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MURIEL TALLANDIER Verlegerin und Mitbegründerin der Confiserie Fou de Pâtisserie
Frischer Wind in der Konditorei und im Verlagswesen
M U R I E L TALLANDIER
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V E R L E G E R I N U N D M I T B E G R Ü N D E R I N V O N F O U D E PÂT I S S E R I E
JEDER ARBEITSTAG BEGINNT MIT DEM GLEICHEN RITUAL für Muriel Tallandier.
Der Wecker klingelt vor sieben Uhr, aber sie kuschelt sich noch einmal zwanzig Minuten lang in die Kissen und denkt über den letzten Abend, den kommenden Tag, das vergangene und das zukünftige Leben nach. Ihr Frau Julie Mathieu (siehe Seite 221) bereitet das Frühstück zu und die beiden essen gemeinsam mit ihrer Tochter, bevor diese in die Schule gehen muss. Mit dem Bringen und Abholen wechseln sie sich ab – e s sind heilige Momente, auf die sie nie verzichten möchten, egal wie hoch der Stapel auf dem Bürotisch ist. Anschließend fährt Tallendier zu Pressmaker, dem unabhängigen Verlag, den sie 2012 gegründet hat.
Ich lernte sie kennen, weil Mathieu sie mir bei der Eröffnung ihrer ersten Confiserie, der Fou de Pâtisserie, vorstellte. Mathieu hatte mir viel über sie erzählt, sodass ich mir bereits ein Bild über sie gemacht hatte, mir aber die Frau, die ich dann traf, nicht vorstellen konnte. Und vor mir stand eine motivierte, gut gelaunte Unternehmerin mit vertrauenerweckender Stimme und einem gewissen Selbstbewusstsein. Sie strahlte vor Dankbarkeit dafür, dass sie gemeinsam mit ihrer Frau, mit der sie eine tiefe Leidenschaft für gutes Essen und Kultur teilt, ein Unternehmen leiten kann. Damals war sie unglaublich cool – eine ziemlich vage Bezeichnung für eine Eigenschaft, die doch ihre ganze Persönlichkeit erfasst. Und cool ist sie auch heute noch.
Seit unserem ersten Treffen haben sich unsere Wege mehrfach bei Veranstaltungen rund um Backwaren, mal mit, mal ohne Mathieu gekreuzt, und wir haben Nachrichten zu interessanten Büchern und Restaurants auf Instagram ausgetauscht. Eines Tages lud sie mich zu einem gemein samen Mittagessen mit Mathieu ein, da sie meine Meinung zu einem wertvollen Beitrag in ihrem Ma gazin hören wollte.
Ich stelle Tallandier hier so ausführlich vor, weil sie bei jedem unserer Treffen viel mehr Interessen an meiner Geschichte hatte als daran, ihre eigene zu erzählen. Immer war sie von meinen F ä higkeiten mehr überzeugt als ich selbst. Lange habe ich nur kleine Fragmente aus ihrem Leben
erfahren und erst als ich sie bat, sie in meinem Buch vorstellen zu dürfen, setzte sich ein umfassen
deres Bild über sie zusammen.
Un d dieses Bild zeigt zumindest mir, dass Tallandier eine Frau mit unstillbarer Neugier, Wärme, grenzenloser Hingabe für Familie und Freunde und mit einer Vision ist, mit deren Hilfe sie ihr Unternehmen so führt, dass sie ihr Leben nach ihren Vorstellungen leben kann.
