierte Meinung. Bevor ich mich um das Geschlecht der Autorin oder des Autors kümmere, wähle ich einen Text wegen seiner Qualität aus. So ist zum Beispiel Victor Hugo ein größerer Romancier als Georges Sand, ich finde die Gedichte von Ronsard schöner als die von Louise Labé und ich ziehe Marcel Proust Marguerite Duras vor. Ich entscheide mich also nie aus Paritätsgründen für eine Schriftstellerin. Aber in jedem Jahr wähle ich auch Schriftstellerinnen aus, die meine Schüler lesen müssen. Meist sind dies allerdings zeitgenössische
Autorinnen wie Tatiana de Rosnay und Daphne du Maurier. Dennoch ist die Auswahl weiblicher Autorinnen für mich kein Steckenpferd. Meiner Meinung nach gibt es zahlreiche Möglichkeiten, in der Bildung feministische Werte zu vermitteln. So kann man zum Beispiel Schülerinnen Rollenvorbilder anbieten und sie damit in den Mittelpunkt stellen. Sie weibliche Autoren lesen zu lassen, i s t da wirklich nicht die einzige Lösung.
Zwar haben sich die Lehr- und Lernmethoden in deiner Zeit im Bildungssystem schon weiterentwickelt. Dennoch ist die Unzufriedenheit der Lehrer erheblich angestiegen; Streiks sind im öffentlichen Dienst an der Tagesordnung. Wo liegen die Probleme? Wir haben zu wenig Lehrer und wir haben zu wenig finanzielle Mittel, um den Beruf so zu gestalten, dass er für die Lehrer von morgen interessant ist. Darüber hinaus stimmt das Verhält nis von Arbeit und Aufwand nicht mehr. Wir haben viel zu viele Schüler pro Klasse, manchmal si nd es sechsunddreißig, und die Lehrer haben zu wenig Freiheit, die Klassen und die Lehrinhalte nach ihrem Ermessen zu gestalten. Viele Lehrer üben den Beruf aus, weil sie den Kontakt zu den Schüler lieben. Aber bei so großen Klassen und dem hohen Zeitdruck ist es schwer, dieses Verhält nis zu bewahren und die Schüler beim Erwachsenwerden zu unterstützen.
In sgesamt wird in puncto persönlicher Entwicklung der Schüler von den Lehrern (und den Schulen im Allgemeinen) in Frankreich viel verlangt. Aber es ist nicht Aufgabe der Schule, alle Probleme zu lösen, auch die Eltern und Schüler müssen mit einbezogen werden.
Und sicherlich wird das nicht besser, wo doch Präsident Macron im Schuljahr 2019–2020 bis zu 2.600 Lehrerstellen in mittleren und weiterführenden Schulen streichen will. Verändert sich deine Wahrneh mung des Berufes damit? Wi e zahlreiche meiner Kollegen halte ich das für eine problematische Reform. Damit wird von den Lehrern verlangt, noch mehr zu arbeiten, obwohl eine Vollzeitstelle bereits extrem intensiv ist. Ruhepausen und der psychologische und persönliche Ausgleich sind extrem wichtig, um eine Klasse leiten zu können, vor allem eine Klasse mit immer mehr Schülern. Aber seit dieser Ankündigung hat sich die Presse schon deutlich auf die Schwachstellen unseres Systems gestürzt. Darüber bin ich sehr froh. Die Menschen müssen die Ausmaße des Problems erkennen. Insge samt bestätigt all das meine Einstellung zum Unterrichten, denn wenn sich nichts ändert, werden j ü ngere Lehrer eine extrem rare Spezies werden. Ich hoffe, dass dies der Anfang eines ernsthaften Diskurses über die Erneuerung eines zerfallenden Systems wird.
Zuhause in Paris
EIN VON EINER FRAU GEFÜHRTES LIEBLINGSGESCHÄFT?
Mein Lieblingsgeschäft wird nicht von einer Frau geführt, ist aber immer voll mit Frauen! Die städtische Bibliothek Marguerite Durand, die erste Bibliothek in Frankreich, die aus schließlich Bücher zur G eschichte der Frauen, zum Feminismus und zur Gleichstellung der Geschlechter anbietet.
WELCHER ORT INSPIRIERT DICH?
Die Oper Palais Garnier (siehe oben). Hier habe ich immer das Gefühl, mich in einem Roman von Zola oder Balzac zu bewegen!
WO LIEST ODER SCHREIBST DU AM LIEBSTEN?
Im Café Marly. Hier finde ich einfach alles: eine wunderbare Aussicht, Pariser Klassizismus und genau das Bild, das ich von Paris habe, wenn ich die Augen schließe. Ich habe schon oft dort zu Abend gegessen, aber manchmal gehe ich auch einfach zum Lesen dorthin.