Daniel Furrer: «Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns» - Die Geschichte der Seuchen in der Schweiz

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Krankheit und Tod sind durch Corona wieder ins Bewusstsein gerückt. Doch befinden wir uns tatsächlich in der schlimmsten Pandemie aller Zeiten, wie da und dort zu lesen ist? Gab es früher überhaupt vergleichbare Infektionskrankheiten? Wie gingen die Menschen in der Schweiz damit um? War die Pest in der Schweiz so tödlich wie Cholera, Pocken oder Tuberkulose? Diese und weitere Fragen beantwortet der Historiker Daniel Furrer in der ersten Gesamtdarstellung der Seuchengeschichte der Schweiz und stellt damit die aktuelle Lage in einen grösseren historischen Zusammenhang.

Daniel Furrer

«Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr»

«Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr» – mit diesen Worten beteten Menschen im Gebiet der heutigen Schweiz in der Frühen Neuzeit um göttlichen Beistand gegen die Geisseln ihrer Zeit. Die Reihenfolge – Pest, Hunger und Krieg – ist nicht zufällig und steht für die Grösse der Bedrohung. Hunger und Krieg wurden für die Menschen in der Schweiz jedoch zu Ereignissen der fernen Vergangenheit: Die letzte Hungersnot war im Jahr 1817, der letzte Krieg um 1847. Im Gefolge des Ersten Weltkriegs bekam die Schweiz indes die Auswirkungen der Spanischen Grippe zu spüren: 1918/19 starben rund 25 000 Menschen.

«Vor Pest,

Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr» Die Geschichte der Seuchen in der Schweiz

Daniel Furrer

ISBN I S B N978-3-907291-66-5 978-3-907291-66-5

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783907 291665

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«Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr» Die Geschichte der Seuchen in der Schweiz

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Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel Das Buchprojekt wurde gefördert durch:

Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Lektorat: Katharina Wehrli, Zürich Umschlaggestaltung: Weiß-Freiburg GmbH, Freiburg i. B. Umschlagabbildung: Ferdinand Hodler (*14.03.1853, Bern, †19.05.1918, Genf), Die Nacht, 1889–1890, Öl auf Leinwand, 116 x 299 cm (Fotocredit: Kunstmuseum Bern) Bildbearbeitung: Fotosatz Amann, Memmingen Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck, Einband: Balto Print, Litauen Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechts­ gesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich ver­ gütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-907291-66-5 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.


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Inhalt

Vorwort  1 Einführung in die Seuchengeschichte  2 Pest: der Schwarze Tod  3 Aussatz (Lepra): Krankheit der lebenden Toten  4 Typhus und Ruhr: Bauchfluss  5 Cholera: der Blaue Tod  6 Pocken: vernarbte Geschichte  7 Tuberkulose: Die Weisse Pest  8 Geschlechtskrankheiten: Gonorrhö, Syphilis und Aids  9 Influenza: Spanische Grippe & Co.  10 Malaria und Diphterie: Fragmente  11 Aus der Seuchengeschichte lernen?  Anmerkungen  Literaturverzeichnis  Über den Autor

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Vorwort

«Wir verdrängen den Tod. Wir leben, als ob wir unsterblich wären, obgleich wir ihm immer wieder begegnen.»1 Friedrich Dürrenmatt

«Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr»2 – mit diesen Worten beteten Menschen in der Frühen Neuzeit im Gebiet der heutigen Schweiz um göttlichen Beistand gegen die Geisseln ihrer Zeit. Die Reihenfolge – Pest, Hunger und Krieg – ist kein Zufall und steht für die Grösse der Bedrohung: Die Pest – bis heute Inbegriff einer hochansteckenden und tödlichen Infektionskrankheit – stand an erster Stelle; die Angst vor einer schweren Hungersnot an zweiter und die verheerenden Auswirkung von Kriegen standen an dritter Stelle. Wann wütete die letzte hochansteckende Infektionskrankheit in der Schweiz? Die Antwort auf diese Frage fällt leicht, denn seit zwei Jahren beherrscht die Coronapandemie unseren Alltag. Das zitierte Gebet erwähnt jedoch die Pest, die im Mittelalter von 1347 bis 1353 erbarmungslos in ganz Europa wütete.3 Diese mittelalterliche Pestpandemie hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben und wird gerne als Schwarzer Tod oder Grosse Pest bezeichnet. Es wird noch zu zeigen sein, dass der Schwarze Tod in der Schweiz wahrscheinlich nicht im Mittelalter am meisten Opfer forderte, sondern im 17. Jahrhundert. Diese Pestzüge wie überhaupt Pandemien mit hoher Sterblichkeit wurden von Zeitgenossen deshalb als das «grosse Sterbend»4 bezeichnet. Wann gab es in der Schweiz die letzte Hungersnot? Die Antwort auf diese Frage fällt den meisten schon schwerer. Dabei haben die Medien, die historische Jubiläen lieben, im Jahr 2017 unter dem EtiVorwort

