DAS MAGAZIN FÜRS WESENTLICHE
9€
07–08/2013 29. Jg. B 6128
Wachstum ohne Ende?
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Schweiz 16,80 sfr, übrige EU-Länder 9,40 €
Wachstum ohne Ende? Nein: Werde, der du bist!
Weiterwachsen oder einfach da sein. Die Welt in den Augen von Jean Ziegler, Ken Wilber, Helmut Creutz, Isaac Shapiro und anderen. Wie Frauen das sehen
gust en 3. Au d d ., a S n am Konzert a & Ba Special: rem Joshu mit P
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Wachstum ohne Ende? Die Welt ist gespalten – heute nicht mehr in einen sozialistischen und einen kapitalistischen Teil, sondern in die Befürworter und Gegner endlos fortschreitenden Wirtschaftswachstums. Neben der »kreativen Zerstörung« solchen Wirtschaftens gibt es jedoch auch positivere Seiten von Wachstum: unser nicht endendes seelisches, geistiges, spirituelles Wachstum; die Evolution des Lebens auf der Erde; die Zyklen des Werdens und Vergehens.
S. 18 – 51 Aussteigen aus dem Hamsterrad Das Rad der Wiederkehr: Rhythmen können unser Leben beschwingen, Zyklen wie die Jahreszeiten erfreuen und überraschen uns. Die Routinen des Rattenrennens und der Hamsterräder aber zermürben und führen massenhaft zum Burnout. Der Sozialwissenschaftler Rainer Spallek empfiehlt den Ausstieg aus eisernen und goldenen Käfigen.
S. 14 – 17
Integrale Praxis Im »Ken-Wilber-Jahr« 2013 bringen wir verstärkt Texte aus der und über die Integrale Bewegung. Diesmal stellen sich Stefan G. Meyer, Michael Habecker und Torsten Brügge auf die Schultern des Mega-Genies und erklären von dort aus: wirtschaftliche Selbständigkeit als spirituelle Herausforderung; Psychologie als Wissenschaft, die die Innerlichkeit rehabilitieren kann; Gefahrenzonen für den »nur« Meditierenden.
S. 48 – 50, 52 – 56, 58 – 61
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E R O S · L I E B E M E D I T A T I O N
I N H A LT 3
Editorial
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Rainer Malkowski über Das Altern
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Hier & Jetzt: Die Kurzmeldungen
12 Devi, Strahlende – zwei Bildcollagen von Christina von Puttkamer illustrieren einen Text aus dem Vigyana Bhairava Tantra 14 Mut zum Anderssein. Rainer Spallek hat ihn – und empfiehlt den Ausstieg aus Hamsterrädern und vergoldeten Käfigen
Regina König und Hellwig Schinko OFFENE SEMINARE
DAS LEBEN, DIE LIEBE & ICH 1. – 4.8.13 Tantra-Workshop für junge Menschen von 16-26, mit Antje Uffmann & Christian Kirchmair, bei Ulm
DAS LEBEN, DIE LIEBE, ICH… UND DU! 29.8. – 1.9.13 Tantra-Workshop Teil II für junge Menschen von 16-26, mit A. Uffmann und C. Kirchmair, bei Ulm
TANTRA-BODY
Schwerpunkt: Wachstum ohne Ende?
6. – 8.9.13 mit Beatrix Rettenbacher & Jens Hartwig, bei Ulm
LIEBE – DAS GROSSE TOR 18 Werde, der du bist! Wolf Schneider versucht die Integration des Zyklischen mit dem Linearen 22 Wachstum, Wachstum, über alles – Helmut Creutz, die graue Eminenz der Geldreformer, erklärt, wie es zu den Finanz- und Wirtschaftskrisen kommt 28 Atemloses Wachstum. Matthias Mala über das sich aufblähende Ego 32 Persönliches Wachstum mit Assistenz. Wolf Schneider sprach mit Isaac Shapiro über die Qualitäten von Freunden, die auf dem Weg helfen 36 »Wir« lassen sie verhungern. ReinO Kropfgans über Jean Zieglers Kritik am Weltwirtschaftssystem 39 Aus dem Chaos geboren. Bobby Langer kennt die Zeit zwischen zwei Ordnungen, in denen ein neues Universum entsteht 40 Lebensphasen. Maitreyi Piontek über Geburt, Jugend, Alter und Neubeginn im Leben einer Frau 44 Wachstum und Zyklen aus weiblicher Sicht. Eva Steinrücke, 87 Jahre alt, Mutter von sechs Kindern, weiß um die Rhythmen des Lebens 46 Was ist natürliches Wachstum? Maria-Anne Gallen geht mit manchem schwanger und brütet Ideen aus 48 Die spirituelle Kraft der Selbständigkeit hat Stephan Gerd Meyer erfahren – an sich selbst und als Coach
29.9. – 6.10.13 Tantra-Paargruppe im Odenwald
TANTRA YOGA 15. – 20.10.13 Kaschmirisches Tantra mit Daniel Odier/Schweiz, bei Ulm
TANTRA-BODY 8. – 10.11.13 bei Schwäbisch Hall
DER KREIS DER FRAUEN 14. – 17.11.13 bei Schwäbisch Hall Infos & Programm: ARUNA-Institut St. Nepomukstr.13 · 74673 Mulfingen Tel. 07936/6 21 · Fax 079 36/6 46 info@aruna-tantra.de www.aruna-tantra.de
3.Saint Germain Kongress 2013
51 Der Ökonom Joseph Alois Schumpeter über Schöpferische Zerstörung 52 Aspekte einer Integralen Psychologie. Michael Habecker plädiert mit Ken Wilbers Vier-Quadranten-Modell für die Rehabilitierung der Innerlichkeit 57 Jiddu Krishnamurti über Achtsamkeit 58 Achtsamkeit ist nicht genug findet Torsten Brügge, denn Meditieren hebt die Verdrängungsschranke auf 64 Die Scharlatane: Wolf Schneider über eine mystische Gruppe des Hochmittelalters 66 Der dokumentarische Film Die mit dem Bauch tanzen zeigt ein paar lebenslustige Frauen in der Eifel. Die DVD Die Heiler – der Film präsentiert Geistheiler. 68 Bücher: von Charles Eisenstein, Manfred Lütz, Franz Wuketits und anderen 72 Leserbriefe zu (u.a.) »Wie es weitergeht …« (mit Connection) 78 Marktplatz 80 Veranstaltungskalender und Inserentenverzeichnis 82 Vorschau/Impressum
„Du bist der Meister!“ Samstag und Sonntag, 28. und 29. Sept. 2013 10.00 bis 19.00 Uhr
saint-germainkongress.de
, Zeitschrift für Lebenskunst, Weisheit, Humor und ein integrales Verständnis des menschlichen Lebens. Erscheint alle zwei Monate mit einem starken Schwerpunkt. Gegründet 1985, ist Connection Spirit die älteste transkonfessionelle spirituelle Zeitschrift auf deutsch. Fachmagazine über Tantra und Schamanismus aus demselben Verlag ergänzen sie.
