GROOVE #101 - STUDIOBERICHT NIOBE

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STUDIOBERICHT

NIOBE Seien wir ehrlich: Ein Großteil der Menschen, die elektronische Musik produzieren, hat das Bestreben, gehört und auch verstanden zu werden. Und viele feilen an ihren Tracks so lange, bis die Umgebung das nunmehr kantenlose Klangstück als angenehm ausproduziert empfindet. Das kann man so machen – muss man aber nicht. Die in Köln lebende Niobe konstruiert schon seit Jahren Klangminiaturen, die einzig und allein ihrem eigenen künstlerischen Empfinden verpflichtet sind. Dass ihr neues Album „White Hats“ dennoch ihr bislang zugänglichstes geworden ist, ist sicher keine Konzession an das Publikum – oder doch? Wir fragen bei einer Audienz im Klangatelier der charmanten Musikerin nach. Text: Numinos Bild: Alfred Jansen

Yvonne Cornelius alias Niobe arbeitet in der Kölner Südstadt in einem hohen, tageslichtdurchfluteten Raum, der früher mal die Backstube einer Bäckerei war. Unter produktionstechnischen Kriterien betrachtet, ist ein solcher Raum mit Nachhallzeiten im Sekundenbereich nahezu unbenutzbar. Für Niobes Musik ist das aber unwichtig, denn im Zentrum steht bei ihr das Experimentieren mit Klang- und Struktur-Ideen, die in einem offenen, weiten Raum ganz im wörtlichen Sinn mehr Platz für ihre Entfaltung haben. Und wenn Niobe etwas wichtig ist, dann ungewöhnlichen Experimenten Raum zu geben – und die entstehen bekanntermaßen zuerst im Kopf. „Ich kenne viele Musiker, die schreiben für ihre Eltern und die Nachbarn ihrer Eltern. Und das hörst du der Musik an. Ich mache Musik für die Musik und nicht für Menschen, die sagen ‚Das geht doch nicht, das kann man doch nicht machen’.“ Als Yvonne Cornelius vor mehr als zehn Jahren ihrer Geburtsstadt Frankfurt den Rücken kehrte und nach Köln kam, geschah dies mit dem festen

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Entschluss, eine Musik zu machen, die im „Hesse-Ländle“ auf völliges Unverständnis stoßen würde. Eine Musik, die, wenn überhaupt, in der traditionell experimentierfreudigen Domstadt funktionieren würde. „Ich musste nach Köln. Das übte einen riesigen Reiz auf mich aus, schon seit ich zwölf war: Heinrich Böll, Rosemarie Trockel, Gerhard Richter, die 50erJahre-Atmosphäre, Klosterfrau Melissengeist, und vor allem die Musik, die nur aus dieser Ecke kommt. Hier ist irgendwie eine Magie, die die Leute sich entfalten lässt.“ Der Umzug zeigte langsam, aber nachhaltig Wirkung. Zunächst vergingen einige Jahre, in denen sich Niobe eher dem geistigen Austausch mit den Menschen in ihrer neuen Wahlheimat widmete und auch ihren

»BEI MIR SIND VIELE SOUNDS MANCHMAL EIN BISSCHEN

VERRAUSCHT. MIR GEFÄLLT DAS – DIE ATMOSPHÄRE, DIE WÄRME, DIESER VERGEISTIGTE FAKTOR.« Lebensgefährten, den Maler Leif Trenkler, kennen lernte. Von ihm stammt auch das Cover ihres neuen Albums. 2001 veröffentlichte sie dann auf dem Kölner Label Tomlab ihr Debüt „Radioersatz“. Danach folgten zwei weitere Alben auf dem Mouse-On-Mars-Label Sonig, die voll von Cutup und Collagen-Techniken waren, wobei ihr das letzte, „Voodooluba“, sogar den Achtungserfolg einer Würdigung bei der Ars Electronica in Linz einbrachte. KALTER, STEINIGER WEG Die lange Zeit bis zur ersten Veröffentlichung resultierte auch daraus, dass sich Niobe alle technischen Möglichkeiten und den Umgang mit ihren Geräten selber erschloss und zu keinem Zeitpunkt in Gefahr geriet, den hilfreichen, aber auch beeinflussenden Beistand eines Produzenten zu bemühen. Vielmehr hat sie die Ensoniq-Sampler – erst den EPS-16+, dann den ASR-10 – als zentrale Fusionskammern für ihre Ideen entdeckt. „Das liegt irgendwie am EPS – ich bin mit dem Ding superschnell zurechtgekommen. Für mich war es ein Fest, die Bedienungsanleitung zu lesen. Ich hab’ sie mir