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kett «Jahr ohne Sommer» an die letzte grosse Hungerkrise von 1816/17 erinnert. Diese wurde durch den Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien im April 1815 mitverursacht. In vielen Teilen Europas und insbesondere in der Schweiz herrschten 1816 ungewöhnliche Wetterphänomene vor: «In der Schweiz schneite es beinahe jede Woche bis in die Täler, das Getreide und die Trauben wurden nicht reif, und die Kartoffeln mussten im Herbst aus dem Schnee ausgegraben werden.»5 Insgesamt war der Sommer 1816 zu kalt und zu nass. Ernten fielen aus und die Versorgung mit Lebensmitteln war nicht mehr gewährleistet. Hunger und Krankheiten grassierten. Dabei ist unklar, wie viele Menschen in der Schweiz verhungerten. Nicht nur gab es beträchtliche regionale Unterschiede, auch die Todesursache ist oft nicht einfach zu bestimmen; denn Menschen, die hungern, haben auch ein geschwächtes Immunsystem und sterben rascher an Krankheiten. Letztlich lassen sich Phänomene der Vergangenheit nicht monokausal erklären. Wann gab es in der Schweiz den letzten Krieg? Wenn im Zusammenhang mit der Schweizer Geschichte gern von einem Sonderfall gesprochen wird, so trifft er hier zu: Welches andere Land kann schon von sich behaupten, sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg kein Kriegsschauplatz gewesen zu sein? Doch wer von Kriegen weitgehend verschont blieb, konnte trotzdem von einer Pandemie betroffen sein. Zu Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Schweiz ein Opfer der Grippepandemie. Diese sogenannte Spanische Grippe traf das Land besonders hart: Rund die Hälfte aller Einwohnerinnen und Einwohner erkrankte und Schätzungen zufolge verloren 25 000 Menschen ihr Leben. Die Spanische Grippe bildet den Endpunkt der vorliegenden Darstellung, die Pestpandemie des Mittelalters den Anfangspunkt. Der Versuch wird also gemacht, eine Seuchengeschichte von über einem halben Jahrtausend zu schreiben. Die Coronapandemie wird hier nicht behandelt, weil sie, als dieses Buch geschrieben wurde, in vollem Gang war und eine abschliessende Darstellung deshalb noch nicht möglich ist. Zudem bietet es sich an, diese Coronapandemie als Zäsur zu betrachten: Aus dem Blickwinkel der Infektionskrankheiten markiert 8

Vorwort


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die Spanische Grippe den Beginn des 20. Jahrhunderts, die Coronapandemie hingegen dessen Ende. Räumlich beschränkt sich die vorliegende Darstellung ebenfalls: Im Mittelpunkt des Interesses steht das Gebiet der heutigen Schweiz. Dabei versteht es sich von selbst, dass gerade eine Seuchengeschichte nicht vor nationalen Grenzen Halt macht. So sind diese während der Coronapandemie aus Angst vor Ansteckungen überall in Europa wiederauferstanden. Nationalgeschichte im Sinn einer Fokussierung auf einen begrenzten Raum ist aber auch nötig, um einen akzeptablen Differenzierungsgrad zu erhalten. Zu schnell bleibt man sonst bei Allgemeinplätzen stehen. Zugleich ist auch Bescheidenheit angesagt: Bei der vorliegenden Darstellung handelt es sich um den ersten Versuch, eine Seuchengeschichte der Schweiz zu schreiben. Da die verschiedenen Infektionskrankheiten in der Schweizer Medizingeschichte höchst unterschiedlich behandelt wurden und eigene Quellenstudien nur in einem sehr begrenzten Rahmen möglich waren, handelt es sich beim vorliegenden Buch um eine Einführung. Wenn sie allerdings dazu anregt, die Gegenwart, die noch immer von der Coronapandemie geprägt ist, im grösseren Kontext zu sehen, so ist ein wesentliches Ziel erreicht. In diesem Zusammenhang sind auch die Exkurse am Ende jedes Kapitels zu verstehen: Es handelt sich dabei um kurze Ausführungen, die im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart angesiedelt sind. Zum Schluss noch ein Wort des Danks. In der Wissenschaft steht man immer auf den Schultern von Vorgängerinnen und Vorgängern. Ganz besonders gilt dies für die Geschichtswissenschaft. Ohne die Vorarbeiten anderer hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können. In der vorliegenden Darstellung sind jedoch nur die direkten Zitate ausgewiesen, um den Umfang des Anmerkungsapparats kurz zu halten. Dank gebührt auch dem Verlag NZZ Libro, der sich mit grossem Engagement meiner Seuchengeschichte angenommen hat. Ganz besonders danke ich der Lektorin Katharina Wehrli sowie Sonja Bertschi und Jonas Dischl, die das Manuskript sorgfältigst gelesen und zahlreiche Verbesserungsvorschläge eingebracht haben. Vorwort

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Es ist zu einem Allgemeinplatz geworden, dass Computer einem das Leben – und das Schreiben im Besonderen – erleichtern. In den letzten Jahren musste der Autor jedoch die Erfahrung machen, dass die ständigen Updates der Software zahlreiche Fehler erzeugten und seriöses Arbeiten oft unnötig erschwerten. Als die Covid-Pandemie in der Schweiz ausbrach, hatte auch Swisscovery, die nationale Plattform der Schweizer Bibliotheken, ihren ersten Auftritt. Leider ist sie bis heute nicht durch eine bessere Lösung ersetzt. Das liegt vielleicht daran, dass dieses Suchportal hält, was es verspricht: Es ist ein Portal der Suche – nicht des Findens.

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Vorwort


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1 Einführung in die Seuchengeschichte

Dass auch in Europa Infektionskrankheiten grausam schnell töten konnten, illustriert das Schicksal des deutschen Schriftstellers und Mediziners Georg Büchner. Dieser suchte nach den Wirren der 1830erRevolution vor den politischen Verfolgungen in seiner Heimat in Zürich Zuflucht. Es gelang ihm, 1836 als Privatdozent für vergleichende Anatomie an der Universität Zürich Arbeit zu erhalten. Anfang Februar 1837 erkrankte er jedoch schwer und rund zwei Wochen später starb er. Als Todesursache gilt Typhus. Noch schneller wurde der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel von einer Infektionskrankheit hinweggerafft: Im Sommer 1831 hatte er es vermieden, sich in der Stadt Berlin aufzuhalten, weil dort die Cholera grassierte. Im Herbst, als die Choleraepidemie abklang, kehrte Hegel in die Stadt zurück. Am 13. November, an einem Sonntagmorgen, fühlte sich Hegel sehr schlecht; am 14. November 1831 war er tot. Sein «unerwartet schnelles Ableben»6 machte den Schriftsteller Karl August von Varnhagen in Berlin zwar betroffen, aber sein Kummer hielt sich in Grenzen; denn: «[Hegel hatte] keine Ahnung seines herannahenden Todes, und entschlummerte, wie die Anzeige der Witwe sagt, schmerzlos, sanft und selig. Das ist schön, dass er nicht gelitten hat! So war denn sein Tod so glücklich, als der Tod irgend sein kann.»7 Der Tod als ein friedliches Entschlummern war bei dieser Krankheit jedoch die Ausnahme. Das Sterben an Cholera konnte grauenvoll sein: «Die Epidemie der Cholera morbus, welche die mehrsten unserer Stadtbewohner als einen geduldigen Gast, den man nach Willkür platzieren und gehen heissen könnte, betrachteten, zeigte sich bald darauf zu aller Schrecken, als ein furchtbares todverbreitendes Ungeheuer, welches seinen stärksten Gegner in zwei bis drei Stunden mordete, desEinführung

