DAS MAGAZIN FÜRS WESENTLICHE
9€
9–10/2015 31. Jg. B 6128
Wie Sprache Welten erschafft
www.connection.de
Schweiz 16,80 sfr, EU-Länder außer Deutschland 9,40 €
Wie
Sprache
Welten erschafft
Mit Texten von oder über Konstantin Wecker, Wolf Schneider, Nana Nauwald, Roland Rottenfußer, Matthias Mala und anderen
Zauber des Anfangs – und des Endes
In den Jahren, da ich versucht habe, Connection zu verkaufen, musste ich immer wieder feststellen, dass das Interesse an meiner Person größer ist als das an meinem Produkt. Das schmerzt mich noch immer. Eine transpersonale Vision in die Welt setzen und dann feststellen müssen, dass die Leute vor allem auf die Person schauen, das tut weh. Zugegeben, sie schauen nicht nur auf die Person, aber vor allem dorthin, und die Klügeren bewerten die Personen danach, was an Transpersonalem durch sie hindurchschimmert. So weit, so gut – für mich. Aber nicht für mein Produkt. Damit möchte ich euch, liebe Leser, jedoch nicht vom Abonnieren abhalten! Spricht da der Narr, als der ich seit ein paar Jahren so gerne auf diversen Bühnen stehe? Nein, nicht nur.Wer jetzt abonniert, bekennt sich damit nicht nur zu diesem Projekt und seiner Vision, sondern schafft sich damit auch für den Fall der Einstellung der Printveröffentlichungen ein Guthaben
Last call Oder aber dieser »last call«, dieser letzte Aufruf zur Übernahme von Connection fruchtet doch noch. Lob erhalten wir ja seit Jahren in hohem Maße: Wir seien die beste spirituelle Zeitschrift auf Deutsch, die einzige tiefenspirituelle, szenekritische, politische und gesellschaftskritische dieser Art und Tiefe, eine unentbehrliche, visionsstarke Avantgarde für eine lebenswerte Zukunft – aber vom Lob allein kann man nicht leben. Connection trägt sich zwar, aber nur eben gerade so. Die Banken und Weltkonzerne reißen sich nicht um dieses Blatt – warum nur??? –, deshalb müsste es schon ein individueller Unternehmer mit Mut, Vision und Chuzpe sein. Einem solchen würde ich sehr gerne, nach diesen 30 Jahren Aufbauarbeit, mein vorläufiges Lebenswerk übergeben. Also, nichts wie ran an den Tofu, die Zeit ist knapp!
nicht mehr Sagbaren beleuchtet – und das dabei, wie immer bei uns, einige spirituelle Plattitüden aufs Korn nimmt.
Namen und Worte Auch Namen sind nur Worte. Können sie Welten erschaffen? Eher nicht, aber sie können anziehen oder abstoßen. Seit 38 Jahren trage ich neben meinem bürgerlichen Namen auch einen spirituellen (buddhistischen) Namen: Sugata. Den habe ich 20 Jahre lang in der Öffentlichkeit kaum verwendet, wegen der Angst der Deutschen vor unwillkommenen Ostimporten (von Jesus über Buddha bis zu den heutigen Asylsuchenden). Zu viel an Rücksicht? Egal, ich mag diesen Namen. Es klingt darin neben dem männlichen »Wolf« etwas Weibliches an, deshalb möchte ich ihn, so wie Rainer Maria Rilke, nun öfter mal als Dreiklang verwenden. Wörtlich bedeutet Sugata: gut gegangen (im Anklang an gate, gate, paragate).
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Bin ich eine transpersonale Person?
an, mit dem er/sie sich in unserem Shop bedienen kann, mit Heften, die dann wohl bald zu Raritäten werden. Und ich werde weiter publizieren, ganz sicher werde ich das, dann eben nicht mehr in diesen gedruckten Heften unter dem Namen Connection, sondern auf connection.de und anderswo.
Mit herzlichem Gruß Wolf Sugata Schneider
Aussprechbares Wie Sprache unsere Gehirne be täubt oder erleuchtet, dieses Thema fasziniert mich, seit ich als 18-Jähriger Sprachphilosophie zu studieren begann. Nun endlich habe ich dem ein Schwerpunktthema widmen können, das nicht nur Sprachanwender, Weltverbesserer und Sinnsuchende interessieren dürfte, sondern das die Essenz des Religiösen und Spirituellen, des Sagbaren und
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FOTO: ANIELA ADAMS
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ies ist das vorletzte Heft, das ich noch als Verleger mache. Dann wird Con nection in neuen Händen sein oder eingestellt. Wer Connection als Verlag mit allen Rechten, Kundendaten, Geschäftsbeziehungen usw. übernehmen will, muss sich dazu vor dem 15. September entscheiden – soweit der Beschluss unserer AG-Versammlung vom 20. Juni.Wenn bis dahin niemand übernommen hat, gehen die Verlagsrechte zu einem symbolischen Preis an mich selbst über, die Printveröffentlichungen werden eingestellt, und ich werde auf connection.de bloggen.
Editorial
Zur Ab- oder Übergabe von Connection nach 30 Jahren
Wolf Schneider, schneider@connection.de
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Yoga, Heilung, Veganes & mehr … 130 Events – 140 Aussteller und Sie!
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Wie
Sprache Welten erschafft Was kann Sprache, und was kann sie nicht? Diese Frage hat die Philosophie des 20. Jahrhunderts bis in die Grundfesten erschüttert. Die gefundenen Antworten helfen auch dabei, unter den Religionen, Ideologien und spirituellen Weltanschauungen die Spreu vom Weizen zu trennen. Jedenfalls ist Sprache das mächtigste Placebo- und Nocebo-Werkzeug, das uns zur Verfügung steht – wir sollten gut damit umgehen
