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MUTTERSEIN
»VIELLEICHT BEKÄMEN MEHR FRAUEN KINDER, wenn die Mutterschaft nicht als Opfer angesehen würde, wenn uns nicht eingeredet würde, wir verlören unsere Eigenständigkeit, die wir doch so lieben. Ich möchte Mutter und Schriftstellerin und eine ganze Menge mehr se in und mir dabei keine Gedanken über die Reihenfolge aller dieser Rollen machen.« 67 Diesen Abschnitt aus einem Artikel in der New York Times habe ich unzählige Male gelesen, bevor mir klar wurde, was mich daran so faszinierte: Die Autorin beschrieb unabsichtlich damit einen
Wunsch vieler Pariserinnen, wenn nicht sogar Französinnen.
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Seit vierzehn Jahren lebe ich nun in Paris und beobachte, wie meine Freundinnen, deren Freundinnen, Kolleginnen, Nachbarinnen und sogar die Inhaberinnen meiner Lieblingsgeschäfte mit dem Thema Muttersein umgehen: Kinder – d ie Geburt, die Erziehung oder der Verzicht im Allgemeinen – sind kaum mehr als ein weiterer Punkt auf einer langen Liste von Eigenschaften und Tätigkeiten, über die Frauen sich selbst definieren.
Aus Sicht der Französinnen ist die Fähigkeit, Kinder zu zeugen und aufzuziehen, nicht die größte Errungenschaft im Leben einer Frau. Sie sind nicht toll oder virtuos, weil sie sich der Kindererziehung als höhere Berufung widmen, sondern weil sie das Muttersein im herkömmlichen Sinne als einen Teil einer größeren Lebensvision verstehen, zu der zum Beispiel auch die Karriere, Freunde, Engagement, Reisen und Lernen gehören. Dieses Konzept passt zu einem angepassten kulturellen Wertesystem, in dem Frauen ihr Leben leben dürfen, ohne sich ständig um andere Sorgen zu machen. Pamela Druckerman beschreibt in ihrem beliebten Elternratgeber Warum französische Kinder keine Nervensägen sind, dass Eltern ihren Kindern nicht dienen müssen, dass es für Mütter nicht gesund ist, jede wache Minute mit ihren Kindern zu verbringen, und dass Kinder, genauso wie Eltern, ihr eigenes Leben leben müssen.
Genau das wurde mir deutlich, als so viele Frauen, mit denen ich sprach, auf ihre Entschei dung für oder gegen Kinder hinwiesen und über ihre Gefühle in Bezug auf das Muttersein erzählten. Dieses Thema wird nicht zwanghaft behandelt, weil es dafür keinen Grund gibt.
Victoire de Taillac (Seite 102) schüttelte sich vor Lachen, als ich sie fragte, wie denn ihre drei Kinder in ihre Geschichte passen, weil sie sie in unserem zweistündigen Gespräch nicht einmal erwähnt hatte. »Es ist nicht sehr französisch, sich selbst über das Muttersein zu definieren«, erklärt
sie mir ausdrücklich. »Die Kinder sind ein wichtiger Teil meines Lebens. Aber sie sind nie der Mittelpunkt meiner Unterhaltungen. Ich habe auch ein Leben außerhalb der Kinder. Als ich in den USA lebte, sah ich, wie sich amerikanische Mütter häufig bis ins Extreme bemühten, außerge wöhnlich zu sein. Sie leben ihr Muttersein aus und riskieren dabei, sich selbst zu verlieren.« Architektin Aline Asmar d’Amman (Seite 70) scherzt, dass ihre Arbeit wie Urlaub sei, denn Elternsein s e i ein harter Job. »Ich fühle mich nicht schuldig. Die Zeit, die ich mit meinem Sohn verbringe, ist sehr intensiv, aber das, was ich mir [mit meinem Unternehmen Culture in Architecture] selbst aufgebaut habe, ist etwas Besonderes und hat für mich die gleiche Bedeutung«, sagt sie. »Jede Frau, d i e Mutter wird, findet ihren eigenen Weg.«
Natürlich ist es einfacher und weniger beängstigend, wenn eine Frau, die ein Kind bekommt, sicher sein kann, dass sie schnell und problemlos wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren kann – w enn es das ist, was sie möchte.
Natürlich haben berufstätige Mütter in Paris scheinbar das goldene Los gezogen: Es gibt bezahlten Mutterschutzurlaub, teilweise geförderte Kinderversorgung (Krippen, staatliche Kinder gärten, für die die Kosten in Relation zum Familieneinkommen berechnet werden, Kindermädchen oder Tagesmütterprogramme, die kostenlose Vorschule ab dem dritten Lebensjahr wurde von P r äsident Macron 2019 als verpflichtend eingerichtet), Steuervergünstigungen und für Bedarfsfälle staatliche Unterstützung. Außerdem ist jeder durch das staatliche Gesundheitssystem versorgt. Natürlich ist dieses System nicht perfekt: Es gibt zu wenig freie Krippenplätze bei hoher Nachfrage und die Kosten für ein Kindermädchen können schnell das monatliche Einkommen der Eltern auf
fressen oder übersteigen. Dennoch haben Frauen so viele unterschiedliche Möglichkeiten, zu ihrer Ar beit zurückzukehren, wenn dies ihr Wunsch ist. 68 Und nur wenige oder niemand schämt sich dafür, diese Möglichkeiten zu nutzen. Für die Frauen, mit denen ich gesprochen haben, war dieses Unterstützungssystem der Grund dafür, dass sie weiter kreativ sein, ein Geschäft gründen oder ihre Karriere weiter verfolgen können.
