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Notizen zur Baukultur

Wir laden Sie ein zur Lektüre der ersten Publikation der Reihe „Notizen zur Baukultur“, deren Anliegen es ist, Hilfestellung beim Erfassen und Verstehen von Fragen der Raumkultur zu leisten. Die hier präsentierten Praktiken zeigen eine innovative Herangehensweise an die Entwicklung von Kleinstädten in den europäischen Regionen, die auf der Fähigkeit, die Herausforderungen der Gegenwart mit der historischen Kontinuität in Einklang zu bringen, basiert. Sie beschreiben gute architektonische und städtebauliche Lösungen (Baukultur) in zwei Bundesländern: Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg- Vorpommern. Unsere Publikationsreihe richten wir an Kommunalpolitiker, Einwohnerinnen und Einwohner sowie an alle, die zur Gestaltung der städtischen Räume beitragen. In Kurzfassung stellen wir Ihnen hier die wichtigsten Punkte vor.

Teil 1. Baukultur

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Was ist Raumkultur? Architektur vermittelt zwischen Mensch und Umwelt – sie formt Identität und dient der Sinngebung im Raum. Mit der Erfahrung von Architektur bilden wir eigene Erinnerungen an die jeweiligen Orte. Die Raumkultur vereint nicht nur Menschen aus gemeinsamen, sondern auch verschiedenen geografischen Räumen. Nach Aldo van Eyck soll sie dem Menschen bei seiner Rückkehr nach Hause helfen. Im Januar 2018 verabschiedeten Kulturminister aus mehreren Ländern die sogenannte Erklärung von Davos mit dem Titel Eine hohe Baukultur für Europa. Darin wird die zentrale Bedeutung der Architektur für die Qualität der gebauten Umwelt und die Kultur der modernen Welt hervorgehoben. Baukultur umfasst alle Maßnahmen, die den Raum beeinflussen. Sie fordert die Welt heraus, gute und inklusive Lebensräume zu schaffen. Architektur soll die

Frage beantworten, wie wir leben und welche Lebensqualität wir brauchen. Baukultur lässt gut geplante Räume entstehen, die in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Anforderungen variieren, gleichzeitig aber ihren historischen Charakter und Wert bewahren. Sie schafft und fördert nachhaltige, sichere, funktionale und gesundheitsfördernde Orte – zum Leben, zum Wohnen, zum Arbeiten, zur Erholung. Die Erklärung von Davos schlägt acht gleichrangige Kriterien für die Qualität eines Ortes zusammen mit den Grundsätzen ihrer Anwendung vor: Genius loci, Funktionalität, Vielfalt, Wirtschaft, Umwelt, Kontext, Governance und Schönheit.

Teil 2. Städte in Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern

Nordrhein-Westfalen Nordrhein-Westfalen liegt im Westen Deutschlands. Seine Fläche umfasst 10% der Fläche der Bundesrepublik. Es ist das bevölkerungsreichste Bundesland und seine Bevölkerung macht 22% aller Bürgerinnen und Bürger Deutschlands aus. NRW besitzt ein reiches architektonisches Erbe mit zahlreichen kulturellen und landschaftlichen Attraktionen. Darüber hinaus ist es eine sehr wichtige Industrieregion. Neben der Hauptstadt Düsseldorf ist das Land auch durch viele kleine und mittlere Städte geprägt, die in vielen Fällen ihren mittelalterlichen städtebaulichen Grundriss beibehalten haben. Die historische Struktur dieser Orte steht zusammen mit deren Baudenkmälern und historischen Stadtkernen als identitätsprägende urbane Landschaft unter Schutz. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Arbeitsgemeinschaft Historischer Stadt- und Ortskerne NRW. Zum architektonischen Erbe des Landes gehört auch eine reiche Industriekultur und an zahlreichen Routen liegen modernistische Objekte aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts.