S. 14 – 49 Urteile nicht!
Kiel
19. – 20. September 2015 Halle 400
Frankfurt
24. – 25. Oktober 2015 Jahrhunderthalle
Moralisiererei und Sündenbewusstsein haben trotz Äonen der Predigten und Ermahnungen die Menschheit nicht gebessert. Ist deshalb das Urteilen generell abzulehnen? Keinesfalls. So wie wir atmen, lieben und erotische Wesen sind, so sind wir auch urteilende Wesen. Besser, wir verdrängen das nicht, sondern lernen, es richtig zu machen
S. 50 – 52
• Gesichtslesen • Mitmachyoga • Show cooking • Glücksworkshops • Klanglounge • Vitalvorträge
Jetzt informieren:
lebensfreudemessen.de
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»I have a dream!« rief M. Luther King. »Imagine, there is no heaven, above us only sky«, sang John Lennon. Träumer können politische Aktivisten sein und sind als solche mächtiger als die ordentlichen Verwalter eines Weltverbesserungsprogramms. Der Sänger und Liedermacher Konstantin Wecker ist ein solcher politischer Romantiker – und seine Lieder bewegen uns mächtig
S. 56 – 59
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CASPAR DAVID FRIEDRICH »DER WANDERER«
Politische Romantik
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Konstantin Wecker über Gott und die Liebe
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Wie es ist – Nachrichten von heute
10 Wie es sein könnte – Nachrichten aus einer Welt von morgen 12 Visuelle Poesie von Christina von Puttkamer
S. 14
Schwerpunkt: Wie Sprache Welten erschafft 14 Sprache und Erkenntnis hängen eng miteinander zusammen, findet Wolf Schneider 22 Sind Religionen nur verschiedene Arten, über dasselbe zu sprechen? fragt Volker Keller 26 Wort-Medizin kann heilen, behauptet Nana Nauwald 30 Sexualität, notleidende Banken und Ewigkeit – so wie wir das wahrnehmen, so haben wir es erschaffen, sagt Saleem Matthias Riek 34 Poeten des Augenblicks – Marianne Gnendinger lobt Sprache als Mittel der Verständigung
S. 26
36 Pro & contra »Spiritualität« – Holdger Platta versucht, einen sehr missverständlichen Begriff auszuloten 39 »Ich bin alles« – Nitya kommentiert den Chan-Meister Linji 40 Vom Schwätzen und Schweigen spricht hier Matthias Mala 44 Heilung durch Worte der Vergebung schafft inneren und äußeren Frieden, sagt Anssi Antila 47 Wittgenstein über Die Verhexung unseres Verstandes durch Worte 48 Entsprechungen entstehen durch Sprache, sagt Agnes Pfeffer 50 Urteilen, aber richtig! empfiehlt Devendro Thomas Matuszek
S. 36
54 WerWasWo 55 Pema Chödron über Das lebhafte Leben im Niemandsland 56 Wiederverzauberung einer ausgedörrten Welt – Roland Rottenfußer schwärmt von Konstantin Weckers romantischer CD »Ohne Warum« 62 Arthur Koestler über den Wind, der die Schiffe segeln lässt 63 Erleuchtung – für Jed McKenna ist Täuschung das größere Wunder 64 Promotion: Der Ippinger Riese ist ein Kraftort mit Charme, meint Frank Duden 66 Promotion: Der Weg zu unserem Wesenskern führt über die Reise nach innen, sagt Selim Aïssel 68 Kino: Die Anfänge von Greenpeace zeigt ein Dokumentarfilm von Jerry Rothwell
S. 40
69 DVD: Die Selbstheilungskräfte mobilisieren – zwei Filme von Mystica.tv 70 Bücher über Weisheit, Niemandsein, Zenfrauen, Ökodorfer und anderes 74 Leserbriefe
S. 44
78 Marktplatz 80 Veranstaltungskalender und Inserentenverzeichnis 82 Vorschau/Impressum
, Zeitschrift für Spiritualität & Politik, Mystik, Ökologie, Lebenskunst und Humor. Erscheint alle zwei Monate mit einem starken Schwerpunkt. Gegründet 1985, ist Connection Spirit die älteste transkonfessionelle spirituelle Zeitschrift auf deutsch. Fachmagazine über Tantra und Schamanismus aus demselben Verlag ergänzen sie.
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WIE SPRACHE WELTEN ERSCHAFFT
Die Wirkung der Worte im schamanischen Bewusstsein Icaros sind Lieder, welche die Schamanen Perus singen, um mit den Geistern zu kommunizieren. Mit ihrem Bild »Icaro« übersetzt Nana Nauwald gesungene Worte (ein Lied) in eine Schwingung aus Form und Farbe
Die Künstlerin Nana Nauwald versetzt sich in ihrem neuen Buch Mein Wort ist mächtig in schamanische Bewusstseinswelten, die sie seit vielen Jahren in Südamerika, Sibirien und Nepal erforscht. In dieser Weltwahrnehmung werden Worte als magisch wirksam verstanden; als in direkter Weise wirkmächtig, das heißt wirksam nicht nur auf dem Umweg dessen, was sie im empfangenden Hörer oder Leser auslösen, sondern direkt in die Welt hinein wirkend VON NANA NAUWALD
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© NANA NAUWALD, »ICARO«
Wort-Medizin
WIE SPRACHE WELTEN ERSCHAFFT
undersames und Unglaubliches habe ich in den letzten sechzehn Jahren erfahren während meiner Zeiten bei indigenen Gemeinschaften im peruanischen Amazonasgebiet, die noch größtenteils in den geistigen Welten des Schamanismus leben. Mein anfängliches Denken, ich würde schon nach einigen Aufenthalten etwas »wissen und verstehen«, verflog mehr und mehr mit der Herausforderung, die alltägliche Lebenswirklichkeit dieser Gemeinschaften und ihrer Schamanen und Schamaninnen ohne romantisierende Brille zu sehen. Respekt, Staunen und Dankbarkeit sind nun nach den vielen Jahren meiner Erfahrung mit Schamaninnen und Schamanen anstelle von »Wissen« getreten. Heute weiß ich nur noch, was ich erlebt habe: dass ich Gast bin in den geistigen Wirklichkeiten schamanischen Welten indigener Völker. Das von ihnen erhaltene Gastgeschenk ist, dass ich die lebendige Verbindung zu meinen europäischen schamanischen Wurzeln vertiefen konnte und feinsinniger wurde zum Erlauschen und auch zum Verstehen aller Erscheinungen von Natur. Durch einige außerordentliche Erfahrungen in Bezug auf Heilung – und auch in Bezug auf Lebensbedrohung – habe ich dabei gelernt, äußerst hellhörig zu sein für die Wirkung von Wort, Gedanken und innerer Absicht.
W
Schadenszauber Es geschah während meines Aufenthalts in der Familie eines sehr alten, traditionell arbeitenden Schamanen, in deren Gemeinschaft ich schon seit neun Jahren einen Platz und eine Hütte habe. Die Stimmung im Dorf war gedrückt und von Angst geprägt. Vor einem Jahr war der Schüler des alten Schamanen mit dreiundvierzig Jahren zu Tode gekommen. Gestorben durch den Schadenszauber eines Schamanen aus dem Nachbardorf, durch einen »Todes-icaro«. Dieser icaro ist ein nur noch wenigen Schamanen bekanntes »Lied«, das, wenn es ein Schamane mit dem Namen einer Person singt, bewirkt, dass diese Person stirbt. So hatte der alte Schamane in seinen Visionen auf der Suche nach dem Verursacher des plötzlichen Todes seines Schülers den Schamanen aus dem Nachbardorf gesehen. Wie fast immer bei Schadenszauber im Schamanismus war Neid die Ursache für diese tödliche Attacke. Der »junge« Schamane aus unserem Dorf hatte mehr Geld-Erfolg mit seiner Heilarbeit als der aus dem Nachbardorf. Hinzu kommt, dass beide vor Jahren zusammengearbeitet hatten und sich der verstorbene junge Schamane von seinem Arbeitspartner getrennt hatte.
Die Menschen der beiden Dörfer hatten begonnen, sich zu meiden – aus Angst davor, dass nun der alte Schamane sich rächen würde durch ebenfalls ein den Tod bewirkendes Schadensritual. Doch das war nicht das Ansinnen des Alten. Sein lebenslanges Wirken ist, wie er immer wieder betont, nicht auf Schaden, sondern auf Heilung ausgerichtet.