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GESELLSCHAFT
Mut zum
Anderssein
»Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst zu sein an eine kranke Gesellschaft«, sagte Jiddu Krishnamurti. Der Sozialwissenschaftler Rainer Spallek fügt hinzu: Es könnte durchaus heilsam sein, nach einem unangepassten, eigenen Weg Ausschau zu halten, nach einem lebendigen, mineralienreichen Seitenstrom jenseits eines alles zermalmenden, schmutziggrauen Mainstreams. Es könnte heilsam sein, aufzubrechen und sich vertrauensvoll auf das Abenteuer Leben einzulassen
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FLICKR.COM © NINA MATTHEWS
Kraft schöpfen in einer erschöpften Gesellschaft
VON RAINER SPALLEK
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GESELLSCHAFT
E
s war ein warmer Sommermorgen am Hauptbahnhof. Ein junger Mann, vermutlich alkoholisiert (woher sollte sonst der Mut zum offenen Widerstand kommen?), ruft genervt der auf den Zug wartenden und also den Arbeitstag erwartenden Menge zu: »Seid ihr alle bescheuert?! Worauf wartet ihr alle? Jeden Tag derselbe Scheiß! Fangt endlich an zu leben!« Das waren seine Worte und sie hallen nach in mir bis heute. Zugegeben, an der Wortwahl könnte man noch ein bisschen arbeiten, dann klingt es vielleicht so: »Das Leben, das ihr führt, verbirgt das Licht, das ihr seid« (Sri Aurobindo).
Finanzkrise und anhängenden Bankenkrächen und Rettungsroutinen (Wort des Jahres 2012) wurden ernsthafte kritische Blicke auf den bislang unsichtbar gehaltenen Wirtschafts- und Fortschrittswahnsinn geworfen – und die Leistungsgesellschaft generell hinterfragt. Doch wie steht es nun um den einzelnen Menschen, der mit verstärkter Arbeitsverdichtung und Multitaskinganforderungen zu kämpfen hat, mit Überall- und Jederzeit-Erreichbarkeit, mit unsicheren Arbeitsverhältnissen und Überstunden, mit Perfektionismus- und Selbstoptimierungszwängen, mit Versagens-, Verlust-, Unterlegenheits-
Aufschrei der Chefärzte Wie stellt sich uns heute unsere moderne Arbeitsgesellschaft dar? Laut Weltgesundheitsorganisation WHO ist der berufliche Stress »eine der größten Gefahren im 21. Jahrhundert«. Dem BKK Gesundheitsreport 2011 (»Zukunft der Arbeit«) ist zu entnehmen, dass inzwischen psychische Störungen rund zwölf Prozent aller beruflichen Fehlzeiten ausmachen. Demnach habe sich »der Anteil der psychischen Erkrankungen in den zurückliegenden dreißig Jahren praktisch verdreifacht«. Zudem seien »seelische Leiden mit einem Anteil von 38 Prozent die häufigste Ursache für Frühverrentungen« geworden (Zeitmagazin-Beilage »Gesund im Job«, November 2012). Auf diese Entwicklung reagierten schon im Jahr 2010 21 Chefärzte der Gruppe »Chefärzte humanistisch integrativer psychosomatischer Kliniken«, um ihrer »persönlichen Betroffenheit und Erschütterung Ausdruck zu geben«. In ihrem Aufruf warnen sie: »Angesichts der vorherrschenden gesellschaftli chen Orientierung an materiellen und äußeren Werten wird die Bedeutung des Subjektiven (differenzierte Betrachtung der inneren Werte und der Sinnverbundenheit) dramatisch unterschätzt [...] Wir benötigen ein politisches Handeln, das bei seinen Entscheidungen die Auswirkungen auf das subjektive Erleben und die psychosozialen Bewältigungsmöglichkeiten der Betroffenen reflektiert und berücksichtigt. Wir benötigen mehr Herz für die Menschen …« (siehe www.psychosoziale-lage.de)
Unsichtbar wird der Wahnsinn … Auf einer Zeltplane der Occupy-Bewegung bei der Kasseler documenta war ein entscheidendes Wort zur Erklärung unserer gesellschaftlichen Situation zu lesen: Gier. Nur wenige Meter entfernt las man das Plakat »Unsichtbar wird der Wahnsinn, wenn er genügend große Ausmaße angenommen hat« (Bertolt Brecht). Mit dem Selbstmord des früheren Torhüters von Hannover 96, Robert Enke, vor allem aber mit der großen
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In unserer Gesellschaft herrscht ein tiefer Sinngebungsgeiz: Mensch – werde unwesentlich!
und Existenzängsten? Er bleibt mit seinen Begrenzungen und Unzulänglichkeiten ein Hemmnis für ungezügelte Umsatz- und Gewinnerwartungen. Immer weniger gelingt es ihm in dieser O.k.-Gesellschaft geschmeidig seine O.k.-Maske überzustreifen, immer häufiger geht er k.o. – nach einer rücksichtslosen Übernahmeschlacht um seine Potentiale, Energien und Motivationen.
Lebenslauf und Existenz-Angst Unsere Arbeitsgesellschaft ignoriert subjektive Wertvorstellungen, Befindlichkeiten, Verletzbarkeiten. Sie ist erfolgreich in dem Bemühen, einen Sinn des Seins jenseits der Arbeitswelt als Illusion erscheinen zu lassen. Tatsächlich definieren Menschen in modernen Gesellschaften ihren Selbstwert fast ausschließlich über ihren Arbeitsplatz. Ich arbeite, also bin ich; ich arbeite nicht, wer bin ich dann überhaupt? Wer die Stationen seiner beruflichen Entwicklung Lebenslauf nennt, der muss in der Tat Existenz-Ängste haben, sobald sein Arbeitsplatz bedroht ist. Solch ein Mensch glaubt womöglich auch Karriere machen zu müssen, um sein Leben zu krönen – nicht ahnend, dass »Karriere« (von frz. carrière) ursprünglich »Rennbahn« bedeutete. Auf engen Bahnen rennend, ein-
geengt von Zielvorgaben, Zeitlimits, Schnelligkeit und Effektivität, ängstigt sich der Eilende vor Stillstand und Stille. Der gesellschaftlichen Anerkennung wegen wollen die so Rennenden perfekt und optimal funktionieren – in einem System, das sich vor Besinnung und Innehalten fürchten und ewigen Fortschritt fordern muss. Inneres Wachstum bedroht äußeres (Wirtschafts-)Wachstum.