Kempen Kempen liegt im Westen Deutschlands, unweit der niederländischen Grenze. Das Stadtrecht erhielt Kempen vor 1284. Die zentral gelegene Altstadt ist von einem geschlossenen grünen

Ring umgeben, der entlang der früheren Stadtmauer und des Stadtgrabens angelegt wurde. In ihrem Maßstab richtete sich die Bebauung nach dem historischen Stadtkern. Das frühere Industriegebiet liegt jenseits der Bahnanlagen und im Nordosten befindet sich eine kleine Siedlung mit mehrstöckigen Wohnhäusern. Im Stadtgebiet liegen auch zahlreiche Schrebergärten, Friedhöfe und Parks. Besondere Aufmerksamkeit verdient eine linear angelegte Grünanlage, die sich entlang einer stillgelegten Bahnlinie erstreckt. Seit den Sechzigerjahren werden im Bereich der Altstadt Restaurierungsarbeiten durchgeführt. So wurden etwa 80% des Autoverkehrs aus dem historischen Zentrum ausgelagert, wodurch Raum für neue Grünanlagen entstand. Der Park, der die Altstadt wie ein grüner Ring umgibt, wurde inwertgesetzt. Auf einem früheren Fabrikgelände wurden historische und moderne Gebäude in ein kohärentes Ganzes vereint. Die Stadt legt großen Wert auf die Belange der Umwelt, was sich unter anderem in der Verwendung erneuerbarer Energien äußert. Alle Maßnahmen, an denen auch engagierte Einwohnerinnen und Einwohner beteiligt waren, wurden aus Mitteln der Stadt und des Bundes gefördert.

Straelen Auch Straelen liegt in Westdeutschland an der niederländischen Grenze. Auf einer Fläche von 74 km² wohnen ca. 16 000 Menschen. Das Stadt- und Marktrecht erhielt der Ort im Jahr 1428. Die Stadt besaß eine doppelte Mauer, neun Türme und einen doppelten Stadtgraben. In Straelen wurden zahlreiche Objekte konservatorisch und archäologisch unter Schutz gestellt. Der historische Verlauf der Straßen und Gassen bestimmt bis heute den städtebaulichen Grundriss der Stadt, deren Mittelpunkt der Markt bildet, an dem alle wichtigen Ereignisse stattfanden. In den Jahren 1969–1992 wurde der historische Stadtkern saniert und erhielt seine heutige Form. Die Fassaden der mehrheitlich dreistöckigen historischen Gebäude, die den Charakter der Altstadt prägen, wurden denkmalgerecht erneuert. Heute steht Straelen für den Obst- und Gemüseanbau. Grundlagen für die dauerhafte und nachhaltige Entwicklung sind der Umwelt- und Klimaschutz sowie die Sicherung von Wohnraum, Arbeit und Dienstleistungen.

Hallenberg Hallenberg liegt am südöstlichen Rand des Rothaargebirges. Die Stadt wurde in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gegründet. An ihrem höchsten Punkt entstand eine Burg und in ihrem Zentrum eine Kirche. Auch eine Stadtmauer mit mehreren Wehrtürmen wurde errichtet. Im Jahr 1811 wurde die Stadtmauer geschleift. Bis Ende des 20. Jahrhunderts war Hallenberg von der Landwirtschaft geprägt, obwohl es dort nach dem Zweiten Weltkrieg auch zahlreiche Handwerksbetriebe und kleines Gewerbe gab. In den letzten Jahren nahm auch die Bedeutung des Fremdenverkehrs zu, denn mit seiner Lage am Rande des Rothaargebirges zieht die Stadt zahlreiche Wanderer und Radfahrer an. Die historische Altstadt mit ihren freistehenden Fachwerkhäusern behielt ihre ringförmige Gestalt mit dem Marktplatz und der Kirche als Mittelpunkt. In der Stadt werden alte Traditionen fortgesetzt, was sich an einer 1646 gegründeten Bäckerei und einer alten Brauerei, die vor kurzem ihren Betrieb wiederaufnahm, deutlich erkennen lässt. Seit 2005 ist Hallenberg Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Historischer Stadt- und Ortskerne NRW. 2019 schloss sich die Stadt auch der Arbeitsgruppe Deutscher Fachwerkstädte an.

