Der innere Klang der Kunst
Wilhelm Wartmann und
das Kunsthaus Zürich
Iris Bruderer-OswaldWilhelm Wartmann und
das Kunsthaus Zürich
Iris Bruderer-OswaldFür Louise, Cosmás und Vincent Koronéos-Wartmann
In Gedenken an unsere Mutter 1923–2022
Dieses Buch entstand in Zusammenarbeit mit Markus Bruderer
Die Autorin und der Verlag danken der International Music and Art Foundation herzlich für die grosszügige Schenkung.
Ebenfalls danken wir herzlich für die finanzielle Unterstützung:
Walter B. Kielholz Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2023 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Lektorat: Monique Zumbrunn, Zürich
Korrektorat: Ruth Rybi, Zürich
Umschlagabbildung: Edvard Munch, Bildnis Dr. Wilhelm Wartmann, 1923 (Kunsthaus Zürich)
Umschlaggestaltung: Grafik Weiss GmbH, Freiburg i. B.
Gestaltung, Satz: Katarina Lang Book Design, Zürich
Bildbearbeitung: Fred Braune, Bern
Druck, Einband: BALTO Print, Litauen
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ISBN 978-3-907291-91-7
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Vorwort 8
Dank 10
Einleitung 13
Jugend und Studium 19
Der Mann der ersten Stunde 41
Ferdinand Hodler und die Vereinigung Zürcher Kunstfreunde 77
Unruhige Jahre 1917–1922 101
Wilhelm Wartmann und Edvard Munch 115
Vom Provinzmuseum zum internationalen Haus 159
Die Kunst des Mittelalters 183
Die Goldenen Zwanzigerjahre 193
Die fernöstliche Kunst 205
Das Laboratorium der Moderne 211
Die 1930er-Jahre 237
Drei französische Meister des 19. Jahrhunderts 281
Die Zeit des Zweiten Weltkriegs 293
Oskar Kokoschka 317
Die Sammlung 351
Die Nachkriegsjahre 369
Das Kunstwerk als Geheimnis 389
Anhang
Publikationen von Wilhelm Wartmann (Auswahl) 397
Siglen 400
Anmerkungen 401
Bildnachweis 423
Personenverzeichnis 425
Über die Autorin 431
«Der Weg zur Quelle führt gegen den Strom.» Konfuzius
Wer die Sammlung des Kunsthauses Zürich besucht, begegnet einem lebensgrossen Porträt eines Mannes mit keckem Schnauz. Er lehnt sich entspannt an einen Tisch und blickt der Betrachterin oder dem Betrachter mit schalkhaftem Lächeln entgegen. Das Gemälde ist auf das Jahr 1923 datiert und stammt vom norwegischen Künstler Edvard Munch. Der Porträtierte ist Wilhelm Wartmann (1882–1970), der erste Direktor des Kunsthauses Zürich. Während 40 Jahren, von 1909 bis 1949, leitete er die Geschicke des Museums.
Bei der Durchsicht von Wartmanns Notizen sprang mir einer seiner Gedanken ins Auge: «Ich weiss nicht, ob ich so vollkommener Diplomat bin, dass die unzähligen Worte, die im Kunsthaus vierzig Jahre lang von mir gesprochen worden sind, wirklich dem einen Zweck nur haben dienen können, Gedanken zu verbergen, und ob überhaupt so viel oder auch nur etwas da ist, das zu bergen nötig und nützlich wäre?»1
Wer steckt hinter dieser Person? Mein Interesse war geweckt.
In der Bibliothek des Kunsthauses Zürich weist mich der Bibliothekar Thomas Rosemann auf das Archiv hin, das Wartmann in seiner langjährigen Amtszeit aufgebaut hat. Die Begegnung mit dem reichen Fundus ist überwältigend. Vor mir liegt eine labyrinthische Welt. Das öffentliche Wirken Wartmanns ist akribisch im Keller des Kunsthauses dokumentiert, unzählige Kopierbücher – Durchschlagbücher der ausgehenden Korrespondenz des Konservators – eröffnen ein kulturelles Zeitfenster. Den Reichtum der Sitzungsprotokolle der Zürcher Kunstgesellschaft erfasse ich erst auf den zweiten Blick. Die ästhetischen Handschriften der Künstlerbriefe lassen mein Herz höher schlagen.
Diese Dokumente bilden nur eine Seite der Medaille: Ich folge meinem Weg der lebendigen Spuren. Nach längerer Suche gelange ich zu den beiden Töchtern von Wartmann – leider war die jüngere Tochter Gabriele
im Mai 2011 verstorben, die Tochter Louise lebt in Paris. Ich bitte meine Pariser Freunde um Hilfe und wir entdecken einen Telefonanschluss einer Familie Koronéos-Wartmann.
Eines Tages rufe ich die Nummer an, eine leise, kultivierte Stimme antwortet. Wir vereinbaren eine erste Begegnung in Paris. Das Gespräch in einem Café berührt Louise, sie scheint sichtlich überrascht, nach so langer Zeit wieder von ihrem in Zürich verstorbenen Vater zu hören und zu sprechen. Das alles liegt weit zurück, die Erinnerung ist verblasst.
Ich erzähle ihr von meiner Idee, eine Biografie ihres Vaters zu schreiben. Nach zahlreichen Besuchen weist sie mich auf den Familiennachlass hin, der seit Jahrzehnten von der Familie gehegt und gepflegt wird. Kurze Zeit später stirbt Louise im August 2013.
Ich bleibe mit ihrem Mann, dem griechischen Philosophen Cosmas Koronéos, in Verbindung. Er erzählt mir von Wartmanns Freundschaft mit dem Künstler Edvard Munch, vom tiefen Eindruck der Besuche im norwegischen Atelier. Das «Bauschänzli» in Zürich, auf dem die beiden Freunde lange Gespräche führten, bildet einen Erinnerungsort. Es liegt etwas Bewegendes in diesen weitergereichten Geschichten – die Vergangenheit strahlt in die Gegenwart.
Vor seinem Tod im September 2015 ermuntert mich Cosmás, aus dem familiären Nachlass auszuwählen, was für ein Buch über den Direktor des Kunsthauses Zürich verwendbar wäre, bevor die Materialien entsorgt würden. Mit dem Aufspüren der privaten Dokumente lässt sich ein Lebensfaden spinnen. In Kleinarbeit sammeln sich Mosaiksteinchen für die Stationen einer Lebensreise, für das Bild einer Persönlichkeit, die sich im Lauf der Zeit bewegt.
Dieses Buch ist nicht nur ein Buch der Begegnungen, es ist ein Buch der Entdeckungen. Unzählige Personen sind in kurzen oder langen Streckenabschnitten eingebunden. Sie tragen auf mannigfaltige Weise zur Entstehung dieser Biografie bei.
Ich danke an erster Stelle Thomas Rosemann: Er ist der Initiator dieses Buchs. Das Kunsthaus-Archiv und sein Team leben von seiner Weitsicht und seinem Wissen um dessen reiche Bestände. Sie bilden die bedeutendste Quelle dieses Werks, die ohne seine engagierten Handreichungen nicht hätte erschlossen werden können.
Ich danke Walter Feilchenfeldt, Zürich, für sein Interesse und seine wertvollen Informationen. Sein Wohlwollen, das er dem Projekt von früher Stunde an entgegenbrachte, begleitete dessen Entstehung.
Zahlreichen Institutionen bin ich zu Dank verpflichtet, ich spreche ihn den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus, die mit Enthusiasmus zum Gelingen beigetragen haben:
Bibliothek Kunsthaus Zürich
Kunsthaus Zürich
Paul Cassirer Archiv & Walter Feilchenfeldt Archiv, Zürich
Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich
Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv
Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Nachlass Kokoschka
Stiftung Righini-Fries, Zürich
Peter Reichenbach und Team C-Films, Zürich
gta / ETH Zürich
Kunstmuseum St. Gallen
Fondation Oskar Kokoschka, Musée Jenisch, Vevey
Bibliothek Vadiana, St. Gallen
Christie’s, Zürich
Munchmuseet, Oslo
Deutsches Forum für Kunstgeschichte, Paris
Fondation Baur, Musée des arts d’Extrême-Orient, Genf Institut Ferdinand Hodler, Delémont
Auktionshaus Koller, Zürich
NZZ Libro und Team
Ich danke allen privaten Eigentümerinnen und Eigentümern, den Museen und Stiftungen für das wertvolle Bildmaterial.
Meiner Familie, meinen Freundinnen und Freunden sei an dieser Stelle herzlichst für das Verständnis für meine Forschungsfreude gedankt. Ich danke allen, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen.
Ein besonderer Dank geht an:
Ernst Volker Braun, Paul Müller, Peter Doppelfeld und Erica Hänssler, Hans Baumgartner, Christian Klemm, Felix Baumann, Christina Feilchenfeldt, Lukas Gloor, Susanna Tschui, Kathrin Frauenfelder, Ruth Häusler, Petra Cordioli, Vincent Koronéos, Ines Rothermund, Markus Castor, William Stevens, Roland Waespe, Nadia Veronese, Sibylle CazajusReichenbach, Catherine Hug, Hans-Peter Thür, Urs Hofmann, Markus
Schöb, Aglaja Kempf, Sandra Gianfreda, Bärbel Küster, Franca Candrian, Claudine Müller, Regula Walser, Jacqueline Burckhardt, Christoph Becker, Tina Fritzsche
International Music and Art Foundation (IMAF) und die Walter B. Kielholz Stiftung
«Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.»2
Johann Wolfgang GoetheDie richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort
«Ich war 26 Jahre alt, als ich Ende April im kleinen Künstlerhaus an der Talstrasse … meinen Dienst antrat … An diesem Tag kam Herr Oberst Ulrich, Präsident der Zürcher Kunstgesellschaft mit dem Eisenhändler Kisling, Präsident der Ausstellungskommission. Sie zeigten mir den engen Arbeitsplatz im kleinen Arbeitsraum, begrüssten mich mit einem Handschlag und meinten, ich werde dann ja schon sehen, was es zu tun gebe. Dabei ist es geblieben, durch vierzig Jahre. Kein Arbeitsreglement! Kein Anstellungsvertrag! Ich hatte gewissermassen Zeit meines Lebens nichts Schriftliches in meiner Hand, nur den Handschlag jener beiden Herren am ersten Tag meines Erscheinens.»3 Im Frühling 1909 wählt die Zürcher Kunstgesellschaft einen neuen Sekretär und Konservator. Zu diesem Zeitpunkt ahnen wohl wenige, dass sich mit Wilhelm Wartmann die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort erweisen wird. Nach einem handfesten Skandal im Kunsthaus gilt es, die Wogen zu glätten und die Kunstgesellschaft wieder in ruhige Gewässer zu führen. Der promovierte junge Kunsthistoriker ist für diese Aufgabe prädestiniert. Aus der Ostschweizer Provinz stammend, verbringt er die Studienjahre von 1903 bis 1909 in der Kulturhauptstadt Paris und entdeckt die neuesten Strömungen zeitgenössischer Kunst.
Die Stadt Zürich öffnet sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Kunst und Kultur, es herrscht Aufbruchstimmung. Endlich wartet in Zürich ein repräsentativer Museumsbau auf eine adäquate Bespielung. Sie erweist sich als einmalige Chance: Wartmann ist überzeugt, den seinen Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz gefunden zu haben.
Der Erfolg seiner 40-jährigen Amtsdauer gibt ihm Recht. Ziel gerichtet verfolgt er die Öffnung der Zürcher Sammlung für ausländische Kunst und legt damit den Grundstein für die heutige internationale Bedeutung des Kunsthauses Zürich.
Wilhelm Wartmann tritt seine Stelle fast gleichzeitig mit der Eröffnung des neuen Kunsthauses an. Er schreibt die Geschichte des Hauses, sie schreibt sich mit ihm. Seine Ausstellungen widerspiegeln den zeitgenössischen Diskurs, spinnen jedoch die traditionellen Fäden weiter. Sein Haus entwickelt sich zum Brennpunkt widersprüchlicher Interessen und Erwartungen. Die Grenzüberschreitungen des kunsthistorischen, wissenschaftlichen, publizistischen und sozialen Engagements und ihre Einbettung in einen zeitgeschichtlichen Kontext bilden den Rahmen dieser Biografie. Sie ist eine Annäherung an die Führungsperson einer Institution und an eine komplexe menschliche Persönlichkeit. Wie sich das Zürcher Kunsthaus vergrössert und verändert, welche Fäden er spannt, wie er seine wissenschaftlichen Kenntnisse und charakterlichen Fähigkeiten einsetzt, um seine Ziele zu erreichen – diesen Fragen gilt die Spurensuche. Das umfangreiche Archiv des Kunsthauses entsteht unter seiner Ägide, es bildet neben dem Familiennachlass die Grundlage für das vorliegende Werk.
1940 sinniert Wartmann über die Bedeutung des Kunsthauses und über seine Dominanz gegenüber allen anderen Belangen seines Lebens. «Meine Tätigkeit im Kunsthaus ist kein Geschäft, sondern eine Aufgabe … Ich bin durch diese Aufgabe immer gebunden, kann meinen Privattag nicht einteilen wie ich will … Und diese Gebundenheit ist irgendwie … der Sinn des Lebens und die Rechtfertigung dafür, dass man da sein und sich schliesslich doch irgendwie des Lebens freuen kann.»4 Diese Briefstelle formuliert ein zentrales Selbstverständnis Wartmanns. Er ist mit Herz und Seele dem Kunsthaus verbunden, alles hat sich dieser Aufgabe unterzuordnen. Mit seinem Mercedes-Benz ist ihm kein Weg zu weit, um eine Ausstellung zu organisieren. Keine Nachtstunde hindert ihn am Schreiben eines Briefs, um ein Bild zu gewinnen. Sein grosses Beziehungsnetz verbindet ihn mit Künstlern, Museumsdirektoren, Kunstvermittlern, Sammlern und Kunstinteressierten. Der Kern des Lebens bildet das Kunstwerk. Fragen um die Schöpfung und Entstehung der Kunst bewegen sein Leben.