Hamsterräder im Freiheitsgefängnis Wer Fortschritt fordert, muss unentwegt fortschreiten ... fort von sich selbst, doch wohin? Kein Ziel, kein Sinn ist erkennbar. In unserer Gesellschaft herrscht ein tiefer Sinngebungsgeiz: Mensch – werde unwesentlich! Man sollte glauben, dass dem modernen Menschen (homo sapiens sapiens: zweimal sapiens, der Wissende, wenn nicht Weise) eigentlich unter gar keinen Umständen sein eigenes Dasein verborgen bleiben kann. Und doch scheint dies der modernen, flüchtigen Gesellschaft vorzüglich zu gelingen. Solange wir unser Ende verdrängen, werden wir uns endlos mit ziemlich belanglosen Dingen beschäftigen. Tod und Leben sind zwei Seiten derselben Medaille: Verdrängen wir das eine, so verdrängen wir das andere. Roger Willemsen spricht von »Sterbebettbildern«, die er sammeln möch te: »Ich will, wenn ich mal sterbe, den Nordpol vor mir sehen. Das wäre das Ende. Ein gutes.« Unerfüllte Sehnsüchte werden am Ende vor dem inneren Auge auftauchen – vierzig Jahre Ackern am Arbeitsplatz, ein gutes Arbeitszeugnis oder ein Lob des Chefs werden es dann nicht bringen. Freiheit! Das große Wort der Freiheit wird von gesellschaftlichen Repräsentanten gerne im Munde geführt, doch scheinen wir eher in einem Freiheits- und Wohlstandsgefängnis zu leben, in dem exklusiv für uns in jeder Zelle ein verlockendes, weil vergoldetes Hamsterrad aufgestellt ist.
Körnerpickermentalität Die Definition von Lebensqualität überlassen wir gerne den Experten. Diese wissen schon, was für uns richtig ist. Und so wissen sie auch um ihre Macht und spielen sie gewinnbringend aus. So machte mir vor kurzem eine Versicherung »ein herzliches TreueAngebot: Ich lade Sie, Herr Spallek, ein, unserem Weg zu mehr Gelassenheit und Lebensqualität zu folgen. Wir haben für Sie ein Paket geschnürt, mit dem Sie jetzt und in Zukunft bei unvorhergesehenen Ereignissen bestens abgesichert sind: Ihr Schlüssel zu mehr Lebensfreude! … Zögern Sie nicht. Nutzen Sie Ihre Zeit für die wirklich wichtigen Dinge im Leben, sehr geehrter Herr Spallek …« Unsere Expertengläubig-
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GESELLSCHAFT
Ratlose Professoren Solche Körnerpickermentalität ist völlig unabhängig von Bildung oder Intelligenz eines Menschen. Vor Monaten arbeitete ich an einem Artikel über Arbeitsbedingungen von Akademikern an Hochschulen. Zuvor erschien in Die Zeit ein großer Beitrag über die Burnout-Gefahr bei Professoren. Ein von mir befragter Hochschullehrer versicherte mir: »Würde das auf einer Konferenz zum Thema gemacht werden, hätten plötzlich alle Wichtigeres zu tun.« Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa schreibt, dass der Effizenz- und Konkurrenzdruck an Universitäten »zu extremem Raubbau an unseren Körpern und Seelen« führe, und dass es Konsens sei unter den Kollegen, dass es in diesem Tempo nicht mehr weitergehe. Doch da ist kein Aufschrei zu hören und keine Courage sichtbar, keine Revolte. Intelligente Menschen erweisen sich als schicksalsergeben, ängstlich und resignativ. Rosa hält »eine individuelle Verweigerungsstrategie« für »überlebensnotwendig«.
Vom Mut, Nein zu sagen Mutlose verbeamtete Professoren können lernen von mutigen, freiberuflichen Künstlern. Stell dir vor, du seist ein bekannter, stark beschäftigter freiberuflicher Künstler und bekämst den ultimativen Ritterschlag
angeboten: deine Teilnahme an der documenta! Mit eigenem Saal nur für deine Werke und völliger autonomer Gestaltungsfreiheit: Na, wäre das was? Und was machst du? Du sagst ab. Der Kölner Künstler Kai Althoff erhielt genau diese Einladung zur documenta 2012, doch ihm war bewusst, dass
erzählen. Eine sehr mutige Entscheidung! Und was macht die Kuratorin? Sie reagiert ebenso mutig, humorvoll und souverän: Auf der documenta war nun ein großer, fast völlig leerer Saal zu bewundern, und irgendwo in diesem großen, leeren Raum stand einsam eine Vitrine, in ihr der Brief mit der Absage.
Inneres Alarmsystem versagt
Wir leben in einem Wohlstandsgefängnis, in dem exklusiv für jeden von uns in seiner Zelle ein vergoldetes Hamsterrrad aufgestellt ist
Der Mut zum Nein-Sagen: Warum tun wir uns so schwer? Erwartungsergeben nicken wir ab und bringen uns so in vermeidbare Stress-Nöte. Lernen wir – als Individuum – denn nur aus persönlichen Katastrophen? Müssen wir erst zusammenbrechen, um aufzubrechen? Und lernen wir – als Gesellschaft – denn nur aus Natur- oder technologischen Katastrophen? Muss es immer erst die Holzhammermethode bringen? Beim Burnout wird aus kleinen Unruhewellen nach und nach eine Riesenwelle, die uns davonzuspü len droht. Was ist nur los mit unserem inneren Alarmsystem? Wir nehmen unsere innere Stimme, Befindlichkeit und Intuition nicht mehr wahr. Wir haben uns zu weit von uns entfernt, wir sind uns außer Sicht- und Hörweite geraten.
Erfolgreich krank bei der Vielzahl anderer Projekte ihm nicht die nötige Zeit bliebe, um gute Ideen zu entwickeln und sie für die documenta umzusetzen. So schrieb er einen Brief an die Kuratorin, entschuldigte sich und sagte ab wegen zu vieler anderer Verpflichtungen. Er würde auch niemandem von dieser Absage Kann man vorankommen, indem man sich um sich selbst dreht?
