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Architektin und Stadtplanerin Claudia Neeser im Interview
INTERVIEW MIT CLAUDIA NEESER
(JN) Beim Thema Nachverdichtung in München kennen sich wenige so gut aus wie die Architektin und Stadtplanerin Claudia Neeser. In unserem Interview spricht sie über aktuelle Herausforderungen für Stadtplaner und Projektentwicklerinnen in der Isarmetropole und was erfolgreich realisierte Projekte zur Nachverdichtung kennzeichnet.
Frau Neeser, was sind die größten Herausforderungen, denen sich Stadtplanerinnen und Projektentwickler in München aktuell gegenübersehen?
Claudia Neeser: München wächst in einem enormen Tempo, was eine große Herausforderung für die Planenden, aber auch für die Stadtgesellschaft darstellt. Um der steigenden Einwohnerzahl genügend Wohn- und Arbeitsraum bieten zu können, wird die Stadt langfristig dichter genutzt werden müssen, und steht vor der Herausforderung, trotz steigender Grundstückspreise bezahlbaren Wohnraum zu gewährleisten. Dabei ist es wichtig, den Freiraum und die Infrastruktur zu erweitern und als Stadt sozial- und klimaverträglich zu sein.
Die Stadt hat sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2035 klimaneutral zu sein, wodurch wir auf vielen Ebenen der Stadtplanung neu und innovativ denken müssen. Grünflächen, zum Beispiel, müssen zukünftig zur Speicherung von Regenwasser dienen, Dachflächen begrünt und als Freiraum verstärkt genutzt werden. Wir sind gefordert, über neue Möglichkeiten nachzudenken, wie eine mehrfache Raumnutzung oder das Stapeln von Funktionen, damit nicht alle restlichen Flächen versiegelt werden. Mobilitätskonzepte sollten so ausgelegt sein, dass man zukünftig auf großflächige Tiefgaragen verzichten kann und Quartiere stattdessen mit Mobililtätshäusern und SharingAngeboten ausstatten kann. Das passiert bereits vielerorts. Der Umstieg aufs Fahrrad ist eine attraktive Alternative zum Auto, aber auch hier sind die Stadtplaner gefordert, durchgehende und breite Fahrradwege weiter auszubauen. Und natürlich spielt auch ein erweitertes ÖPNV-Netz eine große Rolle. Wir müssen weg von der veralteten „autogerechten Stadt“ und hin zu den Idealen der „Europäischen Stadt“.
Wie kann moderne Stadtentwicklung dazu beitragen, dass eine Stadt wie München weiterwächst und dabei ihre „Seele“ behält?
CN: Grundvoraussetzung einer modernen und gelungenen Stadtentwicklung ist es, nicht nur ein gutes Planungskonzept zu erstellen, sondern auch die Bedürfnisse der Bewohnenden zu kennen, auf sie Rücksicht zu nehmen und sie in die Planung zu integrieren. Hierzu dienen der Dialog und das Mitspracherecht. Baulich ist es wichtig, eine soziale Mischung zu wahren, genossenschaftliche Projekte, die wertvolle Beiträge für eine Quartiersentwicklung leisten, zu fördern und bezahlbaren Wohnraum zu garantieren.
Um die Lebendigkeit von Stadtteilen sicherzustellen, müssen gewachsene Strukturen einer Mischnutzung auch bei einer Nachverdichtung erhalten bleiben. Bei neuen Quartieren sollte genau diese Mischnutzung angestrebt werden.
Freiräume sind eines der wichtigsten Potenziale der Stadt, die erweitert werden müssen. In der Innenstadt sind es die nichtkommerziellen Flächen, die eine bedeutende Aufenthaltsqualität schaffen können. Überhaupt übt die Innenstadt eine große Strahlkraft aus. Sie bietet viele Identifikationsorte von großer Relevanz, die zu erhalten sind und besondere Aufmerksamkeit benötigen.
Welche Chancen und Risiken bieten Projekte zur Nachverdichtung für die Weiterentwicklung der Stadt München?
CN: Da die Flächen in München sehr knapp sind, kann die Stadt vor allem durch gezielte Nachverdichtung dem Wachstumsdruck entgegenwirken. Ein Risiko ist sicherlich, zu viele Flächen zu versiegeln und damit die klimatischen Bedingungen der Stadt zu verschlechtern. Um wiederum möglichst wenige Flächen zu versiegeln, wäre es natürlich eine Möglichkeit, grundsätzlich in die Höhe zu bauen.