Wilhelm Wartmann schreibt sein Leben lang. Der Historiker sammelt einen Grossteil seiner Schriften, sie bilden das Fundament des Kunsthaus-Archivs und des Familienbesitzes. Texte sind Quellen, die die Vergangenheit bewahren. Sein Vater, Herausgeber von Quellen zur Schweizergeschichte, mag ihm ein Vorbild gewesen sein. «Als ich beim Schuleintritt nach seinem Beruf gefragt wurde, sagte ich: ‹Mein Vater ist Schreiber.› Ich sah ihn wirklich von meinen Kindsbeinen an immer am Pult stehen und mit der Kielfeder auf kleine Zettel, dann wieder auf grosse Bogen schreiben.»5
Dieses Buch basiert mehrheitlich auf Originalzitaten Wartmanns, sie geben in der oft weitschweifenden, etwas umständlichen Formulierung und im Sprachgefüge viel von seiner Persönlichkeit preis. Die Schriftstücke in Handschrift waren nicht immer leicht zu lesen, seine Schrift wird mit den Jahren krakeliger und unleserlicher. Der Historiker Ernst Gagliardi, ein Jahrgänger, schreibt: «Ihre Karte aus Chantilly ist leider erst heute in meine Hände gelangt, da ich 14 Tage in Italien war. Um offen zu sein, habe ich sie nur annähernd entziffern können u. weiss deshalb nur ungefähr, worum es sich wohl handelte.»6
Wilhelm Wartmanns Biografie ist nicht zu trennen vom politischen Geschehen seiner Zeit. Zwei Weltkriege setzen Zäsuren in seinem persönlichen Leben und in der Entwicklung des Kunsthauses. Sie bedrängen und beengen das Leben. Obwohl die Schweiz vom Kriegsgeschehen verschont bleibt, steht sie unter Einfluss der politischen Lage Europas. Der Historiker Wartmann reagiert sensibel auf die sich verändernden Zeitumstände. Eine Aussage über den Berner Maler Niklaus Manuel Deutsch gilt auch für ihn: «Wer sich eingehender mit dem Künstler Niklaus Manuel Deutsch beschäftigt und ihn und sein Werk erfassen will, kann unmöglich der Vertrautheit mit der bewegten Geschichte seiner Heimat, Stadt und Staat Bern und der schweizerischen Eidgenossenschaft entraten, die für sein Denken und Schaffen nicht nur mehr oder weniger pittoresken Hintergrund bedeutet, sondern den Boden, auf dem er wird, besteht und vergeht.»7
Im Rückblick erscheint Wartmann seine Tätigkeit am Kunsthaus als eine nachvollziehbare Abfolge von selbstbestimmten, beeinflussten oder vorbestimmten Ereignissen. Seine Beharrlichkeit, die «constantia», bringt ihn den gesteckten Zielen und deren Entscheidungen nahe.
In der Dankesrede zu seiner Verabschiedung 1950 deutet er an: «Ich bin gelegentlich gefragt worden, was für ein Zufall mich eigentlich von Paris nach Zürich und an das Kunsthaus verschlagen habe. Ich glaube, eigentlich gibt es keinen Zufall, wenn man nicht die ganze Welt und das ganze Weltall, in seiner Unfassbarkeit und Unendlichkeit, die uns die Astronomen ja so genau vorrechnen, als Leistung eines Zufalls verstehen will. Auch die Klein-Erlebnisse und Gross-Schicksale der kleinen GerneGross-Einzelmenschen scheinen doch eher, wenn nicht vor-bestimmt, doch durch Erlebnisse, Leistungen und Schicksal ihrer Mitmenschen und ihrer selbst wenigstens vorbereitet.»8
Die Künstlerfreundschaften
Während der Studienjahre in Paris weitet sich Wilhelm Wartmanns Horizont. Henri Bergsons Vorlesungen über Schöpferische Entwicklung, Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung und Wassily Kandinskys Schriften eröffnen eine unbekannte Welt und bilden eine erkenntnistheoretische Grundlage. Sie offenbaren erhellende Einsichten in den künstlerischen Schaffensprozess. Für Wartmann sind sie ein Ausgangsmoment, das sich in konzentrischen Kreisen weiterentwickeln wird. Er wendet sich zunehmend von historisch-analytischen Wertungen ab und entdeckt die ästhetischen Fragestellungen der Zeit: Der schöpferische Prozess und der um Ausdruck ringende Künstler geraten in den Fokus seiner Interessen.
Die Freundschaften mit Ferdinand Hodler, Edvard Munch, später mit Oskar Kokoschka bilden Marksteine in seiner Biografie. Die persönliche Begegnung mit Künstlern, Atelierbesuche mit ausführlichen Gesprächen setzen neue Massstäbe der künstlerischen Entfaltung. In Empathie mit dem Künstler versucht Wartmann, Momente der Kreativität zu erhaschen. Preist nicht Henri Bergson die Intuition als eine Kraft, die das Kunstwerk hervorbringt? Diesem Ursprung des Schöpferischen ist Wartmann auf der Spur, sie ist sein Lebensansporn.9
Der Forschungsarbeit liegt eine stringente Chronologie zugrunde, die den Prozesscharakter unterstreicht. Die einzelnen Abschnitte sind in sich geschlossene eigenständige Abhandlungen. Sie eröffnen ein Kaleidoskop von Geschichten und Einblicken in Wilhelm Wartmanns Wirken,
von Höhepunkten seiner Tätigkeit. Der expressionistische Zeitgeist schwingt wie ein «cantus firmus» durch alle Kapitel.
Dieses Buch umkreist einen kulturellen Brennpunkt, ein wichtiger Aspekt ist der zweiseitige Blick. Die offiziellen Unterlagen sprechen die administrative Sprache des Kunsthauses, der Privatnachlass wirft einen Blick auf die Denkvorgänge, auf persönliche Vorstellungen und Gedanken hinter seiner Tätigkeit und seinen Entscheidungen.
Wartmann ist ein wacher Beobachter, er besitzt ein seismografisches Gespür für künstlerische Qualität. Der Erfolg gibt ihm recht: Welcher Kunsthaus-Direktor wurde schon von Edvard Munch porträtiert?
Wilhelm Wartmann ist eine der zentralen Figuren des schweizerischen Kulturlebens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während Richard Kisling, 1909 bis 1917 Präsident der Ausstellungskommission des Kunsthauses Zürich, 2008 ein biografisches Denkmal erhält,10 steht eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Verdienste Wilhelm Wartmanns aus. Seine Bedeutung widerspiegelt sich bis anhin in Nekrologen,11 in einzelnen Essays über Künstler wie Edvard Munch,12 Oskar Kokoschka13 oder seiner Zeitgenossen. In jüngster Zeit widmet sich die Kunstgeschichte zunehmend der wissenschaftlichen Erforschung herausragender Kunstvermittler wie Museumsdirektoren, Sammler oder Galeristen, wie exemplarische Untersuchungen über Franz Meyer, Zürich,14 Arnold Rüdlinger, Basel,15 Alfred Lichtwark, Hamburg,16 Alfred Flechtheim, Berlin,17 Ludwig Justi und die Nationalgalerie, Berlin,18 und die jüngste Publikation über Julius Meier-Graefe, Paris,19 belegen.
Mit Recht gilt Wilhelm Wartmann als einer der bedeutendsten Museumsdirektoren der Schweiz. Die vorliegende kunstwissenschaftliche Biografie erweist ihm eine adäquate Würdigung.
Jakob Wilhelm Wartmann, genannt Willi (Willy), wird am 20. Juli 1882 als jüngstes Kind von Hermann Wartmann und Louise geborene Hochreutiner in St. Gallen geboren und dort evangelisch-reformiert getauft. Sein Pate ist der bekannte Historiker Gerold Meyer von Knonau (1843–1931). Wilhelm erzählt in einem Schulaufsatz aus seiner frühen Kindheit: «Ich erblickte das Licht der Welt zuerst in einem Hause an der Langgasse. Als ich zwei Jahre alt war, zogen wir in die Wohnung, wo wir jetzt noch sind (Notkerstrasse 15). Da gefiel es uns sehr gut, denn vor und hinter unserm Hause war eine Wiese, wir waren ganz nahe beim Wohnorte unserer Grossmutter, die im alten Bürgli wohnte. Ihr Gut war damals aber viel grösser als jetzt. Die Realschule stand noch nicht, und der ganze Platz war eine Wiese mit Obstbäumen. Es war auch noch eine Scheune nebst einem grossen Hühnerhofe da. Es sah alles aus, wie auf einem Bauernhofe. Nachher baute man die Notkerstrasse mitten hindurch, und kurz darauf wurde mit dem Bau des neuen Bürgli begonnen.»20
Die Familie Wartmann, deren Name ursprünglich «Mann auf der Wart, Wächter» bedeutet, ist seit 1577 in St. Gallen eingebürgert; sie gehört zu den alteingesessenen Familien der Stadt. Grossvater Jakob Wartmann (1803–1873), Sohn eines Buchbinders, studiert in St. Gallen Theologie, wendet sich dann der Lehrtätigkeit zu und unterrichtet an der Knabenrealschule Religion, Deutsche Sprache, Naturgeschichte, Geschichte und Geografie. Er begründet das St. Galler Naturalienkabinett, baut sich eine reichhaltige wissenschaftliche Bibliothek auf, verfasst naturgeschichtliche Lehrbücher und engagiert sich für die Errichtung einer sankt-gallischen Industrieschule. In späteren Jahren arbeitet er als Verwalter der städtischen Bibliothek und des Museums. Der Ehe mit Anna Nette Helena
Weibratha Wild (1802- 1877) entspriessen drei Söhne und eine Tochter: Friedrich Bernhard (1830–1902), Viktor Theodor (1832–1922), Jakob Hermann (1835–1929), Vater von Wilhelm, sowie Karoline (1841–1925).
Eine enge Beziehung pflegt die Familie Wartmann zu Luise Hochreutiner-Scherrer, der Grossmutter mütterlicherseits, die im alten, ab 1886 im neuen Bürgli, vor den Toren der Stadt residiert. In ihrem «Salon» empfängt sie regelmässig Gäste aus dem In- und Ausland. Wilhelm erinnert sich, «wie sie als Haus- und Gutsherrin im Eisenladen oder im alten Bürgli die Zügel kräftig in Händen hatte und sich unter Umständen persönlich mit den Iltisfallen zu schaffen machte».21
Der Vater von Wilhelm, Hermann Wartmann, geboren 1835 in St. Gallen, studiert an den philosophischen Fakultäten der Universitäten Zürich, Bonn und Göttingen, wo er mit der wissenschaftlichen Bewegung der systematischen Erschliessung mittelalterlicher Quellen in Kontakt tritt. Sie motiviert ihn für die Erforschung der St. Galler Geschichtsquellen, aus denen er vier Bände mit Urkunden der Abtei St. Gallen publiziert. Seine Lebensstelle findet er als Aktuar des St. Gallischen Kaufmännischen Directoriums, in der Publikation historischer und handelswissenschaftlicher Schriften für den St. Gallischen Historischen Verein und die Allgemeine geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz. Er pflegt ein weltoffenes Haus und steht mit den führenden Historikern seiner Zeit in reger Korrespondenz. 1909 wird ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Bern verliehen.
Mit seinem Bruder Friedrich Bernhard, Rektor der Kantonsschule und Direktor des Museums für Naturkundliche Sammlungen, entwickelt er sich zu einer Persönlichkeit des kulturellen Lebens der Stadt St. Gallen.
Helene Luise Hochreutiner, Wilhelms Mutter, stammt aus einer wohlhabenden st. gallischen Geschäftsfamilie. Ihr Vater betreibt eine Eisenwarenhandlung in der Marktgasse, ihre Mutter führt ein gesellschaftliches Haus.22 Wilhelm steht während der Studienjahre in Zürich und Paris in engem brieflichen Kontakt zu seiner Mutter bis zu ihrem frühen Tod 1905.
Die Stadt St. Gallen ist in den 1880er-Jahren eine wirtschaftlich florierende Stadt. Den dominierenden Eckpfeiler bildet die Stickereiindustrie, von der Betriebe wie Spinnereien, Webereien, die Ausrüstungs- und Veredelungsindustrie in Abhängigkeit stehen. Die Kaufleute der Stadt zeigen besondere Fähigkeiten, auf Änderungen der Mode und der Marktlage –
eine Voraussetzung für die Stickereiblüte – zu reagieren, wohl auch ein Verdienst des handelsorientierten Wirkens des Aktuars des Kaufmännischen Directoriums Hermann Wartmann.
Infolge des Wirtschaftsbooms verdoppelt sich in diesen Jahrzehnten die Bevölkerung der Stadt, St. Gallen wächst nach allen Seiten; die Villen am Rosenberg zeugen bis heute vom Reichtum der Stickereibarone. Auch die Kultur profitiert, 1857 entsteht ein neues Stadttheater am Bohl, 1877 wird unter massgebender Beteiligung von Hermann Wartmann ein Museum für Naturalien und Kunstgüter auf dem Brühl, in unmittelbarer Nähe des Wohnorts der Familie Wartmann, errichtet, 1909 wird eine Musik- Tonhalle gebaut.
In dieser wirtschaftlich prosperierenden Welt wächst Wilhelm Wartmann mit den drei älteren Geschwistern Stephanie Luise (geboren am 22. September 1866), August Hermann (geboren am 5. April 1870) und Anna Frida (geboren am 5. April 1875) auf. Wilhelms Vater ersteht 1884 an der Notkerstrasse 15, im neuen Museumsquartier, ein Gebäude mit drei Wohnungen. Mitte März 1885 bezieht die Familie die obersten zwei Etagen, im zweiten Stock
wohnt ab Juli 1885 die Familie des Schwagers Debrunner, die unterste Wohnung wird fremdvermietet. J. Debrunner, von Paris nach St. Gallen zurückgekehrt, übernimmt das Eisenwarengeschäft Hochreutiner in der Marktgasse, in dem er seine Lehrzeit absolviert hat.
Wartmann wächst in einem grossbürgerlichen Haushalt auf. Die umfassende Bibliothek des Vaters lädt zum Lesen ein. Sie steht «den schweifenden Wünschen des Knaben als ebenso grenzenloser Weidegrund offen […], wie draussen das ostschweizerische Hügelland, die Ufer von Bodensee und Rhein und die Appenzeller Berge» mit ihren «geschichtlichen Quellenwerke[n]» und dem «betörenden Dichterwald […] aller indogermanischen Völker», erinnert sich Wartmann.23 Politische und wirtschaftliche Themen fördern das Gespräch, jahrelang hält sich die Tradition des Vorlesens historischer oder literarischer Werke wie einer Biografie über Alfred Escher oder der Neuerscheinung der Buddenbrooks von Thomas Mann. Die Mutter ist künstlerisch begabt, wovon einzelne erhaltene Zeichnungen Zeugnis ablegen. Hermann Wartmann hält die Tradition der Hausmusik hoch. «In die grosse bessere Stube der neuen Wohnung stiftete mir meine schenkungsfreudige Schwiegermutter ein Pianino zu meinem Stutzflügel, so dass wir nun nicht mehr bloss vierhändig, sondern achthändig spielen konnten, wozu in der engeren Familie die Kräfte reichlich zur Verfügung standen. Das war die Freude unserer Sonn- und Festtage, und mein Musikschrank war in seiner Art nicht weniger reich ausgestattet, als meine Bibliothek.»24 Das städtische Kulturleben gehört zur Bereicherung des Familienlebens.