Warburg Warburg war Mitglied der Hanse und blickt heute auf eine knapp tausendjährige Geschichte zurück. Heute leben in der Stadt 26 000 Einwohner. Die Verleihung des Stadtrechts für die Altstadt erfolgte im Jahr 1180 und für die Neustadt 1228. Im Jahr 1364 schloss sich Warburg der Hanse an, was die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt stark beschleunigte. Die Stadt hat sich ihren mittelalterlichen Charakter bewahrt und ist noch heute von Fragmenten der historischen Stadtmauer mit fünf Türmen und zwei Stadttoren umgeben. Sie liegt an der Diemel, an der sich früher zahlreiche Mühlen befanden. Heute wird die Wasserkraft zur Stromerzeugung genutzt. Am Stadtrand liegt der Desenberg, das Wahrzeichen Warburgs. Seit ein paar Jahren wird in der Stadt das Programm „Blühende Landschaften“ umgesetzt, in dessen Rahmen bienenfreundliche Blumen ausgesät werden.

Krefeld Linn Seit 1901 bildet Linn den historischen Teil von Krefeld. Es wurde in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in der Nähe der die Umgebung überragenden und mit Mauern und einem Graben befestigten Burg gegründet. Die Stadt wies einen rechteckigen Grundriss auf und war von einer Stadtmauer umgeben. Durch die Stadt führten zwei Handelswege, welche die Lage der drei Tore in der Wehrmauer vorgaben. In der Ortsmitte lagen der Kirch- und der Marktplatz. Von besonderer Bedeutung sind in Linn das bis heute gut erhaltene und sehr klare historische Straßennetz, die größtenteils erhaltene ursprüngliche Parzellierung sowie die charakteristische Form vieler Gebäude. Die geschlossenen Häuserzeilen bestehen hauptsächlich aus zweistöckigen Wohnhäusern mit bunten Fassaden aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Dazwischen stehen auch vereinzelte Gebäude aus dem 17. Jahrhundert, die sich durch Backsteinfassaden und hohe Giebel auszeichnen. Der gesamte historische Stadtkern hat heute den Status eines Baudenkmals. Neben dem historischen Linn finden wir in Krefeld auch modernistisches architektonisches Erbe, das ebenfalls unter Denkmalschutz steht, wie etwa die Häuser der Industriellen Josef Ester oder Hermann Lange, die Mies van der Rohe in den Zwanzigerjahren entwarf. Heute beherbergen sie Ausstellungsräume für moderne Kunst.

Mecklenburg-Vorpommern Mecklenburg-Vorpommern wurde als Bundesland nach der Vereinigung Deutschlands im Jahr 1990 ins Leben gerufen. Es liegt an der Ostsee und weist eine überaus abwechslungsreiche Küste auf. Die Fläche von Mecklenburg-Vorpommern macht 7% der Fläche und seine Bevölkerung 2% der Bevölkerung Deutschlands aus. Das Land zeichnet sich durch eine geringe Bevölkerungsdichte aus. Die wichtigsten Industriezweige sind erneuerbare Energien, Maschinenbau, Schiffbau und Lebensmittelproduktion. Eine wichtige Rolle spielt auch die Agrarwirtschaft. Die größte Stadt ist Rostock, Hauptstadt und älteste Stadt des Landes ist dagegen Schwerin.

Mecklenburg-Vorpommern ist reich an Baukultur. Den einmaligen Charakter des Kulturerbes prägen unter anderem zahlreiche Fachwerkhäuser, Baudenkmäler aus der Zeit der Renaissance sowie Schlösser und Parkanlagen aus dem 19. Jahrhundert. Die geografische Lage an der Küste beeinflusste die Architektur der Ostseebäder. Zahlreiche Objekte gelten heute als Industrie- und Technikdenkmäler. Mit dem Ziel, die Garten- und Parkanlagen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, wurden sie in der Gartenroute Mecklenburg-Vorpommern zusammengefasst, daneben finden hier seit 2015 auch die Tage der offenen Gärten statt. Zahlreiche Elemente der Kulturlandschaft liegen an den Flüssen und die erhaltenen Wasser- und Windmühlen sind mehrheitlich denkmalgeschützt.