Unvernunft und sehr besorgt, ob ich auch keinen Schaden genommen hätte. Lachend beruhigte ich sie, jedenfalls versuchte ich es. Abends bekam ich Durchfall, Übelkeit und fühlte mich fiebrig. Morgens war ich so schwach, dass ich kaum bis zum Klohäuschen kam. Das Fieber stieg. Der alte Schamane kam, rauchte seinen »Schamanentabak«, be-
Das zentrale Wirk-Zeug ist die Kraft der inneren Absicht, des Gedankens, gleich ob das Wort hörbar ist oder nur innerlich gesprochen
So habe ich seine sehr wirkungsvolle Heilarbeit auch in all den Jahren erlebt. Doch Angst, Misstrauen und Feindseligkeit bis hin zu Hass bestimmten die Stimmung in beiden Großfamilien – der des verstorbenen Schamanen und der des tödlichen Schadenszaubers beschuldigten Schamanen. Nun kannte ich auch den beschuldigten Schamanen und dessen Familie. Es hatte zwischen uns nie irgendwelche unangenehmen Vorfälle gegeben, unsere Begegnungen waren von Freundlichkeit bestimmt gewesen. Anfangs traute ich mich nicht, das Nachbardorf zu besuchen, und war verunsichert, wie ich mich verhalten sollte. Bemüht, nicht in die leicht ansteckende Angst-Spannung im Dorf zu verfallen, ließ ich auch andere Gedanken zu: Vielleicht war der junge Schamane ja auch an einer verschleppten TB gestorben, er hatte schon längere Zeit vor seinem Tod heftig gehustet. Oder er war einer Dengue-Infektion erlegen, er soll ja zeitweilig heftige Fieberschübe und Knochenschmerzen vor seinem Tod gehabt haben. Also ging ich eines Tages alleine hinüber ins andere Dorf, auf den Markt der Kunsthandwerkerinnen, wie ich es bei jedem Aufenthalt tat. Die Hütte des beschuldigten Schamanen lag gegenüber dem Markt. So dauerte es nicht lange, und die kleine Tochter des Schamanen rief mich. Mit zurückhaltender Freundlichkeit begrüßte mich der Schamane. Er wollte mir seine Sicht der Anschuldigung gegen ihn erzählen. Geduldig hörte ich ihm zu, ohne meine Meinung dazu zu geben. Welche Meinung hätte ich auch haben können? Alles waren nur verschiedene Worte aus verschiedenen Mündern. Zwischendurch stand der Schamane auf, um mir ein aus einer Flasche in ein Glas geschüttetes Erfrischungsgetränk zu reichen. Ich trank das Glas aus und verabschiedete mich. Auf dem Rückweg kamen mir zwei aufgeregte Frauen aus »meiner« Schamanenfamilie entgegen, die gehört hatten, wo ich gewesen war. Sie waren entsetzt über meine
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blies mich damit, befühlte meinen krampfenden, schmerzenden Bauch und fing an, leise zu pfeifen. Die Frauen wuschen mir stündlich den Kopf mit Wasser ab, in dem Zitronenscheiben und eine fiebersenkende Pflanze eingelegt waren. Irgendeinen bitteren Pflanzensud flößten sie mir ein, ich erbrach ihn sofort. Als es mir für einen Moment etwas besser ging, erzählte ich den Frauen auf ihr wiederholtes, eindringliches Befragen hin, dass ich beim »anderen« Schamanen etwas aus einem Glas getrunken hätte. Ihr Entsetzen war groß, sie holten sofort den alten Schamanen. Er saß neben mir, rauchend und pfeifend, bis die Nacht kam. Dann trank er Ayahuasca, »die Liane der Seele«. Ich schlief ein, von seinen heilsamen Gesängen begleitet. Am Morgen ging es mir schon viel besser, ich konnte mich aufsetzen und auch einen Tee trinken, ohne zu brechen. Der Alte lag schlafend neben meinem Lager. Als er aufwachte, erzählte er mir, was er gesehen hatte: Bevor mir der »andere« Schamane das Glas mit der Erfrischung angeboten hatte, hatte er es beblasen und Schadens absicht in seine Gedanken, seinen Atem und die Worte gelegt. Das Trinken des angebotenen Glases sollte mir einen großen körperlichen Schaden bringen. Für ihn war ich mitverantwortlich dafür, dass sich der junge Schamane aus unserem Dorf von ihm abgewendet hatte, weil er durch meine Unterstützung mehr Erfolg gehabt hatte als er, sein früherer Partner. Noch am gleichen Tag erfuhr ich, dass dieser Schadens-Schamane aus dem Dorf verschwunden war, er hielt sich irgendwo versteckt.
Heilsame Worte Alles, was ich in dreißig Jahren des Lebenswandels in schamanischen Welten erfahren habe – zum Glück größtenteils mit heilsamer Wirkung – hat als zentrales Wirk-Zeug die Kraft der inneren Absicht, die Kraft des Wortes, gleich ob es hörbar ist oder innerlich gesprochen.
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wird durch den Atem nach außen getragen. Der Atem ist Bewegung und Klang, der Klang ist Stimme, ist Wort, ist Lied. Wenn jemand das »ist«, was sie oder er sagt, dann
Wenn jemand das »ist«, was sie oder er sagt, dann wirkt das Wort, dann kann aus dem Wort eine Medizin werden wirkt das Wort, dann kann aus dem Wort eine Medizin werden – zum Nutzen oder Schaden des Menschen, an den das Wort gegeben wird: Wort-Medizin.
Der Sieg des Guten »Das Gute in der Welt existiert im Überfluss, zumindest in Wörterbüchern. Dort wimmelt es von positiven Ausdrücken, von Begriffen für das Schöne, Gute, Wünschenswerte. Mathematiker, Informatiker und Statistiker um Peter Sheridan Dodds von der Universität Vermont können diese Schwärmerei nun mit Daten unterfüttern: Die Wissenschaftler (von pnas.org) werteten mehrere Milliarden Wörter aus, die in zehn verschiedenen Sprachen in Büchern, Zeitungen, dem Internet, in sozialen Netzwerken und anderen Quellen auftauchen. Ihr Fazit ist rosig: In allen
Im Dschungeldorf Santa Clara, im Amazonas-Tiefland von Peru, bringen zwei Mädchen Brennholz nach Hause
Welt entspringende heilsame Kraft wird durch Atem, Stimme, Klang und Wort vom Schamanen auf den Patienten übertragen. Die innere Absicht nimmt »Gestalt« an durch das Wort, und das Wort ist Klang. Auch der Gedanke hat eine »Stimme«, einen Klang. Der Gedanke, aus dem heraus sich die Absicht zur Handlung entwickelt,
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auch im alltäglichen Umgang mit Menschen. So wie es etwa beim Mobbing geschieht: durch Schadens-Worte. Mit besonderer Aufmerksamkeit sind auch die Worte von poli-
analysierten Sprachen haben positiv besetzte Begriffe numerisch eindeutig die Oberhand gegenüber Wörtern für das Negative.« (Sebastian Herrmann in der SZ vom 10.02.2015) »Wort-Medizin« ist auch in unserer HeilKultur ein zentrales Wirkungsmittel, nicht nur in schamanisch orientierten Ritualen und auf anderen Heilungswegen, sondern
tisch verantwortlichen Menschen zu beachten, die sowohl durch gezielte wie auch durch unbedachte Worte gesellschaftliche Wirklichkeiten erschaffen: Es sind Macht-Worte und ausgeübte Wort-Gewalt. Was bringt eine Sache in den erwünschten Zustand? Es ist das Wort. Was beschädigt eine Sache? Es ist das Wort. Was erhält eine Sache in einem guten Zustand? Es ist das Wort. Ein einziges schlecht gebrauchtes Wort vermag einen Krieg auszulösen so wie ein brennendes Zweiglein einen Flächenbrand. (aus Mali)