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sen Gesichtszüge in so kurzer Zeit gänzlich verunstaltet wurden: schmerzvolle Krämpfe verzerrten den Mund, die Augen, deren Weisse sich bräunt, sinken plötzlich und stieren unbeweglich wie aus schwarzen Grabeshöhlen, die Gesichtsfarbe wird gelb und die Lippen blau, dass ein solcher Anblick Grauen und Entsetzen erregt.»8 Die schmerzvollen Muskelkrämpfe bei Cholera beschreibt der britische Arzt A. J. Wall 1893 mit den Worten: «In extremen Fällen ist fast die gesamte Muskulatur betroffen – die Waden, die Oberschenkel, die Arme, die Unterarme, die Muskeln des Bauches und des Rückens, die Zwischenrippenmuskeln und die des Halses. Der Patient windet sich vor Schmerzen und kann kaum an sein Bett gefesselt werden, da seine Schreie aus diesem Grund für seine Umgebung sehr quälend sind.»9 Auch nach dem Tod des Erkrankten konnte Cholera Grauen wecken. «Ein gespenstisches Merkmal der Krankheit ist, dass sie heftige postmortale Muskelkontraktionen hervorruft, die die Gliedmassen über einen längeren Zeitraum hinweg zittern und zucken lassen. Infolgedessen schienen die Leichenwagen, die die Körper der an der Krankheit Verstorbenen abholten, vor Leben zu strotzen, was Ängste vor bösartigen Machenschaften und vor einer vorzeitigen Beerdigung auslöste.»10 Werfen wir einen Blick auf eine dritte Infektionskrankheit: die Masern. Wie ansteckend und tödlich diese Krankheit sein konnte, zeigt das äusserst anschauliche Beispiel der Färöer, einer isolierten Inselgruppe zwischen Schottland und Island. Zwischen 1781 und 1846 traten dort keine Masernfälle mehr auf. Auf den Inseln lebten 1846 jedoch 92 Menschen, die in ihrer Jugend an den Masern erkrankt waren und daher immun waren. In diesem Jahr erreichte ein Schiff aus Kopenhagen die Färöer. An Bord befand sich ein Tischler, der kurz vor seiner Abreise in Kopenhagen Kontakt mit Masernkranken hatte. In den ersten Apriltagen des Jahrs 1846 nahm er an einem Volksfest auf der Insel teil und löste damit eine Masernepidemie aus. Es spielte sich Unfassbares ab: Von den rund 8000 Einwohnerinnen und Einwohnern erkrankten 6000. Nur 1500 Personen gelang es, sich durch strenge Isolationsmassnahmen vor der Krankheit zu schützen. 12

Einführung


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Der Kontagionsindex drückt die Zahl der Infizierten auf je 100 sogenannt empfängnisfähige, exponierte Personen aus; immune Personen zählen dabei nicht. Die Statistik dieser Masernepidemie belegt, dass 6262 Bewohner der Färöer empfängnisfähig für die Masern waren und dem Erreger auch ausgesetzt waren; «von diesen 6262 Personen erkrankten 6000, also etwas mehr als 95 Prozent».11 Mit dem Begriff des Kontagionsindex haben wir das weite Feld des Fachvokabulars betreten, das im Zusammenhang mit dem Thema Infektionskrankheiten existiert. Dieses Feld soll hier nicht gepflügt werden. Wir versuchen jedoch in einem gestrafften Überblick ein paar wichtige Entwicklungen zu skizzieren, die im Kontext einer Seuchengeschichte von zentraler Bedeutung sind. Bevor wir dies tun, gilt es auf eine Grenze jeder Seuchengeschichte hinzuweisen: Oft kann auch ein medizinisch geschulter Historiker nicht mit Sicherheit feststellen, welche Krankheiten die Zeitzeugen schildern. Erst im 17. Jahrhundert gelang es etwa dem englischen Arzt Thomas Sydenham während einer grossen Epidemie in London, die Masern als eigenständige Krankheit von Scharlach und anderen fieberhaften ansteckenden Krankheiten abzugrenzen. Und noch länger dauerte es, bis die Masern endgültig als eigenständige Krankheit anerkannt wurden. Dies geschah erst im 19. Jahrhundert. Damals berichtete der Ostschweizer Arzt Elias Haffter in seinen umfangreichen Aufzeichnungen davon, dass im Mai 1849 in einer Schule mit rund 300 Kindern zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler wegen Masern die Schule nicht besuchen konnten. Wie werden Infektionskrankheiten übertragen? Wie geschieht – fachsprachlich ausgedrückt – die Kontagion? Verantwortlich für die Infektionskrankheit sind Mikroorganismen (Mikroben). Die Übertragungsweise und die Art und Weise des «Eintritts» in den menschlichen Organismus sind vielgestaltig, können aber in vier Kategorien eingeteilt werden. «Die erste Kategorie umfasst Darmkrankheiten, die durch die Exkremente eines Kranken übertragen werden, indem die Erreger in die Nahrung oder ins Trinkwasser eines anderen Menschen und anschliessend in dessen Verdauungstrakt gelangen. Der Unterleibstyphus und Einführung