Parchim Parchim (umgangssprachlich Pütt) liegt an der Strecke Berlin – Hamburg. Die Stadt zählt 18 000 Einwohner und ist Sitz des Landkreises Ludwigslust-Parchim. Der Fluss Elde, andere Wasserläufe sowie der Wockersee prägten die Form und den Charakter der Stadt. Das Stadtrecht wurde Parchim im Jahr 1225 verliehen. Heute liegt die Stadt an der Europäischen Route der Backsteingotik und gehört zu den wenigen in ganz Mecklenburg, die ihre mittelalterliche Struktur bis heute bewahrt haben. Das historische Stadtzentrum mit Befestigungsanlagen und Resten der Stadtmauer wurde zum Flächenbaudenkmal erklärt und in einem Sanierungsprogramm zusammengefasst. Der Ausbau der Stadt erfolgte Ende des 17. Jahrhunderts, als sie zur Garnisonsstadt wurde. Eine weitere wichtige Etappe in der Entwicklung der Stadt markierte die 1870 entstandene Regimentsvorstadt, ein im folgenden Jahrhundert geschlossenes Militärgebiet. Seit den Neunzigerjahren wird in der Stadt ein umfangreiches Erneuerungsprogramm umgesetzt, das unter anderem die Neuordnung der früheren Militärflächen umfasst. Im Rahmen dieser Vorhaben sollen historische Objekte einer neuen gesellschaftlichen und öffentlichen Nutzung zugeführt und die Plattenbauten aus den Siebzigerjahren modernisiert werden.

Grabow Grabow liegt an der Elde, an der früheren Straße von Berlin nach Hamburg. Das historische Stadtzentrum befindet sich auf einer Insel zwischen einem alten Flussarm und einem Kanal. In der Umgebung der Stadt liegen große Waldflächen. 1252 erhielt Grabow das Stadtrecht. Nach einem Brand im Jahr 1725 wurde die Stadt nach barocken städtebaulichen Prinzipien wiederaufgebaut. Heute dominieren hier breite, regelmäßig verlaufende Straßen und Fachwerkhäuser aus dem 17 Jahrhundert. Wegen ihrer Farbenvielfalt wird Grabow auch bunte Stadt an der Elde genannt. Ende des 19. Jahrhunderts stieg Grabow zu einem der wichtigsten Industriezentren Mecklenburgs auf. Aus dieser Zeit stammen die meisten, heute brachliegenden, Industriebauten. Nach 1990 wurden Teile des historische Stadtkerns im Rahmen des Städterneuerungsprogramms saniert. Grabow wurde in Städtebauförderungsprogramme des Bundes und der Länder aufgenommen. Dank der Erneuerung der alten Bausubstanz und aufgrund der schnellen Bahnverbindung mit Hamburg ist Grabow heute ein gefragter Wohnort.

Güstrow Güstrow besitzt das Stadtrecht seit 1228. Die Stadt liegt im Nordosten Deutschlands, im Landkreis Rostock am Fluss Nebel, der sie Stadt in zwei etwa gleich große Teile trennt. Die historische Altstadt liegt in der südlichen Hälfte. Sie ist von einem grünen Ring umgeben, der anstelle der früheren Stadtmauer angelegt wurde und den zentral gelegenen Marktplatz samt Rathaus und Kirche umfasst, deren Turm das Stadtbild dominiert. Einen wichtigen Standortvorteil bildet in der Stadt die Eisenbahnanbindung. Als „Stadt der kurzen Wege“ soll Güstrow auch gut mit seinem Umland vernetzt werden. Die Altstadt wurde zum Sanierungsgebiet erklärt. Ziel dieser Maßnahme ist ihre Sanierung, ein geringerer Flächenverbrauch und der Schutz der städtischen Landschaft vor massiven städtebaulichen Eingriffen. Unter Schutz gestellt wurden auch das historische Straßennetz innerhalb der Stadtmauer und das Stadtpanorama von Westen (von der Straße nach Schwerin) her.