so hingelegt, dass ich dachte ‚Bald bis du dran – ich freue mich schon auf dich’.“ Schnell erreichte Niobe den Erregungszustand, den jeder Musiker, der sich mit einem Gerät intensiv beschäftigt, schon mal erlebt hat: das vollständige Verschmelzen mit der Maschine – kein Nachdenken mehr über Untermenüs oder Parameter. Nur reines Arbeiten. „Für mich war das ein Paradies, sich in diesem Ding zu verkriechen und zu lernen. Nächtelang habe ich hier auch im Winter gestanden. Mir sind die Füße eingefroren und ich habe es gar nicht gemerkt, weil ich so sehr in diesem Display und den Möglichkeiten versunken war.“ WEG MIT DER SCHERE Hätte man nun geglaubt, dass Niobe sich für immer in ihrem Klanglabor einschließen würde, um seltsam-schöne Trackmonster zu züchten, die den durchschnittlichen Musikhörer gehörig erschrecken, überrascht sie nun mit einem außerordentlich offenen Songalbum, das den zentralen Aspekt ihrer Musikerpersönlichkeit fokussiert: die begnadete Sängerin, deren Stimme bereits House-Tracks von Mouse On Mars und entspannte Jazz-Tunes von Wechsel Garland bereicherte. Das ist offenbar auch ein Ergebnis der Überzeugungsarbeit von Tomlab-Labelchef Thomas Steinle. „Tom hat mich gefragt, ob ich meine Songs nicht mal so lassen könnte wie sie klingen, bevor ich sie zerpflücke.“ Außerdem versammelt Niobe auf „White Hats“ das bislang größte Aufgebot an Gastmusikern und Produzenten: Marcus Schumacher und St. Lindemer bedienen die Gitarren, Chris Beemster und Sebastian Weber komponieren mit und Wechsel Garland bereichert neben seiner Kompositions- und Mastering-Tätigkeit die Ballade „Surround Your Hover“ sogar mit einer Duettstimme. Es ist wohl der Zeitpunkt gekommen, an dem Yvonne Cornelius ihren ureigenen Produktionsstil gefunden hat und von da aus auch andere Einflüsse in ihre Arbeit einbeziehen kann. Denn unverkennbar bleiben Stilkonstanten wie die stark verfremdeten Vocals, die teils extrem gepitcht und mit riesigen Hallräumen ausgestattet werden. „Ich will den Hörer auch nicht so zuflatschen mit ganz klar ausgesprochenen Texten, ich will ihm eigentlich sehr viel Freiraum geben für eigene Fantasie: Er hört nur ein

paar Stichpunkte raus.“ Erstaunlich ist dabei, dass gerade die Pitch-ShiftEffekte nicht etwa aus einer dafür optimierten Hardware stammen, sondern aus einem Diskotheken-Standard-Mixer: dem Pioneer DJM-600. Überhaupt verblüfft es, wie dynamisch und präsent die Musik von Niobe wirkt – in Anbetracht ihres überschaubaren Equipments, das seine besten Zeiten in den frühen 90ern hatte. Ein klarer Beweis dafür, dass es nicht zwingend erforderlich ist, eine rauschfreie Produktion abzuliefern, sondern dass der musikalische Inhalt stimmen muss. „Bei mir sind viele Sounds manchmal ein bisschen verrauscht, weil die halt durch das Bandecho und dann noch durch ein Hallgerät gehen, aber mir gefällt das – die Atmosphäre, die Wärme, dieser vergeistigte Faktor.“ SONNTÄGLICHES STÜTZBIER Vielleicht liegt es an dem schon früh aufgemachten Kölsch, das an diesem, aus der Zeit gefallenen Sonntag beim Interview konsumiert wurde, oder an den intensiven, gestenreichen Erklärungen von Yvonne Cornelius. Aber als die Dämmerung das Studio langsam in ein unwirkliches Blau taucht, wird es offensichtlich, dass dieser Raum zwar eine miserable Akustik hat, dafür aber einen fühlbaren energetischen, produktiven Vibe besitzt, der entweder schon immer da war oder durch den Menschen geprägt wird, der in ihm arbeitet. Es ist eben nicht immer wichtig, womit man seine Musik verwirklicht, sondern häufig auch wo. „White Hats“ ist auf Tomlab/XXX erschienen. www.tomlab.de

Gerätepark Klangerzeuger: Ensoniq ASR-10, Ensoniq EPS-16+, Hohner Stringperformer Mischpult: Pioneer 600 DJM Mischer, Behringer Mischpult Outboard: EFX-1 Viscount, Yamaha Rex 50, Ibanez UE405, dbx Compressor/Gate Recording: Denon CD Player/Sony CD Player, Aiwa DAT Recorder, Tascam 38 Bandmaschine, Tascam 4-Spur

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