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ALICE CABARET Stadtentwicklerin und Gründerin von The Street Society
Frischer Wind für die Stadt von morgen
ALICE CABARET
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STADTENTWICKLERIN UND GRÜNDERIN VON STREET SOCIETY
WIE WIRD DAS PARIS DER ZUKUNFT AUSSEHEN? Für Alice Cabaret müssten die ein
zigartigen urbanen Räume so umgestaltet und erneuert werden, dass die Stadt dynamisch, offen, in tegrativ wird. Nachdem sie einige Jahre an Sanierungsprojekten in Johannesburg gearbeitet hatte, kehrte sie nach Paris zurück und gründete The Street Society, ihre Agenturgemeinschaft, die Innovationen für nachhaltige Immobilienentwicklung und urbane Transformation mit Sitz in Paris entwickelt.
Auf ihren Vorschlag hin treffen wir uns im Les Grands Voisins im 14. Arrondissement (weitere Informationen zu diesem Lokal finden sich unter »Zuhause in Paris« auf Seite 261), um über die Stadtentwicklungsprojekte und Innovationen zu sprechen, auf die sie sehr stolz ist und die die Hauptstadt langfristig verbessern sollen.
Du gehörst zu den wenigen Menschen, die wirklich in Paris geboren und aufgewachsen sind. Hast du immer in der gleichen Wohnung gewohnt? Ich habe immer im 9. Arrondissement gewohnt! Ich wurde dort geboren, bin in den Kindergarten gegangen, habe meine gesamte Schulzeit dort verbracht und bin nach fünf Jahren Studium und fünf Jahren Johannesburg genau dorthin wieder zurückgekehrt. Es ist höchst interessant, eine ganze Lebensphase im gleichen Stadtteil zu verbringen. Ich habe seine Entwicklung beobachtet und habe deshalb so ein großes Interesse an der Stadt.
Das 9. Arrondissement wird sehr gern als Beispiel für die ungeheuerliche Gentrifizierung angeführt. Wie siehst du die Veränderungen in diesem Stadtteil? Ich stehe weder auf der Seite der Befürworter noch auf der Seite der vehementen Gegner der Gen trifizierung. Meiner Meinung nach liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Die Stadt muss sich e n twickeln und dabei darf man keiner idealistischen Vision einer bestimmten Art von Paris folgen. Mit siebzehn bin ich immer zum Place de Clichy gegangen, wo mein damaliger Freund lebte. Das
war unglaublich gefährlich. Und daher beschwere ich mich nicht darüber, dass einige Plätze saniert wurden. In den Straßen rund um die Pigalle – d em für Prostitution bekannten Platz – h aben sich zum Beispiel viele Bars angesiedelt. Grund dafür ist, dass sich die nahegelegenen Hauptplätze der Prostitution aufgrund des Internets wirtschaftlich entwickelt haben; damit entstanden Vakanzen, die für andere Zwecke verwendet wurden. Dabei geht es nicht immer nur um den Zusammenprall unterschiedlicher Klassen. Die Lösung gegen eine vollständige Gentrifizierung des Stadtteils wäre die kurzfristige Förderung von kleinen Unternehmen durch bezahlbare Mieten, damit junge Unter nehmer die Möglichkeit haben, schnell ein Geschäft aufzubauen.
D i ese Idee setzt du in den Projekten um, an denen du derzeit als Stadtentwicklerin arbeitest. Wie bist du dazu gekommen? Über mein Studium der Geografie. Seit meiner Kindheit gehe ich gern durch die Straßen von Paris spazieren – h äufig ganz allein. Dabei galt mein Interesse immer den Menschen dieser Stadt, wie sie bestimmten Orten oder einem Stadtteil eine bestimmte Identität zuschreiben und wie ein Stadtteil
in den nächsten übergeht. Während meiner Classes préparatoires (Vorbereitungskurse) hatte ich einen unglaublichen Geografieprofessor, der darüber sprach, wie Städte gestaltet werden. Dabei ist der Funke übergesprungen. Ich habe dann meinen Master in Stadtentwicklung an der Sciences Po- Un iversität gemacht und wurde Stadtentwicklerin.