Leïla Slimani (Seite 181) erzählt ganz offen über die Bedingungen, unter denen sie kreativ arbeiten kann. »Ich habe großes Glück«, sagt sie über ihr Kindermädchen. »Ohne sie könnte ich diese Arbeit nicht machen.« Als die berühmte Unternehmensanwältin Valérie Lafarge-Sarkozy vor dreißig Jahren ihr erstes Kind bekam, wusste sie schon lange vorher, dass sie ihre Karriere nicht aufgeben würde. Die Frauen vor ihrer Zeit hatten zu hart dafür gekämpft, dass Frauen ohne die Genehmigung ihres Mannes das Recht zu arbeiten haben, als dass sie dieses Geschenk so einfach in den Papierkorb geworfen hätte. »Meine Generation hat von den Vorteilen profitiert, die Frauen wie Simone Veil erkämpft hatten. Als ich heiratete, starb gleichzeitig meine Mutter und ich wählte eine Karriere, mit der ich genug verdienen konnte, um selbstständig zu bleiben«, erzählt sie mir.
»Es ist immer schwerer, als es für einen Mann wäre, aber es ist nicht unmöglich.« Als Valérie ihr zweites Kind bekam, war sie schon Partnerin in ihrem Unternehmen geworden und konnte sich nicht leisten, genauso viel Zeit wie beim ersten Kind zu fehlen. »Nach fünf Tagen war ich wieder bei der Arbeit. Andere Frauen haben mich dafür kritisiert, dass ich meinen Sohn so schnell ver lassen hatte, aber ich fühlte mich nicht schuldig. Ich hatte keine andere Wahl!« Derzeit fungiert si e als Mentorin für junge Frauen im Büro und steht ihnen Rede und Antwort für alle Fragen rund um Arbeit und Mutterschaft. Aber es soll hier auch nicht verschwiegen werden, dass der Weg zum Muttersein nicht immer über eine Blütenteppich führt. »Die ›schlechte Mutter‹, also die Mutter, die ihre Schwangerschaft nicht genießt, nicht stillt und schnell wieder arbeiten möchte, verkauft sich in Frankreich gut«, schimpft Laura Bastide (Seite 35). »Ich wollte sofort wieder die Frau sein, die ich vor der Schwangerschaft war. Ich liebe meine Kinder, aber meine Erfüllung finde ich in meiner Arbeit und in den Menschen, mit denen ich zu tun habe.« Das ist im Großen und Ganzen auch der Grund, warum Benedicte
Reizel-Nielsen, Direktorin einer nicht staatlichen Organisation in Dänemark und Mitbegrün derin der Online-Reise-Community #SeeMyParis (Seite 298) sehr froh ist, ihre drei Kinder in Pa ris bekommen zu haben. »Das Problem der Amerikanerinnen und Skandinavierinnen ist, dass sie Schwangerschaft und Mutterschaft glorifizieren«, erklärt Reitzel-Nielsen, die in den USA, in Dänemark und in Frankreich gelebt hat und diese unterschiedlichen Verhaltensweisen am eigenen Leibe gespürt hat. Zwar gibt sie zu, dass es in Dänemark und Schweden viel Unterstützung und viele Vorteile gibt, aufgrund derer sowohl Männer als auch Frauen so flexibel sind, dass sie Zeit mit ihren Neugeborenen verbringen können. Aber die frühen Erwartungen, denen Mütter unterlie gen, fördern eine ungesunde Grundeinstellung. »Die Frau steht unter dem Druck, sechs bis zwölf M o nate zu stillen, egal ob sie es kann oder möchte. Tut man es nicht, gilt man als Rabenmutter. Damit entsteht ein riesiger Druck für Frauen. Sie sollen sich selbst opfern und so tun, als seien sie glücklich – s elbst in den Phasen, die gar nicht schön sind.«
Was Frauen wie Rebecca Amsellem (Seite 55) und Christelle Delarue (Seite 117) von Schwe den übernehmen würden, ist das Modell des geschlechterunabhängigen Erziehungsurlaubs. In Fr ankreich wurde zwar versucht, beiden Eltern die gleichen Möglichkeiten für Erziehungsurlaub zu gewähren. Dabei muss dann ein Partner für drei Jahre nach der Geburt des Kindes seine berufliche Tätigkeit reduzieren oder ganz aufhören zu arbeiten (unbezahlt). Aber diese Option nehmen i m mer weniger Frauen in Frankreich in Anspruch, da die Männer im Durchschnitt mehr verdienen und sich eine so lange Pause im Beruf nicht leisten können, ohne dass (neben dem sozialen Dr uck, den Männer im Erziehungsurlaub erfahren) ein finanzielles Ungleichgewicht in der Familie entsteht. Andererseits können in Schweden beide Eltern innerhalb der ersten acht Jahre nach der Geburt ihres Kindes 480 T age bezahlten Urlaub nehmen. In den ersten dreizehn Monaten erhalten sie 80 P rozent ihres Gehalts (und auch Arbeitslose erhalten bezahlten Urlaub). Seit 2016 sind Väter verpflichtet, die ihnen zustehenden 90 Tage Urlaub zu nehmen, womit man für mehr
Gleichberechtigung in der Kindererziehung sorgen möchte. 69 Im Bereich der künstlichen Befruchtung hinkt Frankreich jedoch weit hinterher.