Der Gestalttherapeut Fritz Perls sagt dazu: »Um den Sollanforderungen der Gesellschaft zu entsprechen, lernen wir, unsere eigenen Empfindungen und Bedürfnisse zu missachten.« Und die Schriftstellerin Christa Wolf: »Entfremdung ist die Einsetzung des Fremden in dir selbst«. Ich möchte ergänzen: durch dich selbst. So verlieren wir die Verbindung zu unserem inneren Wesen und leben das Leben der Anderen. Das tut weh, und früher oder später macht es krank. Die heute übliche Online-Existenz verstärkt noch die Orientierung nach außen und unterbindet die Kommunikation nach innen. All das fördert die Angst vor dem Alleinsein, vor dem In-sich-Gehen, vor der Selbstbefragung. Mitunter sind wir virtuose Außendarsteller, aber miserable Innenpolitiker, denen vor lauter Außenorientierung die Souveränität abhanden kommt. Verschafft sich diese Leere in unserer Seele eines Tages Luft und ruft nach Hilfe, so warten wieder weitere Experten auf uns: u. a. »die BurnoutKliniken, die Lazarette der Arbeitswelt.« Und diese sind, so Die Zeit vom 08. 07. 2010, voll mit Patienten »aus der« (kein Quatsch!) »erfolgreichen Mittelschicht.«
Angst und Widerstand Ein Freund von mir war solch ein sehr gut verdienender Projektleiter für die Firma Siemens in Asien. Irgendwann wollte er nicht mehr und zog gerade noch rechtzeitig die Reißleine. Seine Arbeit erschien ihm zuneh-
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keit droht uns, die wir doch genügend Adler-Gene in uns tragen, zu hühnerhaftem Federvieh zu reduzieren, das im Hühnerstall nach Körnern pickt.
nen ihm zuliebe uns aufopfern, selbstoptimieren und flexibilisieren, soviel wir wollen: Es ist nie genug und treibt uns vor lauter Anpassungszwängen in die eigene Unkenntlichkeit bis zum Verlust von Lebendigkeit und Lebensfreude. Nur wir selbst können uns vor ihm schützen. Man kann es auch so ausdrücken: »Wer fleißig ist wie eine Biene, stark wie ein Stier, ackert wie ein Gaul und abends müde wie ein Hund ins Bett fällt, der sollte mal zum Tierarzt gehen: Vielleicht ist er ja ein Kamel.« (anonym) Muhammad Ali wurde mal in einem Boxkampf in der zweiten Runde der Kiefer gebrochen. Er schleppte sich bis zur 15. Runde durch – und verlor. Warum schleppen wir, die wir weit weniger Geld zu verlieren haben, uns über so endlos viele und quälende Runden, obwohl wir spüren, dass Lust und Kraft schwinden? Warum bevorzugen wir immer das bekannte Unbehagen, statt einmal das Unbekannte zu wagen? Wieso leben wir gegen uns an und ignorieren das so wunderbare Geschenk des Lebens? Einstein stellte uns einmal vor die Wahl: Du kannst so leben, als gäbe es keine Wunder. Du kannst aber auch so leben, als sei alles ein einziges Wunder.
Der Autor verlässt die Tretmühle und ruht im Grünen
mend sinnleer. Die Kluft zwischen dem Sinn seines Tuns und dem Energieaufwand dafür wurde unerträglich. Er kündigte, machte sich auf den Jakobsweg und kehrte inspiriert zurück. Ich lud ihn ein zu meinem Seminar »Berufliche Neu-Orientierung«. Hier bestätigte sich, was er vorher schon geahnt hatte. An-
te seine Frau den Wandel nicht akzeptieren, sie fürchtete Armut und sozialen Absturz. Doch ging er seinen Weg und setzte sich durch gegen die eigenen Ängste und die seiner Frau. Der innere, unbedingte Drang nach sinnvollem (Arbeits-)Leben war für ihn letztlich entscheidend.
Tut Muße!
Warum bevorzugen wir immer das bekannte Unbehagen, statt einmal das Unbekannte zu wagen?
schließend besuchten wir eine Messe für Organisationen, die in der Entwicklungszusam menarbeit tätig sind. Seit zwei Jahren arbeitet er nun bei World Vision. Sein vorher sehr gutes Einkommen hat er gegen einen sehr guten Sinn eingetauscht. Der ganze eineinhalbjährige Suchprozess war von Unsicherheit und Ängsten begleitet; zudem woll-
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Und es geht nicht nur um den Sinn meines beruflichen Tuns; es geht auch um das rechte Maß des Tuns. Es geht um konsequentes Abgrenzen zwischen Arbeits- und Freizeit, um ein Gleichgewicht zwischen Tun und Lassen, Aktivität und Muße. Vielen Vielarbeitern in unserer Gesellschaft möchte man zurufen: Tut Muße! Wie seltsam: Im Neuen Testament sagt Paulus: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« Und es heißt auch: »Müßiggang ist aller Laster Anfang.« Bibelsprüche, die bis heute hart wirken. Gott fände Gefallen an uns: Wir tun so aufgeklärt, doch hier benehmen wir uns wie eine Gesellschaft bibeltreuer Christen. Im Alten Testament ist unter »Sprüche« aber auch zu lesen: »Besser ein trockener Bissen in Ruhe als ein Haus voller Braten und Zank.« Bezeichnend, dass dieser Satz weit weniger bekannt ist. Unsere Gesellschaft scheint des teuren Bratens wegen alles andere links liegen zu lassen und dafür Erschöpfung und Depression in Kauf zu nehmen.
Kamel und Kapitalismus Wir sollten uns klarmachen, dass das System, der Kapitalismus, unersättlich ist. Wir kön-
Einsteinscher Rückenwind Mit diesem Einsteinschen Rückenwind möchte ich auf die Kraft eigenmächtiger Kündigungen hinweisen, wenn Lebens- und/oder Arbeitsplatzbedingungen unerträglich werden. Ich kündigte zweimal als Angestellter – und einmal als Freiberufler mir selbst (und werde das 2014 wieder tun). Ich tat es jeweils für ein halbes Jahr, ging hinaus in die Welt, leerte mich innerlich von beruflichen Zwängen und Alltagsroutinen, öffnete und füllte mich auf mit Erlebnissen, Begegnungen, Lebendigkeit, Dankbarkeit und Liebe zum Leben. Und so kommen wir zum Schluss zu Günter Netzer. Der nämlich wechselte sich einmal – gegen den Willen seines großen Trainers Hennes Weisweiler – in einem DFB-Pokalfinale selbst ein, stürmte von der Reservebank aufs Spielfeld und schoss ein grandioses Tor – ein Siegtor! Also: Der Ball ist rund, soviel ist klar. Und: Er muss ins Eckige, auch klar. Worauf warten wir noch?