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andere Typhusarten, Ruhr, Diarrhöe und Cholera sind die am weitesten verbreiteten und schwersten dieser Krankheiten und Todesursachen. Zur zweiten Kategorie gehören Krankheiten, die durch die Atemwege und die Luft weitergegeben, deren Erreger also durch Husten, Niesen, aber auch beim Sprechen von Mensch zu Mensch übertragen werden. Dazu zählen Pocken, Diphtherie, Tuberkulose, Masern, Grippe und auch die weniger geläufige, aber tödlichere Spielart der Pest, die Lungenpest. Die dritte Kategorie umfasst Krankheiten, die durch Ge­­ schlechtsverkehr übertragen werden (Syphilis und andere venerische Krankheiten, heute auch Aids), und die vierte Krankheiten, die nicht durch die natürlichen Körperöffnungen in den menschlichen Organismus gelangen, sondern durch die Blutbahn oder das Gewebe übertragen werden. Dies geschieht durch Bisse oder Stiche von Tieren (von Flöhen, Läusen, Zecken, Stechmücken), die die Mikroben von einem Menschen zum anderen oder auch vom Tier – dem Reservoir der Mikroben, etwa den Ratten bei der Pest – auf den Menschen übertragen.»12 Man kann diese Mikroorganismen wie folgt unterteilen: • Bakterien: Das sind winzige, aber im Mikroskop gut sichtbare Mikroorganismen, die sich in mehrere Gruppen unterteilen lassen. In genügend grosser Anzahl kann ein bestimmtes Bakterium eine bestimmte Krankheit (wie Ruhr, Pest, Typhus usw.) hervorrufen. Der Kranke scheidet in der Regel den noch immer krankmachenden Erreger aus, ob durch seine Auswurfstoffe oder beim Niesen oder auf eine andere Art. • Viren: Sie sind wesentlich kleiner als Bakterien und konnten erst mithilfe des Elektronenmikroskops sichtbar gemacht werden (etwa ab 1938). Neuerdings lassen sie sich auch bei einer speziellen Präparation durch ein sogenanntes Lichtmikroskop beobachten. «Viren verhalten sich so, als wären sie winzige lebende Organismen, als wären sie Bakterien, denen alles genommen wurde, bis auf einen schieren Kern von Nukleinsäure in einer Proteinhülle oder -kapsel.»13 Viren haben, anders als Bakterien, keinen eigenen Stoffwechsel, sie schliessen sich an den ihrer Wirtszellen an; sie können sich innerhalb oder ausserhalb der Wirtszellen aufhalten. 14

Einführung


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Antibiotika können sie nicht ausser Gefecht setzen. Masern, Poliomyelitis, Röteln oder Hepatitis werden von Viren hervorgerufen. «Die erste menschliche Krankheit, deren Natur als virusbedingt erkannt wurde, war das Gelbfieber.»14 Pilze: Seit der Antike werden Pilze zu den Pflanzen gerechnet, wobei nur sehr kleine Pilze Krankheiten beim Menschen hervorrufen. Pilze sind als Krankheitserreger schon länger bekannt als die Bakterien: Systematisch erforscht werden sie als Krankheitserreger seit den 1830er-Jahren. Der Jurist Agostino Maria Bassi, der ein grosses Interesse für biologische Fragen hatte, erbrachte den Nachweis, dass die Krankheit der Seidenraupen, die man in Italien «calcino» und in Frankreich als «muscardine» bezeichnete, auf einen Befall mit Pilzen zurückzuführen ist.15 In der Humanmedizin gilt das Jahr 1839 als Geburtsjahr der medizinischen Mykologie. Neben ihrer Rolle als Krankheitserreger gewannen Pilze im 20. Jahrhundert eine herausragende Bedeutung als Antibiotika in der Medizin. Ein Beispiel für eine Pilzerkrankung beim Menschen ist der Kopfgrind. Im Juni 2021 veröffentlichte das amerikanische Wissenschaftsmagazin Scientific American eine be­­ sorgniserregende Darstellung zum Pilz Candida auris, der erstmals 1990 auftauchte und im Zusammenhang mit Covid-19 für zahllose Tote verantwortlich sein soll.16 Parasiten: Infektionskrankheiten können zudem auch durch Parasiten übertragen werden. Aus der Perspektive der Seuchengeschichte ist Malaria als Infektionskrankheit von grösster Bedeutung. Die Krankheit wird im Menschen durch einen Parasiten erzeugt, der der Gattung Plasmodium angehört und von weiblichen Stechmücken der Gattung Anopheles übertragen wird.

Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit waren auch Wurmkrankheiten weitverbreitet. Da sie aber in der Regel nicht massenhaft vorkommen und plötzlich auftreten, werden sie nicht zu den Seuchen gezählt. Diese Aufzählung der Ursachen für ansteckende Krankheiten verbirgt die Kluft, die uns von unseren Vorfahren trennt: Krankheit und Einführung

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Tod waren eine Alltagsrealität; insbesondere Infektionskrankheiten prägten das Leben jedes und jeder Einzelnen. Der Schweizer Historiker Albert Hauser beschreibt dies sehr anschaulich für das 19. Jahrhundert: «Das Leben war kurz und von vielerlei Krankheiten, Seuchen und Unfällen täglich aufs Neue bedroht. Die Lebenserwartung bei der Geburt betrug 1801 lediglich 38,5 Jahre. Gegen Ende des Jahrhunderts (1876–1880) war die Ziffer auf 50,6 Jahre gestiegen, und 1910 betrug sie 62,7 Jahre. [Im Jahr 1989] betragen die Ziffern für Frauen 80 und für Männer 74 Jahre. Auf 1000 Einwohner starben 1836 bis 1840 25,4, 1906 bis 1910 16,9 Menschen. Heute [1989] sind es 9,2. Der Tod kam früh, unerwartet, er machte nicht viel Federlesens. Die Sterbedauer war kurz. So liegen beispielsweise bei der im 19. Jahrhundert heftig auftretenden Cholera zwei bis fünf Tage zwischen Ansteckung und Ausbruch. In weiteren zwei bis fünf Tagen war mit dem Ableben zu rechnen. Selbst bei jenen Krankheiten, wo es etwas länger dauerte, bei Typhus, Pocken und Ruhr, wo eher in Wochen als bloss Tagen zu rechnen war, trat der Tod im Vergleich zu heute viel schneller ein. Wir leben länger und sterben langsamer. Unsere Vorfahren starben früh und schnell.»17 Mit Blick auf die globalen Dimensionen von Infektionskrankheiten sprach der französische Historiker Emmanuel LeRoy Ladurie von einem «holocauste microbien».18 Damit charakterisierte er die gewaltigen Folgen von Mikroorganismen für die Neue Welt: In Amerika starb die indigene Bevölkerung zu Zehntausenden an Infektionskrankheiten wie Pocken oder Masern, ganze Ethnien wurden so ausgelöscht. Ein entscheidender Grund für die enormen Todeszahlen war, dass der amerikanische Kontinent vor der Eroberung durch die Europäer in Bezug auf Mikroorganismen eine abgeschottete Welt darstellte und den «europäischen Mikroben» nichts oder nur sehr wenig entgegensetzen konnte. Der Begriff der Seuche wird in der vorliegenden Darstellung bewusst verwendet, da er «stärker» ist als die Bezeichnung Infektionskrankheit. Der Medizinhistoriker Kay Peter Jankrift definiert den Begriff folgendermassen: «Als Seuche wird nach medizinischer Defini16