Das ist für einen Teil der Münchner Bürgerschaft ein sehr kontroverses Thema. Oft spielen hier die Angst vor Veränderung und die Sorge, dass München sein traditionelles Erscheinungsbild verliert, eine große Rolle. Bei allem Respekt vor dem Traditionellen darf München aber auch zeigen, dass es eine moderne Stadt ist, die sich zeitgemäß verändert. Es gab hierzu bereits zwei Hochhausstudien, eine 1977 von Detlef Schreiber und eine weitere 1995, die ebenfalls Detlef Schreiber zusammen mit Prof. Ferdinand Stracke erstellt haben. Kürzlich ist eine dritte Hochhausstudie durch 03 Architekten im Auftrag der Stadt München entstanden, die belegt, dass Hochhäuser, an der richtigen Stelle platziert, wichtige Akzente und Bezugspunkte der Stadtplanung sind und einen Mehrwert für die gesamte Stadtgesellschaft bieten. Beim Thema Nachverdichtung stoßen Projektentwickler oft auf Widerstände vonseiten der Bevölkerung. Wie können Architektinnen und Entwickler diese Ängste und Befürchtungen schon zu Beginn des Projektes bei ihren Planungen berücksichtigen?
CN: Vielleicht muss man beim Thema Nachverdichtung grundsätzliche Typen unterscheiden: Es gibt zum einen Projekte der Nachverdichtung, die auf öffentlichen Flächen vollzogen werden, wie etwa eine Parkplatzüberbauung. Das Pilotprojekt „Wohnen am Dantebad“ der städtischen Wohnbaugesellschaft GEWOFAG und des Architekten Florian Nagler ist dabei wohl an erster Stelle zu nennen. Hier wurde 2016 in einer außergewöhnlich kurzen Bauzeit ein Holz-Hybrid-Bau über einem vorhandenen Parkplatz realisiert, der 101 Kleinwohnungen für Geflüchtete und Wohnungslose zur Verfügung stellt. Es gab anfänglich große Bedenken seitens der benachbarten Bevölkerung. Die einen fürchteten soziale Unstimmigkeiten durch die neue Bewohnerschaft, die anderen um ihren Parkplatz. Durch eine starke Kommunikation während der Bauzeit und ein ins Projekt integriertes Büro für soziale Fragen wurden viele Bedenken abgefedert.
Die Stadt München wird auch zukünftig solche städtischen Flächen nach diesem Beispiel verdichten. So stellen zum Beispiel auch große Nahversorger oder Baumärkte und deren Parkplätze ein großes Potenzial der Nachverdichtung dar. Vielleicht könnte die Stadt durch Förderung solcher Maßnahmen die Umsetzung für die einzelnen Betreiber attraktiver machen.
Neben dem Verdichten von bereits versiegelten Flächen gibt es die Nachverdichtung von vorhandenen Wohnquartieren. Hier sollten die Projektentwickler nicht nur auf den maximalen Wohnflächengewinn setzen, sondern im Zuge einer Erweiterungsmaßnahme
neue gemeinschaftliche Bereiche vorsehen, wie zum Beispiel einen (Dach-)Garten oder Gemeinschaftsräume, die von allen Bewohnenden genutzt werden können. Die Anwohnerschaft muss einen „Mehrwert“ durch die Erweiterung oder Nachverdichtung sehen, damit diese akzeptiert wird.
Bei der Verdichtung von Innenhöfen verschwinden oft alteingesessene Werkstätten, Gewerbe oder Ateliers von Kunstschaffenden. Ideal wäre es, wenn hier Projektentwickelnde mit den Bewohnenden Gespräche führen und gemeinsam Möglichkeiten suchen, angemessene Ausgleichsflächen zu finden. Mit dem Wegfallen solcher Strukturen würde die Stadt tatsächlich einen Teil ihrer „Seele“ verlieren, da diese Mischung von Funktionen einen wichtigen Beitrag zu einer lebendigen Stadt leistet.
Sie sind Geschäftsführerin von ga-munich (guiding architects munich) und bieten geführte Architekturtouren durch München an. Welche Fragen werden Ihnen auf den Touren am häufigsten gestellt und welche Projekte begeistern Ihre Gäste am meisten?
CN: Ich habe mich nach vielen Berufsjahren als Architektin und Stadtplanerin auf die Vermittlung von Architektur und Baukultur in München spezialisiert. Unsere Architekturtouren richten sich an Fachpublikum aus dem In- und Ausland, aber auch an interessierte Laien. Mein Team und ich werden oft nach den Strategien der Stadt München gefragt, wie man mit dem Wachstumsdruck umgeht, dem München ausgesetzt ist. Es werden aber auch oft die Klimaziele der Stadt angesprochen. Hier ist es besonders spannend, in den Austausch mit der Kollegenschaft zu gehen, auch um zu lernen, wie andere Städte diese Themen behandeln.
Bauprojekte oder Quartiere, die am meisten begeistern, sind, neben wichtigen Klassikern wie der Olympiapark mit seinen architektonischen Meisterwerken, die Gebäude der Ökologischen Mustersiedlung am Prinz Eugen Park. Aber auch unkonventionelle Areale wie das Kreativquartier, das Werksviertel, das Schlachthofviertel oder das HP8 sind ganz besondere Highlights der Münchner Stadtentwicklung, die unbedingt in ihrer Grundstruktur, ihrer baulichen Besonderheit und auch mit ihren Zwischennutzungen der Subkultur weitgehend erhalten bleiben müssen. Darin liegt vielleicht die größte Herausforderung für die Stadt München.
Vielen Dank für das Interview, Frau Neeser!
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