Die Sprache des Geistes Der geistige Raum, aus dem heraus Schamaninnen wirken, ist gewebt aus den vielfältigen Fäden eines Wissens, das auf Erfahrung und Überlieferung beruht: Alles, was ist, hat eine eigene Kraft und einen seinem Wesen entsprechenden Geist, und dieser Geist hat eine eigene Sprache, ein eigenes Lied. Diese tiefe Verbundenheit mit dem »Lied einer Pflanze«, also mit der Kraft des Pflanzen-Geistes, ist nicht abhängig davon, dass die Pflanze materiell zur Aktivierung von Heilprozessen zur Verfügung steht. Die Energie der Pflanze, ihr Lied wird im Laufe des Erfahrungsweges mit der Pflanze zu einem Teil des Menschen, der mit ihrem Geist arbeitet und von ihm unterwiesen wird. Mit dem vom Pflanzen- oder Tiergeist empfangenen Lied öffnet der Schamane die Türen zu dem Bewusstseinsraum in seiner Kosmologie, in dem sowohl er selbst als auch der Geist, mit dem er sich in seiner Heilarbeit verbindet, »zu Hause« ist. Über diese Zusammenhänge nachsinnend, habe ich einmal den alten Schamanen Reshin Nika gefragt: »Was machst du, wenn jemand tagsüber dringend ein Heilritual braucht, wo du doch nur nachts mit der Hilfe des Geistes der Ayahuasca Kranken hilfst?« Der Alte lachte mich aus: »Ich habe doch immer den Geist und die Kraft der Ayahuasca
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Wenn jemand das ist, was sie oder er sagt, dann ist es »Wort-Medizin«, die wirkt. Und weil »Wort-Medizin« auch in unserer hiesigen Kultur ein wichtiger, wenn auch oft noch nicht sehr beachteter Faktor in schamanisch orientierten Ritualen unterschiedlichster Art ist, auch in jeder Methode der Arbeit mit Menschen, bin ich ihrer Wirkung und ihren Zusammenhängen seit einigen Jahren nachgegangen. Mein Wort ist groß, mein Spruch ist stark. Stärker ist mein Wort als Wasser, höher als der Berg, zugkräftiger als Gold, mächtiger als ein Reicher. Mein Spruch kann nicht durch das Wasser, nicht durch das Feuer, nicht durch die Erde, nicht durch die Luft gestört werden. Wer aus dem Meere das Wasser austrinkt, wer aus dem Felde alles Gras ausreißt, selbst den überwältigt mein Spruch. (Überliefert aus Böhmen/Mähren) Das heilsame Wirken von Heilern und Schamanen wurzelt in allen Traditionen in der Grundvoraussetzung, die »heilerische Gabe« empfangen zu haben, bewusste Verbindung zu den »Geistern« aufnehmen zu können, ein bewusster Anteil an dem geistigen Feld zu sein, aus dem heraus und mit dessen Hilfe sie wirken. Die aus dieser geistigen
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wirken, ohne dass die Pflanze materiell in dem Moment zur Verfügung steht. Seitdem Menschen sich ihrer selbst und der sie umgebenden Natur bewusst sind, solan-
Die Bewohner des Regenwaldes leben in einer magischen Welt der Naturkräfte, zu denen sie auch die Worte zählen
einer Trance oder einer durch Pflanzenmedizin angeregten Vision erhalten. Ausgedachte Worte und Klangfolgen können kei-
ge sie sich selbst und die Erscheinungen der Natur als Anteil des Geistes der ersten Schöpfung erspürt haben, so lange schon ha-
Alles, was ist, hat eine eigene Kraft und einen seinem Wesen entsprechenden Geist, und dieser Geist hat eine eigene Sprache, ein eigenes Lied
ne heilsame »Tiefenwirkung« haben, denn sie sind: aus-gedacht – dem Denken entsprungen und somit: aus!
Das Lied der Pflanze Da hatte der erste Schamane des Volkes der Kariben an der Südküste der Karibik doch eine angenehme Lernzeit inmitten von Geisterfrauen: »Nach der karibischen Tradition war der erste piai, Schamane, ein Mann, der aus einem Fluss ein Lied aufsteigen hörte, beherzt in den Fluss tauchte und nicht mehr herauskam, bis er das Lied der Geisterfrauen auswendig gelernt und von ihnen das Zubehör seines Berufes empfangen hatte.« (aus Mircea Eliade, Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, S. 104) Hat jemand das Wissen der Pflanzen, ihr »Lied« empfangen, und ist er mit dem Geist der Pflanze verbunden, dann ist es auch möglich, mit der Heilqualität einer Pflanze zu arbeiten und auf diese Weise Heilung zu be-
ben sie mit der Botschaft, der Essenz, dem Geist einer Pflanze gewirkt. In unserer heutigen Kultur gibt es viele Methoden, die mit den Schwingungen von »Geist« wirken, ob mit dem Geist von Pflanzen oder Mineralien, Elementen. Homöopathie und das Wandeln von »Information« durch Besprechen, Besingen gehören in den Alltag von Menschen, die sich den Erscheinungen der Natur gegenüber um ein bewusstes, verantwortungsvolles Leben bemü hen. Fällt heute in Gesprächen unter »wachen« Menschen der Begriff »Zauberworte«, »Pflanzenmagie«, so wird frau oft mit dem Bewunderung und Respekt ausdrückenden Kompliment »Kräuterweib«, »Hexe« bedacht.
Ritualarbeit Doch das mächtigste Werkzeug zur Anregung von Heilprozessen ist überall dort, wo
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aus der Verbindung mit der Kraft hilfreicher »Geister« heraus Heilung bewirkt wird, der Atem, das Wort, der Klang, das Lied. In schamanischen Traditionen am Amazonas bekam ich auf meine Fragen nach der Herkunft eines rituellen Gesangs oft die Antwort: »Die Geister singen, deshalb singt auch der Schamane. Er singt das Lied des Geistes.« »Denn jeder Geist des Schamanen hatte seine eigene Liedweise, und hätte man falsch gewählt, wäre der gerufene Geist ausgeblieben. Wenn sich der Geist näherte, klang das so, als ob es sich im Inneren des Schamanen abspielte. Der Schamane gab nämlich Töne von sich, dass man den Eindruck hatte, es wäre sein Tiergeist.« (eine Aussage über Schamanen des Volkes der Tlingit in: Hultkrantz, Schamanische Heilkunst, S. 118) Welche Worte ich auch wähle, die eine Brücke schlagen in das geistige Feld, zu den geistigen Kräften, mit denen ich mich in Verbindung setzen möchte: Die Worte auszusprechen, liegt in meiner Entscheidung und meiner »Macht«. Welche Wirkung die Worte haben, liegt nicht in meiner Entscheidung und nicht in meiner Macht. Worte können, vor allem in spirituellen Ritualen, Träger geistiger Qualitäten und Kräfte sein, die ich als sie Aussprechende kaum ermessen kann. Daher meine Besinnungs-Anregung vor heilsamen Ritualen: Die Worte zu »bedenken«, bevor sie ausgesprochen werden. Nicht nur das »Rufen der Kräfte« erfordert Aufmerksamkeit, sondern auch die Verabschiedung der gerufenen Kräfte und der Dank für ihre Anwesenheit. Dazu kann auch ein Segensspruch gehören, wie der von der keltischen Göttin Morrigan überlieferte, begleitet mit den Worten entsprechenden Bewegungen der Arme: Friede im Himmel Himmel auf Erden Erde unter dem Himmel Kraft einer jeden.
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© BRUNO MARTIN
in mir, auch wenn ich sie nicht trinke, sie ist in mir, immer.« Dieses Lied-Geschenk wird im Zustand einer tiefen, gedankenfreien Konzentration,
Das waren Auszüge aus dem neuen Buch von Nana Nauwald: Mein Wort ist mächtig – Die Kraft der Worte in heilsamen Ritualen, das im September 2015 im ATVerlag erscheint.