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tion die plötzliche Erkrankung zahlreicher Menschen an einer Infektionskrankheit bezeichnet. Abhängig von der zeitlichen Gebundenheit und geographischen Ausdehnung einer Seuche wird unterschieden in Endemie, Epidemie und Pandemie. Während der Begriff der Endemie ständig präsente Erkrankungen in einem begrenzten geographischen Gebiet fasst, handelt es sich bei der Epidemie um ein deutlich gehäuftes, zeitlich und örtlich begrenztes Auftreten von infektiösen Erkrankungen. Als Pandemie wird schliesslich die Ausbreitung einer Infektionskrankheit über grossflächige geographische Gebiete wie Länder und Kontinente bezeichnet.»19 Seuchengeschichten haben eine lange Tradition: Georg Sticker schrieb seine wegweisenden Abhandlungen zur Seuchengeschichte und Seuchenlehre 1908 und der Medizinhistoriker Stefan Winkle publizierte seine umfassende Geschichte der Seuchen 1997 (seitengleiche Neuauflage 2005). Die vorliegende Darstellung reiht sich hier ein, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Sie hat einen bescheidenen Umfang und beschränkt sich auf das Gebiet der heutigen Eidgenossenschaft. Ein Gesamtüberblick über die wichtigsten Seuchen in der Schweiz ist bisher noch nie versucht worden – vielleicht mit gutem Grund: Die wissenschaftliche Behandlung der einzelnen Seuchen zeigt sich auf höchst unterschiedlichem Niveau und es existiert bis heute nicht einmal eine wissenschaftliche Sammlung wichtiger Schlüsseldokumente zur Geschichte einzelner Infektionskrankheiten. Keine Seuchengeschichte kommt darum herum, auf eine epochale Zäsur hinzuweisen: den Paradigmenwechsel, den das Wissen über den Weg der Ansteckung mit der Bakteriologie erlebte. Unter dem Begriff «Paradigmenwechsel» versteht der Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn veränderte Formen der Beobachtung, der Apparaturen oder der Begriffe in einer einzelnen Wissenschaft. Im Endeffekt verändern sich die Rahmenbedingungen einer Wissenschaftsrichtung grundlegend und resultieren in neuen Theorienmodellen. Der Weg der Bakteriologie zu einer Leitwissenschaft ist eng mit den Persönlichkeiten von Robert Koch und Louis Pasteur verknüpft. Betrachten wir einige wichtige Stationen des Siegeszugs der BakteEinführung

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riologie. Am 24. März 1882 machte Robert Koch an einer Sitzung der Physiologischen Gesellschaft die Entdeckung des Tuberkulosebakteriums bekannt. Erstmals konnte ein lebender Mikroorganismus als Erreger einer menschlichen Krankheit zweifelsfrei nachgewiesen werden. Der amerikanische Medizinhistoriker Charles-Edward Winslow streicht die herausragende Bedeutung von Kochs Erkenntnissen heraus: «Vor der Präsentation dieser Arbeit war nichts definitiv über die Ätiologie der Tuberkulose bekannt; nach ihrer Präsentation war das ganze Bild klar. In einer Denkschrift, die siebzehn Seiten in Kochs gesammelten Werken einnimmt, findet sich kein einziger Fehler, ausser der Interpretation bestimmter Strukturen in der Zelle als Sporen.»23 Robert Koch rückte im Zusammenhang mit der Erforschung des Choleraerregers auch die Gefährlichkeit von Exkrementen ins richtige Licht. 1883/84 kam er in Kalkutta den Ursachen für Cholera auf die Spur: Koch brachte Choleraausbrüche mit der Trinkwasserversorgung in Zusammenhang und berichtete an seine Vorgesetzten in Berlin: «Besonders häufig werden derartig lokalisierte kleine Epidemien in den Umgebungen der so genannten [Trinkwasser]Tanks beobachtet. Zur Erläuterung muss erwähnt werden, dass die über ganz Bengalen [Bangladesch] in unzähliger Menge verbreiteten Tanks kleine von Hütten umgebene Teiche und Sümpfe sind, welche den Anwohnern ihren sämtlichen Wasserbedarf liefern und zu den verschiedensten Zwecken, wie Baden, Waschen der Kleidungsstücke, Reinigen der Hausgeräte und auch zur Entnahme des Trinkwassers benutzt werden.»20 In diesen Trinkwassertanks konnten die deutschen Wissenschaftler tatsächlich Cholerabakterien nachweisen. Diese waren durch das Waschen von Kleidungsstücken eines Cholerakranken am Teich ins Trinkwasser gelangt. Damit gelang es Koch erstmals, die Ursachen einer Trinkwasserepidemie klar aufzuzeigen und den Nachweis zu erbringen, dass die Ausbreitung der Cholera mit Gewässern zusammenhängt. In die Heimat zurückgekehrt, verkündete er 1884: «Kein gesunder Mann kann an Cholera erkranken, wenn er nicht zuvor die Komma-Mikrobe21 geschluckt hat, und dieser Keim kann 18