Wilhelms schulische Ausbildung beginnt im Frühjahr 1889 mit dem Eintritt in die Klasse 1d der Gemeindeschule der Stadt St. Gallen am Unteren Graben. Die erhaltenen Primarschulzeugnisse weisen ihn als «intelligenten, fleissigen und anständigen Schüler aus».25 Gemeinsame Wanderungen in die nähere und fernere Umgebung, in die Innerschweiz, nach Konstanz, an den Walensee verbinden Vater und Sohn; von seinem Onkel Bernhard mit einer Botanisierbüchse ausgerüstet lernt dieser die Schönheiten der Natur kennen. Jahrzehnte später wird er auf Familienwanderungen seine beiden kleinen Töchter für die Geheimnisse der Natur begeistern, wie sich seine Tochter Louise erinnert.26
1895 wechselt Wilhelm an das von Felix Wilhelm Kubly auf dem oberen Brühl 1855 erstellte Neurenaissance-Schulhaus, das Kantonale Gymnasium. Der Ostflügel beherbergt die Knabenrealschule, der Mittelbau das
Gymnasium und die Industrieschule, der Westflügel die naturwissenschaftliche Sammlung, im ersten Stock befindet sich die Stadtbibliothek. Der grosse Saal im zweiten Stock dient dem Kunstverein für Ausstellungen und ist zugleich Konzertsaal.27 Wilhelm wählt das von den beiden alten Sprachen Latein und Griechisch dominierte Gymnasium. Als Lektüre gelten Klassiker wie Vergil, Horaz, Cicero, Sallust, Livius, Homer, Herodot, Xenophon,Thukydides, Sophokles und Aischylos. Im Deutschunterricht bilden das Nibelungenlied sowie die Dramen von Lessing und Schiller ein Schwergewicht. Gerne erinnert er sich an den Französischunterricht, die französische Literatur ist ihm aus Vaters Bibliothek vertraut.
In der Familie Wartmann spielt Musik eine grosse Rolle, das Geigenspiel im schulischen Orchester gehört zu den Pflichten wie die Gesangslektionen.
Das Kadettenwesen steht in voller Blüte, die Schüler bilden eine militärisch organisierte Einheit. Die Stadt St. Gallen ist schweizweit für ihr Kadettencorps bekannt, die Teilnahme am Kadettenunterricht ist für die 13- bis 19-jährigen Studenten obligatorisch.28
Im Alter von 20 Jahren zieht Luise, die älteste Schwester von Wilhelm, mit Gottlieb Siegrist 1886 nach Paris, sie führen das von Onkel J. Debrunner übernommene Geschäft Dépôt d’Articles Anglais pour Reliure et Papeterie weiter. Die Familienbande sind ausgeprägt, im Sommer kommt Luise mit ihren Kindern Georges und Maurice für einige Wochen nach St. Gallen, im Gegenzug besuchen Frida und Willi die Familie Siegrist in Paris. Ein Brief von April 1900 berichtet über die Faszination der Grossstadt: «Du bist in Paris! Weisst du, was das heisst? In dem berühmten und berüchtigten Paris! In Lutetia, das von Cäsar belagert wurde, in den Mauern, welche die Normannen bestürmten, am Flusse, an welchem Abälard sass, in dem Paris der Bartholomäusnacht, in der Stadt des Roi Soleil, im Paris von 1789 und 1804, inmitten der Andenken an die Commune … Im Louvre habe ich bis jetzt einige Säle antike Statuen und Handzeichnungen alter Meister gründlich studiert, im Musée de la Marine und in den Sammlungen aus Altägypten war ich … Nach dem Nachtessen gehen wir noch auf die grossen Boulevards oder ins Theater …
In der Welt-Ausstellung war ich am Donnerstag vor 14 Tagen und fand erst drei kleine Gebäude fertig; am letzten Donnerstag ging ich wieder hin; da waren zwei davon wieder geschlossen, sonst sah man keine Veränderung.»29
Am 5. April 1902 finden die Maturaprüfungen ihren Abschluss. Wilhelm Wartmann erreicht die hervorragende Durchschnittsnote von 5,9, die Jahreszeugnisse dokumentieren seine überdurchschnittliche Intelligenz. Traditionsgemäss werden die Maturanden mit Gesang und einem Umzug um den Oberen Brühl gefeiert.
Der Studienort Zürich steht für Wilhelm Wartmann fest, denn sein Vater ist mit der Zürcher Professorenschaft vertraut, eine enge Freundschaft verbindet ihn mit dem Geschichtsdozenten Gerold Meyer von Knonau. Am 19. April 1902 immatrikuliert er sich an der Zürcherischen Hochschule 30 und begegnet einigen seiner St. Galler Kollegen. Wartmann kommt in eine Stadt, die sich auf dem Weg zur Grossstadt befindet. 1893 sind elf Vororte eingemeindet worden, die die Verwaltung eines vollamtlichen Stadtrats und Stadtpräsidenten verlangen. Mit der Stadtvereinigung setzt ein grosser Zustrom der Bevölkerung nach Zürich ein, auf die Depression der 1980er-Jahre folgt eine Periode der Hochkonjunktur. Ein Bauboom setzt ein, Miethäuser werden hochgezogen, Firmen gegründet, eine elektrische Bahn fährt durch die Strassen. Zürich entwickelt sich zu einer Stadt des Handels, der Banken und der grossen Versicherungsgesellschaften. Um 1900 zählt sie 150 000, zehn Jahre später bereits 190 000 Einwohnerinnen und Einwohner.31
Der Student findet an der Gemeindestrasse 4 im Stadtkreis Hottingen ein Zimmer und freut sich, der Enge St. Gallens zu entfliehen. «Schon lange bin ich zur Einsicht gekommen, dass man die Heimat am besten in der Fremde kennen lernt, doch ist Zürich sehr schön; alles ist hier weiter, breiter und glänzender als in St. Gallen, den Rosenberg vertritt der Zürichberg … der ‹Rechberg› ist ein prächtiges steinernes Patrizierhaus aus der Rokokozeit, hier gab die Stadt Zürich jeweilen den Gesandten der fremden Mächte Quartier, jetzt ist ein Teil der Hochschulvorlesungen da hinein verlegt worden, statt der krummbeinigen Rokokostühle und -tische und der feinen Diplomaten findet man nun in den Gemächern eckige Schulbänke und Studenten.»32 Mit hoher Motivation nimmt er an den universitären Veranstaltungen teil. «Gestern, genau mit dem akademischen Viertel trat Herr Professor Meyer schneidig ans Katheder und be-
gann vorzutragen. In der Vorlesung über neuere Geschichte bin ich bis jetzt ganz gut nach- und mitgekommen; es ist die Rede von den Zuständen in Italien, und ich habe ja seinerzeit Burckhardts ‹Kultur der Renaissance in Italien› studiert … Gestern war ich an der Seefeldstrasse, bei Dr. Brun, Prof. Hitzig-Steiner und vor den noch verschlossenen Türen der Prof. Blümner und Kägi. Was ich dort hörte, hat mich ein wenig beunruhigt. Ich hatte mir bis jetzt immer vorgestellt, ich könne von der Grundlage der bisherigen Gymnasialbildung im humanistischen Studium auf allen Linien zugleich, parallel, oder in immer weiteren konzentrischen Ringen vorrücken … Dr. Brun nun sagte im Gespräch ganz von sich aus, 25 Stunden seien entschieden das Äusserste und Prof. Hitzig stellte mir für das philologische Seminar ziemlich viel Arbeit in Aussicht. Wie ich nun zu Hause meine Stunden überzählte, waren es 34, und ich war der Überzeugung gewesen, ich habe mich auf das Unentbehrliche, nicht bloss auf das Nötigste beschränkt. So strich ich zuerst die 2 Stunden im deutschen Seminar (Otfried) und werde wohl das Althochdeutsche (Heliand) überhaupt ausschalten müssen, sehr ungern verzichte ich auch auf meine einzige philosophische Vorlesung: Über die Beziehungen zwischen religiöser und sittlicher Kultur (1 Stunde).»33 Worauf Wartmann nicht verzichten will, ist das Erlernen der Sprache Sanskrit bei Professor Adolf Kaegi34.
Der Kontakt zwischen Dozenten und Studenten an der Universität ist freundschaftlich, die Studenten besuchen die Professoren in ihren Privathäusern, der gegenseitige Austausch ist kollegial. «Gestern machte ich nach dem Abendessen eine Traubenblustfahrt. Von den Tischgenossen hatte keiner Verständnis für einen so wenig materiellen blossen Nasengenuss und für eine Wanderung nach Gegenden, ‹wo in Düften schwelgt die Nacht›, die Bierpressionen aber nicht gerade an jeder Ecke sprudeln; … Etwa um halb 10 Uhr erhob ich mich, stieg noch ein Stück bergauf und streckte mich schliesslich in der Nähe des Waldes unter einen Apfelbaum … hier beschäftigte ich mich damit, die verworrenen Geräusche der Sommernacht in ihre zusammenklingenden Untergeräusche zu zerlegen, bis das böse Summen der Mücken in nächster Nähe gar zu vorherrschend wurde.»35
Als «Nichtzürcher» beeindruckt ihn der Frühlingsbrauch des Sechseläutens im April 1902: «Am 20. am Sonntag, spazierte ich mit drei Herren von der Tischgesellschaft ins Sihltal … um halb 10 Uhr öffnete sich weit oben im grauen Helm des dicken Turmes von St. Peter eine Luke und eine schmale, tief gespaltene, blauweisse Flagge kam heraus; auf der andern Seite zeigte sich die eidgenössische rotweisse … Bald klatschten auch um die Türme von Frau- und Grossmünster die Festfahnen … Das Sechsiläuten war etwas anders als ich es mir vorgestellt hatte, nach dem Album. Wohl stand dort und überall auf den Plakaten als Motto für dieses Jahr ‹Vom hoh’n Olymp herab›; aber man täuschte sich, wenn man die griechische Götterversammlung zu Gesicht zu bekommen hoffte. Der festliche Umzug der Zünfte ist in moderner Zeit allmählich zu einem gewöhnlichen Verkleidungsfestzug mit ungewissem Charakter geworden und ist heutzutage halb Fasnachtszug, halb ein allgemein kulturhistorisches Schau- und Prunkstück.»36
Im Juli 1902 rückt Wilhelm Wartmann für die Absolvierung der Infanterie-Rekrutenschule, 1. Zug der 3. Kompanie, in die Kaserne Aarau ein. «Unser Zug war für Freitag Abend auf die Wache kommandiert, da muss man 24 Stunden hinhalten und darf nichts ablegen als Gewehr, Tornister und Käppi; für den Postdienst sind drei Ablösungen bezeichnet, von denen jede 2 Stunden stehen muss, etwa 12 Mann sind beständig im Wachtlokal und stehen auf Piket, das heisst: sie müssen jeden Augenblick bereit sein, mit Gewehr auszutreten; in der Wachtstube ergeben sich dann malerische Bilder, ganz wie auf dem Theater; die Einen pflegen das Kartenspiel
nach Soldatenart, andere starren ins Dunkle und kultivieren Heimweh u.s.w.; ich fasste den ganzen Betrieb so romantisch als möglich.»37 Unerwartet erkrankt Wartmann an einer Blinddarmentzündung, er wird in die kantonale Krankenanstalt Aarau eingeliefert, die Rekrutenschule muss abgebrochen werden.38
Die Vorlesungen von Professor Johann Rudolf Rahn, Pionier des schweizerischen Denkmalschutzes, vertiefen Wilhelm Wartmanns Interesse an Archäologie: «Am Samstagabend hielt Herr Prof. Rahn an Ort und Stelle, im niederen Loche selbst, einen Vortrag über die karolingische Krypta unter dem Chor der Fraumünsterkirche; diese Krypta sah man freilich dann am besten, wenn man die Augen schloss und auf die Worte des Redners hörte; gegen acht Uhr ging man nach dem Sitzungssaal der antiquarischen Gesellschaft in die Meise hinüber.» 39 Seine Begeisterung für Latein und Griechisch lebt er in den philologischen Studien aus: «Auf nächsten Dienstag habe ich zur Behandlung in den hist. Übungen etwa fünfzig Seiten einer lateinischen Mönchschronik zu studieren; ich freue mich darauf, und möchte den Geschichtsstudenten einmal zeigen, wie man einen lateinischen Text gewissenhaft und liebevoll behandelt.»40 Wartmann ist ein regelmässiger Gast in der Tonhalle, besucht Kunstausstellungen im Ausstellungsgebäude der Zürcher Kunstgesellschaft, im Künstlerhaus an der Talgasse, wie die Nachlassausstellung des Basler Landschaftsmalers Hans Sandreuter, den Nachlass von Arnold Böcklin oder Werke zeitgenössischer Berliner Künstler.41 Nach drei Semestern in Zürich wünscht sich der Student einen Universitätswechsel. Sein Vater, der sich auf Studien in Bonn und Göttingen beruft, schlägt eine deutsche Ausbildungsstätte vor. Wilhelm hegt andere Pläne; von der französischen Sprache und Kultur fasziniert, zieht es ihn an die Sorbonne in Paris. Hermann Wartmann sieht in
diesem Wunsch eine Übergangslösung der Horizonterweiterung und lässt sich überzeugen.
