GROOVE #112 - STUDIOBERICHT

Page 1

Technik

Studiobericht / Booka Shade

Walter Merziger, Arno Kammermeier

TEXT: Numinos FOTO: Michael Mann

Schnelllebigkeit ist nicht das Ding von Walter Merziger und Arno Kammermeier. Denn ginge es den beiden Veteranen der elektronischen Musik um kurzfristige Erfolge, hätten sie es wohl niemals geschafft, über lange Jahre beständig und erfolgreich zugleich ihre Band Booka Shade, ihre Produzententätigkeit für andere Künstler und schließlich ihr Label Get Physical voranzutreiben. Spieltrieb und Freude am Experimentieren sind ihnen dabei keineswegs abhanden gekommen. Im Gegenteil: Auf ihrem dritten Album The Sun & The Neon Light inszenieren Booka Shade einen eindrucksvollen Flug durch ihren gesamten Stil-Kosmos. Wir treffen Booka Shade in ihrer Berliner Homebase, die zugleich Studiokomplex und LabelHauptquartier von Get Physical ist. Nach den üblichen Willkommenshöflichkeiten kommt Wal-

68

Groove

ter Merziger, angesprochen auf die stilistische Offenheit des neuen Albums, direkt zur Sache: „ sind uns durchaus bewusst, dass wir uns da auf’s Glatteis begeben. Aber wir haben es trotzdem gemacht.“ Die beiden hätten das Album nicht eben mal eben aus der Hüfte geschossen, sondern sehr lange, nämlich 15 Monate, daran gearbeitet. Noch Anfang Januar hätten sie die Platte fast wieder komplett weggeschmissen und von vorne angefangen. „Wir haben’s einfach nicht zusammengekriegt, obwohl wir wussten, dass wir da ein paar echt gute Songs haben“, sagt Merziger. Neben solchen Zweifeln lässt sich bei ihm aber auch die Begeisterung heraushören, die während der Arbeit an diesem – in Bezug auf Zeit, Kosten und Produktionstechnik – aufwändigsten aller Booka-Shade-Alben bestimmend war. Denn Merziger und Kammermeier haben, ganz im Gegensatz zum Vorgänger Movements, auf dem sie beseelte Musik aus dem Rechner demonstrieren wollten, nicht nur Aufnahmen mit dem Filmorchester Babelsberg realisiert, sondern auch im Studio viel mehr aufgenommen: „Wir haben uns gesagt, dass wir die ganzen schönen, alten Instrumente, die wir hier haben, auch mal wieder spielen wollen“, sagt Merziger. „Genauso, wie wir darauf stehen, mal wirklich so ein Streicherarrangement zu schreiben. Denn bei diesem Album ging es uns darum, cineastische Momente zu

erschaffen und andere Grooves zu zeigen und damit weg von diesem Tanz-Befehl zu gehen.“ DAS AUTHENTISCHE EINFANGEN Dieses Suchen und die stilistische Offenheit sind bezeichnend für die Arbeit von Booka Shade. „Wir haben ja gerade im Bereich Werbemusik schon so ziemlich alles gemacht, von Sinfonieorchester-Aufnahmen bis zur Punkrock-Band, wobei wir versuchen, immer das Authentische der Musik einzufangen“, verrät Merziger. „Dazu haben wir uns auch immer mit Leuten zusammengetan, die in der jeweiligen Szene aktiv sind. Man lernt ja nicht innerhalb von fünf Minuten, wie man Punkrock macht.“ Man müsse eben Leute kennen, die einem auch mal sagen: „Hey, ihr denkt zwar, dass das Dub ist, was ihr da macht. Aber das ist es nicht, das ist Plastik.“ Über das Aufeinandertreffen mit solchen Menschen haben sich Booka Shade ein, wie sie sagen, „Riesenwissen“ darüber angeeignet, wie diese vielen Stile im Innersten funktionieren. „Selbst wenn es Schlager ist, interessiert uns, was die Leute dabei fühlen, was es ist, das die Musik für die entsprechenden Hörer so attraktiv macht“, sagt Merziger. Und dann ergäben sich plötzlich auch neue Möglichkeiten, Sachen zu kombinieren, die so erst mal gar nicht zusammenpassen. Solange es von Herzen kommt, sich soulful anfühlt