So wie die Vorfahren der Tallandiers wurde Muriel als Kind von Akademikern in Saint-Denis
geboren. Ihr Vater war Direktor einer weiterführenden Schule und so wuchs das Mädchen an all den Orten in Frankreich auf, an die die Familie aufgrund des Jobs des Vaters zog. Erst als sie in den frühen Neunzigerjahren ihr Kunststudium an der berühmten École Estienne aufnahm, kam die lang ersehnte Rückkehr nach Paris. »Ich war immer das schwarze Schaf der Familie. Meine Brüder wurden Professoren für Biochemie und Physik und ich bin selbstständig!« Kichernd lehnt sie sich im ledernen Armsessel ihres Büros zurück. Als Kind träumte sie von zwei unterschiedli
chen Berufen: Sie wollte Chirurgin werden oder für die Presse arbeiten. »Ich habe jede Zeitschrift un d Zeitung gelesen, die ich in die Hand bekam. Die Zeitschrift Elle, die meine Mutter per Post bekam, liebte ich, obwohl alles, was darin stand, für mich unerreichbar war«, erklärt sie. »Und
ich wollte unbedingt zurück nach Paris. Für mich waren Redakteure und Verleger die ultimativen Symbole für das Pariser Leben und da wollte ich mitmischen.« Außerdem wollte sie noch alles genießen, was Paris zu der Zeit zu bieten hatte: Es war die Stadt der Freiheit und Partys, der Stars und Intellektuellen, die sich in den legendären Nachtclubs trafen. In Lille, wo sie vor ihrer Rück kehr in die Hauptstadt lebte, kannten alle ihren Vater und damit kannten alle auch sie. Sie fühlte s i ch gefangen in der Dynamik einer kleinen Stadt, vor allem in dem Versuch, ihre Gefühle als junge Erwachsene in den Griff zu bekommen. »Ich war neunzehn und hatte mich gerade meinen Eltern gegenüber geoutet. Ich mochte die Vorstellung, in der großen Stadt anonym zu sein«, erinnert sie. »Außerdem wurde doch alles in Paris produziert. Alles, was ich sah und las, wurde in Paris erzeugt. Erst als ich in Paris ankam, fühlte ich mich richtig lebendig.«
Ihre Ankunft in Paris beschreibt sie wie das Erlebnis von Alice im Wunderland, die in ein Kaninchenloch fällt und in einem anderen Land landet. Nur, dass es in ihrem Fall darum ging, vom Vorort in die Großstadt zu kommen. Die Studienjahre in ihrem zweiten Lebensjahrzehnt ver brachte sie in einer sozial gemischten homosexuellen Gruppe, die vom 16. Arrondissement bis in die Banlieue (Vororte) zu finden war. Eine sehr spannende Zeit, erzählt sie, im schichtenorientierten System, das typisch für das Pariser Leben ist. »Du wirst aufgrund der Schule, die du besuchst, de r Familie, aus der du stammst, und des Stadtteils, in dem du lebst, beurteilt.« Sie aber entwi
ckelte sich in dieser Umgebung nicht zuletzt deshalb, weil sie nach vorn schaute, als ob das System fü r sie selbst keine Gültigkeit habe.
Trotz ihres vorherrschenden Interesses an den Medien begann ihre Karriere in der Musikindustrie: zunächst bei Polygram (das später von Universal übernommen wurde), dann als Marketingdirektorin bei Sony Music und schließlich als Leiterin des Musikprogramms für TF1, die
»Wir müssen aus dem Traum von Vater-Mutter-Kind, vom Märchenprinzen aufwachen und unsere eigenen Geschichten erfinden. Ich denke, dass das in Paris möglich ist.«
französische Medien- und Fernsehanstalt. Das Programm war schnell zum Scheitern verurteilt, aber das Unternehmen schätzte ihre Fähigkeiten und bot ihr eine Stelle in einem Bereich an, in dem sie immer landen wollte: dem Verlagswesen. »Ich war bei TF1 für alles verantwortlich, das nichts mit Fernsehen zu tun hatte. Eines der größten Projekte war die Entwicklung eines Magazins für Pop-Sendungen. Mir hat das so viel Spaß gemacht, dass ich TF1 Publishing gegründet habe, eine ganze Einheit mit Büchern, Zeitschriften und Druckerzeugnissen.« Einige Jahre später verließ sie das Unternehmen, um das erste ihrer zahl reichen Verlagsgeschäfte zu gründen.
A l s sie dreißig Jahre alt war, traf sie Mathieu in einem Nachtclub. Die beiden verliebten sich, zogen bald zusammen und unterstützen sich seitdem gegenseitig in all ihren ambitionierten Vorhaben. Mathieu strebte eine Karriere in der Politik an (von der sie sich später aber wieder zurückzog) und Tallandier sammelte in ihrem ersten Verlagszweig zahlreiche Zeitschriften für Kinder und j u nge Erwachsene. »Wir beide liebten das Reisen und vor allem die Vorstellung, viel zu arbeiten, um mehr Zeit zum Reisen anzusparen. Wir wollten das bestmögliche Leben führen. Mein Zeitplan als Unter nehmerin war für solche Ideen etwas flexibler«, erklärt sie. »Nach meiner Entbindung von unserer To chter Gabrielle haben wir unser Leben neu strukturiert, um mehr Zeit miteinander zu verbringen – in Paris und auf Reisen.«
Kurz nachdem Tallandier Pressmaker, ihren zweiten und derzeitigen Verlag gegründet hatte, kam auch Mathieu zum Unternehmen. »Ich habe ihr alles beigebracht, was sie über die Branche wissen muss, aber sie hat eine natürliche Begabung für das Schreiben und Managen. Und eine Engelsgeduld. Ich nenne sie la force tranquille (die ruhige Kraft)«, lacht sie. »Ich bin genau das Gegenteil. Pas tranquille.« Die beiden ergänzen sich sowohl im Privaten als auch bei der Arbeit. Und so lag es für die zahlreichen talentierten Schriftsteller und Designer, mit denen sie zusam menarbeiten, auf der Hand, dass sie ihre »Leuchtturm« veröffentlichten: Fou de Pâtisserie und die k le ine Schwester Fou de Cousine.