Es wird Spätherbst, bis Wilhelm Wartmann endlich nach Paris aufbrechen kann, wie sich Hermann Wartmann erinnert: «Am 4. November (1903) reiste Willi nach Paris ab, um dort seine Studien fortzusetzen, nachdem er vorher noch seine im Vorjahr so unerfreulich unterbrochenen Militärcurse absolviert hatte.»42 Der junge St. Galler taucht in das Paris der Belle Époque ein. Das Bürgertum lebt finanziell abgesichert im Wohlstand und blickt mehrheitlich mit Optimismus in die Zukunft. Politisch ist Frankreich eine Demokratie, technisch ein Industrieland, kulturell bildet seine Hauptstadt das Zentrum Europas. Diese Prosperität widerspiegelte die Weltausstellung von 1900, die Wilhelm als Gymnasiast in ihrer Entstehungsphase beobachten konnte. Die Stadt wächst in atemberaubendem Tempo, ihre Struktur verändert sich rasant, moderne Verkehrsmittel wie die ersten Metrolinien erobern das architektonische Stadtgefüge. Das prosperierende Leben weist auch Schattenseiten auf, eine hohe Anzahl von Bauern, Land- und Industriearbeitern und Angestellten haben wenig Anteil am Wohlstand.43 Der Kunsthändler Wilhelm Uhde, beinahe zeitgleich wie Wartmann in Paris, notiert: «Paris war damals eine Stadt, in der man die höchsten Ansprüche stellen und auch befriedigen konnte … Nachts hingen die Laternen der Avenuen wie lange goldene Ketten in der dunkelblauen Luft. Bei Maxim’s stampften ungeduldig die Pferde vor den eleganten Wagen der grossen Halbwelt … Man wusste, wohin man zu gehen hatte, wenn man schöne Bilder sehen wollte. Durand-Ruel, Vollard, Bernheim Jeune waren in der Rue Laffitte, Paul Rosenberg und Hessel in der Avenue de l’Opéra, Druet im Faubourg St-Honoré. Dann gab es noch drei oder vier kleine Galerien. Das war alles. Die impressionistischen Maler waren herrschend; nach schweren materiellen Krisen, nach Jahren voll Schimpf und Hohn hatte Durand-Ruel sie durchgesetzt. In seinem Laden und in seiner Wohnung sahen wir ihren Triumph. Die Stadt war voll von ihrem Ruhme und ihre Bilder voll von der Schönheit der Stadt.»44
Wartmann schreibt sich an der 1896 während der dritten Französischen Republik unter Félix Fauré gegründeten Sorbonne, der Nouvelle Université de Paris, ein. Er belegt Vorlesungen und Seminare an der Section d’Histoire et de Philologie, an der Faculté des Lettres, sowie Kurse an der École Pratique des Hautes Études, einer Institution für fort-
geschrittene Studien der Grandes Écoles. An dieser belegt er die Lektüre des Ramayana und die Vorlesung «Indische Kultur und Literaturgeschichte», muss später zu seinem Bedauern den in Zürich begonnenen Sanskritunterricht aus Zeitmangel aufgeben.
Die monumentalen Bauten der Grossstadt lassen die Menschen klein erscheinen: «Die lastenden Massen der öffentlichen Gebäude in der Cité und im Quartier Latin mit Säulen, Pilastern, Freitreppen und hohen Fenstern scheinen auf alles Ernst und Feierlichkeit zu legen. Die neue Sorbonne oder eigentlich nur das Gebäude für die Fakultäten lettres und science, ist auch ein so riesenhafter Bau von sehr massiver Architektur; als ich aber hinein kam, sah ich tatsächlich unter den vielen jungen und würdigen Gestalten keine ohne Zylinder, ganz hohen Kragen, schwarzem Gehrock oder Paletot u.s.w. Wenn die Alma Mater Parisiorum an ihre Jünger solche Ansprüche macht, so muss ja sie selbst die eleganteste Pariserin sein.»45 Am Anfang reichen seine Französischkenntnisse für eine geschliffene Konversation noch nicht aus, doch schon nach wenigen Monaten erschliesst sich Wartmann das akademische Spektrum: «Am Montag war ich von 9 bis 12 Abends bei einer Réception im Hause meines Sanskritprofessors, gestern Vormittag bei Dr. Nott, für heute in acht Tagen bin ich bei ihm zum Dinner eingeladen.»46
«Heute Abend gehe ich … ins Konzert; man spielt neben französischen Sachen (Massenet, Rameau, Saint-Saëns) die Ouverture zu Coriolan, die bekannte Streicherserenade von Haydn und das grosse Quintett von Beethoven, da nehme ich den Zylinderhut mit.»47 «In jener Theatervorstellung, als ich eine grosse Anzahl Menschen respektvoll bei Racine und Molière zusammen kommen sah, und die Schauspieler mit vernünftiger Beschränkung fein und wahrhaft fröhlich spielten, kam mir erst zum Bewusstsein, dass die Franzosen auch Herz und Kopf haben, und seit mir nicht überall mehr bloss die Zunge in erster Linie erscheint, rede ich eben frisch, wie es geht, und dringe fast durch, über die Worte weg zum Gedanken.»48 Der erste Heiligabend 1903 in Paris hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. «Weil alle Tramwagen gestossen voll waren, ging ich zu Fuss nach Hause, es befanden sich mehr Leute auf den Boulevards als je, alle lachten und hüpften, ein interessanter Anblick, wenn auch nicht eben christnächtlich. An diesem und am vorhergehenden Abend waren an Strassenkreuzungen und vor öffentlichen Gebäuden Soldaten der Garde Municipale aufgestellt und Dragoner ritten in Gruppen von 8 Mann durch die Quartiere, weil die streikenden Bäcker für diese Tage grosse Demonstrationszüge angekündigt hatten.»49
Zu Beginn des neuen Jahrs zieht Wartmann um, seine Adresse ab dem 9. Januar 1904 lautet: Chez Mme. Stroh, Rue du Val de Grâce 9. «Mein jetziges Zimmer geht geradewegs auf einen mit Bäumen bepflanzten Hof, liegt aber über deren Wipfelhöhe, an gegenüberliegenden Häuser vorbei sehe ich ungefähr die Hälfte der Kirche des Val de Grâce, und links seitwärts sehe ich über die Häuser hinweg die Kuppel des Pantheon, etwa eine Viertelstunde weit.»50 Wartmann arbeitet intensiv, selbst die Fastnachtszeit hält ihn nicht ab: «So ungesund wie in St. Gallen ist … das Wetter jetzt nicht, dafür trostlos und hässlich, immer wieder Regen und Wind, dazu kommen noch Russ und Rauch … Von der Fasnacht habe ich hier nicht viel genossen; weil die Bibliotheken geschlossen waren und ich am Aschermittwoch bei Prof. Monod zu interpretieren hatte, sass ich den ganzen Dienstag hinter meinem Tisch und den Büchern. Nur am Abend zwischen Tag und Nacht ging ich schnell nach dem Boulevard St. Michel, da ich neue Seife kaufen musste.»51
Nach der ersten Begeisterung über die Grossartigkeit der architektonischen Bauten und die Eleganz der Menschen erkennt der junge Student nach und nach die Schattenseiten von Paris, wie die Mutter erfährt: «Es sind zu viele Menschen und zu herbe Gegensätze beieinander; ich habe vom Montmartre oder vom Lande hier die dunkle Wolke gesehen, die beständig über Paris lastet, und weiss, ein wie breiter Gürtel von Schmutz und Elend ringsum liegt, damit sich in einem kleinen innern Kreise jene Perlen von Wohlleben und Schönheit kristallisieren, an die man immer nur denkt, wenn von Paris gesprochen wird.»52 Hingegen entspricht die akademische Welt seinen Wünschen: «Im wissenschaftlichen Paris spüre ich eine ganz andere Ausdehnung und viel grosszügigere Behandlung des Stoffes als ich von Zürich her fast gewohnt war zu sehen. Man merkt, dass in Paris als der Haupt- und Zentralgewalt von Frankreich auch die Wissenschaft des ganzen Landes vereint und gelehrt wird; man sieht nach Berlin, München, London, Wien sozusagen à niveau hinüber, während diese Zentren von Zürich aus als fast unerreichbar erhabene Grössen und Stätten einer den bescheideneren Studenten wenig verschlossenen besonders strengen Gelehrtheit erscheinen.»53 Die Freizeit verbringt Wartmann im Cabaret Artistique les Noctambules in der Nähe des Place de la Sorbonne, hört Konzerte zeitgenössischer Musik mit Werken von Vincent d’Indy, Claude Debussy oder Modest Mussorgsky im Salle de la Schola Cantorum in der Rue Saint-Jacques. Besonders liebt er die Aufführungen in der Comédie Française, wie die zahlreichen Eintrittskarten im Nachlass belegen.
Oft weilt er in den Sälen des Louvre, zeichnet, beobachtet und entdeckt französische Literatur und Kunst, deren Werke ihn während der Gymnasialzeit in Vaters Bibliothek faszinierten. «Ich finde hoffentlich Zeit, den Louvre so zu studieren, dass mir etwas Solides davon bleibt (bis jetzt bin ich erst 4 Mal dort gewesen, und habe eine systematische, nachdenkliche Betrachtung stets verschieben müssen), dann ist es mir vielleicht auch möglich, noch in Ruhe französische Bücher zu lesen als bescheidene Realität zu meinen phantastischen Hoffnungen einer allgemeinen Bekanntwerdung mit der ganzen französischen Literatur, wie ich sie in der Schweiz fasste, vielleicht kann ich dann auch kurz das musikalische und das Paris der bildendenden Künste kennenlernen und das Paris der Pariser.»54
Im Jahr 1949 erinnert sich Wartmann an die ersten Begegnungen mit der Pariser Kunstwelt: «Als im Mai 1904 im ‹Grand Palais› beim Pont Alexandre III in Paris, wieder einmal der Salon der Société Nationale des Beaux-Arts sich auftat, kaufte ein wissens- und erkenntnisdurstiger junger Schweizer Student den Katalog, und machte sich an die Arbeit, von Bild zu Bild, in dem er Nummer, Künstler, Titel nachschlug, um zu jedem Künstlernamen das zugehörige Werk sich einzuprägen und seinen Eindruck über Art und Wert des Werkes im Katalog aufzuschreiben. Als er mit seinen Pariser Freunden und Lehrern über den Salon und seine Bemühungen, ihn so für ihn fruchtbar zu machen, ins Gespräch kam, überschütteten sie ihn mit allgemeinem, heiteren Gelächter: ‹Ah – c’est bien, le Suisse! Voilà les horlogers!› Sie meinten, so treibe es doch kein Mensch. Man schreite an den langen Zeilen der Leinwände vorbei, durchwandle rasch den Wald der Skulpturen und sehe bald genug, wo unter dem Bekannten das Neue und Besondere heraussteche. Der Schweizer in der Fremde liess sich durch solche Vorstellungen einstweilen nicht beirren. Wenn seine Sorgfalt als Uhrmacher-Genauigkeit empfunden und gestempelt wurde, warum sollte sie es schliesslich nicht sein? Es war ihm ja alles neu. Warum sollte er nicht alles prüfen? Wo er vor ihm bisher ganz Unbekanntem stand, warum sollte er nicht richtig von vorn anfangen dürfen? Er wollte wissen, und musste selber ergründen, um was in einer solchen Ausstellung es geht … Wo und wie diese Kunst in jedem Werk sich offenbarte oder versteckte.»55 Unter den neuen Pariser Freunden entdeckt Wartmann Künstler. «Nächste Nachbarn waren die Maler Karl Hofer, Hans Brühlmann, Konrad Ferdinand Edmund von Freyhold. Da gab es viel zu sehen und zu hören mit mitternächtlichen Gesprächen
über Kunst und Menschen und die Götter und Teufel die in ihnen wohnen.»56 Wie seine Kommilitonen an der Sorbonne ist er Mitglied der
Association des étudiants mit dem Vorteil ermässigter Theaterbesuche. «Es steht mir nicht nur das Haus der Gesellschaft mit allen Räumlichkeiten und Bibliotheken jederzeit gastlich offen, sondern ich habe auch das Recht, fast vergebens Fechtstunden und Reitunterricht zu geniessen … die ungemein billigen Reitstunden locken mich sehr; beim Austritt aus der Aspirantenschule wurde uns zudem ausdrücklich ans Herz gelegt, wenn immer möglich, im Winter auf die rudimentären Anfänge des Militärreitkurses weiter zu bauen. Wenn ich später, oder möglichst bald, Offizier im Generalstab, das heisst bloss Hauptmann im Generalstab, werden will, so habe ich das Reiten nicht in letzter Linie nötig; ich wage es deshalb, auf meinen Wunschzettel auch ein Posten Reithosen zu schreiben.»57
Ein Studienschwerpunkt bildet die Epoche des Mittelalters, wie Wilhelm Wartmann dem St. Galler Historiker, Johannes Dierauer, erläutert: «Der Inhalt Ihrer St. Galler Analekten traf mich fast wie eine Mahnung, ob der bunten Fremde die Heimat nicht zu vergessen … Es fesseln mich einstweilen Fragen von allgemeiner Geltung und der Wille, die Wurzeln und Formen der mittelalterlichen Kultur und Geschichte diesseits der Alpen zu erkennen … Ich weiss nicht, ob es unrecht ist, dass sich der Kulturmensch und Student in mir einzig als Abendländer, nicht speziell als Schweizer fühlt, aber es gelingt mir nicht, alles vor 1291 überhaupt und später ausserhalb der Schweizergrenzen Erreichte bloss als Nachbargebiet zu sehen.»58 Im Wintersemester 1904/05 entdeckt er mit Faszination die Geschichte des byzantinischen Staats, sie wird von den Professoren Charles Diehl, Faculté des Lettres, und Daniel Serruys, École Pratique des Hautes Études gelehrt. Die lateinische und altgriechische Sprache ist Wartmann seit dem Gymnasium vertraut. Im Januar 1905 schreibt er Johannes Dierauer: «Im Vordergrund und Mittelpunkt steht die byzantinische Geschichte; die Rolle des oströmischen Reichs bei der Wandlung vom Altertum zur Neuzeit und auch seine selbständige Geschichte waren mir bisher nur schattenhaft bekannt; jetzt höre ich an der Sorbonne zwei entsprechende Vorlesungen und habe Gelegenheit, mit einem Versuch zur Militärgeschichte nach einer Schrift des Konstantin Porphyrogenitus mich in den Stoff einzuführen; an der École des Hautes-Études nehme ich teil an Untersuchungen über byzantinische Quellen zum 5. bis 7. Jahrhundert … In einem Privatissimum, zu dem ich auch eingeladen bin, wird die Erstausgabe eines byzantinischen Textes der Nationalbibliothek vorbereitet; ich habe gegenüber der jugendlich frischen Per-
sönlichkeit dieses Professors und seiner energisch eifrigen Art, sein Fach zu betreiben, die grösste Mühe, nicht ganz den Kompass zu verlieren und mich mit Leib und Seele seiner Führung in ein so ausschliessliches Spezialgebiet ganz zu überlassen.»59 Im Wintersemester 1905/06 setzt Wartmann seine Studien der byzantinischen Kultur und Geschichte fort. An der Faculté des Lettres hört er bei Professor Diehl «Histoire byzantine. L’Orient au Moyen Âge (IX au XI siècle)».