NANA NAUWALD, Jg. 47, Künstlerin, Autorin, Dozentin, erforscht seit 32 Jahren schamanische Bewusstseinswelten in Südamerika, Sibirien, Nepal. In ihren Seminaren und Vorträgen inspiriert sie zu einem kreativen Wirken durch im Schamanismus wurzelnde Methoden und Rituale. www.ekstatische-trance.de, www.visionary-art.de
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Vom
Schwätzen und Schweigen Auch spirituelle, mit Begeisterung gesprochene Worte können sich als Hindernis erweisen
Zuhören geht tiefer als Sprechen. Noch tiefer führt uns das Horchen und Lauschen. Es eröffnet heilige Räume und hinter den heiligen Räumen die Stille. Doch Gottes Antwort auf dein Gebet bleibt aus? Das ist Seine Antwort VON MATTHIAS MALA
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as Horchen ist eine uralte, mittlerweile weitgehend vergessene mantische Übung, in die Natur zu lauschen, um aus den Geräuschen die Stimmen von Geistern und Dämonen herauszuhören. Nur wer wirklich hineinhorchen konnte, den trugen die Töne in höhere Sphären. Mit dieser Übung stellen wir uns bewusst auf eine Frequenz ein; vernehmen wir sie, wechseln wir vom Horchen zum Hören. Wir lassen den Klang in uns einwirken. Es ist dies eine ebenso passiv-aktive Haltung wie die hinlänglich vielzitierte Aufmerksamkeit, bei der Beobachter und Beobachtetes eins werden. Hier werden wir zum Ton, zum Klang, zur Schwingung. Sie wirkt in uns, ohne dass wir ihre Wir-
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kung lenken. Dies ist ein Akt konstruktiver Kommunikation. Übrigens ist diese Übung auch inmitten einer großstädtischen Ge räuschkulisse interessant. Dabei werden uns zwar kaum Geister zuraunen, dafür vernehmen wir Zeitströme als okkulte Schwingungen gegenwärtigen Geschehens; wir dringen dabei unter die Oberfläche gewohnter Schau, erfahren Räume und erkennen Beziehungen und Rhythmen, die wir mit offenen Augen nicht bemerkten. Ihrem Fluss zu lauschen kann uns folglich ebenso wie einst, als man noch in den Wald hinein horchte, inspirieren und unsere Intuition beleben. Jedenfalls ist es eine Gelegenheit, um auf Zwischentöne zu lauschen, denn allzu oft
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WIE SPRACHE WELTEN ERSCHAFFT
sind sie es, die bei einer Kommunikation die eigentliche Botschaft mit sich tragen.
In sich hinein horchen Es ist wichtig, zu verstehen, dass vor dem Sprechen das Hören kommt. Kein Kind lernt sprechen, wenn es nicht hört. Den Ton aufnehmen, der Ton zu sein, führt zum Tönen. Das macht aus dem Wesen die Person, die so zu einem himmlischen Instrument wird. Jedes Kind ist somit erst eine Stimme Gottes, ehe es verbildet wird. Diese Verbildung in uns aufzuheben, geschieht ebenfalls durch Horchen und Hören. Wir horchen auf uns, lauschen in uns hinein und hören uns zu, um letztlich in uns die Stimme des Höchsten zu vernehmen. Das ist ein seit Menschengedenken etablierter Heilsweg und der Weg der Mystiker. Damit wir uns auf ihm nicht verirren, müssen wir auch lernen, wegzuhören. Nicht auf die Einreden, Ratschläge und Schwätzereien zu hören, die wohlfeil sind, sobald wir nur eine Bemerkung über das Wetter, geschweige denn über unsere Seelenlage von uns gaben. Tu dies, tu das, du solltest dies, du musst das …
lange wir selbst nicht einmal so genau wissen, ob wir noch unserem Nächsten oder nur dem Geplätscher der eigenen Gedanken lauschen, ja wenn wir nicht einmal mehr unterscheiden können, ob wir zu-, weg- oder überhören? Und wenn ja, wem, dem anderen oder uns selbst? Letztlich wäre es auch egal, denn die Grundlage von Kommunikation – Gemeinsamkeit – ist nur noch dem Anschein nach gegeben. Ein wirkliches Gespräch findet nur selten statt. Für ein Gespräch braucht es wenigstens zwei. Einen, der spricht, und einen, der zuhört. Besser noch, wenn dies abwechselnd geschieht. Ich kenne eine Therapiegruppe, bei der dies das ganze Konzept ist. Einer spricht, die anderen hören zu. Dann spricht der nächste. Niemand wird unterbrochen. Man spricht nur über sich und aus eigener Erfahrung. Es wird nicht diskutiert und kommentiert. Das heilsame Prinzip dieser Gruppe ist das Zuhören.
Oft sind es die Zwischentöne, die bei einer Kommunikation
FLICKR.COM © MALY WANG
Scheinwelten und Falschgold Wir kennen derlei Reden nur zu gut; wir haben solche Erziehung von Seiten des Elternhauses, der Schule, Kirche und der Angleichung an Freunde erlitten. Später dann, sofern wir irgendwann bemerken, dass wir davon längst einen Hörfehler davongetragen haben, brechen wir scheinbar aus, neigen jedoch in Wahrheit nur dazu, fortan auf die windigen Töne eingängiger Weisen zu hören. Auf jene Töne, die uns einlullen und nicht mehr fordern. Es sind wieder die Reden der falschen Freunde, Pfaffen und Therapeuten, die uns nach dem Maul reden, weil sie unsere Energie, unsere Hinwendung und unser Geld wollen. Es ist eine ganz spezielle Art von Mundraub, die da stattfindet. Man seift unsere Stimme und unsere Ohren ein, macht uns so zu Schaumschlägern unter Schaumschlägern und zieht uns in die Scheinwelt globaler Belanglosigkeit. Das wird möglich, weil wir verlernt haben hinzuhören, weil wir zu faul geworden sind zu widersprechen. Dazu gesellen sich die Weltanschauungshändler, die allerorten spirituelles Falschgold bieten. In der Folge sind wir Überredete, vollgeschwatzt und selber schwätzend über dies und das, was wir zusammengeklaubt und zu unserem Wissen gemacht haben; damit wuchernd und spekulierend und somit unseren »geistigen« Reichtum mehrend.
Gespräche Wie aber soll dabei eine mystische Kommunikation mit dem Höchsten stattfinden, so-
die eigentliche Botschaft mit sich tragen
Man mag dagegen einwenden, dass dies keine wirkliche Kommunikation sei. Die Beteiligten erleben dies aber zweifelsfrei anders. Es ist ähnlich einem Beichtgespräch, bei dem man sich im Grunde auch nur das Ohr des Priesters leiht, um sein Gewissen zu entlasten. Wichtig ist allein, dass einem der Priester auch wirklich zuhört. Zuhören ist folglich ein elementarer Aspekt der Kommunikation. Ohne Zuhörer vereinsamen wir. Jemandem sein Ohr zu verweigern, ist die grundsätzliche Verweigerung von Kommunikation. Hören wir uns darum gemeinsam zu, welcher Art die Ansprache ist, der wir uns in einem Gespräch aussetzen.