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sich nur aus seinesgleichen entwickeln, aus keiner anderen Mikrobe, am allerwenigsten aus nichts. Wachsen und sich vermehren kann sie aber nur in den Eingeweiden eines Menschen oder in stark verunreinigtem Wasser, wie dem von Indien.»22 Damit war nachgewiesen, dass Fäkalien gefährliche Krankheitserreger enthalten konnten und der sorglose Umgang damit zur Verbreitung von Krankheiten führen konnte. Es ist durchaus angebracht, im Zusammenhang mit der Bakteriologie von einer Wissenschaftsrevolution zu sprechen, denn erst in diesem Moment setzte sich das Wissen durch, dass Mikroorganismen Ursache schwerer Krankheiten waren. Der bedeutende Schweizer Medizinhistoriker Erwin H. Ackerknecht ordnet diese epochale Zäsur folgendermassen ein: «Trotz der Tatsache, dass in dem Gesamtgefüge der Wissenschaften die Entwicklung der Bakteriologie nur eine der vielen grossen biologischen Entdeckungen war, war es zweifellos vom strikt medizinischen Standpunkt aus das wichtigste Ereignis des ereignisreichen 19. Jahrhunderts und vielleicht aller Zeiten.»24 Bis zum Siegeszug dieser neuen Erkenntnisse war das ganze Gebiet der Hygiene von der Auffassung beherrscht, dass faulige Dünste – sogenannte Miasmen – die eigentlich schädlichen und lebensbedrohlichen Elemente seien, gegen die man beim Kampf gegen ansteckende Krankheiten anzugehen hätte. Gut erkennbar wird die Miasmustheorie bei fiebrigen Erkrankungen. Bei einem Fieber, das in Quellen im 18./19. Jahrhundert als Gallenfieber bezeichnet wurde, suchte man die Ursachen in der schlechten Luft: «Diese faulen Gallenfieber sind solche Fieber, welche von einer verdorbenen Materie herrühren, die durch die warmen Mittag- oder Föhn- und Abend- oder Regenwinde aus der ausdünstenden Erden aufgehoben, mit der Luft vermischt, an vielen Orten in öftere, und dicke Nebel, so gleichsam wie ein Schwamm das Wasser an sich zieht, verhüllt, und von den Menschen samt der Luft durch den Atem in den Mund gezogen, und mit dem Speichel hinein geschluckt wird.»25 Gallenfieber war nur eine Bezeichnung unter vielen: Faulfieber oder biliöses bzw. putrides Fieber sind andere Bezeichnungen, die in Einführung

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den Quellen für fiebrige Erkrankungen auftauchen. Die Zuordnung zu heutigen Krankheiten ist keineswegs einfach und manchmal auch unmöglich. Im oben beschriebenen Falls dürfte es sich um den Typhus abdominalis gehandelt haben. Nicht nur die Zuordnung einer historischen Krankheit ist schwierig. Schwierig ist auch die Quantifizierung: Wie hoch war der Tribut, den Infektionskrankheiten in der Schweiz forderten? Wenn in der folgenden Darstellung auf diese Frage eine Antwort gegeben wird, so sind zwei wichtige Hinweise anzubringen: Es fehlen bis weit ins 20. Jahrhundert in der Regel exakte Zahlen. Die erste Volkszählung in der Schweiz fand nach dem Einmarsch französischer Truppen, in der Epoche der Helvetik (1798–1803), statt. Doch auch bei der Spanischen Grippe (1918) blieb das genaue Ausmass der Erkrankungen in der Schweiz unklar, denn eine Meldepflicht wurde erst am 11. Oktober 1918 eingeführt. Mehr noch: Den Fachleuten war auch unklar, womit sie es zu tun hatten. Viren als Krankheitserreger waren damals noch weitgehend unbekannt. Doch auch ohne genaue Zahlen und trotz teilweise unsicherer Bestimmung ist festzuhalten, dass Infektionskrankheiten die Geschichte und das Leben der Menschen in unserem Land seit vielen Jahrhunderten geprägt haben.

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Arnold Böcklin, Die Pest, 1898 (Kunstmuseum Basel). «Dieses durch seine starken Licht- und Farb-Kontraste sowie die gewagte Perspektive beeindruckende Gemälde hat der Schweizer Künstler Arnold Böcklin im Jahre 1898 gemalt […]. Böcklin selbst war damals bereits 71 Jahre alt und durch schwere Krankheiten gezeichnet. Die Pest war sein letztes Werk, welches zudem unvollendet blieb. […] Böcklins Pest von 1898 ist weder eine Historie noch ein durch aktuelle politische oder pandemische Ereignisse geprägtes Gemälde. Im Rückgriff auf eine zwar damals nicht mehr akut gefährdende, aber im kollektiven Gedächtnis noch immer als höchst vernichtend präsente Krankheit inszeniert Böcklin den Schwarzen Tod als Symbol der grundsätzlichen Bedrohung menschlicher Existenz.»26


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2 Pest: der Schwarze Tod

Erreger und Übertragung Pest ist eine Infektionskrankheit, die durch ein Bakterium namens Yersinia pestis verursacht wird. Es handelt sich dabei um eine Tierkrankheit, die auf den Menschen übertragen werden kann (Zoonose). Die Übertragung erfolgt meist durch Bisse von Flöhen oder Läusen, die auf infizierten Ratten oder Haustieren leben. Beim Befall der Lunge (Lungenpest) ist die Krankheit leicht von Mensch zu Mensch übertragbar: Im Tierversuch reichen 100 bis 500 infektiöse Keime für eine Ansteckung. Krankheitsbild Eine Pest äussert sich durch Symptome wie Fieber, Schwellung der Lymphknoten – meist in der Leistengegend – und Atembeschwerden. Wird sie nicht behandelt, kann sie den Tod zur Folge haben. Die Zeit von der Ansteckung bis zur Erkrankung variiert zwischen 1 und 7 Tagen. Verbreitung und Häufigkeit In der Schweiz sind in den letzten 30 Jahren keine Pestfälle mehr aufgetreten. Weltweit registriert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa 1000 bis 3000 Pestfälle pro Jahr, meistens in Form kleinerer, örtlich begrenzter Epidemien. In Europa gab es den letzten dokumentierten Pestausbruch im Zweiten Weltkrieg. Man nimmt an, dass die Pest gegenwärtig in Europa nicht mehr existiert. Aufgrund der geringen infektiösen Dosis und des schweren Krankheitsbildes einer Lungenpest besteht das Risiko, dass Yersinia pestis als biologische Waffe eingesetzt werden könnte.27 Pest