Genius Loci Nach der Erklärung von Davos ist dies das erste Kriterium für eine hohe Baukultur. Der Genius loci, die Identität eines Ortes, ist eine Sammlung von historisch bedingten Charakteristika einer Stadt, die ihr Bild prägen und mit denen sie sich von allen anderen unterscheidet. Er kann entweder als Folge von planerischen Arbeiten und Sanierungsmaßnahmen, oder durch den Aufbau einer starken Zivilgesellschaft entstehen. Die Bemühungen um den Erhalt eines Genius loci sind für städtische Gemeinschaften ein wichtiges Anliegen. Der Schutz der räumlichen Identität ist gleichbedeutend mit dem Schutz einer vielfältigen Schönheit, die sämtliche individuellen und kollektiven Anforderungen berücksichtigt. Eine historisch entstandene Struktur einer Altstadt, in der ihre natürlichen Werte und das Erbe zum Vorschein treten, beeinflusst direkt die spätere Gestaltung und Entwicklung. Die historische Kontinuität der Architektur schafft eine authentische epochale Botschaft. Gelungene Revitalisierungsprojekte in historischen Stadtkernen fördern in den Städten einen stark ausgeprägten Genius loci. Als Beispiel steht dafür Grabow in Mecklenburg-Vorpommern. Die historische Identität der Stadt findet ihre Bestätigung in der Farbgebung der Häuser aus dem 18. Jahrhundert, die bis heute erhalten und geschützt wird. Diesen Aspekt hat die Stadt in ihrem Stadtmarketing aufgegriffen. Heute ist Grabow als bunte Stadt an der Elde bekannt und wetteifert mit anderen Kommunen um Investoren, Touristen sowie neue Einwohnerinnen und Einwohner. Eine andere Maßnahme dieser Art war die Schaffung einer Skulpturenroute mit Figuren von historischen Persönlichkeiten. Mit solchen Aktivitäten wird die Identität des Ortes und die Identifikation mit ihm gestärkt.

Funktionalität Das zweite Kriterium für eine hohe Baukultur ist die Funktionalität des Ortes. Die Qualität der öffentlichen Räumen, urbane Landschaften, Architektur und der Ausbau einer funktionalen Stadt spielen eine wichtige Rolle für die Lebensbedingungen der Stadtbevölkerung in Nordrhein-Westfalen und

Mecklenburg-Vorpommern. Großen Wert legte man dort auf die Gestaltung von öffentlichen Räumen, die vor allem als generationenübergreifende Begegnungsorte dienen sollen. Gut funktionierende und attraktive öffentliche Räume mit historischer Bausubstanz und eine ästhetisch gestaltete Umgebung haben eine symbolische Funktion, sie prägen und fördern das Gefühl der Mitverantwortung für die Stadt. Die architektonische und städtebauliche Gestaltung der städtischen Plätze als Orte der Begegnung, die Präsenz von Kunstwerken, aber auch die Gestaltung von Grünanlagen und der Beleuchtung tragen zu einer positiven sinnlichen Wahrnehmung bei. Ein weiterer wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Funktionalität ist die Nutzung der vorhandenen Bausubstanz (inkl. Baudenkmäler und Leerstand) und ihre neuen Funktionen. Von besonderer Bedeutung für ein reibungsloses Funktionieren der Städte sind Parkmöglichkeiten innerhalb der historischen Stadtkerne und der Ausbau von Fuß- und Radwegen. Kleine Städte setzen auf Fußgänger. Alternative Verkehrsmittel werden in den Augen der Einwohnerinnen und Einwohner immer attraktiver.

Vielfalt Im Zusammenhang mit diesem Kriterium der hohen Baukultur kommt den komplexen Erwartungen derjenigen, die den Raum nutzen, eine besondere Bedeutung zu – Menschen verschiedenen Alters, mit und ohne Behinderungen, gesunde und kranke, Personen unterschiedlicher Nationalität, unterschiedlicher Konfession und mit unterschiedlichem materiellem Status. Ein gut geplanter und arrangierter öffentlicher Raum sollte für alle selbständig und selbstverantwortlich erreichbar sein. Er fördert Integration und hilft soziale Gräben zu überwinden. In Warburg wurde das Programm „Barrierefreie Innenstadt“ umgesetzt mit dem Ziel, das historische Zentrum an die Bedürfnisse von Personen mit unterschiedlichem Assistenzbedarf anzupassen. Unter besonderer Berücksichtigung von Menschen mit Mobilitätseinschränkung und Sehbehinderung wurde ein kohärentes Verkehrssystem geschaffen. In Parchim bilden öffentliche Räume den Mittelpunkt aller gesellschaftlichen Aktivitäten und wurden mit Rücksicht auf

