GROOVE #121 - STUDIOBERICHT: AIR

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Technik

i d u t S

ch i r e ob

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A IR

Nicolas Godin, Jean-Benoît Dunckel

Air haben das Rhodes-Piano in all seiner Bedeutungsschwere oder die wehmütig wabernden Flächensounds des Mellotrons in ihre Tracks eingebaut – und damit die oft gefühlsduselige, manchmal aber geniale kosmische Musik der siebziger Jahre als urbanen Qualitätspop ins neue Jahrtausend gerettet. Anlässlich ihres Albums Love 2 haben wir Jean-Benoît Dunckel und Nicolas Godin in ihrem neuen Atlas-Studio in Paris besucht. Te x t N u m i no s

F o t o s K a i J ü ne m a nn

/ Branchengeraune zufolge gelten Air als

schwierige Interviewpartner, die sich eher wortkarg geben und sich nur ungern zu ihrer Musik äußern. Die Gerüchte scheinen sich zu bestätigen, als Jean-Benoît Dunckel mit einem kurzen „Salut“ den Aufnahmeraum betritt und sich direkt an seinen Flügel begibt, um dort eine brillante pentatonische Improvisation abzu­ liefern. Doch als er bald darauf mit seinem Air-Partner Nicolas Godin entspannt auf dem Studiosofa sitzt, erklärt er, dass so ein kurzer Klangsturm halt der beste Einstieg in einen Studiotag sei – gewissermaßen ein Signal, das den eigenen Geist und die Moleküle des 7 4 / GRO OV E

Studios auf den kreativen Prozess einstimmt. Von Einsilbigkeit kann danach keine Rede mehr sein. Dunckel berichtet, dass eigentlich alle Stücke, die Air jemals gemacht haben, aus solchen Improvisationen heraus entstanden seien. „Häufig wird ja vermutet, dass wir sehr methodisch an unsere Stücke herangehen, dass wir gewissermaßen ein Sound- und Kompositionskonzept haben“, sagt er. „Aber das stimmt nicht – wir planen absolut nichts.“ Der Gerätepark mit edler Analog-Hardware, den Godin und Dunckel über die Jahre gesammelt haben, ist sicherlich ein entscheidender Faktor für den typischen Air-Sound. Unverzichtbar ist laut Godin dabei allerdings nur eine Handvoll Geräte: das Fender Rhodes, der Yamaha CS-60, der Memorymoog, das Memotron (ein immer noch erhältlicher Nachbau des Mellotrons) und natürlich der Korg MS-20. D i e i n nere Struktur ist e nts c h e i d e n d Letztendlich aber ist für Air entscheidend, dass die innere Struktur ihrer Lieder logisch ist, berichten die beiden. Godin verwendet hier sehr häufig den Begriff der „Fehler, die es zu vermeiden gilt“ – und meint damit nicht etwa

falsche Noten, sondern das Anstreben jener arrangementtechnischen Perfektion, die seit jeher wirklich gute Popmusik ausmacht. „Der Bass ist zum Beispiel so eine Konstante, die für Air ungeheuer wichtig ist“, berichtet er. „Wir verwenden sehr viel Zeit darauf, die wirklich perfekte Basslinie zu finden. Wir sitzen mit unseren Kopfhörern stundenlang im selben Raum, und jeder lässt dem anderen so viel Zeit, wie er braucht, um seine Sache zu perfektionieren: Einer spielt sein Instrument, der andere regelt den Sound.“ Dabei nutzen Air ihr Pro Tools-System nicht voll aus, sondern sie verwenden es lediglich als Bandmaschine, wie Godin verrät. Mehr noch: Tatsächlich sei es so, dass die beiden ihre Stücke mit allen Abschnitten und Breaks zunächst komplett durchkomponieren und diese erst im Anschluss einspielen – Spur für Spur von Anfang bis Ende. Dabei ist Airs neues Atlas-Studio, das sie sich mit besonderer Sorgfalt beim Akustikdesign von Grund auf haben bauen lassen, ein Ziel, schwärmt Dunckel, das sie nach Jahren des Arbeitens in Mietstudios endlich erreicht haben: „Wir sind gerade auf einer Art Nostalgietrip und wollen wieder genau so arbeiten wie damals als Teenager, als wir in Nicolas’ Studio in Montmartre angefangen