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Schauplatz ist die Stadt Zürich zur Zeit der Reformation. Thomas Platter der Ältere berichtet in seiner Autobiografie: «Dan wie ich noch Zürich in die schull gieng, was ein grusame pestelentz do, das man zum grossen münster in ein grüben 900 menschen leit und in ein andre 700; do zoch ich mit andren lantzlütten heim. Do hat ich ein eyss an eim bein (ich denk, es weri ouch pestelentz); do wolt man uns kum ienert inlassen. Ich gieng an Grenchen zu miner bäsin Fransi; do entschlieft ich von Galpentran (ist ein klein dörflin unden am barg) byss an Grenchen in eim halben tag 18 mall. Do band mier die bäsin chabes bletter uff; ward gsund mit der hilff gottes, und bschach niemand nütz mer; aber weder ich noch min bäsin dorfftend in 6 wuchen zü keinem menschen kummen.»28 Der französische Historiker Emmanuel Roy Ladurie hat der Familie Platter eine gewichtige Darstellung gewidmet, und darin wird diese Episode wie folgt geschildert: «In Zürich hatte die Seuche zwei öffentliche Pestgruben mit insgesamt 1600 Leichen gefüllt. Anlässlich einer dieser Epidemien hatte Thomas sich möglicherweise angesteckt. Auf seinem Schenkel war ein Furunkel oder eine Eiterbeule entstanden, die eine seiner Tanten mit Gottes Hilfe und einem Verband aus Kohlblättern geheilt hatte. Zu dieser ebenso heilkundigen wie mitleidigen Tante war Thomas erst nach einem halbtägigen, anstrengenden Fussmarsch gelangt, während dem er vor Schmerzen und Erschöpfung achtzehnmal eingeschlafen war.»29 Platter floh vor einer «grusame pestelentz» aus der Stadt Zürich. Die Eiterbeule, die sich an seinem Bein bildete, lässt vermuten, dass es sich dabei um die Beulenpest handelte. Diese hochansteckende Infektionskrankheit äussert sich in Lymphdrüsenschwellungen in der Leiste und den Achselhöhlen und verursachte einige der tödlichsten Epidemien der Weltgeschichte. Ihr Wüten war so grauenvoll, dass sie nie ganz vergessen wurde. Bei der Pest werden drei grosse Pandemien unterschieden: Bei der ersten handelt es sich um die Pest des Justinian, die in Europa von 531 bis 580 wütete; bei der zweiten um den Schwarzen Tod von 1347 bis 1353. Die dritte Pandemie nahm 1892 ihren Anfang in Südwestchina. 24

Pest


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Zwei Jahre später griff die Krankheit von Kanton (Guangzhou) auf die britische Kolonie Hongkong über und breitete sich trotz aller Schutzmassnahmen immer weiter aus. Verantwortlich dafür war der international vernetzte Hafen Honkongs. 1899 erreichte die Pest Hawaii, im Jahr darauf San Francisco, um 1900 waren Anwohnerinnen und Anwohner aller Ozeane betroffen. Ins kulturelle Gedächtnis eingegraben hat sich vor allem die mittelalterliche Pestpandemie von 1347 bis 1353, über die sehr viel geschrieben wurde – so viel, dass Georg Sticker in seinem Klassiker zur Geschichte der Pest nüchtern feststellt: Ein «Menschenleben [reicht] nicht aus»,30 um alle Literatur über die Pest zu lesen. Quantität ist selten ein Zeichen von Qualität. So hat die Fülle an Darstellungen zum Mittelalter den Blick auf wesentliche andere Aspekte der Geschichte der Pest verstellt. Eine wichtige Korrektur betrifft die Vorstellung, dass sie nur eine zentrale Erscheinung des Mittelalters gewesen sei. Die Pest wütete auch in der Frühen Neuzeit (vor allem im Dreissigjährigen Krieg) und forderte in dieser Zeit wohl ebenso viele Opfer wie im Mittelalter. Im Hinblick auf die Schweiz muss sogar behauptet werden, dass die Pest im 17. Jahrhundert mehr Tote forderte als im Mittelalter. Im Folgenden greifen wir einige interessante Aspekte der mittelalterlichen Pestpandemie heraus, um dann die Pestzüge im 17. Jahrhundert genauer anzuschauen.

Die Übertragung der Pest Typisch für die mittelalterliche Pestpandemie waren zwei Formen: die Beulenpest und die Lungenpest. Erreger beider Formen ist das Bakterium Yersinia pestis, das 1894 durch den Westschweizer Arzt Alexandre Yersin identifiziert wurde. Während der dritten Pestpandemie gelang es ihm unter schwierigsten Bedingungen, in Hongkong den Erreger aus Pesttoten und aus dem Boden eines Hauses, dessen Bewohner an der Krankheit gestorben waren, zu isolieren. Nur wenige Jahre später vervollständigten Paul-Louis Simond und Masanori Ogata das Wissen um die Übertragung der Pest. Sie wiesen nach, dass der Rattenfloh Xenopsylla cheopis und somit auch die Hausratte als Wirte diePest