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GESELLSCHAFT
RAINER SPALLEK, Jg. 56, Sozialwissenschaftler, Entspannungspädagoge, Suggestopäde, Betriebswirt, Seminarleiter (Wege zum Selbst, berufliche Erfüllung, Buddhismus, Interkulturelles Lernen), Referent (Reisen, Burnout, Meditation. Buddhistische Psychologie), Dozent und Autor. www.lernen-und-leben, info@lernen-und-leben.de
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WACHSTUM OHNE ENDE?
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Atemloses Wachstum
Das Ego weiß so viele Wege, sich aufzublähen in seiner Nichtigkeit. Endlos weiterzuwachsen und unsterblich zu werden ist einer davon. Im Stillstand jedoch wird es als Fiktion enttarnt, fällt in sich zusammen und gibt den Weg frei für das Absolute, Substanzielle, nicht mehr Flüchtige, Beliebige
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VON MATTHIAS MALA
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WACHSTUM OHNE ENDE?
W
achstum ist normal und gesund. Jeder Keim will wachsen, das entspricht seiner Natur. In jedem Keim tickt zugleich eine biologische Uhr. Nach einer gewissen Zeit stirbt jedes Lebewesen. Manchmal stirbt es an unbegrenztem Wachstum, an Krebs. So ist auch das Ende jedes Wachstums normal. Anders das Weltall, nach derzeitigen Theorien dehnt es sich unendlich aus. Hierdurch wird es zwar nicht mehr, sondern nur weiter und verdünnt sich zusehends – bis es am Ende quasi leer sein wird, also dort angekommen, wo es begann: im Nichts.
allmählichen und lebenserhaltenden natürlichen Rhythmus erkennen wir, dass uns unser derzeitiges Wachstum alsbald in den Abgrund führen wird. Geht es so weiter wie bisher, werden wir in wenigen Generationen auch die letzten Ressourcen verbraucht haben.
Ein- und Ausatmen Unserem Verhalten fehlt offensichtlich der natürliche Atem, das Wogen von Werden und Vergehen. Wir holen ständig nur Luft, atmen aber nicht mehr aus. Immer nur Einatmen führt jedoch ganz schnell zum Kol-
Aufstieg und Niedergang Nach der hinduistischen Lehre von der Weltent stehung wiederholt sich dieser Ablauf für immer und ewig. Nach dieser Lehre führt Wachs tum zu nichts außer zu Wandlung. Allerdings sind derart überirdische Wachstumsbetrachtungen unerheblich für die Probleme, die alle Formen menschengemachten Wachstums mit sich bringen. Doch auch diese Wachstumszyklen enden irgendwann, und ihr Ende ist für die betroffenen Menschen stets katastrophal: Dem Beginn des nächs ten Zyklus geht ein allgemeiner Niedergang voraus, der in einem verheerenden Zusammenbruch endet. Auch das ist beinahe ein Naturgesetz, denn obwohl bislang jede Generation mehrmals in ihrem Leben solche Katastrophen durchlief, hat offensichtlich noch keine daraus gelernt. Erinnern wir uns nur an den letzten globalen Niedergang, dem Platzen der Spekulationsblasen und dem Beginn der Finanzkrise 2007. Seitdem wird den daraus resultierenden Folgen mit einem schul denfinanzierten Wachstum getrotzt, worauf nur das Menetekel eines noch gigantischeren Crashs an der Wand aufscheint. Gleichzeitig verheizt das aufgeblähte Wachstum noch mehr Ressourcen, weshalb neben den ökonomischen auch die ökologischen Probleme anwachsen.
Kleine und große Zyklen Zu wachsen, um zu kollabieren, ist offensichtlich eine unvermeidliche Abfolge, ein Kennzeichen der lebendigen Natur. Wir Menschen allerdings wollen uns darein nicht fügen. Wir glauben, in das Rad greifen, die Folge verlangsamen oder die Entwicklung gar ganz hemmen zu können. Schließlich erleben wir, wie die Natur das Wachstum durch Ausgewogenheit und Vielfalt begrenzt und sich hierdurch ihr Gleichgewicht bewahrt. Allerdings ist dies nur ein sehr menschlicher, ein Lebensalter umfassender Blick. Überschauen wir hingegen Jahrhunderte und Jahrtausende, zeigt sich die Natur in stetem Wandel. So waren beispielsweise die Alpen vor 7000 Jahren eisfrei und die Sahara eine grüne Savanne. Doch im Gegensatz zu dem
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lerdings entwickelte sich die Religion nicht im gleichen Maße wie der technische Fortschritt. Im Grunde herrscht seit Buddha, Lao Tse, Jesus, Mani und Mohammed spiritueller Stillstand. Der heutige religiöse Mensch unterscheidet sich kaum von dem des Mittelalters. Sein zentrales Anliegen ist sein persönliches Seelenheil über den Tod hinaus geblieben. Ein spiritueller Impetus kann für das megalomane Streben nach Weltdurchdringung und Weltbeherrschung nicht die Ursache sein. Eher scheint unser vielfältiges Ego der kulturprägende Faktor überhaupt zu sein. Es gehört zwingend zu unserer Entwicklung und formt sich etwa ab dem dritten Lebensjahr. Von da an erkennen wir uns selbst im Spiegel und meinen mit »ich« uns selbst.
Der Welt gegenüber stehen
Zu wachsen, um zu kollabieren, ist offensichtlich eine unvermeidliche Abfolge
laps. Wir haben das Ausatmen verlernt. Blicken wir auf unsere Geschichte, müssen wir sogar feststellen, dass wir es noch nie erlernt haben. Die Parole menschlichen Handelns lautete von der Steinzeit bis heute: Mehr und mehr und immer noch mehr! Wachstum ohne Ende. Mit dem Unterschied, dass sich um Christi Geburt und auch noch im darauffolgenden Jahrtausend gleichbleibend rund 300 Millionen Menschen weltweit auf dem Globus verteilten. Damals war unser Streben nach immer mehr zwar individuell längst problematisch, aber nicht in globaler Hinsicht. Erst der medizinische und technische Fortschritt der Moderne ermöglichte den Anstieg der Weltbevölkerung auf mittlerweile sieben Milliarden Menschen.