Erkenne mich! Wobei es immer wieder spannend ist, zu verfolgen, was während eines Gesprächs wirklich geschieht. Wie sich der Mensch durch seine Rede verrät, wie er durch das, was er über eine Angelegenheit sagt oder verschweigt, weit mehr über sich aussagt als über die Sache selbst. Wie er dazu seine Rede durch Zwischentöne in sehr privater Weise illustriert und hierbei häufig Botschaften vermittelt, die er nicht einmal vor sich selbst behaupten würde. Ja, im Reden offenbart sich der Mensch in ganz eigener Weise. Da werden Eitelkeiten, Neurosen, Hoffnungen, Selbstbetrug und
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all das andere emotionale Gerümpel, das wir für gewöhnlich beim Seelenklempner entsorgen, offenbar. Wir entblößen uns durch unsere Rede, wir werden nackt, weil wir erkannt werden wollen. Dies »Erkenne mich!« ist ebenso eine zwingende Forderung an unsere Zuhörer wie ein möglicher Moment der Enttäuschung, denn solches Erkennen erfordert auf der Gegenseite eine gleichwertige Aufmerksamkeit, so wie der Akt der Selbstoffenbarung eine geradezu naive Ehrlichkeit verlangt.
Zwiegespräch mit dem Höchsten Das Gespräch im Hier und Jetzt ist darum nur ein Abbild für das mystische Zwiegespräch mit dem Höchsten, der Beschauung des wortlosen, aber dafür so ungemein beredten Schöpfers. Doch welche Sprache spricht der Herrgott? Die unsrige, die der Verklärten oder die der Sünder? Machen wir es uns deshalb einfach, und sagen: Gott spricht die Sprache der Liebe. Das ist zwar theologischer Schwurbel, aber eine erschlagende Antwort – wenn auch nur für den rhetorischen Behauptungsschlag. Jedenfalls hätten wir nach dieser Behauptung ein enormes Übersetzungsproblem, denn spräche Er in dieser Sprache, müssten wir sie gleichfalls beherrschen. Doch wo bitteschön kann Liebe herrschen, wo Bilder, Vorurteile, Wünsche uns nur eine Romanze mit der Transzendenz vorgaukeln, wir aber außer mit unseren Vorstellungen keine weitere Verbindung zum Himmlischen hegen? Herrgott, höre mir zu! So gipfelt unser Anspruch im Gebet. Verweigert Gott sein Ohr, verweigert er uns die Anerkennung. Er will uns nicht erkennen – als wären wir ihm nicht mehr wesensgleich. Buchstäblich ein unerhörter Vorgang! Aber vielleicht ein paradoxer Vorgang der Verständigung, indem er uns durch seine Taubheit sagt: Sieh, Er ist ein anderer. Er ist anders als du denkst, als du hoffst, als du dir einbildest. Du solltest dir kein Bild von Ihm machen, und dennoch tatst du es. Mit dem Bild aber hast du Ihn verloren. Er ist dir niemals gleich. Du bist in dir selbst gefangen und suchst Erlösung. Er ist ohne Selbst. Er ist frei und grenzenlos. Er sucht nichts, denn Er ist allimmerdar.
Ganz Wort und nicht Ohr? Auch wenn der biblische Gott sich meist recht kommunikativ gab, indem er sich durch Engel, Propheten und Heilige mitteilte, gibt es doch ein fatales Ereignis, wo er ein Gespräch verweigerte, nämlich das Gebet seiner Emanation an sich; als hätte er da zu sich selbst gesagt: »Lieber Gott, nun komm mir nicht menschlich!« Es war das Geschehen am Ölberg, als Jesus darum betete, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge (Markus
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Durch unsere Reden entblößen wir uns und werden nackt in unserem innigen Wunsch erkannt zu werden … und wenn die Antwort (Gottes) dann ausbleibt, versinken wir in der Stille
14, 35-36). Oder konnte Er in diesem Augenblick sich nicht zuhören, weil er Wort und nicht Ohr war? Dabei wäre dies eine Übung gewesen, die wir Menschen tagtäglich vollziehen, nämlich Wort und Ohr in einem zu sein. Denn eine Vielzahl der Gespräche, die wir führen, dienen nur dem Zweck, sich selbst zu überzeugen.
Fortpflanzung im Geiste Wir reden unserem Nächsten in die Seele hinein, um uns dadurch selbst zu begreifen und zu verstehen, und um uns letztlich im anderen festzusprechen, uns in ihm durch unsere Rede zu duplizieren. Fortpflanzung im Geiste, Mentorenschaft, nennt man dies, und sie birgt nicht weniger Erotik als die geschlechtliche Vermehrung. Das Gespräch dient somit der Selbstfindung als auch der Selbsterweiterung. Manch einer fließt förmlich über und kommt aus dem Schwatzen nicht mehr raus. Er beredet die Welt, um sie zu erfassen, spekuliert über alles und nichts, um sie sich endgültig zu erschwatzen und vorstellbar zu machen. Er findet immer neue Sätze für den gleichen Sachverhalt. Das ist nicht nur redundant, sondern fußt auf der uralten Magie des Beschwörens durch Be-
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manchmal sind wir es selbst, die andere in Grund und Boden reden. Es sind Momente narzisstischer Wonne, kurzfristig werden wir durch unser Wort zum Schöpfer. Es ist zugleich eine wiederkehrende Situation zwanghafter Ichfindung und Icherhaltung. Das können durchaus kreative Momente sein.
Das Gespräch im Hier und Jetzt ist nur ein Abbild für das mystische Zwiegespräch mit dem
Ballast fürs Ego
Höchsten
reden. Ein Mensch, der diesem atavistischen Impuls nachgibt und dessen Rede ihn wie ein Wildbach mit sich reißt, leidet an Logorrhoe. Die Ursachen hierfür sind verschieden. Einsamkeit, Zwanghaftigkeit, Ichschwäche wie Ichsucht spielen da häufig mit hinein, ebenso der seltsame Wahn, eine Angelegenheit durch Worte auf den Punkt bringen zu können, als wenn ein Punkt der Gipfel der Erkenntnis wäre. Weswegen am Ende auch nur ein unerfülltes Gefühl zurückbleibt, nachdem wir uns auf eine solche unsinnige Spitze salbaderten. In milderer, beinahe verträglicher Ausbildung ist die Schwatzsucht alltäglich; im Stiegenhaus, in der Kantine, am Stammtisch, überall begegnet sie uns, und
Am schönsten aber gestalten sich diese Momente, sobald wir das Fassbare verlassen und den irdischen Niederungen entfleuchen, um über Gott und seine Welt zu philosophieren. Hier bekommen wir guten Wind unter die Flügel und driften in unbekannte Sphären. Doch selbst wenn wir uns mit unserer Rede bis ans Himmelstor hinplappern; ja, wenn wir für den Augenblick gar glauben, jetzt müsste nur noch das krönende Wort gesprochen werden, auf dass das Ich verglühe und der Heilige Geist in uns führe, ja selbst dann schwätzen wir uns nur weiteren Ballast ans Ego hin. Ich weiß, wovon ich hier spreche. Ich stand mit meiner Rede schon mehrmals vor der Himmelspforte und stürzte böse ab in das kühle Grau meines Ichs. Da tut sich in unerbittlicher Weise die Grenze zum Jenseits
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WIE SPRACHE WELTEN ERSCHAFFT
WIE SPRACHE WELTEN ERSCHAFFT
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Spiritueller Tinnitus Es gibt kein Hinüber. Hier ist unsere Welt zu Ende. Hier wird jede Rede nur zum Echo, mit dem wir unser Selbst betönen und übertönen, um letztlich bis zur Taubheit beschallt und trunken vom Getöse das Tosen selbst für die Stimme des Höchsten zu halten. Dabei handelt es sich nur um einen spirituellen Tinnitus! Womit wir schon wieder beim Hören wären. Es ist eben doch das Hören, das frommt und eine Rede macht. Die Worte klingen im Munde anders als im Ohr, so eine alte jüdische Weisheit. Und im Munde schmecken sie wohl süßer, als sie im Ohr klingen. Vielleicht ist die Schwatzsucht samt ihrer bedingten Taubheit nur der Versuch, den divergierenden Klang zwischen Mund und Ohr zu synchronisieren und zu harmonisieren, damit unsere frommen Wünsche erhört werden. Auch wenn wir nicht daran glauben wollen, dass Er etwas kann, was wir nicht können, nämlich vollkommen zuhören.
