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Tim Exile LiveBericht
Tim Exile ist einer dieser durch und durch britischen BreakbeatProtagonisten, die in ihren LiveActs alles anzünden, was entflammbar ist, und nebenbei Electro-Pop sein Gesicht zurückgegeben haben. Wir haben dem Franz Liszt des Echtzeit-LoopVerbiegens bei einem furiosen Konzert im Kölner Artheater auf die Finger, respektive Controller geschaut und befragten ihn nachher zu seinem nagelneuen Sound-Häcksler, der auf den vielversprechenden Namen The Mouth hört. Te x t N u minos
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F o t o s F abian S t ü rt z
Tim Exiles Live-Acts sind hinreißend groovy und verspielt, er weiß wie wenige andere das Publikum gekonnt einzubeziehen. Spätestens wenn er beim dritten Stück des Abends sein Mikrofon in Richtung der Tanzfläche hält und das in Echtzeit gesamplete Johlen der Meute in einen Flächen-Sound verwandelt, den er mittels eines Joysticks minutenlang in irrwitzigen harmonischen und rhythmischen Variationen durch den Raum kreisen lässt, brennt die Hütte lichterloh. Was die Präsenz des 31-jährigen Engländers im Kern so überzeugend und mitreißend macht, ist die traumwandlerische Sicherheit, mit der er sein über Jahre perfektioniertes Set-up, bestehend aus drei Behringer-Controllern, einem Midi-Keyboard und einem Akai-Trigger-Pad, bedient. Er fegt wie ein Derwisch über die Fader und Potis, würdigt das Display seines Macbooks keines einzigen Blickes und kommuniziert stattdessen lieber mit dem Publikum. Auf dem
Rechenknecht läuft, wie nicht anders zu erwarten, Native Instruments’ Reaktor mit seinem legendären, selbst programmierten Ensemble, welches all die aberwitzigen Cut-ups und Live-Tweaks ermöglicht und zwischenzeitlich zu einer Art Supra-EffektSuite angewachsen ist. Auf die Frage, wie er sich in diesem nirwanisch-verschalteten Modul- und Patch-Monster noch zurechtfindet, entgegnet Exile, dass er sich wirklich wie ein kleiner Junge im Spielzeugladen fühlte, als er dieses Set-up vor vier Jahren zusammenstellte. „Oh, ja! Das hier, und das will ich auch noch, und ohne das kann und will ich sowieso nicht“, sagt er lachend. Spätestens als es darum ging, die Module in Form von The Finger zu veröffentlichen, habe er lernen müssen, die Sache zu strukturieren. Dennoch ist es wirklich verblüffend, dass er sich anscheinend ganz auf die Performance konzentrieren kann und sich offenbar nicht um die Laut-
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stärken kümmern muss. Auf die Frage, wie er es anstellt, dass ihm keine Feedback-Schleifen und keine Loops lautstärketechnisch entgleiten, erklärt Exile: „Ich arbeite mit acht Loop-Slots, die in dem Zusammenhang wie Audiokanäle fungieren. Dort habe ich eine Art MehrkanalAutomixing-Funktion programmiert. Wenn ich einen Kanal bis zum Anschlag verzerre, fahren die anderen sieben Kanäle automatisch ein Stück runter, sodass die Summe immer unter null Dezibel bleibt.“ Erheblicher VerschleiSS Auch der Verschleiß an Behringer-Controllern zeugt von der Energie, mit der Exile seine Konzerte zelebriert. „Ich habe schon mindestens sechs oder sieben von den Teilen in die Tonne gekloppt. Aber ich liebe sie dennoch: Die Midi-Implementation ist wirklich ausge-
das er in Reaktor entwickelte – und womit er prompt auf größtes Interesse bei Native Instruments stieß. Er klappt sein Laptop auf und zeigt uns The Mouth. „Die beiden Programme sind ein bisschen wie gegensätzliche Brüder“, erklärt Exile, „während The Finger aus harmonischen Strukturen Chaos produziert, generiert The Mouth Melodien und Akkorde aus jeder Art von rhythmischem Material.“ Nach dem technischen Prinzip dahinter gefragt, schwärmt Exile mit einem freudigen, fast schon jungenhaften Funkeln in den Augen: „Das Teil ist echt faszinierend. Nimm beispielsweise ein Drum-Loop, da hat jeder Schlag einen harmonischen Fingerabdruck, Stichwort: Drum-Tuning. The Mouth zerlegt ihn in seine spektralen Bestandteile, verstärkt diese mit einem Trägersignal, und am Ende kannst du damit ganze Songs
Rechner durch Mausbewegungen in verschiedenen Bildbereichen in Echtzeit verändert werden. .........................................
Equipment (live) Controller: Akai MPD-18 Behringer BCR 2000, BCF 2000
Wandler: T.C. Impact Twin
Software: Native Instruments Reaktor .........................................