2.500 Jahre spiritueller Stillstand Was treibt uns Menschen derart an, dass wir uns alsbald selbst den Garaus machen? Ist es womöglich das Wissen um unsere Endlich keit und unser einfältiger Wunsch, sie zu überwinden? Das kann es nicht sein, meine ich. Schließlich haben wir hierfür mit der Religion einen probaten Trost gefunden. Al-
Das sich dann allmählich verfestigende Selbst bewusstsein entspricht der Vertreibung aus dem Paradies, denn wir sind von nun an nicht mehr in und mit der Welt, sondern beginnen, ihr gegenüber zu stehen. Wir sagen zu allem Du, was nicht wir selbst sind. Das ist der Beginn unserer sozialen und individuellen Entwicklung. Alles, was wir künftig wahr-, auf- und annehmen, schöpfen wir aus der Differenz zwischen dem Ich und dem Du. Ist unser Ich zu Beginn nur ein fluktuierender Nukleus, so wächst es mit dem Erleben seiner Umwelt und gewinnt dabei Struktur und Festigkeit. Fortan ist das Du unverzichtbar für sein Sein. So rückt uns das Ich in einen zwingenden Gegensatz zur Welt, womit wir auch in Konflikt zu ihr geraten – wir haben unsere paradiesische Unschuld verloren. Unserem Sein steht stets ein anderes Sein gegenüber, unser Wollen wird stets von einem anderen Wollen begrenzt. Kinder leiden darunter sehr in ihrer Trotzphase. Ein Prozess, der zudem für das ganze weitere Leben prägend ist, erhält doch in dieser Phase die Entwicklung der sozialen Kompetenz des späteren Erwachsenen entscheidende Impulse. Nebenbei bemerkt, aktuell wurde die Trotzphase durch den neuen Katalog psychiatrischer Diagnosen (DSM-5) als »plötzliche launenhafte Regulationsstörung« pathologisiert. Mal abwarten, wann in einem der nächsten psychiatrischen Diagnosehandbü cher das Ego als eine krankhafte Erscheinung behandelt und diese Behandlung über die Krankenkassen abgerechnet werden kann. Auch Krankheit ist ein Wachstumsmarkt.
Das sich aufblähende Ich Zurück zur Hypertrophie, dem krankhaften Wachstum. In der spirituellen Szene wird das Ego unter Fortgeschrittenen schon gar
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WACHSTUM OHNE ENDE?
nicht mehr pathologisiert, sondern nur noch als Trugbild oder Irrwitz abgetan, denn gerade das Ego-Bashing ist der beste Weg, sein Ego zu verfestigen. Ein Ego, das nur ein Witz oder Trugbild ist, muss nicht mehr hinterfragt werden. Doch ehe es soweit kommt, sammelt das Ego fleißig Selbsterkenntnis und bläht sich dabei immer selbstbewusster auf. So weit, dass ihm der Raum in sich selbst nicht mehr genügt, und es beginnt, sich in anderen Egos zu manifestieren und zu spiegeln. Es wächst über sich hinaus. Dieser Vorgang hat etwas mit der grundlegenden Konstruktion des Egos zu tun. Denn es ist eine Fiktion, die materielle Wirklichkeiten schafft. Wir werden zwar mit zehn Fingern, aber noch ohne ein Ich geboren. Das Ich wächst uns vielmehr zu, verankert sich dabei in verschiedenen Arealen des Gehirns, verknüpft sich dort mit unseren Sinnen, Emotionen, Erinnerungen, Talenten, Visionen sowie mit unserem Charakter und unserem Wissen und Wollen. Diese egozentrierten Verbindungen sind unbestreitbar eine materielle Wirklichkeit. Zudem empfinden wir unser Ego mehr als unseren Körper als unser wesenhaftes Selbst, wes-
er vor einem Jahrzehnt gewesen ist, nur noch wenig gemein hat. Durch Erfahrung und soziokulturellen Einfluss verändert sich unser Ich ständig. Es ist zudem sehr flüchtig: Schlafend ist es meist abwesend; narkotisiert gänzlich stillgelegt; psychisch erkrankt ist es sich selbst entfremdet, und nach einem schweren Hirnschaden oder bei fortschreitender Demenz kaum mehr zu erkennen. Es genügen einige Milligramm einer psychotropen Substanz, um es gründlich zu verwirren oder gar vorübergehend völlig aufzulösen.
Das Ego als psychiatrische Störung? Auch Krankheit ist ein Wachstumsmarkt
Wer bin ich? Ich, Ego oder … höheres Selbst?
bewussten. Das ist eine effektive, westlich individualistische Sicht. In östlichen Kulturen, die eher kollektivistisch ausgerichtet sind, ist das Überich deutlich gewichtiger als das Es, wobei das Ego dann als noch flüchtiger, noch weniger mächtig empfunden wird. In Ost wie West bleibt das Ego flüchtig, unwesenhaft, fiktiv. Nur in der Aktion erfährt es vorübergehend Konstanz, deshalb ist es nicht substanziell, sondern akzidentiell, also unwesentlich. Es ist das zum Wesen Hinzugekommene. Es ist die Person, die Maske, die den Menschen prägt und individualisiert. Das Ego ist wie das Laubwerk, das einen Baum ausmacht, aber selbst nicht der Baum ist. Jeden Herbst fällt es vom Baum ab und entsteht im nächsten Frühjahr erneut. So auch das Ich. Es wandelt sich über die Zeit und verliert sich schließlich. Es ist nur präsent, solange es sich bewegt. Bewegt es sich nicht, etwa im Tiefschlaf oder in meditativer Versenkung, scheint es gar nicht da zu sein. Auch wenn wir nicht denken und uns nicht kontrollieren, ist es nicht da. Ein inaktives Ich gibt es also gar nicht! Unsere Person verschwindet in diesen stillen Spannen des Lebens für eine Weile aus unseren Augen und Gedanken. Deshalb versichert sich unser Ich seiner selbst stets in rascher Reaktion auf sein Verblassen durch erneute Bewegung.
halb die meisten Religionen ein nachtodliches Leben der Person verkünden.