Senioren und Personen mit Behinderungen arrangiert. Die Gestaltung von historischen öffentlichen Objekten in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Universellen Designs muss nach individuellen Lösungen erfolgen. Nicht anders verhält es sich beim Einbau von Aufzügen, die sowohl innen, als auch außen montiert werden können. Als Beispiel dient uns in diesem Zusammenhang die Domschule in Güstrow, die bereits alle heutigen Erfordernisse erfüllt. Alle Stockwerke sind mit einem modernen Fahrstuhl barrierefrei zu erreichen. Im städtischen Raum sollte es Möglichkeiten für eine passive und aktive Freizeitgestaltung geben. Die Vielfalt dieser Orte sollte Kinder und Erwachsene zu gemeinsamen Aktivitäten animieren. So wurde auch der Spielplatz an der Diemel in Warburg in Anlehnung an die traditionelle Nutzung dieses Standortes als Wassermühle entworfen. Die Parkanlagen, die den östlichen Teil von Parchim umgeben, entwickelten sich zum beliebten Freizeitgebiet und werden sehr gut angenommen. Erreichbar sind sie für Menschen verschiedenen Alters.

Wirtschaft Baukultur bezieht sich auch auf Maßnahmen im Bereich Wirtschaft. Veränderungen der Umgebung müssen schonend mit den Ressourcen umgehen und ein reibungsloses Miteinander ermöglichen. In den letzten Jahrzehnten legte man bei der Erneuerung deutscher Städte großen Wert auf das historische Erbe. Mit entsprechenden Maßnahmen und Investitionen wurden sie an veränderte Anforderungen und neue Standards angepasst, was auch zur Wertsteigerung der dortigen Immobilien beitrug. Eine gewisse Herausforderung stellt bei der Revitalisierung historischer Stadtkerne der Erhalt von Wohnraum dar. So wurden etwa in Güstrow die historischen Gebäude erhalten und zugleich die Wohnraumressourcen geschützt, wodurch der Abwanderung der Einwohner erfolgreich entgegenwirkt werden konnte. Die historischen Stadteile stehen für das lokale Erbe. Zum Schutz der Kohärenz und der Qualität urbaner Landschaften wurden in Deutschland zahlreiche Vorschriften erlassen, mit denen Investitionen in denkmalgeschützten Bereichen reguliert werden sollen. Ein Bespiel dafür bildet das Integrierte Handlungskonzept

„Innenstadt Straelen 2022“. Die neuen Gebäude dürfen den Geist der Zeit zum Ausdruck bringen und einen Mehrwert in Bezug auf die historische Substanz darstellen, wobei sie zugleich modernen Sicherheitsanforderungen gerecht werden. Als Beispiele stehen dafür die Zentren eben von Straelen oder auch von Hallenberg, wo die Einwohner auf die Unterstützung des Stadtarchitekten zählen dürfen. Als wichtig erscheint ein funktionaler Umbau der Objekte, zum Beispiel zur Gaststätte oder zum Hotel, unter respektvollem Umgang mit der ursprünglichen Bausubstanz. Nicht ohne Bedeutung ist auch die direkte Umgebung, in der eine einheitliche urbane Landschaft geschaffen wird. In Deutschland kommen zu diesem Zweck sogenannte Gestaltungssatzungen zur Anwendung, in denen beispielsweise Fragen der Gestaltung von Gebäuden geregelt werden, damit der lokale Charakter des Ortes erhalten werden kann. Eine zunehmend wichtige Rolle spielen umweltfreundliche Lösungen. Im Bereich der Architektur wird eine Minimierung der Umwelteinwirkungen angestrebt. Zudem wird in deutschen historischen Städten viel über den Einsatz erneuerbarer Energien diskutiert.

Umwelt Das fünfte Kriterium für hohe Baukultur ist die Umwelt, verstanden als Gesamtheit aller Elemente der jeweiligen Umgebung unter Einbeziehung der Menschen, die sie nutzen und darin leben. Städtischen Grünanlagen kommt aus gesundheitlichen, sozialen, ästhetischen, und ökologischen Gründen eine wichtige Funktion zu. Gemäß der Erklärung von Davos bilden die menschliche und die natürliche Umwelt ein geschlossenes Ganzes. Flächen, die von früheren Stadtmauern befreit wurden, sind im Zuge der Stadtentwicklung zu Grünflächen umgestaltet worden und in das städtische Belüftungssystem integriert. Die mittelalterliche Stadtmauer in Kempen, umgewandelt in einen Park, bildet heute einen geschlossenen Ring um die Altstadt. Wie die meisten Grünflächen in deutschen Städten, ist der Park nachts unbeleuchtet, was die Lichtverschmutzung reduziert und positive Folgen für das Wohlbefinden der dort lebenden Tiere hat. In den grünen Ring von Güstrow wurden Wehrtürme, Schlossgärten und weite Freiflächen integriert.