Ja, ja – nein, nein Kann unser Wort den Raum beschwingen? Wenn ja, wären wir Erkannte, denn dann schwänge unser Bild im Sein. Nein, nicht unser Bild, wir selbst schwängen mit dem Raum. Das wäre jener erhoffte Übertritt, bei dem das Ich vor der Wand bleibt und das Unerkannte die Grenze übertritt, weil es vom Raum dahinter erkannt wurde. Das Unerkannte im Hier und Jetzt irdischer Dichte, das uns beseelt. Unser Urselbst oder wie
Im Munde schmecken unsere Worte wohl süßer, als sie im Ohr klingen
auch immer du es nennen magst. Nur nenne es nicht den Seelenfunken. Das wäre nur eine Plattheit aus gnostischen Zeiten, die zu den irrwitzigsten Spekulationen der Religionsgeschichte geführt hatte. Halten wir uns besser an den milderen Bruder im Geiste der Gnosis, an den Christus, der in seiner Bergpredigt sagte: »Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist von Übel.« (Matthäus 5, 37). Womit er freilich das Schwören abkanzelte, denn es ging ihm wohl um jene seltsame Art der Gottesbeschwörung, wie ich sie beschrieb, jenes sich Hineinschwätzenwollen ins Paradies. Bleiben wir beim Ja, ja und Nein, nein, und fragen uns: Was sollen wir dem Allwissenden erzählen, dem wir im Grunde ohnehin
nichts mehr erzählen können? Ja, ja, nein, nein ist die Rede der Wahrheit. Da gibt es kein Herumreden, da gibt es nur Offenheit. Diese Forderung gilt zuallererst uns selbst. Wie reden, wie denken wir mit uns? Wie belügen wir uns selbst, damit wir die Lüge schamlos in die Welt setzen können? Wieder ist es unser Selbstbild, das uns hierbei lenkt. Und wieder verschleiern wir den wahren Kern, um die elende Sinnfrage nicht so harsch beantwortet zu bekommen, wie wir das weder wünschen noch hören wollen. Du bist in dir und nicht in mir! – so die göttliche Botschaft.
Momo: ganz Ohr!
Das Ego ist eine Fiktion Nein, das ist nicht mal Seine Botschaft, es ist das tiefe Wissen in uns selbst, das dem Ego eigene Wissen, dass es Fiktion ist. Das Wissen um die eigene Nichtigkeit aber ist Tod. Es ist das brutale Ende jeder Illusion um Fortleben, Weiterwähren, Erkenntnis oder Erleuchtung. Hier käme nur noch die schlichte Aussage: Ja, ich ist nicht, Du bist alles. Und selbst sie wäre noch unwahr, wäre noch verschleiert, eine Anmaßung des Ichs, denn das Du ist unerforschlich, unerkennbar. Hier macht die Nichterhörung unserer Gebete, das Unerhörte, die verweigerte Kommunikation, plötzlich Sinn. Der Gott, der unser Ich alleine lässt, der es nicht aufnimmt, der es dort lässt, wo es ersonnen wurde, wo es Funktion besitzt, der es ins irdische Jammertal verweist, dieser Gott ist ein barmherziger Gott. Denn Er spricht ehrlich mit uns, indem Er nicht mit uns spricht. Du wirst mich niemals hören, also werde ich nie ein Wort an dich richten! Selig sind wir, wenn unser Gott so mit uns spricht. Seine NichtKommunikation ist die schönste und höchste Art spiritueller Kommunikation.
Ankommen
Ein solches Ich wird nicht mehr panisch sein, sobald es ruht. Es wird sich selbst vergessen und die Stille heiligen, die statt seiner schwingt. Dieses Ich hat sich selbst erkannt. Es wird da sein, wenn es notwendig ist, und es wird ruhen, wenn die Handlung beendet ist. Da ist dann niemand mehr, der meinethalben ein Abendrot bejubelt und sich dazu die gesehenen Farben in Gedanken nennt. Da ist Sehen und Freude und kein ergreifender Gedankenschwatz. Da ist auch kein Gebet mehr, da ist nur noch Schweigen. In diesem Augenblick beginnt die stille Zwiesprache mit dem ganz anderen, benennen wir es nicht, es ist unnötig, weil nicht für Sinn und Verstand. Diese Zwiesprache ist Schweigen. Schweigen hie wie da. Ein unbändig kommunikatives, lebendiges Schweigen.
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auf. Sie ist die unsichtbare Wand, an der unser Heiligenschein ein ums andere Mal zerbricht.
Ja, Er hat uns bis auf unseren tiefsten Grund erkannt. Erkennen wir dies, nehmen wir Sein Erkennen auf und werden womöglich still, und unser Durst wird versiegen. Dann mag die Nichterhörung unserer Gebete uns läutern; dann mag das Ich verstummen und sich von der Transzendenz ab- und dem Diesseits zuwenden. Es wird dann ganz dort sein, wo es ist. Es wird angekommen sein. Und diese Ankunft wird eine ganz eigene Art von Erleuchtung sein. Nicht mehr das Höchste wird uns verklären, sondern das schlichte Dasein und Nichtsein.
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MATTHIAS MALA, Jg. 1950, Handelsfachwirt, seit 1977 freiberuflicher Künstler, seit 1986 überwiegend Schriftsteller. Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller VS und im Internationalen PEN-Club. www.mala.eu
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Urteilen aber richtig! Wir wir auf unsere eigenen Urteile hereinfallen, ohne es zu merken
Unter uns Spiris ist es verpönt zu urteilen. Wir tun es aber doch, alle, denn so wie das Atmen kann man auch das Urteilen nicht unterdrücken – und das ist gut so. Es kommt aber darauf an, wie wir es tun. Und es ist gut zu wissen, wo wir uns dabei täuschen. Anhand von Daniel Kahnemanns Buch Schnelles Denken, langsames Denken beurteilt – äh, neeeeeeiiiiiin: betrachtet! – Devendro Thomas Matuszek einige der Tücken und Fallstricke unserer Kompetenzillusionen VON DEVENDRO THOMAS MATUSZEK
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PSYCHOLOGIE
PSYCHOLOGIE
rst die schlechte Nachricht: Wir sind dazu verdammt, zu urteilen! Und jetzt die gute: Das ist gar nicht so schlimm! Urteilen ist etwas Archaisches: Wer nicht im Bruchteil einer Sekunde richtig beurteilen konnte, ob jemand Freund oder Feind ist, hatte wenig Chancen, alt zu werden. Erkennen können, ob eine Situation oder ein Gegenüber gefährlich ist oder nicht, ist seit jeher Grundvoraussetzung für erfolgreiches Überleben. Diese Fähigkeit zu besitzen und sich auf die eigene Beurteilung verlassen zu können ist nützlich und wichtig.