Das Ego als Fiktion Das Fiktive am Ego basiert einerseits auf seiner materiellen Fragmentierung – schließlich gibt es kein abgrenzbares Ich-Areal in unserem Gehirn –, andererseits aber auch auf seiner Flüchtigkeit und Wandelbarkeit. Wir sind, wenn wir am Morgen aufstehen, im Grunde nicht mehr derselbe, der am Abend zuvor zu Bett gegangen ist. Wem das zu theoretisch ist, mag mir immerhin vielleicht zustimmen, dass er mit der Person, die
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Das rastlose Ego Die Aufteilung in Ich und Ego macht Sinn, wenn wir das Ich als die Summe unserer Erfahrungen und das Ego als den Kern des Beobachters seiner selbst verstehen. In spirituellen Kreisen spricht man dazu gerne vom höheren Selbst, und meint damit unter anderem den sich reinkarnierenden Wesens kern. Dabei beschreibt diese Sicht nur die psychische Ichkonstruktion des inneren Beobachters und seiner diversen Persönlichkeitsanteile. Sigmund Freud richtete hierfür drei Kategorien des Egos ein: Es, Ich und Über ich; mit Schwerpunkt auf dem Es, dem Un-
Das Ich will sich selbst erhalten. Sein Überlebenswille entspricht unserem Selbsterhaltungstrieb. Doch anders als unsere Leiblichkeit, die sich durch die Libido erhält und selbst in vollkommener Entspannung bestehen bleibt, muss das Ich, um seine Präsenz zu bewahren, in rastloser Bewegung bleiben. Es muss Gedanken wälzen, tätig sein, Zielen zustreben und stets neue Erfahrungen sammeln, um hierdurch alte Erfahrungen zu festigen oder umzuschichten. Vor allem aber muss es Spuren hinterlassen und Zeichen setzen. Eine Manifestation seiner selbst, egal ob als Graffiti oder frische Spur im Schnee, ist ein Zeugnis unzweifelhafter Wirklichkeit – die Fiktion wird zum Fakt.
Meins! Dauerhafter und stabiler sind jedoch die materiellen Werte, die wir um uns scharen. Als Kind sind es Spielsachen, erwachsen geworden ist es Geld und Gut. Vor allem beweist sich das Ich dann mit seiner ganzen Kraft, wenn es mehr als andere besitzt. Das größere Auto, das schönere Grundstück, die teurere Kleidung, der luxuriösere Urlaub, all das sind Merkmale, die das eigene Ich auch in den Augen der Mitmenschen bedeutender und somit für sich selbst stabiler machen.
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Spuren im Schnee
WACHSTUM OHNE ENDE?
Ja, es verbindet sich mit dem Besitz. Wir erfahren Freude und Stolz, wenn er sich mehrt, und erleiden Trauer und Schmerz, wenn er uns abhandenkommt. Ein Angriff auf unser Hab und Gut wird so zu einem Angriff auf uns selbst.
Das Ich wächst mit seiner Habe. Mit ihm wachsen Selbstwertgefühl, Selbstgewissheit, Ausstrahlung und Habitus. Der Reiche gilt mehr als der Arme. Er wird zum Vorbild, denn er verkörpert Macht. Macht aber ist die Essenz, die ein Ich absolut beweist und deshalb beinahe unerschütterlich fundiert. Mächtige Menschen, seien es Könige oder Weltenlehrer, bleiben über Jahrtausende in Erinnerung. Ein solches Ich muss in der Tat unsterblich sein. Demzufolge strebt jedes Ich nach Macht, und wenn es nur die billige Macht über das eigene Kind oder den Hund ist. Ein Ich, das einem anderen Ich vorschreiben kann, was es tun und lassen darf, durchlebt göttliche Wonnen, denn es wirkt über sich hinaus, indem es ein Mitgeschöpf formt. Es wird zum Schöpfer, dessen Spuren nicht mehr nur im Schnee, sondern im Wesen eines anderen Menschen erkennbar werden.
Still sein. Einfach da sein
Unsterblich werden im Nächsten Edler, doch nicht minder wachstumsintensiv ist die subtile Macht der Mentorenschaft. Vor allem Männer schätzen sie für ihr Ego, denn sie gleicht ein wenig einer jungfräulichen Geburt. Der Ziehsohn, dem eigenen Geist nachgeformt und aus ihm angeleitet, wird zum geistigen Klon. Ein sich derart multiplizierendes Ich hat seine Akzidenz, seinen Anschein, verloren, es ist scheinbar Substanz geworden. Kaum etwas ist befriedigender für einen Meister, als wenn sein Schüler – später selbst zum Meister geworden – sich auf ihn beruft. Es ist Fortleben in seiner besten Form. Ein solches Ego kristallisiert durch Selbsterhöhung. Und dennoch, auch ein solchermaßen ausgehärtetes Ego muss weiter wachsen, weiter an Macht und Einfluss gewinnen. Es darf erst recht nicht rasten, denn ein Sturz in seine Nichtigkeit könnte tödlich enden. Es muss sich seine Eigenständigkeit fortwährend beweisen, indem es sich selbst memoriert und anhaltend missioniert. Alle diese Formen, sein Ich zu stabilisieren, indem man es auf materielle oder ideelle Weise bindet und so vermeintlich multipliziert, gehören zu den Triebkräften eines maßlosen Wachstums. Ein Wachstum, das von Honoratioren zwar in Sonntagsreden verteufelt, doch im politischen Alltag als alternativlos mystifiziert und weiter beschleunigt wird. Es ist das kollektive Ego, das so in libidinöser Manier und überspitzter Be-
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Ein inaktives Ich gibt es nicht. In den stillen Spannen unseres Lebens verschwindet das Ego – für eine Weile
wegung seinem Todestrieb frönt, um letztlich an sich selbst zu ersticken. Da darf kein Ausatmen mehr sein, denn jede Unterbrechung könnte die Substanzlosigkeit des Egos offenbaren und damit einen Stillstand erzwingen, in dem sich das Ich verliert, als bloßer Schein enttarnt, wie ein Blatt, das vom Herbstwind verweht wird.
Ins Paradies hineinwachsen Stellen wir uns darum zum Schluss die Frage, wie das Ich nicht nur im negativen, sondern auch im positiven Sinn über sich hinauswachsen kann. Das entspräche dann der wahren Transzendenz seiner selbst. Das Blatt würde zum Baum, zur zeitlosen Substanz
werden. Das Hinzugekommene würde sich in unnennbarer Tatsächlichkeit lösen, es fiele zurück ins Absolute, ins »Ich bin, der ich bin«. Der Weg dorthin bleibt allerdings, wie so oft, ein Pfad in einem pfadlosen Land. Es gibt kein spirituelles Ziel, auf das ein Ich je weisen oder das es je erreichen könnte. Die Lösung liegt in keinem Plan, sondern allein in unserer ungelenkten Aufmerksamkeit. Denn werden wir uns unseres megalomanen und hypertrophen Strebens bewusst, werden wir unsere egomanische Weiterung im Materiellen wie im Spirituellen von selbst aufgeben. Dann erst können wir ohne Angst ausatmen, weil das Einatmen dem wahren Eros, der Liebe zur Schöpfung gilt. Das Flüchtige belebt uns, Liebe durchweht uns. Und weil sie nicht gehalten werden kann, atmen wir wieder aus, um Atem zu holen. – Das Wachstum hat ein Ende.