Wartmann ist längst in Paris heimisch geworden. Auf zahlreichen Spaziergängen hat er die Innenstadt geografisch ausgelotet, Professoren und Mitstudenten schätzen seine bescheidene Art. «Der geschmeidige, elegante Ch. Diehl sprach sich gestern fast unheimlich liebeswürdig über eine Kleinigkeit aus, die ich ihm vorlegte, und M. Monod bat mich, meinem Vater viele Grüsse und seine Gratulation zum Geburtstag auszurichten.»60 Neben den akademischen Zirkeln wird er in die Konservatorenkreise der Museen eingeführt. «Voulez-vous nous faire le plaisir de venir déjeuner chez nous demain, Samedi, à midi et quart. Nous attendons mon ami André Pérati, conservateur au Musée de Versailles et je serais charmé de vous récevoir à lui [sic]», schreibt Conrad von Mandach.61 Der seit 1899 als Privatdozent in Paris lehrende Kunsthistoriker wird ein wichtiger Ansprechpartner, die Kollegialität findet 20 Jahre später im Kunstmuseums Bern ihre Fortsetzung. Der Kontakt zu den Professoren gestaltet sich zunehmend persönlich und freundschaftlich. Professor Gabriel Monod, Mitglied des Collège de France, lädt den eifrigen Studenten ins Restaurant de la Societé Savante in der Rue Danton ein: «Venez me prendre demain Samedi après mon cours.»62 Professor Charles Bémont, maître de conférence,63 bedankt sich bei seinem Studenten: «Tout au regret … de n’avoir pu vous remercier de l’amitié avec laquelle vous avez suivi mes cours et la part personnelle que vous avez bien voulu y prendre pendant ces deux années.»64 Zahlreiche nachgelassene «billets» zeugen von Einladungen in die privaten Professorenkreise, die dem Austausch wissenschaftlicher Forschungen sowie bibliophilen Neuerscheinungen dienen. Die kleinen weissen handgeschriebenen Visitenkarten ändern sich im Tonfall vom formellen «Cher Monsieur» zum freundschaftlichen «Mon cher Ami».
Eine Schlüsselfigur wird der nur sieben Jahre ältere Professor Daniel Serruys, zu dem Wilhelm Wartmann ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Wartmann belegt bei ihm die Vorlesungen «Philologie grecque»
und «Historiens byzantins des VIII–IX siécle». Serruys ist leidenschaftlich an Kunst interessiert, er macht den Schweizer Studenten mit Galerien und Galeristen bekannt und vermittelt unter anderem ein Treffen mit Paul Durand-Ruel, um ihm die Impressionisten nahezulegen: «Mon cher Ami, Voici une carte de Monsieur Durand-Ruel, … on vous y aller, l’un de ces mardis, rue de Rome. J’éspère que cette collection vous intéressera.»65 Bei einem Besuch der Familie Serruys lernt er die Schwester, die Künstlerin Yvonne Serruys66, kennen, die ihn in Ateliers und künstlerische Werkstätten führt. «Ihr verdanke ich Einführung in manche kostbare Privatsammlung, z. B. bei Rouault, aber auch bei Rodin, dem alten Degas, Bourdelle und manchen kleinen Sternen.»67 Als Professor Serruys erkrankt, übernimmt Wartmann die Vorlesungen. «Ich ging gestern Abend … bei ihm vorbei, um nach seinem Befinden zu fragen und ihm einen Teil der Abschrift des cod. 1712 zurück zu geben, den ich durchgearbeitet und vorläufig zu analysieren versucht hatte. M. Serruys dankte mir lebhaft für den Besuch und bat mich … für ihn einzuspringen und meine jetzt gewonnenen Resultate ihm und den anderen Schülern vorzulegen.»68 Die akademische historische Ausrichtung wird durch die Erfahrung und Auseinandersetzung mit Kunst geschärft, sie erschliesst Wartmann eine neue Welt. Unerwartet öffnet sich eine weitere Türe in die wissenschaftliche kunsthistorische Richtung. Den Ausschlag gibt Professor Henry Lemonnier, der in Zusammenarbeit mit Louis-CharlesLéon Courajod, Professor an der École du Louvre, eine Pionierolle in der Einführung der höheren Kunstgeschichte spielt. 1899 wird Lemonnier zum ersten Professor für Kunstgeschichte an der Sorbonne ernannt. Die Kunstgeschichte, mit Schwerpunkt der Geschichte Frankreichs zur Zeit der Gotik und der Renaissance, findet Einzug in die Universität. Lemonnier richtet eine Kunstbibliothek ein, ein Kabinett-Archiv mit Kunstdrucken und Fotografien, sowie ein kleines Museum mit Gipsabgüssen von Skulpturen.
Ein Testatblatt bezeugt, dass Wartmann im Semester 1906/07 neben den Vorlesungen der Geschichtsprofessoren Auguste Bouché-Leclercq und Charles Diehl sich bei Henry Lemonnier für «Histoire de l’ art, État de la science sur les grandes question de l’art francais depuis les origines (art gothique et Renaissance)» im Amphithéâtre Richelieu eingeschrieben hat. Zeitgleich belegt er an der École du Louvre das Seminar «Histoire des arts appliqués à l’industrie en France» bei Gaston Migeon.
Die Ausbildung an der 1882 gegründeten École du Louvre verfolgt ein praxisorientiertes Ziel, «de former des élèves capables d’être employés soit dans les musées de Paris …, soit à des missions scientifiques ou à des
fouilles».69 Diese Kunstexperten werden Wartmann bei der Doktorprüfung examinieren, die Entscheidung zugunsten der Kunstgeschichte wird in diesem Jahr still und leise gefällt. Wartmann hat seine Berufung in die Welt der Kunst gefunden.
Im Sommer 1905 trifft Wartmann ein Schicksalsschlag, seine Mutter stirbt nach langer Krankheit und hinterlässt im Familiengefüge eine grosse Lücke. Besonders in den Pariser Jahren war sie eine wichtige briefliche Ansprechpartnerin, die seinen künstlerischen Neigungen ein offenes Ohr bot. Er nimmt sich wieder Zeit für seine Violine. «Mit Herrn Schib, der recht gut Klavier spielt, habe ich schon eine Art von Kammermusikvereinigung gegründet … [Wir] studieren gegenwärtig hauptsächlich eine allerneuste Sonate von Vincent d’Indy, in der beständig ein Rhythmus in einen anderen und alle Tonarten ineinander überfliessen.»70 Auch das Tanzen hat seinen Platz: «Einer der lichtesten und anmutigsten Punkte bildet auf alle Fälle die matinée dansante oder ‹unlängste Tanzstunde› an der Rue Réaumur.»71 «An 4 oder 5 Samstagabenden kann man in einem ziemlich kleinen Raum bei einem ganz kleinen Tanzmeister zuschauen, um sich in die höheren Künste der gegenwärtigen Tanzmode einweihen zu lassen.»72 Im Februar 1906 sendet Wartmann das Annuaire der École Pratiques des Hautes Études mit der lobenden Erwähnung seiner Mitarbeit in den «Conférences de M. Monod» nach St. Gallen.73 Sein Vater antwortet: «Es scheint mir zum mindesten SEHR erwünschenswert, dass Du nach Paris für etwa zwei Semester noch eine deutsche Universität besuchtest, um auch von dem deutschen wissenschaftlichen Leben einen richtigen Begriff zu erhalten.» 74 Die väterlichen Ambitionen gelten einer historischen Laufbahn, wie ein privater Brief von Ende April 1905 belegt. «Die Geschichte der Schweizercolonie in Lyon muss einmal für sich behandelt werden. Das wäre ein schöner Stoff für eine Dissertation, besonders für einen jungen St. Galler.»75 Am 21. November 1907 bezieht der Student ein Zimmer im Haus Nummer 90 an der Rue d’Assas in Montparnasse: «Das Haus liegt ganz nahe an der Südwestecke des Jardin du Luxembourg, ausserhalb der Stelle, wo die Rue Auguste Comte an die Rue d’Assas stösst. Mein Zimmer, im dritten Stockwerk (über dem ‹Parterre›), geht auf die breite, asphaltierte Rue d’Assas und hat als Gegenüber zwei Höfe des Lycée Montaigne; darüber … Dächer und Kaminreihen, auch einige gläserne Wintergärten oder Malerateliers, die mir besonders gestern Abend auffielen, als sie innen beleuchtet waren und sich vom Nachthimmel hell abhoben.»76
Auf Wanderungen und Reisen in die nahe und ferne Umgebung entdeckt Wilhelm Wartmann den kulturellen Reichtum Frankreichs. Anfang
März 1904 besucht er mit seinem Neffen Moritz die Kathedrale von Chartres, deren leuchtende Pracht der Glasfenster einen unauslöschlichen Eindruck hinterlässt. Fortan gelten die Reisen quer durch Frankreich dem bemalten Glas, den Fenstern in Kirchen, den bunten Scheiben in Häusern und Museen. Im April 1905 reist er über Chartres, Le Mans, Rennes bis nach Saint-Malo, der Küste entlang nach Brest und kehrt über Nantes, Angers und Tours nach Paris zurück. Zu einem Stadtrundgang gehört der Besuch von Kirchen und Museen mit dem Baedeker-Reiseführer und einem Notizheft in der Hand.
«Anlässlich eines kurzen Aufenthaltes in Angers, Dép. Maine-etLoire, war ich sehr überrascht, im dortigen Musée de l’Hôtel de Pincé verschiedene schweizerische Stifterscheiben anzutreffen.»77 Mit diesen Worten leitet Wartmann seine erste Publikation über die Entdeckung von sechs Schweizer Scheiben im Anzeiger für schweizerische Altertumskunde ein, weitere Entdeckungen von Glasscheiben in Iseltwald, Bergamo, Paris, Dijon, Cluny folgen. Er verfasst einen Essay über die Glasmaler Hans Caspar Gallati und Martin Ruchensteiner in Wil, über das Wappen von Allensbach, die Geschichte des Geschlechts Knobloch in der Schweiz, über schweizerische Glasgemälde in alten französischen Katalogen und über oberdeutsche Wappenscheiben, die fälschlicherweise der Schweiz zugeordnet sind. Nach kurzer Zeit stossen seine Publikationen auf das Interesse der Fachleute, auch der Direktor des Zürcher Landesmuseums reagiert. Der Eintritt in die Schweizerische Heraldische Gesellschaft bedeutet einen nächsten Schritt in Richtung Kunstgeschichte – ohne die historischen Pfade zu verlassen. «Ich nehme als abgemacht an, dass Du aus massgebenden Gründen den nächsten Winter wieder in Paris weiter zu studieren wünschtest und erkläre mich damit einverstanden.»78 Für die Finanzierung der Pariser Studienausgaben nimmt Hermann Wartmann einen Bankkredit in St. Gallen auf.
Das Thema einer Doktorarbeit steht fest: Die Wahl widerspiegelt das in den Pariser Jahren entdeckte und wachsende Interesse an Kunstgeschichte. Gemalte Glasscheiben entsprechen einem aktuellen Wissensinteresse Wartmanns, wie eine Schrift von 1902 über die Glasscheiben im Schützenhaus zu Basel aus seiner Bibliothek belegt: «Unbestreitbar gehören die Glasmalereien früherer Jahrhunderte zu den beachtenswertesten Schöpfungen auf dem grossen Gebiet der Kunst. Fast Jahrhunder-
te lang verkannt und unbeachtet, haben die Werke derselben in neuester Zeit wieder ihre Verehrer gefunden.»79 Systematisch beginnt Wartmann mit der Erforschung der Schweizer Wappenscheiben auf französischem Boden und stellt die Forschungsergebnisse in den schweizerischen heraldischen Zeitschriften vor: «Si jamais un amateur avait la curiosité de vouloir se renseigner sur les collections de vitraux suisses existant à Paris, et sur l’histoire de ces collections, ils s’apercevrait bientôt que la bibliographie en est extrêmement pauvre, presque nulle.»80 Die wachsenden Ergebnisse fokussieren auf bislang unbeachtete Glasscheiben der Pariser Museen, in denen sich drei grössere Sammlungen von Schweizer Wappenscheiben befinden, unter anderen 43 Scheiben im Louvre, 68 im Cluny-Museum und 20 im Musée de la Manufacture de Sèvres.81 Das ambitiöse Projekt der Aufarbeitung aller Sammlungen wird auf die kleine Kollektion im Louvre reduziert.Wartmanns Forschungsarbeit zieht sich über drei Jahre hin, ein umfangreicher Briefwechsel mit Schweizer Museen, Gemeinden, Pfarrämtern und Privatpersonen zeugt von der akribischen Arbeitsweise. Er entdeckt auch zwei St. Galler Scheiben, über deren Ankauf er mit dem Vater diskutiert: «Wenn Du den zwei St. Galler Scheiben noch weiter nachgehst und uns über ihre unzweifelhafte Echtheit und ihren Zustand noch ganz genauen und sicheren Bericht geben kannst, wird es uns recht erwünscht sein. Der Preis von Fr. 500 für beide wäre an sich nicht zu hoch.»82 Die Dissertation verfasst Wartmann in französischer Sprache mit der Begründung, dass es sich für einen Schweizer schicke, dass er Französisch so gut verstehe, spreche und schreibe wie Deutsch.» Ende des Jahrs 1907 vollendet Wartmann seine Forschungsarbeit und sie wird von der Universität akzeptiert. Für die Drucklegung tritt er mit Charles Eggimann, Genfer Leiter des Pariser Verlags Librairie Centrale d’Art et d’Architecture am Boulevard SaintGermain, in Verhandlung, der das junge, erst 1904 eröffnete Verlagshaus für Kunst und Architektur führt. Aus dem Vertragsentwurf geht hervor, dass eine Auflage von 500 Exemplaren vorgesehen ist, vonseiten des Autors wird ein Beitrag von 500 Francs an die Druckkosten verlangt. «Nach den spannenden Verhandlungen mit dem Verleger um Neujahr herum und nach der Hetz mit dem Drucker an Ostern ist die gegenwärtige Situation die reine Windstille»,83 schreibt Wartmann im Mai 1908 nach St. Gallen. Besondere Freude bereitet ihm das wohlwollende Vorwort von Gaston Migeon, Konservator des Louvre. «Vor ein paar Tagen hat mir M. Migeon, vom Louvre, eine so schmeichelhafte Vorrede für die Herausgabe … gestiftet, dass die Professoren eigentlich gar nichts mehr sagen dürfen, gegen die Arbeit nichts, weil M. Migeon sie so günstig beurteilt,
dafür nichts, weil sich überhaupt nichts Verbindlicheres darüber sagen lässt.»84 Die Dissertation mit dem Titel Les Vitraux suisses au Musée du Louvre. Catalogue critique et raisonné, précédé d’une introduction historique erscheint Ende Mai 1908; sie wird im Rahmen der Reihe «Archives des Musées Nationaux et de l’École du Louvre» publiziert. Den Vertrieb in der Schweiz übernimmt der Verlag Schulthess & Co. in Zürich. «Wir sind gerne bereit, das schöne Werk in Zürich durch unser Sortiment zu vertreiben und haben eine Anzahl Ex. in Kommission bestellt.»85
Das prächtige Buch gibt eine Einführung in die Geschichte der Schweizer Glasmalerei des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Die Fragestellungen gelten der Einordnung der Scheiben innerhalb der Geschichte der schweizerischen Glasmalerei, dem stofflichen Gehalt der dargestellten Personen und Szenen, dem technischen Wert, den lokalen Schulen des Gewerbes, den Namen der Donatoren, Wappen, Malern und ihrer Arbeitsweise. Wartmann schildert detailliert die soziale und politische Entstehungsgeschichte der kirchlichen und weltlichen Kunstwerke.