„Nimm ein Drum-Loop. The Mouth zerlegt ihn in seine spektralen Bestandteile, und am Ende kannst du damit ganze Songs entwickeln.“ sprochen gut gelungen“, erzählt Exile und ergänzt, dass er schon viele andere Controller ausprobiert habe, aber die Geräte von Behringer einfach am zuverlässigsten Midi-Steuerbefehle empfangen und senden. Dabei ist er so weit in die Materie vorgedrungen, dass er es sogar geschafft hat, die LED-Kränze rund um die Potenziometer des BCR 2000 als Pegelanzeigen zu verwenden. Er ermutige Leute häufig, sich mit dem Thema der Midi-Rückgabewerte zu beschäftigen, das sei gar nicht so unendlich kompliziert, wie manche glauben, und am Ende könnte man damit recht ungewöhnliche Sachen umsetzen. „Du lässt einfach das Audiosignal analysieren und sagst, dass ein bestimmter Pegel einem entsprechenden Midi-Wertebereich entspricht. Dann gibst du das als Steuerwert an die LEDs – fertig. Am Anfang habe ich mal aus Spaß aus den Fadern des Behringer einen Echtzeit-Audioanalysator gebastelt, ein wirklich spannendes Experiment und eine hervorragende Möglichkeit, die Fader zu ruinieren“, sagt er und lacht. Harmonische Struktur und Chaos Eine wirkliche Beschränkung in seinem ansonsten bestens bewährten Set-up sei allerdings die Tatsache gewesen, dass er bei allen Möglichkeiten zum Verbiegen von Loops und Samples wenig Einfluss auf die harmonischen und strukturellen Verläufe einer solchen Improvisation hatte, sagt Exile. Es sei nahezu unmöglich, nach den ganzen Sound-Bearbeitungen und Schichtungen zum klanglichen Ausgangspunkt zurückzukehren, geschweige denn, klassische Songstrukturen mit Bridge und Refrain zu gestalten. Aber auch diesem Dilemma begegnete der durch und durch Technik-affine Exile mit einem neuen Werkzeug,
entwickeln – nur aus rhythmischen Elementen!“
K urzinfo :
noch mehr dramaturgie Gefragt, ob an diesem hochgradig perfektionierten Set-up eigentlich noch irgendeine Funktionalität fehle, antwortet er erst nach langer Pause: „Ich möchte in Zukunft noch weiter vom Computer und den Controllern weg, mehr in Richtung Performance. Dass ich einen Großteil meiner Auftritte in Clubs mache, liegt auch daran, dass mein Set-up aussieht wie ein Club-Set-up. Ich bin dann eben einfach jemand, der hinter einer Kiste mit Geräten steht.“ Zukünftig möchte er sich noch freier durch den ganzen Raum bewegen können und dabei nur ein einziges Gerät, sei es ein iPad, ein Joystick oder ein Wii-Controller, benutzen. Die sollen speziell für den Song konfiguriert sein, den er jeweils gerade spiele, und noch intelligenter und intuitiver reagieren. „Ich möchte mich da ein bisschen von meiner Ideologie der Interaktivität lösen. Ich habe dieses Thema für mich und, dank meiner Programme, auch für andere hinreichend abgearbeitet. Was mich jetzt interessiert, ist, das musikalische Ergebnis weiter auszubauen: die Dramaturgie auf der Bühne, die Kompositionen selbst“, sagt der charismatische Engländer mit einem schelmischen Lächeln, das keinen Zweifel daran lässt, dass ihm das auch gelingen wird.
The Mouth ist gewissermaßen der Gegenpart zu The Finger. Beide basieren auf Native Instruments’ Reaktor und sind in Verbindung mit dem kostenlosen Reaktor-Player eigenständig lauffähig und spielbar. Die Software stammt vollständig aus Tim Exiles Reaktorbasiertem Live-Set-up, das die kreative Basis seiner radikalen Auftritte darstellt. Mit seiner automatischen Tonhöhenerkennung und den intuitiven Harmonisierungsfunktionen kann The Mouth ein breites Spektrum an Synthesizer-, Vocoder- und Talkbox-artigen Sounds mit ausgeprägtem elektronischen Charakter erzeugen und bietet dadurch vielseitige Möglichkeiten, um Audiosignale anzureichern oder in völlig neuartige und unberechenbare Klänge zu verwandeln. The Mouth benutzt separate Pitch- und Beat-Modi für die tonale Bearbeitung von verschiedenstem Audiomaterial und generiert damit sowohl Autotune-Effekte als auch spontane Akkordstrukturen und Arpeggi. Zur gezielten Harmonisierung können beliebige musikalische Skalen entweder vorgewählt oder direkt per Midi-Keyboard angespielt werden. Das Eingangssignal kann dabei stufenlos mit dem Output der separaten Synth-, Bass- und Vocoder-Sektionen sowie einem zusätzlichen Effektkanal gemischt werden. Jede Sektion bietet dabei eine komfortable Preset-Matrix mit diversen Klangformungsmöglichkeiten, während acht globale Performance-Regler die spontane und intuitive Manipulation des Gesamtklangs ermöglichen.
Auch wer keine Musik-Software besitzt, kann sich einen Eindruck von den klanglichen Möglichkeiten von The Mouth verschaffen. Die entsprechende Technologie setzt Tim Exile nämlich auch auf seiner neuen EP ein, die folgerichtig den Titel „The Mouth – Interactive EP“ trägt. Sie ist ab Dezember auf der Website von Tim Exile (www.timexile.com) erhältlich. Die darauf enthaltenen Stücke können beim Hören am
N at i v e Ins t r u m ent s T h e Mo u t h
Native Instruments The Mouth, für Mac und PC, 69 Euro. GRO OV E / 7 5