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Das Machtstreben des Ich
MATTHIAS MALA, Jg. 1950, Handelsfachwirt, seit 1977 freiberuflicher Künstler, seit 1986 überwiegend Schriftsteller. Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller VS und im Internationalen PENClub. Mehr als 80 Bücher von ihm wurden verlegt. Verheira tet, Großvater einer bezaubernden Enkelin. www.mala.eu
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WACHSTUM OHNE ENDE?
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Wachstum und Zyklen aus weiblicher Sicht
Wachstum oder Wachstumswahn? Was wächst, das muss auch wieder eingehen, was geboren wird, sterben. Was zu groß wird, muss gesundschrumpfen. Dieses Wissen ist uns Frauen eingegeben im Körper, viel mehr als den Männern, sagt hier eine weise alte Frau von 87 Jahren VON EVA STEINRÜCKE
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at er uns wirklich alle schon, der Wachstumswahn? Nein! Meine türkische Zugehfrau und ich, wir sind da anders. Beim morgendlichen KaffeePlausch ist uns beiden klar: Wir sind die Nachhaltigen. Wir lassen nichts umkommen und laufen dem Geschrei nach »neu, neu, neu« und »mehr, mehr, mehr« nicht hinterher. Wir verwenden wieder, geben weiter, lassen zirkulieren. Offenbar ist unsere Energie die weibliche, die bewegt sich im Kreis.
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WACHSTUM OHNE ENDE?
Der Monatsrhythmus Wir sind es gewohnt, uns dem Rhythmus der Wiederholung im monatlichen Geschehen der Menstruation zu überlassen. Meist gelingt das ohne Wenn und Aber, wie bei etwas Selbstverständlichem. Auch beim Gebären und Aufziehen der Kinder erfahren wir die Kraft der Natur, des einfachen, natürlichen Daseins – mal schmerzlich, mal freudig – vertrauen ihr und dem, wie sich alles natürlich regelt. Diese Erneuerung, die uns da alle vier Wochen abverlangt wird, verhindert manches Überschnappen. Das Leben geht in Wellen, wir Frauen »wissen« das mit dem Körper. Auch, dass alles wieder gesundschrumpfen muss, um zum Kompost für eine neue Ebene zu werden. Denn Erneuerung ist etwas anderes – es ist nicht das unendliche Wachstum, hinauf zu den Höhen des Größenwahns und der darauffolgenden Zerstörung.
Der Kreis
Unsere Energie ist die weibliche, sie bewegt sich im Kreis
Auch Entwicklung im wortwörtlichen Sinne bewegt sich kreisförmig: Ich wickle etwas aus, lege es frei und stoße dabei womöglich auf Wunder. In der Kreisbewegung des weiblichen Zyklus erlebe ich durch die Wiederholung neue Erfahrungen, neue Sichtweisen, bewussten Umgang, Vertrauen in die Wiederkehr im Bekannten und Hoffnung auf eine neue Chance. Ich weiß, wovon ich rede; ich habe sechs Kinder geboren und aufgezogen. Für mich und meinen Körper war das genug. Mein Mann hätte gerne noch weiter gemacht, womöglich, um seine Potenz zu beweisen – typisch männlich. Meine Aufgabe war, dafür zu sorgen, dass wir alle immer wieder in der Runde um den Esstisch zusammenkamen, dass es Raum zum Leben gab – früher mal war das im Tipi oder in der Höhle.
Männer und Frauen Das haben wir den Männern voraus, die immer höher hinaus wollen, immer besser, schnel ler, weiter, die zielgerichtet denken und handeln können und dabei von der Erde ab heben, die da am liebsten abdüsen wollen bis zum Mond. Bei alledem, was Männer so gut können, sind sie aber auch zu bedauern, denn ihnen ist es nicht gegeben, das Abenteuer der Geburt zu bestehen. Durch den Körper der Frauen, durch die Mühen der Schwangerschaft und
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Nun schaue ich mit 87 Jahren auf meine Enkel und frage mich, ob diese kleinen Männer in der Lage sein werden, die Welt menschlicher zu gestalten und mehr Weiblichkeit zuzulassen, in gemeinsamer Sache für das Wohl aller. Ich jedenfalls freue mich immer wieder, wenn ich junge Väter erlebe, die ihr Ba by vor sich auf der Brust tragen oder den Kinderwagen schieben.
ru In den Medien allenthalben dringt es durch, dass Frauen im Management in leitenden Positionen das Rundum-Denken verwenden und auch anderes mit einbeziehen. Sie arbeiten vielleicht etwas langsamer, dafür effizienter. Sie jagen nicht mit hängender Zunge einem linearen Ziel hinterher, wobei man viel Schaden anrichten kann.
Erdbewusstsein Wieviel schneller hat die Frauenintelligenz sich das Zielstrebige aneignen können, als sich das männliche Denken zu verlangsamen vermag! Es braucht noch viel Erdbewusstsein der Frauen, die abgeschossene Rakete »Wachstum«, die über unsere Köpfe hinauszuschießen droht, wieder zu bremsen. Was wollen wir auf dem Mars, was sollen die Raketen, die Wahnsinns-Wolkenkratzer? Macht denn diese Gigantomanie Frauen und Kinder glücklich? Lasst uns mehr Freude im Bewahren finden, in der Dankbarkeit für das, was da ist.
Die Spirale Für mich ist die Spirale eine Urform der Natur. Sie zeigt sich in Schneckenhäusern und im Pflanzenwachstum, sie ist die ideale Verbindung von männlich und weiblich. Sie ist eine Kreisbewegung, die sich zugleich linear fortbewegt. Sie führt sowohl zu Entwicklung wie zu Wachstum, ohne dabei auseinander zu driften. Ich erlebe das in meinem langen Leben nun ganz deutlich. Immer wieder komme ich an den Knotenpunkten vorbei, an Schwierigkeiten, die ich schon kenne. Aber jedes Mal blicke ich dabei ein bisschen tiefer in das Problem hinein und merke dann, dass ich mich eine Stufe höher befinde, eine Runde weiter auf der Spirale. Möge das auch der Menschheit so gelingen. [
Geburt entsteht ein lebendiges, eigenständiges Geschöpf, ein Geschenk an das Leben. Das ist selbst einem Bildhauer nicht möglich, und auch keinem anderen Künstler, Ingenieur oder Forscher. Wahrscheinlich ist das der Grund für die irre Jagd der Männer nach dem Kick, nach dem Grandiosen, Einmaligen.
EVA STEINRÜCKE, geb. 1926, lebt in Widdersdorf bei Köln. Ihre Kinder und Enkel leben in Europa und Indien. eva.steinruecke@ t-online.de
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