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nen. Der heutige Kenntnisstand der Übertragung kann wie folgt zusammengefasst werden: «Der Rattenfloh Xenopsylla cheopis nimmt beim Stich einer mit dem Pestbakterium infizierten Ratte den Erreger in sich auf. Im Magen des Flohs vermehren sich die Bakterien und bilden mit dem gestockten Blut eine geleeartige Masse, die den Floh anfüllt und seine Speiseröhre blockiert. Der Floh bleibt hungrig, da frisches Blut nur noch teilweise oder gar nicht mehr in den Magen gelangen kann, und sticht umso mehr. Dabei gelangt infiziertes Blut aus dem Magen bzw. der Speiseröhre des Flohs in den neuen Wirt. Diese Art der Übertragung ist sehr effektiv, wenngleich der Rattenfloh letztlich bei vollem Magen innerhalb von fünf Tagen verhungert. Mittlerweile ist erwiesen, dass auch Menschenflöhe den Pesterreger übertragen können. Nimmt der Menschenfloh Pulex irritans den Erreger auf, so greift der ausgeklügelte Mechanismus der Verklumpungen im Magen nicht. Damit wird das Pestbakterium in diesem Fall nicht so effektiv übertragen. Dafür leben die Flöhe jedoch länger und können auf diese Weise mehr Personen befallen. Bei modernen Pestepidemien ist häufig eine Mischung zu beobachten: Ratten und Rattenflöhe übertragen den Pesterreger zu Beginn, in der weiteren Ausbreitung spielen aber Menschenflöhe und sogar die Kleiderlaus Pediculus humanus humanus eine Rolle. Neuere Forschungen zielen gar darauf ab, dass auch Katzenflöhe (Ctenocephalides felis) an der Übertragung mitwirken könnten.»31 Es spricht viel dafür, dass im Fall der Pestepidemien im Mittelalter die Übertragung von Mensch zu Mensch und damit auch Parasiten des Menschen eine grössere Rolle spielten als die Übertragung des Erregers durch Ratten und Rattenflöhe. Genau zu dieser Schlussfolgerung kommt auch eine Arbeit über die Pestepidemien des 17. Jahrhunderts im Kanton Solothurn. Bei der Lungenpest benötigt das Pestbakterium nicht mehr den umständlichen Weg über den Floh – sei es nun der Ratten- oder der Menschenfloh. Die Krankheit wird durch Tröpfcheninfektion direkt von Mensch zu Mensch übertragen. Der Tod trat hier oft ungemein 26

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rasch ein: In einer Rapperswiler Chronik wird auf die schreckliche Kontagiosität der Pest hingewiesen, die «viele Städte, Dörfer, Klöster, Landstriche und Inseln […] menschenleer» zurückliess. Die Beobachtung, dass ein Gesunder sterben musste, wenn er «in die Nähe eines Kranken oder mit dessen Atem oder Ausdünstung oder Kleidung in Kontakt kam»,32 verrät die zeittypische Synthese von ärztlicher Alltagserfahrung und der Seuchentheorie der Schulmedizin. Das passt zu Erfahrungen in Italien: «An einem Morgen war man gesund, am folgenden schon tot»,33 steht in einer Chronik der Stadt Orvieto aus dem Jahr 1363.

Eine weltgeschichtliche Katastrophe? Die mittelalterliche Pestpandemie wird häufig als Schwarzer Tod bezeichnet, was zu einem Synonym für das Massensterben geworden ist. Allerdings tauchte die Bezeichnung erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Skandinavien auf, also rund 250 Jahre nach den Seuchenzügen. In der Folgezeit setzte sich die Verwendung des Begriffs allgemein durch. Die Farbe Schwarz symbolisierte dabei das Furchtbare und Schreckliche schlechthin, zugleich nahm sie Bezug auf die schwärzlichen Beulen, die durch Blutungen unter der Haut hervorgerufen wurden und als untrügliches Symptom der Pest galten. Der mittelalterliche Mensch wusste nicht, wie sich die Krankheit verbreitete, aber er erlebte das massenhafte Sterben. Die Quellen widerhallen davon. Wissen wir aber, wie hoch der Tribut der Pest in Europa war? «Rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung Europas [wurde] dahingerafft, das wären etwa 25–30 Millionen.»34 Man kann dem Historiker Wolfgang Reinhard nur zustimmen, wenn er meint: «Der Schwarze Tod […] war eine weltgeschichtliche Katastrophe ersten Ranges […] Nur die Folgen eines Atomkriegs mögen ähnlich aussehen.»35 Der Medizinhistoriker Manfred Vasold betont jedoch die Grenzen einer mittelalterlichen Peststatistik: «Die Wissenschaft wird sich damit abfinden müssen, dass Zahlenangaben für die Pestgänge des 14. und 15. Jahrhunderts nicht gemacht werden können.»36 In Bezug auf Italien, das für diese Zeit über weitaus mehr schriftliche Quellen verfügt Pest

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Krankheit und Tod sind durch Corona wieder ins Bewusstsein gerückt. Doch befinden wir uns tatsächlich in der schlimmsten Pandemie aller Zeiten, wie da und dort zu lesen ist? Gab es früher überhaupt vergleichbare Infektionskrankheiten? Wie gingen die Menschen in der Schweiz damit um? War die Pest in der Schweiz so tödlich wie Cholera, Pocken oder Tuberkulose? Diese und weitere Fragen beantwortet der Historiker Daniel Furrer in der ersten Gesamtdarstellung der Seuchengeschichte der Schweiz und stellt damit die aktuelle Lage in einen grösseren historischen Zusammenhang.

Daniel Furrer

«Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr»

«Vor Pest, Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr» – mit diesen Worten beteten Menschen im Gebiet der heutigen Schweiz in der Frühen Neuzeit um göttlichen Beistand gegen die Geisseln ihrer Zeit. Die Reihenfolge – Pest, Hunger und Krieg – ist nicht zufällig und steht für die Grösse der Bedrohung. Hunger und Krieg wurden für die Menschen in der Schweiz jedoch zu Ereignissen der fernen Vergangenheit: Die letzte Hungersnot war im Jahr 1817, der letzte Krieg um 1847. Im Gefolge des Ersten Weltkriegs bekam die Schweiz indes die Auswirkungen der Spanischen Grippe zu spüren: 1918/19 starben rund 25 000 Menschen.

«Vor Pest,

Hunger und Krieg bewahre uns, o Herr» Die Geschichte der Seuchen in der Schweiz

Daniel Furrer

ISBN I S B N978-3-907291-66-5 978-3-907291-66-5

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783907 291665

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