La ut Gesetz haben lesbische Paare und alleinstehende Frauen derzeit kein Recht auf Behand
lungen wie eine In-vitro-Fertilisation, um schwanger zu werden.
Si e müssen ins Ausland gehen, nach Spanien, in die Niederlande, nach Portugal oder in die meisten skandinavischen Länder 70 , 71 und für eine IVF bezahlen. 2018 äußerten sich die höchstrangigen Bioethiker für die künstliche Befruchtung für alle Frauen mit Kinderwunsch (wobei eine Le ihmutterschaft immer noch als unethisch gilt). Dies hielten viele Frauen für einen ersten Schritt in Richtung zur Legalität – ein wahrer Paradigmenwechsel der sowohl von Präsident Macron als auch von Marlène Shiappa, Juniorministerin für Gleichberechtigung der Geschlechter, versprochen wurde. Doch die entsprechende Wahl wurde mehrmals verzögert – in den Augen von Aktivistinnen nur ein weiteres Beispiel für die Trägheit und Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber den Frau enrechten. Es sei angemerkt, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches immer noch ke ine Entscheidung zu diesem Thema gefällt wurde.
Die heißen Debatten über künstliche Befruchtung, die nach der Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe im Jahr 2013 entfacht wurde, geht derweil unvermindert weiter. »Menschen aus dem konservativen Bürgertum, also Intellektuelle, Politiker oder die Wirtschaftseliten, w e igern sich gegen jede Veränderung und halten standhaft am ungerechten Status quo fest«, 72
schreibt Pauline Delage in ihrem Buch Droits des femmes, tout peut disparaître (Die Rechte der Frauen können verschwinden). Und genau diese Menschen dominieren die Opposition. Fakt ist, dass Frankreich ein konservatives Land bleibt, obwohl die katholische Kirche an Bedeutung verliert. Und die Medien haben ihre eigenen Methoden, diese destruktive Debatte weiter anzu fachen, indem sie Bischöfen und Vertretern religiöser Organisationen mehr Sendezeit einräumen al s den Frauen, um deren Rechte es eigentlich geht. »Es ist zum Verrücktwerden: Wir sind ein weit weniger religiöses Land als Spanien, aber dort bekommen viel mehr Frauen eine künstliche Befruchtung«, erklärt Julie Mathieu (Seite 221), deren Frau, Muriel Tallandier (Seite 214) einen Arzt in Paris gefunden hat, der ihr heimlich mit einer IVF geholfen hat. Dabei dreht sich alles um die Frage der Repräsentation. Wenn lesbische Frauen unsichtbar sind, dann ist es einfacher, ihnen ihre Rechte zu verweigern.
Kein Staat der Erde findet zum Thema Mutterschaft und in den unzähligen Diskussionen darum das richtige Gleichgewicht. Es geht nicht um eine Utopie, da sind sich die Frauen auf diesen Buchseiten einig, sondern einfach darum, die Wahl zu haben, Kinder zu bekommen oder nicht. Und damit wäre das Recht der Frauen auf Entscheidungsfreiheit schon einen guten Schritt weiter.
»Denn dem Ideal der weißen, verführerischen, aber nicht nuttigen, gut verheirateten, aber nicht unsichtbaren Frau, berufstätig, aber nicht zu erfolgreich, um ihren Mann nicht zu erdrücken, schlank, aber ohne Essstörung, undefinierbar jung bleibend, ohne sich von den Schönheitschirurgen entstellen zu lassen, glückliche Mutter, aber nicht aufgefressen von Windeln und Schulaufgaben, gute Hausfrau, aber kein altmodisches Muttchen, gebildet, aber weniger als ein Mann, dieser weißen glücklichen Frau, die man uns ständig vor die Nase hält, der ähnlich zu sein wir uns bemühen sollen – abgesehen davon, dass sie aussieht, als wür de sie sich über jede Kleinigkeit aufregen –, der jeden falls bin ich noch nie begegnet. Ich glaube, die gibt es gar nicht.«
—VIRGINIE DESPENTES IN KING KONG THEORIE