Das vorrangige Ziel dieser beiden Zeitschriften ist, sowohl die Grands Chefs als auch aufstrebende Talente mithilfe von Profilen, Interviews, Rezepten und Backgeheimnissen, die Liebhaber von Backwaren nur hier bekommen können, bekannt zu machen. Der natürliche nächste S c hritt bestand darin, diese Erfahrung auch im echten Leben anzubieten. Nachdem die Zeitschrift einige Jahre erfolgreich vermarktet wurde, hatten sie gemeinsam das Vertrauen der talentiertesten
Konditoren, Bäcker und Chocolatiers des Landes gewonnen, die die Idee eines Konditorei-Konzeptladens begrüßten und Tallandier, Mathieu und ihr Team aus erfahrenen Vermarktern von Ba ckwaren mit ihren Kenntnissen und ihrem Image unterstützen. Heute führen die beiden Läden und eine Backwaren-Bar im Feinkostenladen Maison Plission und haben einen Band mit fünfund
achtzig Rezepten der vierzig besten Konditoren herausgegeben. »Ich möchte Dinge erschaffen, die s chö n, aber populaire – z ugänglich sind. Nur allzu häufig bleiben solche herausragenden Produkte einer Elite vorbehalten. Wir möchten, dass die Bedingungen für alle gleich sind.«
Freundlich weist sie meine Vermutung zurück, dass sie und Julie Visionärinnen in der Branche sind. »Vor allem ist Julie der echte Star des Ladens. Ich bin eher die Frau im Hintergrund. Ich versuche, Barrieren einzureißen und unsere Vision umzusetzen«, grinst sie. »Eigentlich geht es bei uns um Diversifizierung – w ahrscheinlich die einzige Überlebenschance für die Presse.«
In ihren Augen sind die Projekte nicht zu ambitioniert. Begriffe wie »übertrieben« oder »ver boten« gibt es für Tallandier nicht. »Ich will nicht sagen, dass nichts unmöglich ist, denn das ist Qu atsch. Aber ich schaue im Leben oder bei der Arbeit nicht auf Dinge, die unerreichbar sind«, erzählt sie mir. Sie findet Lösungen, räumt Hindernisse aus dem Weg – e ine Philosophie, die sie auch auf die Mutterschaft anwendet. »Wir wollten unbedingt Kinder, aber wir wussten auch, dass das nicht einfach werden würde. In Frankreich ist eine künstliche Befruchtung für lesbische Paare oder alleinstehende Frauen immer noch verboten, aber wir fanden einen Gynäkologen in Paris, der gewillt war, die Regeln flexibel auszulegen.«
Aktuell steht sie vor einem Hindernis, das größer ist als sie selbst: Alle Verleger und Regie rungsvertreter versuchen gemeinsam, eine Lösung für die taumelnde Verlagsbranche in Frankreich zu fi nden. Ihre persönliche Mission besteht darin zu retten, was zu retten ist, angefangen beim Vertrieb. Als eine von zwölf Treuhänderinnen im Vorstand des führenden Medienvertriebsunter
nehmen in Frankreich, unter dem 75 Prozent aller Titel inklusive der staatlichen Zeitungen und der eigenen Publikationen von Tallandier verkauft werden und das am Rande des Bankrotts steht, soll sie das Lenkrad herumreißen.
»Frankreich bleibt eines der Länder mit dem reichsten und vielfältigsten Medienangebot der Welt. Das ist sehr wertvoll«, insistiert sie. »Und ich gehöre zu den Menschen, die davon überzeugt sind, dass man nur in der Gruppe stark ist. Das ist für mich sinnvoll.«
Zuhause in Paris
DEIN VON EINER FRAU GEFÜHRTES LIEBLINGSGESCHÄFT?
Maison Plisson von Delphine Plisson. Ich bewundere diese Frau, sie hat ein Auge für außergewöhnliche kulinarische Produkte aus Frankreich. Das Café Lai’Tcha von Adeline Grattard, mit deren südostasiatischen Speisen man sich wie auf Reisen fühlt. Und Emmanuelle Zysmans Schmuckladen in der Rue des Martyrs, in dem man den wahren Geist von Paris fühlt.
DEIN LIEBLINGSSTADTTEIL?
Natürlich das 10. Arrondissement! Die selbsterklärte Hochburg der neuen Food-Szene, höchst kreativ, höchst gewagt und höchst gourmand. Ein trendiges Viertel, ein unvergleichliches kulturelles Angebot und zauberhafte Orte zum Entspannen: der Canal Saint-Martin, rund um die République, Faubourg-Saint-Denis, La Cour des Petites-Écuries.
WO GEHST DU GERN MIT DEINER TOCHTER HIN?
In den Kulturpark La Villette, um Ausstellungen und Aktivitäten zu besuchen, und ins Centre Pompidou (siehe oben). Wir bleiben meist einen halben Tag, essen zu Mittag, schauen uns eine Ausstellung an, bewundern die Straßenkünstler vor dem Museum, essen ein Eis.