Den zweiten Teil bildet der Catalogue des Vitraux suisses du Musée du Louvre. Jede Glasscheibe erhält eine Beschreibung, Inschriftenanalyse, Alter und Zweck der Objekte, und soweit eruierbar die Authentizität der Glasmaler. 30 Schwarz-Weiss-Abbildungen, aufwändig gesucht und gesammelt, ergänzen den theoretischen Teil.
Nach der Einsendung von 125 Exemplaren an den Dekan der Faculté des Lettres de l’Université de Paris wird der Schweizer Student für Samstag, 23. Mai 1908, 9 Uhr morgens in den Salle du Doctorat zur Ablegung der Doktorprüfung eingeladen. Die Professoren Charles Diehl, Émile Mâle und Henry Lemonnier halten sich an die vereinbarten Fragestellungen:
«1. La politique extérieure du patriarche Nikolaos Mystikos de Constantinople (901–907 et 912 à 925) d’après ses lettres, und 2. La gravure sur bois au XVIe Siècle à Lyon et dans la Haute-Allemagne. Rapports entre l’œuvre gravée de Salomon Bernard et celle de certains maîtres allemands.»86 Wartmann besteht die Prüfung mit Bravour, drei Tage später liegt die Urkunde der Sorbonne vor.87 Sein Freund Rudolf W. Huber gratuliert umgehend: «Meinen herzlichsten Glückwunsch zu Deiner Pariser Doktor Würde, die Du Dir quasi hinter unserem Rücken, aber nicht minder rühmlich erworben hast. Deine Thèse imponiert mir gewaltig. Kein Zweifel, dass sie Dir sehr vielseitige Anerkennung eintragen wird. Hoffentlich haben auch die Herren an der Seine dankbar eingesehen, dass
einzig ein Schweizer Vollblut-Historiker ihnen diesen echt wissenschaftlichen Katalog schenken konnte.»88
Der Ostschweizer Historiker Otto Fässler widmet der Publikation in den St. Galler Blättern eine ausführliche Würdigung: «Eine prächtige, in jeder Hinsicht aufs vornehmste sich präsentierende, bedeutsame Veröffentlichung.»89 Die Zeitschrift für Geschichte des Ober-Rheins weist auf sieben Wappenscheiben einer Konstanzer Werkstätte des 16. Jahrhunderts hin. «Bei dem völligen Dunkel, das noch über der Geschichte der Konstanzer Glasmalerei jener Zeit ruht, sind die sorgfältigen kritischen Ausführungen Wartmanns als ein höchst dankenswerter Beitrag zu begrüssen, der, wie wir hoffen, zu weiteren umfassenden Untersuchungen auf diesem bisher vernachlässigten Gebiete anregen wird.» 90 Die Pariser Zeitschrift Le Bulletin de l’Art Ancien et Moderne publiziert eine ausführliche Rezension: «M. Wartmann divise son étude en deux parties. Dans la première partie, qui a un caractère historique, il donne un aperçu du milieu social et politique dans lequel s’est dévéloppée cette industrie.»91 Zu den ersten Gratulanten gehört auch Paul Ganz, Kunsthistoriker und Konservator der Öffentlichen Kunstsammlung Basel: «Mit wirklich grosser Freude habe ich den stattlichen Band durchgesehen, der von Paris mir zugesandt worden ist. Ich werde die Arbeit gerne besprechen, denn sie erscheint mir vorbildlich in der Anordnung und der überaus sorgfältigen historischen Bearbeitung. Sie gehen den Hypothesen mit Recht aus dem Weg, aber wir Kunsthistoriker können das nicht lassen und sind stets im Taufen voran. Darin liegt ein grosser Vorzug Ihrer Arbeit. Die Ausstattung ist sehr gut und Eggimann hat sich in Bezug auf die Tafeln wirklich angestrengt. Wenn Sie an Basel vorbeifahren, so würde es mich sehr freuen, Sie hier zu sehen, vielleicht führt Sie auch Ihre Arbeit bald wieder einmal zu uns.»92 Der Zürcher Kommilitone Ernst Gagliardi, der nach Studien bei Heinrich Wölfflin in München kunstgeschichtlich bewandert ist, lobt: «Wollen Sie es einer durch vorsichtige Schonung allmählich sich wieder ausgleichenden Nervenübermüdung zuschreiben, wenn ich Ihnen für den schönen übersandten Band vorläufig etwas kümmerlich danke. Die wissenschaftliche Gediegenheit seines Inhalts ist mir im Voraus gewiss, und das Thema für mich stets von Interesse gewesen, um wie viel mehr, als die ausgezeichnete Illustration das Studium so angesehen macht und erleichtert.»93 Auch in St. Gallen freut man sich über den Erfolg: «Am 23. Mai langte von Paris das Telegramm an, dass mein jüngerer Sohn sein Doktor-Examen an der Sorbonne glücklich bestanden habe, und wenige Tage später kehrte er als Doktor der Pariser Universität nach St. Gallen zurück.»94
Nach dem Militärdienst nimmt Wartmann Abschied von den für seine Biografie prägenden französischen Jahren. Er bezieht ein Zimmer an der Gemeindestrasse 4 in Zürich. Unschlüssig, wie sein Leben weitergehen soll, besucht er einzelne Vorlesungen an der Universität Zürich und unterstützt seinen Vater bei der Edition der Briefe des St. Galler Reformators Joachim Vadian.
Am 16. Dezember 1908 legt Wilhelm Wartmann sein Buch Les Vitraux suisses au Musée du Louvre dem Institut de France für den Concours du Prix Bordin 1909 vor.95 Die Eingabe erfolgt an die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, eine der fünf Abteilungen des Institut de France, ursprünglich eine Gesellschaft zur Förderung der französischen Epigrafik. Der passionierte Verleger Charles Eggimann sendet zwei Exemplare an das Institut, deren Eingang am 31. Dezember 1908 bestätigt wird.
Nach ausführlicher Prüfung erfolgt am 17. Mai 1909 die offizielle Bestätigung der grossen Ehre: Das Institut de France würdigt die Doktorschrift mit dem Prix de la Fondation Bordin mit der hohen Preissumme von 500 Francs.96
Fast 60 Jahre später erinnert sich Wilhelm Wartmann: «Mai 1908 ist das Erscheinungsdatum meines Kataloges der schweizerischen Glasgemälde des Louvre-Museums. Das Institut de France hat ihn …, mit dem Prix Bordin ausgezeichnet und mir 1500 Franken in goldener Vorkriegswährung übergeben, die ich mit Freude und Genugtuung meinem Vater nach St. Gallen gebracht habe, als Beitrag an das für mich aufgewendete Pariser Studiengeld.»97
Im Jahr 1907 legt die Stadt Zürich den Grundstein für das neue Museum. «Am Ende des Jahres 1908 ist der Aufrichtebaum, der bunt bewimpelte, auf dem Dache des Kunsthausbaues am Heimplatz aufgerichtet worden … Noch steht der Bau von Gerüsten umstellt und gelangt nicht zur vollen Wirkung, aber erkennbar ist doch schon der vornehm ernste und ruhige Eindruck des Bauwerkes.» Noch fehlen die bildhauerische Gestaltung und die von Karl Moser in einem Modellbau inszenierte Neugestaltung des Heimplatzes. Sie weckt grosse Hoffnungen, «das Gesamtkunstwerk [wird] eine Perle werden, die unserer Stadt zu hoher Ehre gereichen wird».98
Damit endlich das Kunstleben in Zürich reich und kraftvoll erblühe
Das Gesellschaftsjahr 1908 der Zürcher Kunstgesellschaft verläuft gut, der Bau des neuen Kunsthauses schreitet planmässig voran. Der Mitgliederbestand der Kunstgesellschaft ist leicht gestiegen, der Sekretär listet 840 Mitglieder auf.
Der deutschstämmige Sekretär und Geschäftsführer Elimar Kusch, seit einiger Zeit an einer Van-Gogh-Ausstellung interessiert, setzt sich 1905 mit dem Berliner Kunsthändler Paul Cassirer in Verbindung. Das Projekt kommt nicht zustande, worauf sich Kusch direkt an die Firma von Vincent van Goghs Onkel in Den Haag wendet. Drei Jahre später ist es endlich so weit: Die Präsentation von 41 Werken findet vom 10. bis 26. Juli 1908 statt, sie wird mit Exponaten der als schweizerische Impressionisten geltenden Künstler Cuno Amiet, Hans Emmenegger und Giovanni Giacometti ergänzt. Am 15. Juli treffen zusätzliche sechs Bilder aus Amsterdam ein. Sie werden umgehend an Schweizer Privatsammler verkauft und sichern der Zürcher Kunstgesellschaft einen hohen finanziellen Ertrag.99 Kaufinteressierte wie Fritz Meyer-Fierz, Richard Kisling und Hans Schuler zeigen Interesse, sodass Kusch Ende des Jahrs 1908 feststellen kann: «Es regt sich in Zürich.»100 Der Kunsthistoriker Julius MeierGraefe, der im Oktober in Zürich weilt, «nimmt in den Privatsammlun-
gen … einen Reichtum an moderner Kunst wahr, den er in Zürich nicht vermutet hätte».101
Für die grossen Impressionisten, die Zürich endlich kennenlernen soll, sind die ersten Weichen gestellt. Eine geplante Ausstellung für 1906 scheitert an Transportfragen, im Mai 1908 nimmt die Idee Gestalt an. Wegweisend für das Zustandekommen der Ausstellung ist ein Besuch der Künstler Hans Sturzenegger und Ernst Würtenberger, Verfechter der Kunst van Goghs, mit dem Sammler Richard Kisling in Paris. Sie besichtigen in der Kunsthandlung Durand-Ruel eine grössere Anzahl von Bildern französischer Impressionisten.102 Die Künstlerin und Sammlerin Ottilie Roederstein weist sich als Vermittlerin aus, sie wendet sich an den in Paris lebenden deutschen Schriftsteller und Kunsthändler Wilhelm Uhde. «Es ist ein Anliegen, unserem Publikum [zu] zeigen, was der französische Impressionismus ist … Manet, Monet, Renoir, Degas, Pissarro etc. sollten schon nicht fehlen», erklärt er im Juli 1908.103 Auf Wunsch verhandelt Wilhelm Uhde mit den Pariser Händlern Durand-Ruel und Bernheim Jeune.
Am 1. Oktober 1908 eröffnet die Ausstellung Französische Impressionisten mit 102 Werken, sie dauert bis Ende November. Dem Künstlerhaus gelingt eine wegweisende Einführung in die französische Kunst, Ausstellungskatalog und Tagespresse fördern das Verständnis im Bildungsbürgertum. Noch am Eröffnungstag wendet sich Kusch an Meier-Graefe in Berlin und bittet ihn um die Rolle des Vermittlers: «Aber unser Wunsch ist es, dass die Wirkung tiefer gehe. Und dazu braucht es des Mittlers. Der aber kann und darf kein anderer sein als Sie.»104 Kurz vor Ausstellungsende, am 27. Oktober 1908, hält Meier-Graefe im Zürcher Rathaussaal eine Einführung in die dem Publikum weitgehend unbekannte Malweise. Die Bemühungen werden von Hans Trog in der Neuen Zürcher Zeitung unterstützt, doch im Gegensatz zur Van-Gogh-Ausstellung wird nur ein einziges Werk verkauft. Die Einnahmen stehen einer grossen Ausgabenlast gegenüber. Die Weichen für einen Blick in Richtung Frankreich sind gestellt, doch die interne finanzielle Balance ist aus dem Lot.
Ende 1908 erlebt das Künstlerhaus eine schwere Erschütterung, die Schlussrechnung weist ein unerwartet grosses Defizit auf. Die Buchexpertise entdeckt Unterschlagungen in der Höhe von 38 000 Franken, der Sekretär scheint wie vom Erdboden verschwunden. Die Deckungssumme von 15 000 Mark, die Kusch gegen Verzicht auf Strafverfolgung offeriert, kann den hohen Schaden nicht beheben. Die Zürcher Kunstgesellschaft steht im Rampenlicht gerichtlicher Auseinandersetzungen und sieht sich mit ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert.
Der Posten des Sekretärs ist über Nacht vakant. Das Image des Hauses steht auf dem Spiel.
Die Zürcher Kunstgesellschaft benötigt dringend einen neuen Sekretär. Die Ausgangslage ist schwierig, steht doch der Umzug in den Neubau bevor. Das Vertrauen in die Kunstgesellschaft ist durch den Vorfall schwer in Mitleidenschaft gezogen.
Am 17. Februar 1909 wird Wilhelm Wartmann durch seine Kommilitonen auf die Stellenausschreibung des Sekretärs der Zürcher Kunstgesellschaft aufmerksam gemacht. Schon im Sommer 1908 besuchte er die Van-Gogh-Ausstellung, auch muss ihm der Rohbau auf dem Weg zwischen Bahnhof und Hottingen ins Auge gesprungen sein.