Im Zuge der Stadtentwicklung werden einzelne Flächen einer neuen Nutzung zugeführt. Für diesen Prozess steht unter anderem der Park an den früheren Eisenbahnanlagen in Kempen. Frühere Feuchtwiesen am Stadtrand wurden dort in die Parkanlagen East Cambridgeshire und Entenweiher umgewandelt. Neben ihrer Bedeutung für die Freizeitgestaltung und Ästhetik sind sie auch für den Wasserhaushalt wichtig. Für gewöhnlich haben Friedhöfe eine kulturell-gesellschaftliche Funktion, allerdings kommt ihnen auch eine ästhetische und ökologisch Rolle zu, handelt es sich doch um biologische Enklaven. Auf historischen Friedhöfen überlagern sich kompositorische und kulturelle Schichten. In Parchim wurde ein alter Friedhof in eine Parkanlage umgewandelt, während ein anderer, modernistischer, der übrigens auch ein gutes Beispiel für eine Parkkomposition des frühen 20. Jahrhunderts darstellt, weiterhin seine ursprüngliche Funktion erfüllt.

Kontext Den uns umgebenden räumlichen Kontext und die Qualität der Orte beeinflussen Faktoren wie der Charakter und der Maßstab der Bebauung, der einheitliche Charakter der architektonischen Lösungen, der Einsatz von lokalen Baustoffen und traditionellen Farben. An Orten mit hoher Raumkultur sollten architektonische und landschaftliche Projektarbeiten die jeweilige Bautradition mit Erfordernissen moderner Funktionalität gekonnt miteinander verknüpfen. Um neue Orte im Dialog mit ihrem Kontext entstehen zu lassen, werden entsprechende Regelungen angenommen. Damit in Hallenberg die charakteristische Gestalt der Altstadt auf dem Hügel erhalten bleibt, wurde die Gestaltungssatzung „Altstadt-Hallenberg“ verabschiedet. Gemäß dieser Satzung sollen sich das äußere Bild der Häuser und alle Werbemaßnahmen nach der Struktur des historischen Stadtzentrums und dem Charakter der altstädtischen urbanen Landschaft richten. Mit anderen Worten, sie müssen zu den umliegenden Häusern passen. In Güstrow, das am Modellstadtprogramm zur Stadterneuerung teilnimmt, ist ein Sanierungsplan in Kraft, mit dem die vorhandene Substanz besser genutzt werden sollte. Unabhängig vom Umbau von historischen Bauten, geht es dabei auch um die Nutzung von leeren Flächen und Industriebrachen.

In Kempen wird die Altstadt seit den Sechzigerjahren aus öffentlichen und privaten Mitteln erneuert. Im Zuge dieser Arbeiten wurden die Gebäude an der Stadtmauer neu gestaltet, alte Bürgerhäuser saniert und der Verkehr aus dem historischen Stadtkern ausgelagert. Auch der Park entlang der früheren Mauer wurde erneuert. Im Laufe dieser Arbeiten kristallisierten sich zwei Konzepte für die Projektarbeit im historischen Kontext heraus: Während man früher moderne und schlichte Formen bevorzugte, richtet man sich heute enger nach der architektonischen Tradition von Kempen.