Hat dich eine bestimmte Person aus diesem Bereich inspiriert? Ich habe schon sehr früh Jane Jacobs gelesen und mich mit ihrem natürlichen, sehr auf die Men schen konzentrierten Ansatz für die Stadtgestaltung identifiziert. Sie hat bahnbrechende Ideen für di e Stadtplanung eingeführt und ihr Ansatz wurzelte tief in ihrer Überzeugung, dass die Gemeinde ein wichtiges Umfeld ist. Sie berücksichtigte die lokalen Bewohnern eines Stadtteils bei der Planung und entwickelte kreative Antworten auf dringende soziale und wirtschaftliche Probleme. Ich habe einige ihrer Methoden in meinen Arbeitsalltag übernommen: Gesunder Menschenver stand (meist ist die einfachste Lösung die beste – kleine Veränderungen können Großes bewirken), Vor-Ort-Beobachtungen (ich besuche die Orte, an denen ich arbeite, wenn möglich zu unterschiedlichen Tageszeiten und zu unterschiedlichen Zeiten in der Woche und im Jahr und notiere da s jeweilige Verhalten der Menschen) und die Konzentration auf die menschliche Erfahrung (die Bedeutung von Wahrnehmungen und Emotionen in der urbanen Erfahrung).
Du hast fünf Jahre in Johannesburg gelebt und gearbeitet. Welchen Einfluss hat diese Erfahrung auf deine Arbeit?
Johannesburg ist das komplette Gegenteil von Paris. Die Stadt ist in puncto beruflicher Möglich keiten wesentlich dynamischer und Altersgrenzen spielen keine Rolle. Man kann wirklich etwas b e wegen. Die alternative Kultur ist unvergleichlich. Man fühlt sich freier und kann sich selbst über
»Die Pariserin definiert sich über ihren Intellekt, ihre Kultur, ihre Selbstkritik, ihren Zynismus und ihren intellektuellen Stil. Sie hat das besondere Etwas, das über das bekannte Klischee hinaus geht.«
die Mode und die Musik ausdrücken. In Paris sind wir deutlich kritischer und das kann Kreativi
tät behindern. Glücklicherweise bin ich auf Menschen gestoßen, die mir sehr schnell eine Chance ge geben haben, obwohl ich jung war. Dafür werde ich immer dankbar sein. Heute versuche ich, in Paris genauso mit Menschen umzugehen, unabhängig von ihrem Alter oder Abschluss. In Johannesburg war die Sciences Po völlig unbekannt, was wirklich befreiend war. In Paris spielen der A b schluss und die Abstammung immer noch eine besonders große Rolle und das ist ungerecht für Menschen, die keinen Zugang zu diesen Netzwerken haben.
Dein Bruder war in der Nacht der Attacken vom 13. November 2015 im Bataclan und hat überlebt. Wahrscheinlich hat dieses Trauma deine Rückkehr nach Paris beschleunigt. Hat diese Tragödie deine Blick auf die Stadt verändert?
Absolut. Seitdem denke ich im Kontext der Stadtplanung über das Thema Sicherheit nach. Meine Erfahrungen in Johannesburg, das nach strengen Sicherheitsprinzipien gebaut ist, spielen dabei eine große Rolle. An allen Plätzen der Stadt ist Kriminalität ein großes Thema. Überall gibt es Wände, und viele Gemeinden sind mit Stacheldrahtzäunen und Toren gesichert. Als nach den Attentaten in Paris Soldaten durch die Straßen patrouillierten und öffentliche Plätze aus Sicher heitsgründen verändert oder gesperrt wurden, wurden die direkten Auswirkungen von Terrorismus i m ö ffentlichen Raum sehr deutlich. Heute müssen wir bei Projekten völlig neue Sicherheitsanforderungen berücksichtigen und das wirkt sich natürlich auf die Entwicklung der Stadt aus. Aber Pa ris darf nicht von Sicherheitsmaßnahmen bestimmt werden. Aus diesem Grund habe ich 2016
gemeinsam mit Wissenschaftlern und Studienkollegen das Unternehmen [S]CITY gegründet. Hier erforschen wir den Zusammenhang zwischen den Kognitionswissenschaften, der Architektur und der Stadtplanung. Wir untersuchen, wie das Gehirn funktioniert, wie es Wahrnehmungen und Emotionen innerhalb der Stadt verarbeitet, um aufgrund dieser Erkenntnisse die am besten geeig nete Stadtumgebung zu erschaffen.