Er eilt für Nachfragen ins Künstlerhaus, doch die Bedingungen für eine Bewerbung liegen noch nicht vor. Professor Rahn vermutet, dass es sich wohl um eine «Buchhalt- und Händlerstellung» handle und rät ihm zu einer direkten Anfrage bei Paul Ulrich, dem Präsidenten der Zürcher Kunstgesellschaft. Wartmann notiert in sein Tagebuch: «Ich lasse meine Vitraux zur Ansicht [da], und gehe beflügelt, in lebhaftem, weichem Schwungstil nach Hause.»105
Am 19. Februar 1909 reist er für Vorstudien des Staatsexamens sprachlich-historischer Richtung nach Paris zurück.106 Den offiziellen Bewerbungsbrief wirft er im Bahnhof Zürich in einen Briefkasten. Unsicher fragt er von Paris aus nach, ob seine Dokumente ordnungsgemäss eingetroffen seien.107
Wartmanns Vater reagiert etwas unwirsch, als er von der stillen Bewerbung erfährt; er befürchtet, diese Entscheidung sei nicht gut durchdacht: «Eine solche Stelle [bringt] sehr viel Unangenehmes mit sich, wenn man sie näher betrachtet … Die Künstler sind ein höchst eigentümliches Volk und noch schwieriger zu behandeln als die Professoren, und dann das liebe Publicum, das von allen Seiten drein schnattert, und dann die moderne Kunst mit ihren abscheulichen Auswüchsen … Ich zweifle ganz ausserordentlich, dass Du auf die Dauer Befriedigung in einer solchen Stellung finden würdest, und glaube auch bisher, dass Deine Anlagen, Deine Neigung und Deine Ausbildung nach der wissenschaftlichen, und nicht nach der künstlerischen Seite gehen.»108
Mit Interesse verfolgen die Zürcher Freunde das Prozedere. Im März 1909 meldet Studienkollege Rudolf W. Huber aus Zürich nach Paris: «Die Wahl hat noch nicht stattgefunden … Es sollen sich 30–40 Kandidaten
gemeldet haben … Wie gesagt, unterlasse es nicht, wieder mal bei Ulrich Dich vernehmbar zu machen und Deine einflussreichen Leute –Meyer v. Knonau, Rahn – für Dich agieren zu lassen, sonst müsste ich fürchten, dass ‹les absents ont tort›, Gut Glück!»109
Wartmann befolgt den Ratschlag. In einem Brief schildert er Ulrich offen das Dilemma einer wissenschaftlichen Karriere. In seinem Antwortschreiben informiert dieser den jungen Bewerber mit tröstenden Worten, dass bereits ein valabler Kandidat gefunden worden sei: «Ich hatte im Verkehr mit Ihnen den durchaus klaren Eindruck, dass Sie unserer Gesellschaft wertvolle Dienste leisten könnten, und wenn noch aus irgend einem Grunde der Abschluss mit dem gewählten Kandidaten nicht feststehen würde, so würden Sie als der nächste in Betracht kommen. Ich habe noch bei den Akten Ihren schönen Band von den Pariser Glasmalereien. Wären Sie vielleicht geneigt, ihn unserer GesellschaftsBibliothek im Künstlergut zu überlassen?»110
In den beiden folgenden Wochen überstürzen sich die Ereignisse. Die Zürcher Kunstgesellschaft, durch die prekäre Ausgangslage um Schadenbegrenzung bemüht, überprüft sorgfältig den Leumund des Kandidaten in spe und muss feststellen, dass er den hohen Erwartungen nicht genügt. Kollege Huber meldet aus Zürich: «Auf sonderbare Weise öffnet sich von neuem die Chance für Dich, an jene Sekretär-Stelle zu kommen!»111
Ulrich wendet sich am 2. April erneut an Wilhelm Wartmann: «Die Anstellung … hat sich wieder zerschlagen. Nun kommen Sie in Betracht, falls Sie heute noch geneigt sind, in unseren Dienst zu treten. Sie kennen alle Bedingungen … Der Antritt hätte möglichst bald zu geschehen, da wir im Betriebe des Künstlerhauses tatsächlich längst in starker Verlegenheit sind.»112 Die Antwort erfolgt postwendend: «Wie nur je, seit der Unterredung mit Ihnen, bin ich gerne bereit, die Stellung eines Sekretärs Ihrer Gesellschaft anzutreten und werde mich bemühen, damit dies möglichst bald geschehen kann … Auch die Gehaltsfrage scheint mir kein Hindernis zu bieten, ich begreife Ihre Erklärung für die Einhaltung der untern Grenze als Antrittsgehalt mir gegenüber … Die wissenschaftlichen Arbeiten … werde ich nach Möglichkeiten abkürzen; ich habe mich aber – namentlich auf Ihren vorletzten Brief hin – so weit eingelassen, dass ich sie nicht einfach im Stich lassen darf, ich müsste zu viel Arbeit und Material ungenutzt preisgeben.»113
Huber schreibt erfreut: «Vorderhand herzlichen Glückwunsch! Also es klappt! Wie mir Hummel gestern erzählte, sprachen die ComitéHerren von Deiner Wahl bereits als von einem ‹fait accompli›.»114
Ulrich drängt nun auf raschen Amtsantritt, auf die einstürmenden Fragen des Kandidaten reagiert er: «Ich möchte Sie endlich noch darüber beruhigen … wenn wir auch Ihre genaue Stellung erst noch etwas später präzisieren wollen … Im Pflichtenheft des Sekretärs, auf das Sie sich angemeldet haben, steht nämlich so vieles, dass ein einzelner Mann das gar nicht alles erfüllen kann … diese Begrenzung werden wir am besten auf dem Wege der freien Verständigung erreichen, nachdem Sie selber das Amt kennen gelernt haben werden.»115 Wartmann freut sich auf die Herausforderung: «Im Übrigen versichere ich Sie, dass ich nichts lebhafter wünsche, als recht bald in meinen Wirkungskreis einzutreten und mich mit meinem ganzen Eifer und Können zu Ihrer Verfügung zu stellen.»116
Rückblickend bemerkt Wartmann: «Theoretisch vielseitig und sorgfältig für die Leitung einer Sammlung vorbereitet, trat ich sie im Frühling 1909 an. Ich hatte mir in Paris ausgedehnte Beziehungen mit Pariser Künstlerkreisen und mit Fachkreisen (Museen u.ä.) in Deutschland geschaffen und hoffte, damit auch den Ausstellungen in mancher Beziehung nützen zu können.»117 Die privaten Unterlagen weisen zudem zahlreiche Statuten von Schweizer Museen und Berichte über deutsche und französische Museumsführungen nach, die intensive Bewerbungsvorbereitungen belegen. Wartmanns Kenntnisse über allgemeine Museumsführung war höher als erwartet.
Der Jahresbericht von 1909 vermerkt, dass nach einem provisorischen Interregnum Mitte April Dr. W. Wartmann, Paris, als «Sekretär für Vereinsangelegenheiten und den Ausstellungsbetrieb im kleinen Künstlerhaus» gewählt wurde. «Sammlung und Bibliothek unterstanden damals noch Herrn Appenzeller als Konservator. Nach dessen Rücktritt (im Dezember 1909) wurde ich 1910 auch Konservator», protokolliert der neu gewählte Sekretär.118
Hermann Wartmann akzeptiert den Entscheid seines Sohns: «Am 10. April erhielt ich den erfreulichen Bericht seiner Wahl aus 30–40 Bewerbern … mit einem ganz annehmbaren Anfangsgehalt von Fr. 5000.–.»119
Paul Ganz, Direktor der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, gratuliert dem jungen Kollegen, den er zur Mitgliedschaft im Verein Schweizer Kunstmuseen ermuntert.120 «Mit grossem Interesse habe ich vernommen, dass Sie Ihre Tätigkeit der modernen Kunst zuwenden wollen … Im Namen des Vorstandes der Beamten unserer Schweizer Kunstmuseen möchte ich Sie auffordern, als Konservator der Gemäldesammlung im Künstlerguetli beizutreten … Ich kann Sie nur als Konservator des Künstlergüetli, nicht als Sekretär der Kunstgesellschaft aufnehmen, denn wir wollen nur Beamte.121
Die ersten Jahre im Zürcher Kunsthaus
Die Arbeitsstelle besteht in der Kombination eines Sekretärs und eines Konservators. Der 27-jährige Kunsthistoriker sieht sich mit einer anspruchsvollen Aufgabe konfrontiert. Das Verfassen der Sitzungsprotokolle bereitet ihm dank seiner akademischen Schulung keine Mühe. Bald ersetzt er die von Hand in Sütterlinschrift verfassten Protokolle seines Vorgängers durch sorgfältig mit Schreibmaschine getippte Blätter. Zeitraubend erweist sich die Anzahl der Sitzungen, die in gerafftem Zeitraum einen guten Einblick in die Organisation der Zürcher Kunstgesellschaft ermöglicht. Für den Vorstand stehen allein im Zeitraum von Januar bis Dezember 1909 41 Sitzungen an. Dazu addieren sich die Sitzungen der weiteren Kommissionen wie Sammlungs-, Bibliotheks-, Ausstellungsund Unterhaltungskommission.
Zwei Gebäude unterliegen seiner Aufsicht, das Künstlergut oberhalb der Stadt, ein Zürcher Landhaus mit einem Anbau für Ausstellungen, das 1909 vorwiegend der Sammlung diente, sowie das Künstlerhaus, ein schlichtes Ausstellungsgebäude, 1895 an der Ecke Talgasse/Börsenstrasse errichtet; es wird 1910 mit dem Bezug des Kunsthauses abgebrochen.122
Zum Aufgabenbereich des Konservators gehören die Betreuung der Sammlung wie auch die Organisation der Ausstellungen. Die Besuche im Louvre in Paris und die zahlreicher Kunstausstellungen im In- und Ausland lehrten Wilhelm Wartmann die Kunst der alten Meister, auch die Kunst des 19. Jahrhunderts bis zu den Impressionisten ist ihm wohlvertraut.
In die Welt der Schweizer und der Zürcher Künstler muss er sich nach den Pariser Jahren einleben.
Die Ausstellungen erfolgen in Zyklen, genannt Serien, von meist monatlicher Dauer, ein Jahresprogramm umfasst im Durchschnitt zwölf Ausstellungen.
In den ersten Wochen erweist sich die Aufgabenstellung als sehr disparat, sie wird durch den Mangel an der fachgerechten Einarbeitung und des fehlenden Pflichtenhefts erschwert. Vertraulich wendet sich Wartmann an Paul Ganz, der ihm seine Unterstützung zusichert: «Ich bin gerne bereit, Ihnen zu raten und zu helfen, soweit es in meinen Kräften steht. Ich weiss wohl, was für einen gefährlichen und mühevollen Posten Sie übernommen haben, aber es wird Ihnen in Zürich sein wie mir in Basel. Sie müssen sich die Position nach und nach machen, mit Vorsicht und Ausdauer.»123
Zeitgleich mit Wartmanns Amtsantritt wechselt der Präsident der Ausstellungskommission, an die Stelle von Dr. Carl von Muralt tritt Richard Kisling. Der Eisenwarenhändler ist ein leidenschaftlicher Bildersammler und Mäzen; im Sommer 1904 wird er in die Ausstellungskommission, bald darauf in den Vorstand gewählt. Die Begegnungen und Gespräche mit Künstlern überzeugen ihn von der zeitgenössischen Kunst, er setzt sich für die Repräsentanten der Avantgarde ein. Wartmann gewinnt in ihm einen Mitstreiter für zeitgenössische Ausstellungen. Ihre Freundschaft stärkt die gemeinsame Freude an der Musik; Richard Kisling spielt Klavier, Wartmann liebt die Geige.124
Wartmann mietet wie zu seinen Studienzeiten ein Zimmer in der Pension von Frau Dr. Maag-Kuhn an der Gemeindestrasse 4 in Hottingen, in Fussgängerdistanz zum Neubau am Heimplatz.
Die Vorstandssitzung vom 16. September 1909 erachtet eine «Statutenrevision verbunden mit einer Regelung des Anstellungsverhältnisses von Konservator und Sekretär wie des übrigen Personals im Hinblick auf die Bedürfnisse des Kunsthauses» als dringlich. «Der derzeitige Sekretär wird aufgefordert, sich gelegentlich über seine Auffassung der Frage vernehmen zu lassen.»125
Wilhelm Wartmann erstellt ein Pflichtenheft für den Sekretär:
«Der Sekretär hat seine volle Arbeitskraft und Arbeitszeit den Interessen der Zürcher Kunstgesellschaft zu widmen.
Bureaustunden von 8 bis 12 Uhr vormittags und von 2 bis 6 Uhr nachmittags.
Der Sekretär untersteht dem Vorstand und den Kommissionspräsidenten; er hat in den Sitzungen beratende Stimme.
Der Sekretär hat alljährlich Anspruch auf drei Wochen Ferien.
Der Sekretär beaufsichtigt die Kassiererin und den Abwart und weist ihnen die Arbeit an.
Der Sekretär hat alle Korrespondenzen und Protokolle wie überhaupt die gesamte Schriftleitung zu führen. Ferner fällt ihm die Aufsicht über die Sammlungen und die Bibliothek zu sowie über die ständigen Ausstellungen; weiter hat er die Spedition zu leiten, den Verkauf der ausgestellten Werke zu führen und die Ausstellungskasse zu überwachen.»126
Die Leitung der Bibliothek untersteht H. Appenzeller, ein Werbeblatt für den Beitritt zur Kunstgesellschaft umschreibt ihren Zweck: «Angelegt nicht eben als wissenschaftliche Rüstkammer, sondern mehr, um dem nachdenklichen Geiste Ausflüge über die zeitliche und räumliche Begrenztheit von Sammlung und Ausstellung hinaus zu ermöglichen … Ein besonderer Zeitschriftensaal, der eben eingerichtet wird, gestattet, sich jederzeit über das Neueste im Ausstellungswesen und im ganzen übrigen Kunstwesen zu unterrichten.»127
Die Vorbereitungen für die Übersiedlung der Sammlung ins neue Kunsthaus am Heimplatz ist im Gang, während der Betrieb des Künstlerhauses aufrechterhalten bleibt, der Umzug bedeutet eine logistische Herausforderung. Nach den ersten Arbeitsmonaten bilanziert Wartmann ernüchtert: «So ging in den ersten Monaten die grösste Arbeit darin auf, dass nach rückwärts Ordnung geschaffen werden musste, statt dass es möglich gewesen wäre, mit aller Energie der Gegenwart und der Zukunft zu dienen … So mühsam und aufreibend diese Art von Betrieb sich gestaltete … so interessant erschien sie als Vorbereitung und Probe auf die kommende Zeit des Kunsthausbetriebes.»128
Die Überschneidung der Pflichten in Personal- und Betriebsfragen ist vorhersehbar, sodass der Vorstand eine Sonderkommission mit dem Sekretär und den Präsidenten der Kommissionen ins Leben ruft. Die Subkommission schlägt die Wahl eines zweiten Sekretärs vor, «der in erster Linie nach kommerziell-geschäftlichen Richtung orientiert».129
An der Vorstandssitzung vom 3. März wird Dr. Theodor Barth zum zweiten Sekretär gewählt. Die Arbeitsverteilung sieht vor, dass der Kon-
servator und erste Sekretär Wartmann zusätzlich zu den allgemeinen Vereinsgeschäften und dem Kunsthausbetrieb für das Gesellschaftsleben, die Verwaltung von Sammlungen, die Bibliothek und das Kupferstichkabinett zuständig ist; der zweite Sekretär Barth verantwortet die wechselnden Ausstellungen. Der zweite Sekretär bleibt grundsätzlich dem ersten Sekretär untergeordnet.