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haben, Musik zu machen – nur auf einem höheren technischen Niveau natürlich.“ Dieses Niveau lässt es eher noch untertrieben erscheinen, wenn man das Atlas-Studio mit einem Projektstudio vergleicht, wirft man mal einen Blick in den perfekt ausgebauten Komplex mit seiner erstklassigen EquipmentAuswahl. Im lichten Vorraum stapeln sich noch ordentlich beschriftete Cases, die dort auf die nächste Livetour warten, und schon hinter der nächsten Wand liegt die Kommandozentrale: die Regie. Zentraler Blickfang ist hier die Trident-Audiokonsole, die mit ihren 36 Kanälen mehr als ausreichende Reserven für alle Downmix-Anforderungen bereithält. Ein typischer Track von Air belegt nämlich so gut wie nie mehr als 16 Spuren, wie Godin berichtet. Er ergänzt, dass ihm und Dunckel bei der Aufnahme die Kompressor-EQ-Kombination weitaus wichtiger sei als das Pult. Damit meint er die beiden unscheinbaren Neve-Kassetten und die Urei-Kompressoren, die sich seiner Ansicht nach als perfekte MikePreamp-Kombination herausgestellt haben. Wie kaum anders zu erwarten, ist die bevorzugte Form aller Klangsignale im Studio von Air analog – Pro Tools ist nur das letzte, eher ungeliebte Glied in der Kette, und die Frage nach Plug-ins erübrigt sich gleich ganz. Ohnehin gehen die beiden Produzenten sehr sparsam und gezielt mit der Frequenz- und Dynamikbearbeitung um. Godin: „Wenn man erst großartig rumschrauben muss, damit ein Stück einen überzeugt, dann stimmt mit dem Stück etwas nicht.“ Er ergänzt, die ultimative Prüfung für einen fertigen Track sei es, diesen zu öffnen, wenn am Mischpult noch ganz andere Einstellungen vorliegen – und das Stück

// W e n n m a n e r s t g r o ß a r t i g r u m schrauben muss, dann stimmt mit dem Stück etwas nicht

dann immer noch funktioniert. Diese Haltung findet ihre Entsprechung beim Abhören der fertigen Air-Tracks. Trotz der großzügigen Räumlichkeit genügen Air zum Arbeiten nämlich zwei winzige Monitor-Lautsprecher der englischen Edelschmiede Acoustic Energy. Lautes Abhören lasse das Material nur positiver wirken, sagt Dunckel, ein guter Track überzeuge aber auch bei geringer Lautstärke. S pa l i e r G o l d e n e r S c h a l l p l at t e n Durch einen Flur, der vom obligatorischen Spalier Goldener Schallplatten gesäumt wird, gelangt man schließlich in den Aufnahmeraum. Hier haben sich Godin und Dunckel ein sowohl behagliches als auch akustisch ausgefeiltes Reich geschaffen. Die Geometrie wird durch wertige Ebenholz-Diffusoren gebrochen, die dezente Beleuchtung lässt optisch die Wände in den Hintergrund treten, wodurch der Raum den Charme eines Rundfunk-Konzertsaals erhält. In diesem Refugium fühlen sich die beiden, nachdem sie nahezu jedes ihrer bisherigen Alben in einem anderen Studio aufgenommen haben, sichtlich wohl. So lassen sie sich denn auch durch den respektvoll geäußerten Einwand des Autors, das neue Album sei ja wohl nicht ganz so

homogen wie die vorherigen, nicht irritieren. Godin erwidert grinsend: „Seltsamerweise haben wir für jedes einzelne Album Fans: Es gibt TheVirgin Suicides-, 10 000 Hz Legendund Talkie Walkie-Fans. Leider haben wir noch nicht so viele Fans unseres letzten Albums Pocket Symphony, aber vielleicht kommt das ja noch. Es gibt sogar Leute, die Premiers Symptômes ganz großartig fanden und der festen Überzeugung sind, dass wir danach nur noch Müll produziert haben. Offen gestanden ist uns das aber viel lieber, als eine Band zu sein, die, nur um jedem zu gefallen, zwanzig Mal dasselbe Album macht.“ Love 2 ist bei EMI erschienen.

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EQUIPMENT (auszugsweise): Software: Digidesign Pro Tools 8 Outboard: AKG BX-15 Avalon VT737 Boss VT-1 Chander LTD Germanium Coron Spring Reverb RSR EMT 140 Ensonique DP/4 Korg SDD-2000 Ibanez AD-23C, AD 202 Mu-Tron Bi-Phase Neve 33114a Roland DC-30, SDF-325 Urei 1176 LN Synthesizer & Sampler: Elektron Monomachine Fender Rhodes 75 Hohner Clavinet D6 Korg MS-20 Korg Minipops Manikin Electronic Memotron Moog Memorymoog Moog Source PPG Wave 2.2 Roland CR-78,TR-909, 808 Arp Solina String Ensemble Yamaha CS-60 Monitoring: Acoustic Energy AE-1 Mischpult: Trident London 24 Series Konsole GRO OV E / 7 5


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