Governance Im Rahmen der Governance werden Prinzipien, Verfahrensnormen und konkrete Maßnahmen festgelegt, mit denen der bebaute Raum gestaltet werden soll. So ist gute Governance ein weiteres Kriterium für eine hohe Baukultur. Sie soll Kooperation und Bürgerbeteiligung fördern. Dazu setzt sie zwei grundlegende Arten von Werkzeugen ein: formelle (aktuell geltende Vorschriften im Bereich Raumordnung und Baurecht) und informelle (Instrumente ohne bindenden rechtlichen Charakter, z. B. Veröffentlichungen). Wesentlich ist in diesem Zusammenhang der Respekt vor der Bedeutung der Geschichte sowie den architektonisch-städtebaulichen und landschaftlichen Werten des jeweiligen Ortes. Die Stadt Hallenberg unterstützt die Einwohner in ihrem Streben nach verbesserten Lebensbedingungen im historischen Stadtzentrum und fördert die Erneuerung der Häuserfassaden und die Begrünung ihrer Gärten und Höfe. Eine Schlüsselrolle spielen in der Raumkultur eine lösungsorientierte Zusammenarbeit und Dialog zwischen Stadt, Planern und Vertretern der Wirtschaft. Für diesen Ansatz steht die Arbeitsgemeinschaft Historischer Stadt- und Ortskerne in NRW. Sie dient als Plattform für Informationsaustausch in Bezug auf die Erneuerung von historischen Stadtzentren. Eine wichtige Rolle bei der Wissensvermittlung über die lokale Raumkultur spielen Veröffentlichungen mit architektonischen Best Practices. So veröffentlichte die Stadtverwaltung von Parchim ein Gestaltungshandbuch für die Parchimer Altstadt.

In Güstrow, das als „Modellvorhaben der Stadterneuerung“ gilt, wird ein Revitalisierungsprogramm umgesetzt, das zu einer besseren Nutzung der vorhandenen Bausubstanz führen soll.

Schönheit Als Kriterium für eine hohe Raumqualität vereint die Schönheit alle anderen Kriterien der hohen Baukultur in sich, also Genius loci, Funktionalität, Wirtschaft, Vielfalt, Kontext, Governance und Umwelt. Ohne ihr Miteinander kann von der Schönheit eines Ortes keine Rede sein. Um eine hohe Baukultur zu erreichen, sollte sie stets bei allen planerischen Maßnahmen im Raum bedacht werden. Schönheit spielt für alle eine wichtige Rolle und sollte als grundlegender kultureller Wert wahrgenommen werden. Wie schon Vitruv sagte: „Als Schönheit wird in der Architektur eine visuelle Qualität bezeichnet, die Gefühle weckt und uns zur Liebe und Entzückung veranlasst.“ Der Begriff Schönheit variiert, mit dem Aufkommen der Kategorie Ästhetik sah man ihren Ursprung in der individuellen Einstellung des Betrachters. Heute wissen wir, dass Schönheit kein physischer und Messbarer Wert ist. Die Subjektivität der Betrachtung und die objektiven Merkmale des Schönen bilden heute die grundlegende Frage in der Theorie der Ästhetik und in zunehmend populären Forschungsmethoden, die mit der Neuroästhetik, einem modernen Wissenschaftsgebiet, in Verbindung stehen. Die Forschung lehrt uns heute, dass die Art und Weise, wie wir Schönheit erfahren, durch die kulturelle Erfahrung der jeweiligen Person bedingt ist. In Hallenberg äußert sich Schönheit als Kriterium der Raumqualität im Einsatz von schwarzem Schiefer bei der Gestaltung von Fassaden und Dächern. Die Verwendung dieses traditionellen Baustoffs schafft die für die Stadt so charakteristische einheitliche und kohärente Dachlandschaft. Die anthrazitfarbigen Dächer und ihre Neigung machen die Schönheit dieses Ortes aus. Sie werden durch die lokal erlassene Gestaltungssatzung geschützt und sind von historischer, landschaftlicher, ästhetischer und städtebaulicher Bedeutung. In den Städten Nordrhein-Westfalens hält man an einer einheitlichen Farbgebung fest. Sie bezieht sich immer auf den

räumlichen Zusammenhang und verwendet natürliche Materialien aus der Region. Die Farbgebung der Region ist rechtlich geschützt. In der Gestaltung von architektonisch-städtebaulichen Einheiten, der Abfolge von Räumen, dem Wechselspiel zwischen Dominanten und einzelnen Akzenten und schließlich in der Einbindung in die umliegende Landschaft liegt die Kunst, Schönheit zu erzeugen. Ein wertvolles Stadtpanorama kann als Baudenkmal anerkannt werden, wie etwa in Güstrow, und im Stadtmarketing verwendet werden.

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