Technik

und authentisch ist, sei das legitim. Merziger: „Deswegen vermischen wir auch oft Sachen, bei denen die Puristen laut aufschreien und sagen ‚Ey, das ist ja kein echter Detroit mit dem Sound, den ihr da drin habt’. Dann ist es halt kein Detroit, sondern Ober-Linksweiler.“ Sein Bandkollege Kammermeier sieht darin sogar eine der wesentlichen Stilkonstanten von Booka Shade und meint, dass es schließlich in jedem Genre etwas Spannendes zu entdecken gebe, wenn man sich damit beschäftigt: „Wir haben es lange Zeit als negativ für uns betrachtet, dass wir so vielseitig sind, denn wir haben Leute gesehen, die genau mit einem Sound vorgeprescht und ziemlich schnell weit gekommen sind. Da haben wir schon häufiger gedacht: ‚Mensch, der ist ganz schnell da, wo er hin will, und wir verfrickeln uns total.’ Aber jetzt, zurückblickend, möchten wir diese gewachsene Vielfältigkeit nicht mehr missen.“ DIE KOLLEGEN ZUFALL UND FEHLER In der Studioarbeit treffen dann akribisches Sounddesign und unbändiger Spieltrieb aufeinander. Einerseits haben die beiden keinerlei Berührungsängste gegenüber den Kollegen Zufall und Fehler. „Bei The Sun & The Neonlight habe ich die Gesangsspur auf so einer kleinen Kassetten-Karaokemaschine von meinem Sohn aufgenommen“, sagt Merziger. Dazu kam der psychedelische Sound einer Grußkarte, bei der die Batterie zu Ende geht. „Es ist lustig, alles in einem Arrangement zu nehmen und einfach eine Spur nach unten zu schieben – daraus entstehen Fragmente, die die Basis eines komplett neuen Tracks sein können“, erklärt Merziger. Andererseits aber wollen Booka Shade immer, sowohl beim Sound als auch beim Arrangement, eine logische Geschlossenheit erreichen. Kam-

mermeier: „Wir sind ja vornehmlich Sound- und Trackdesigner. Bei uns gibt es kein ‚Schalt mal kurz die Bassdrum aus!’. Es muss immer einen Grund für ein Break geben. Wir mögen es, wenn subtile Veränderungen passieren, gerade auf einem Album. Das ist noch etwas anderes als bei Clubtracks. Ich hasse diese Dance-Alben, bei denen einen die Bassdrum anspringt. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass eine zu laute Bassdrum der Killer jedes Grooves ist.“ Diese Einstellung ziehe sich auch durch alle GetPhysical-Produktionen – dort seien die BassKicks wahrscheinlich ein Drittel leiser als bei den Produktionen der meisten anderen Labels. Um das zu erreichen, arbeitet Merziger häufiger mit eingezeichneten Lautstärke-Verläufen denn mit Dynamik-Plug-ins: „Bei uns sind eine Million Fader-Fahrten drin, wir machen viel über Volume-Kurven.“ Dabei bounct er Spuren oft, um einen aktuellen Stand seiner Arbeit zu haben. Aber auch, um eine gewisse Datensicherheit zu gewährleisten. „Ich spiele viel Audio in den Rechner ein, weil ich Angst habe, dass da der eine oder andere Effekt nach einem Update verloren geht“, erklärt Merziger. „Wenn man sich dann die letzte Version anschaut, ist das gar nicht mehr so viel, was da an Spuren offen ist. Das ist auch wichtig, denn sonst verliert man irgendwann im Automationsfenster völlig den Überblick.“ Dazu ergänzt Kammermeier: „Es geht auch ein bisschen darum, dass man Sachen einfach mal entscheidet. Früher hat man doch auch nur seine acht Spuren gehabt. Da hat man dann eine Spur auch so gelassen, wenn sie toll war. Man muss nicht immer bis zum Schluss alles bis ins Detail offenhalten können.“ The Sun & The Neon Light erscheint im Ende Mai bei Get Physical/Intergroove.

ICH HASSE DIESE DANCE-ALBEN, BEI DENEN EINEN DIE BASSDRUM ANSPRINGT. EINE ZU LAUTE BASSDRUM IST EIN GROOVEKILLER. EQUIPMENT (auszugsweise): Klangerzeuger:

Waldorf Pulse (2x), Dubreq Stylophone, E-mu E4, Korg MS-20, Roland V-Synth XT, Roland Super Jupiter MKS-80, Roland MC-202, Doepfer MS 404, Moog The Source, Novation BassStation, Oberheim Matrix-1000, Sequential Pro-One, Yamaha TX-81Z, Yamaha DX-7, SoundMaster Memory Rhythm SR-88 Mischpult:

Mackie Control Abhöre:

Quested Outboard:

Mindprint DTC Digidesign 96 Reußenzehn Suitcase Electro-Harmonix Big Muff Dunlop Heil Talkbox Lexicon 300 Universal Audio LA-4 Digitech Talker Boss VT-1

Groove

69


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.