Wi e hat sich die Stadt deiner Meinung nach in den letzten zehn Jahren aus der Sicht der Frauen verändert?
Die Pariser Frauen sind hier freier als an vielen anderen Orten. Wir können uns überall frei
bewegen. In einigen Städten ist diese Bewegungsfreiheit für Frauen sehr eingeschränkt. Aber es
gibt immer noch viel Belästigungen. Ich habe noch keine Frau getroffen, die auf der Straße oder im öffentlichen Nahverkehr noch nicht von Männern behelligt oder belästigt wurde – i ch habe das selbst unzählige Male erfahren. Und das macht mich sehr ärgerlich, weil es sich darauf auswirkt, wie frei und sicher wir Frauen uns auf unseren Wegen durch die Stadt fühlen.
Die Frage der Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum ist eng mit dem Zugang und der Sicherheit alle Stadtnutzer verbunden, also auch von Kindern, Behinderten, Obdachlosen und älteren Menschen. Die Stadtgestaltung spielt eine wichtige Rolle für die Sicherheit aller Men schen – effiziente Beleuchtung, Orte mit gemischtem Publikum und sehr belebte Plätze gehören zum Beispiel dazu. Spielplätze, Nahverkehr und Grünflächen müssen so gestaltet sein, dass auch sehr junge Frauen und Mädchen sicher sind. Das Gefühl, als Frau in der Stadt akzeptiert und unterstützt zu werden, kann auch durch zielgerichtete Aktionen gefördert werden: Street Art von Frauen, Straßenbeschilderungen, auf denen Frauen dargestellt sind, Straßen oder Infrastruktu ren, die nach beeindruckenden Frauen benannt werden. Aber Stadtplanung kann noch sehr viel me hr Probleme lösen: Wir benötigen eine starke Polizei und auch die Bürger müssen sich dieser Probleme bewusst sein. In den letzten Jahren hat die Stadt Kampagnen gestartet, mit denen auf Belästigungen im öffentlichen Raum aufmerksam gemacht und dagegen gekämpft werden sollte. Das ist ein erster Schritt, aber es muss noch sehr viel mehr geschehen.
Welche Schwachstelle gehört zu den kritischsten der Stadt? Das eigentliche Problem ist die Zugänglichkeit zu Wohnungen und Geschäften für behinderte Menschen. Die Regierung tut nichts, um Systeme zu entwickeln, die an ihre Anforderungen angepasst sind. Der gesetzliche Rahmen ist die eine Seite, aber die Umsetzung ist noch viel wich tiger. In meinen Projekten berücksichtige ich diese Frage grundlegend. Ich frage mich immer, wie Fr auen und Kinder, behindert oder nicht behindert, sich an einem bestimmten Ort fühlen. Damit schaffe ich Umgebungen, die rund um die Uhr für alle Menschen zugänglich sind.
Und was muss sich im Kontext der Stadtplanung ändern? Die Entscheidungen müssen von Menschen mit sehr viel diverseren Hintergründen getroffen werden. Wenn wir von Beginn eines Projekts an unterschiedliche Perspektiven mit einbeziehen, dann werden die Ergebnisse erst richtig interessant. Aber natürlich müssen wir dafür bereit sein, Kollisionen zu akzeptieren, verschiedene Visionen und Blickwinkel, die aufeinanderprallen. Und es muss klar sein, dass der Ausgleich dieser Blickwinkel Zeit braucht.
Gegenüberliegende Seite: Les Grands Voisins, ein ehemaliges Krankenhaus, das in einen hybriden Raum mit Wohnungen, Werkstätten, Arbeitsplätzen, Veranstaltungsräumen usw. umgestaltet wurde. Alice Cabaret wünscht sich mehr solcher Räume in der ganzen Stadt.
Gibt es Städte, die bessere Lösungen gefunden haben? Das ist eine gute Frage. Ja, vielleicht. Aber in Paris muss noch viel auf den Kopf gestellt werden. Entscheidungen werden häufig von älteren Menschen mit bestimmten Abschlüssen getroffen. Meist sind es ältere, weiße Männer.