Per ars ad lux
Am Sonntag, den 17. April 1910 findet die feierliche Eröffnung des neuen Kunsthauses statt; sie nimmt den «denkbar schönsten und würdigsten Verlauf. Den Festprolog von Adolf Frey, die Reden der Herren Stadtpräsident Billeter, Professor Moser, Oberst Ulrich, die Weiherede von Herrn Prof. Dr. A. Meyer, Rektor unserer Hochschule, das Festspiel von Leonhard Steiner130, die von Herrn F. Boscovits jun. gezeichnete Festkarte, dies alles, bis auf das Programm der ganzen Feier, wird ein Erinnerungsheft zu dauerndem Besitz zusammenfassen.»131 Ein reich illustrierter
Ausstellungskatalog dokumentiert die 318 Werke der 139 Zürcher Künstler, die aufgefordert werden, «ihr Bestes zu bringen und damit die neuen lichten Räume … zu übernehmen.»132
Abb. 10: Festumzug zur Einweihung des Kunsthauses, 1910
Der Sechseläuten-Festumzug von Montag, 18. April steht unter dem Motto «Bildende Künste, Architektur, Bildhauerei, Kunst im Handwerk, Malerei, Künstler der Neuzeit» und bildet den Höhepunkt der Feierlichkeiten. Das «Officielle Album», herausgegeben vom Central-Comité der Zünfte, leitet mit den Worten ein: «Das bescheidene Provisorium … soll nun verlassen werden und festlicher Einzug will die Kunst halten in ihr neues stattliches Haus, das seine Erstehung privater und öffentlicher Werktätigkeit verdankt. – Und nun feiern die zürcherischen Zünfte die Inauguration des ‹Zürcher Kunst Hauses› durch die folgenden Bilder aus dem Werdegang bildender Künste auf Zürcherischem und Schweizerischem Gebiete. – Per Ars ad Lux.»133
Die Zürcher Kunstgesellschaft und ihre Vorläufer entspringen dem Bedürfnis, Werke von Zürcher Künstlern zu sammeln und auszustellen. Das
Interesse an Schweizer Kunsterzeugnissen gelangt erst später ins Blickfeld, so differenziert die Eröffnungsausstellung, vom 17. April bis 3. Juli 1910, zwischen «Zürcher Künstlern» und «eingeladenen Schweizer Künstlern». Die Pflege des zürcherischen und schweizerischen Kunstschaffens bleibt eine Konstante der Ausstellungspolitik. Neben Gruppenausstellungen finden regelmässig nationale Ausstellungen statt wie die Turnusausstellungen des Schweizerischen Kunstvereins oder die Ausstellungen der Gesellschaft schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten, Schwerpunkt Zürcher Sektion.
Die Frage der Auswahl von schweizerischen kontra ausländischen
Künstlern ist ein konstantes Thema. Ein Leserbrief vom 28. Februar 1913 in der Zürcherischen Freitagszeitung legt Beschwerde über die systematische Zurückweisung von Zürcher Künstlern ein. Wilhelm Wartmann reagiert auf den Vorwurf: «Die Zürcher Kunstgesellschaft macht es sich zur Pflicht, allen Erscheinungen, die durch Ernst des Strebens und künstlerische Leistung irgendwie Anspruch auf Beachtung besitzen, zur Geltung zu verhelfen». Er erläutert, dass das Kunsthaus einen Zürcher Saal besitze, der die schönste Ausstellungsgelegenheit bietet, die ein Zürcher Künstler überhaupt finden kann. «Ausser dem das Jahr hindurch je nach Bedürfnis benützten Zürcher Saal werden, aber bekanntlich regelmässig im Dezember–Januar, dem besten Verkaufsmonat, überhaupt alle Ausstellungsräume den Zürcher Künstlern eingeräumt … Es ist ja ausgeschlossen, dass nur Zürich Meisterwerke hervorbringt oder dass in Zürich allein ebenso viele gute Werke geschaffen werden wie in der Schweiz überhaupt und den grossen Kunstzentren des Auslandes.»134
Ein grosses Anliegen der Zürcher Kunstgesellschaft gilt dem traditionellen Gesellschaftsleben, wie die am 2. Juni 1910 von der ordentlichen Generalversammlung genehmigten, umgearbeiteten Statuten nachweisen: Es gilt «den Sinn für bildende Kunst zu pflegen, das Verständnis für die öffentlichen Kunstinteressen zu heben und die Bestrebungen der Künstlerschaft zu fördern», durch «gesellige Vereinigung von Künstlern und Kunstfreunden, Veranstaltungen von Vorträgen und Vorweisung von Kunstwerken».135 Das Vereinsjahr ist durch gesellschaftliche Anlässe strukturiert: Die Bächtelifeier am 2. Januar bildet den Jahresauftakt, und das Jahr endet mit dem Martini-Mahl im November; bei Jung und Alt beliebt ist die Neujahrsverlosung, die den Gewinnern Gutscheine für Kunstwerke zeitgenössischer Künstler verspricht.
Der von Karl Moser gewählte Begriff «Kunsthaus» impliziert demokratische Vorzeichen; es pflegt nicht primär konservatorische Anliegen, sondern ist ein öffentliches, lebendiges Haus.
Die architektonische Form des Kunsthauses weist zwei Flügel für die beiden Pfeiler des Hauses auf: die Sammlung und die Ausstellungen. Wilhelm Wartmann spinnt den Gedanken weiter: Die Sammlung soll immer eine Abstraktion des Kunstlebens sein und nicht das Leben selbst. «Auch die Gegenwart ist in ihr bereits ‹eingereiht› als Epoche neben früheren, bestimmt, wie diese, durch neue abgelöst und damit geschichtlich zu werden.» Im Gegensatz dazu steht die Ausstellung, die «mit unmittelbaren herausfordernden Eindrücken … von unschätzbarem Werte gerade im Zusammenwirken mit der Sammlung [Kunst erlebbar macht] … Mit der Organisation, wie sie mit dem Einzug in das neue Haus begründet und seither befestigt wurde, ist die Zürcher Kunstgesellschaft moderner als vielleicht da und dort empfunden wird. Sie ist nicht nur weit genug, um an die erwähnte, unwiderstehlich aufkeimende Bewegung um Städte wie Hamburg, Hagen, Frankfurt a. M., Mannheim den Anschluss zu finden, sondern marschiert bereits an der Spitze mit»; in einer Randnotiz erwähnt Wartmann die Museumsdirektoren Alfred Lichtwark und Fritz Wichert.136
Im August 1910 wird in den Bibliotheksräumen ein kleines Kupferstichkabinett mit einer Werkauswahl Johann Heinrich Füsslis eröffnet: «Damit ist neben den beiden Einrichtungen der ‹Ständigen Ausstellung› und der ‹Sammlung› … auch das Kupferstichkabinett, als Stätte intimeren Kunstgenusses, der Öffentlichkeit erschlossen worden … Anspruchsloser, schon dem Formate nach, als die grossen ‹Bilder›, und meist auf den einladenden Reiz der Farbigkeit verzichtend, verlangen diese Blätter auch eine andere Betrachtungsweise. Ein Besuch im Kupferstichkabinett ist schon mit dem Genuss von Kammermusik verglichen worden … Zeichnungen jeder Art, Holzschnitte, Kupferstiche und Radierungen, Steindrucke, ob farbig oder nur in Schwarz-Weiss, auch Aquarell- und Ölskizzen, werden heute allgemein dem ‹Kupferstichkabinett› zugewiesen.»137
Die Ausstellungen grafischer Werke und der Aufbau einer grafischen Sammlung liegen Wartmann besonders am Herzen.
Wartmann hegt auch schon länger die Idee einer hauseigenen Publikation, sie könnte eine Brücke zwischen Kunsthaus, Künstlern, Sammlern und dem breiten Publikum bilden. An der Sitzung vom 26. Januar 1911 schlägt er dem Vorstand die Herausgabe einer Monatsschrift mit dem Namen Das Kunsthaus. Blätter für Schweizer Kunst und Kunstleben. Anzeiger der Zürcher Kunstgesellschaft vor.138 Bereits eine Woche später, am 31. Januar, erscheint die erste Nummer des Periodikums, dessen Ziel und
Abb. 11: Zeitschrift Das Kunsthaus, 1. Jg. 1911, Heft 1
Inhalt programmatische Züge aufweisen: «1. Anzeigen von Ausstellungen im Kunsthaus in Zürich und in anderen Schweizerstädten, sowie Mitteilungen über Zuwachs und allgemeine Entwicklung schweizerischer Kunstsammlungen und Museen. 2. Sammelstelle für Anregungen und Aufsätze zu Kunstleben und Kunstpflege in der Schweiz. 3. Anzeigen über die internen Vereinsangelegenheiten der Zürcher Kunstgesellschaft.»139 Damit übernimmt die Zeitschrift Das Kunsthaus die Rolle eines offiziellen Organs der Zürcher Kunstgesellschaft. In den folgenden sechs Jahren von 1911 bis 1917 entwickelt sie sich zu einem zentralen Forum für zürcherische und schweizerische Kunstbelange in monatlichem Rhythmus; nach 1917 wird ihr Erscheinen auf neun Hefte reduziert. Das Gesellschaftsblatt Das Kunsthaus erscheint nach wie vor regelmässig bis 1920, nach der letzten Sammelnummer des ersten Quartals 1921 muss es wegen der hohen Druckkosten eingestellt werden.
Wartmann überdenkt auch die Zahl der bestehenden Publikationen und fordert, wie private Notizen belegen, formale sowie inhaltliche Angleichungen für ein einheitliches Layout im Sinn einer Corporate Identity. Eine Eingabe an die Bibliothekskommission beantragt die «Anpassung des Berichtes in der äusseren Form an den Stil des Kunsthauses und der Kunsthauspublikationen, Anpassung des Inhaltes an die Bedeutung von Sammlungen und Ausstellung und den mit 1910 erweiterten Kunsthausbetrieb. Beigabe einer Abbildung der Haupterwerbung des Jahres, soweit sie nicht als Katalogillustration oder Ansichtskarte publiziert ist. ‹Wissenschaftliche Beigabe›, kleiner Aufsatz über ein interessantes Kapitel der Entwicklungsgeschichte der Sammlung, ein wertvolles, bisher wenig beachtetes oder unrichtig bezeichnetes Objekt.»140
Die Tradition der Neujahrsblätter bleibt erhalten. Die druckfrische Ausgabe wird jeweils an der Feier des Berchtoldstags von der Bibliothekskommission präsentiert. Diese Publikation gilt der Darstellung und Würdigung bedeutender Personen; oft sind es Künstler, denen «ein Denkmal der Verehrung ihrer Persönlichkeit und ihres Werkes » gewidmet wird.141
Die Jahresberichte der Zürcher Kunstgesellschaft bereichern das Publikum mit illustrierten Aufsätzen zur Kunst; die Ausstellungsbesprechungen erfordern die Aufarbeitung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, wie Wartmann mit einem längeren Aufsatz über die Künstlerfamilie Füssli im August/September 1910 im Kupferstichkabinett beweist.
Die Neue Zürcher Zeitung ist das Sprachrohr des Kunsthauses. Während der 40-jährigen Tätigkeit des Sekretärs und Konservators, ab 1925 des Direktors der Zürcher Kunstgesellschaft entstehen unzählige Aufsätze,
Essays, Kritiken, Berichtigungen zu kunstwissenschaftlichen Themen. Sie werden von den Zeitungsredaktionen mitgetragen und multiplizieren die Stimme des Kunsthauses für das kunstinteressierte Bildungsbürgertum. Das Verbindungsglied bildet Dr. Hans Trog, Redaktor der Neuen Zürcher Zeitung, seit Jahren Mitglied der Sammlungs- und der Bibliothekskommission. Der Konservator und der fachkundige Zeitungsredaktor bilden ein schreibfreudiges Gespann der zürcherischen Kultur- und Kunstvermittlung.
Im Mai 1909 bestellt Wartmann im Musikgeschäft Hug einen Konzertflügel zur Miete für die Gemeindestrasse 4, das Reiten pflegt er in der Allgemeinen Offiziers-Reitgesellschaft Zürichs.
Zwischen 1890 und 1914 findet ein belebter Kulturaustausch statt, der vielen Schweizer Künstlern zu internationalen Ausstellungsmöglichkeiten verhilft. Ferdinand Hodlers Gemälde sind in grossen Ausstellungen in Paris, Brüssel, Berlin, Düsseldorf, Weimar, Köln, Dresden und Wien zu sehen. Cuno Amiet – neben Hodler der international bekannteste Schweizer Maler – gehört seit 1906 der deutschen Künstlergruppe «Die Brücke» an. Seine Ausstellungstätigkeit erstreckt sich über Frankreich, Holland, Dänemark, Deutschland bis nach Österreich-Ungarn. Auch der Bildhauer Hermann Haller nimmt zwischen 1906 und 1914 an mindestens 20 grossen Ausstellungen in Deutschland teil.
Der intensive Austausch schlägt sich auch in den Publikationen nieder. Die zahlreichen Kunstzeitschriften Europas beinhalten regelmässige Berichte über Schweizer Künstler, im Gegenzug erreichen die Nachrichten über ausländischen Kunstereignisse auch die Schweiz. Die schweizerischen Ausstellungen von van Gogh (Künstlerhaus Zürich, 1908) und Paul Gauguin (Kunstsalon Wolfsberg, Zürich, 1912, sowie Kunsthalle Basel, 1913) werden im nahen Ausland mit Aufmerksamkeit verfolgt. Schweizer Künstler sind regelmässig in Frankreich, Deutschland, Österreich und im Mittelmeerraum bis Nordafrika tätig; Karl Bodmer und Frank Buchser reisen nach Übersee. Die Westschweizer Künstler suchen in der deutschen Schweiz ein neues Publikum, ein Umstand, der vor allem Ferdinand Hodler zu nutzen weiss.
Um 1910 verdichtet sich das schweizerische Netz an Beziehungen zur europäischen Kulturlandschaft, es entwickelt sich zu einem Schnittpunkt verschiedener Einflussbereiche. Auch die Deutschschweiz öffnet sich der noch weitgehend unbekannten Kunst Frankreichs. Wilhelm
Wilhelm Wartmann leitet während 40 Jahren (1909–1949) als erster Direktor die Geschicke des Kunsthauses Zürich. Er fördert die Öffnung des Hauses für internationale und zeitgenössische Kunst und treibt den Aufbau einer einzigartigen Sammlung der Moderne voran. Im Lauf seiner Tätigkeit spannt er ein europaweites Beziehungsnetz von Kunstfreunden, Sammlern, Kunsthistorikern und Künstlern wie Edvard Munch, Ferdinand Hodler, Oskar Kokoschka und vielen anderen mehr. Er begleitet ihre Entwicklung mit grosser Empathie und spürt dem inneren Klang ihrer Werke nach. Damit legt er das Fundament der heutigen Bedeutung des Kunsthauses Zürich. Zu Recht gilt er als einer der einflussreichsten Museumsdirektoren der Schweiz.
Mit dem Buch Der innere Klang der Kunst. Wilhelm Wartmann und das Kunsthaus Zürich legt die promovierte Kunsthistorikerin Iris BrudererOswald die erste wissenschaftliche Biografie Wilhelm Wartmanns vor. Sie schlägt ein neues Kapitel der Kulturgeschichte Zürichs auf, das weit in die europäische Kunstwelt ausstrahlt.
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