Du kannst die Dinge offenbar ziemlich gut auf den Kopf stellen, kopfüber in Probleme eintauchen und deine Meinung klar vorbringen. Ich sage mir immer selbst: Wir haben nur das eine Leben. Wenn du nicht willst, dass andere dein Schicksal in die Hand nehmen, sorge selbst dafür. Ich mag keine Ungerechtigkeit. Man darf nicht einfach abwarten und selbst zum Opfer werden. Du musst immer nach vorn gehen. Dabei musst du manchmal ein Risiko eingehen oder mit dem Kopf gegen die Wand laufen. Doch Risiko ist bei den Franzosen nicht sehr beliebt. Marseille und Nantes sind derzeit Beispiele für eine wirklich interessante Stadtentwicklung. Manche Menschen sagen, das Erbe der Stadt Paris sei schwer und stelle ein Hindernis für Innovationen dar. Aber ich glaube, wir müssen uns den Rucksack der Ver gangenheit aufschnallen und damit in die Zukunft gehen. Unser Bildungssystem macht uns nicht se hr experimentierfreudig und anders als in den USA ist Risiko für uns nicht wertvoll. Wir lernen das von Kindesbeinen an und das hat einen Einfluss auf alles, was wir erschaffen. Es gibt brillante Köpfe, die aus diesem Grund auswandern.
Welchen Beitrag leistest du zur Zukunft der Stadt? Stadtentwickler sind nie Vorreiter, weil sie nur ein Verbindungsglied im Netzwerk aus Investoren und Entscheidungsträgern sind. Ich möchte aber Projekte bearbeiten, die Paris möglichst vorteil haft verändern. Die Frage der Zugänglichkeit von öffentlichem Raum – besonders im Nahverkehr – ist sehr dringlich: Mehr als dreihundert Métro-Stationen sind nicht zugänglich (für behinderte Menschen, Menschen mit Kinderwagen oder Gepäck usw.). Bei diesem Problem gibt es offenbar technische Hürden zu überwinden, aber es muss trotzdem mit der höchsten Priorität gelöst w e rden. In allen Projekten, an denen wir arbeiten, geht es um Gestaltungslösungen, mit denen diese Räume vollständig zugänglich gemacht werden sollen.
Auf welche deiner Projekte, die du in und außerhalb von Paris bearbeitet hast, bis du am meisten stolz? Das Maboneng Precinct – ein kreatives und integratives Viertel in Johannesburg – liegt mir sehr am Herzen. Ich bin zum Projektstart in das Entwicklungsteam gekommen und habe gemeinsam mit Architekten, Straßenkünstlern, Unternehmern, Landschaftsgärtnern und den Einwohnern ein verlassenes Industrieviertel in einen lebhaften Ort verwandelt. Und in Paris gehören wir zum Architektenteam um Dominique Perrault, das den unbenutzten Gare des Invalides in ein Museum für französische Handwerkskunst mit Speisegaststätte und einem Experimentierraum für Kinder umbaut. Eine aufregende Zeit – f ür uns und für Paris.
Zuhause in Paris
DEIN VON EINER FRAU GEFÜHRTES LIEBLINGSGESCHÄFT?
A l’Étoile d’Or, der Süßigkeitenladen von Denise Acabo. Sie weiß alles über Konfekt und man sieht das leidenschaftliche Funkeln in ihren Augen. Mit ihrem Pferdeschwanz und dem Kilt hat sie einen ganz eigenen Look. Ich bewundere sie.
WOHIN GEHST DU, UM DICH ZU ENTSPANNEN?
Das Palais Royal und seine Gärten (siehe oben). Mein absoluter Lieblingsplatz. Aus Sicht der Kognitionswissenschaft ist es eine Frage der Größe; die Weite hier ist perfekt. Selbst von der anderen Seite des Gartens aus kannst du den Gesichtsausdruck eines Menschen erkennen. Es gibt keine Autos, die Architektur ist einmalig und man fühlt das Gewicht der Geschichte. Ich fühle mich dort wie zuhause.
WO FÜHRST DU GÄSTE GERNE HIN?
Auf jeden Fall zum Les Grands Voisins im 14. Arrondissement. Ein wundervolles Beispiel für Stadterneuerung. Dieses ehemalige Krankenhaus ist jetzt ein hybrider Raum mit Wohnungen, Werkstätten, Arbeitsplätzen, Veranstaltungsräumen und vielem mehr.