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Freund/Feind-Erkennung heute Doch die Situationen, in denen wir heutzutage Stellung beziehen müssen, sind subtiler geworden. Die Freund/Feind-Erkennung ist heute nicht mehr so klar wie einst. Unser gesamtes System, das mentale und das physische, ist noch auf Lebensumstände ausgerichtet, wie sie vor ein paar tausend Jahren geherrscht haben. Damals hat aber nur für einen kleinen Teil der Menschheit der Wandel vom Jäger und Sammler zum Börsenmakler begonnen. Die meisten Vertreter von Homo sapiens hatten viel weniger Zeit, sich auf die heutigen Verhältnisse einzustellen. Ein Beispiel: Der Erstkontakt von modernen Europäern und steinzeitlich lebenden Bewohnern Neuguineas fand 1931 statt (s.a. Jared Diamond, Vermächtnis – Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können). Nur eine Generation später fliegen die Kinder derer, die damals beim Anblick der fremden Weißen einen Kulturschock erlitten, heute Flugzeuge, fahren Autos, benutzen Smartphones und diagnostizieren Krankheiten in Computertomographen. Es braucht aber etwas länger, damit sich Organismen neuen Anforderungen anpassen können. Da wir Menschen das nicht wahrhaben wollen, leben wir mit unseren alten Programmierungen und unseren noch auf Rohkost ausgerichteten Körpern in einer völlig veränderten Welt und glauben, für die neuen Anforderungen gerüstet zu sein.
Instinktiv richtig gemacht? In einer eindeutigen Situation wie etwa der Begegnung mit einem großen, unfreundlichen Tier, das wütend die Zähne zeigt, oder – in modernen Zeiten – einem Psychopathen mit entsicherter Waffe ist es grob fahrlässig, zu zögern, um sein Urteil noch einmal zu überprüfen und sich die Frage zu stellen, ob der Impuls wegzulaufen auch richtig sei. Das automatische, intuitive, unwillkürliche Urteilen und Handeln hat also nach wie vor eine wichtige Funktion. Doch die Anforderungen werden immer komplexer, und wir sind gefordert, Meinungen zu bilden und Aussagen zu machen, die
sich nicht spontan finden lassen. Wir fangen an zu denken und versuchen, die Welt um uns herum zu erklären und frei von Instinkten zu beurteilen. Doch die in unserem System fest verankerte Verhaltensweise, spontan zu reagieren, ist schneller, und die erklärenden Gedanken danach dienen meistens nur dazu, unser bereits gefasstes Urteil zu bestätigen. Wir Menschen, die nach einem selbstbestimmten Leben streben, haben den Anspruch, vorurteilsfrei und bewusst zu handeln. Urteilen und Bewerten wird als negativ eingestuft, und wir machen uns das Leben besonders schwer, indem wir uns obendrein auch noch dafür verurteilen, dass wir urteilen. Das ist fatal, denn das Urteilen lässt sich nicht vollständig abstellen. Es lässt sich nur beobachten. Wir können es distanziert betrachten und so der Herrschaft der eigenen Urteile entfliehen. Bei der Entmachtung unserer Urteile können uns die erschütternden Erkenntnisse der Wissenschaft helfen,
ne diese Fokussierung wahrnehmen würden. Dadurch verändert sich unsere Realität: Unsere Wahrnehmung ist nun nicht mehr dieselbe wie die anderer Menschen in der gleichen Situation. Wir sind dabei aber nicht nur blind für die Realität, sondern auch blind für unsere eigene Blindheit.
Feste Überzeugungen Dinge, die gegen unser Weltmodell verstoßen, werden zunächst nicht wahrgenommen. Selbst wenn wir darauf aufmerksam gemacht werden, werden sie von uns abgelehnt (wir haben sie schließlich wirklich nicht gesehen). Bis der Beweis erbracht wird. Unglaublich aber war: Selbst dann, wenn bewiesen ist, dass die eigene Wahrnehmung falsch war, bleibt die Mehrheit der Menschen bei ihrer (falschen) Überzeugung. Gerade für einige unserer wichtigsten Überzeugungen haben wir keinerlei Belege, außer dass Menschen, denen wir vertrauen, diese Über-
»Experten sind geblendet von ihrer Brillanz und hassen es, daneben zu liegen« Daniel Kahnemann
die belegen, wie wenig wir uns auf die meisten unserer Urteile verlassen können (s.a. Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken).
Erfahrungen und Vorurteile Urteile sind eine Mischung aus Erfahrungen und Vorurteilen. Unsere Handlungen (und Urteile) werden immer erst von dem spontanen, oft als intuitiv empfundenen Teil unseres Selbst bestimmt. Es generiert fortwährend Vorschläge aus Eindrücken, Intuitionen, Absichten und Gefühlen. Wenn nun Eindrücke und Intuitionen von unserem bewussten Denken unterstützt werden, werden sie zu Überzeugungen, und Impulse werden zu willentlich gesteuerten Handlungen. Doch unser aktives Denken ist sehr faul und neigt dazu, bereits spontan vorgefasste Urteile zu unterstützen, anstatt sie in Frage zu stellen. Selbst unter den günstigsten Umständen fällt es uns schwer, unsere Überzeugungen und Wünsche zu hinterfragen, besonders dann, wenn es am nötigsten ist. Wir Menschen neigen dazu, an unseren Überzeugungen festzuhalten, auch wenn wir wissen, dass sie falsch sind. Wir wollen uns unsere eigene Welt schaffen, in der wir Recht haben, ein Triumph, mit dem wir uns belohnen können, egal, ob das Sinn macht oder nicht. Konzentrieren wir uns auf eine Aufgabe, werden wir blind gegenüber Dingen, die wir oh-
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zeugung teilen. In Anbetracht dessen, wie wenig wir wissen, ist es absurd, wie fest wir an unsere Überzeugungen glauben. In unzähligen Versuchen wurde nachgewiesen, dass viele Menschen weiterhin glauben wollen, was sie sowieso schon glauben, auch wenn es erwiesenermaßen falsch ist. Auch Urteile, die auf Grund von Fakten getroffen werden, unterliegen äußeren Einflüssen, die nichts mit der Urteilsfindung an sich zu tun haben: 1. Beispiel: Richter, die über Bewährungsanträge von Häftlingen zu entscheiden hatten, bewilligten 65% der Anträge unmittelbar nach dem Essen. Die Bereitschaft, Strafen auf Bewährung auszusetzen, sank zunehmend innerhalb der nächsten zwei Stunden auf praktisch Null, bis unmittelbar vor der nächsten Mahlzeit. Nach dem Essen stieg sie wieder sprunghaft an. Anders gesagt: hungrige Richter fällen eher ein negatives Urteil, satte Richter sind wohlwollender. 2. Beispiel: Radiologen, denen Röntgenaufnahmen der Brust vorgelegt wurden, muss ten diese als „auffällig“ und „unauffällig“ einstufen. Als den Experten die gleichen Aufnahmen zu verschiedenen Gelegenheiten gezeigt wurden, widersprachen sie sich selbst in 20% der Fälle. Dies geschah auch bei Wiedervorlage innerhalb weniger Minuten. 3. Beispiel: Klinikärzte einer Intensivstation waren sich bei ihren Diagnosen vollkommen sicher. Der nachträgliche Obduktionsbefund
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PSYCHOLOGIE
Daniel Kahnemann (in Schnelles Denken, langsames Denken) meint dazu: »Wahre Ex-
perten kennen die Grenzen ihres Wissens. Doch die meisten sind Pseudoexperten, die nicht einmal ahnen, dass sie nicht wissen, was sie tun«, und »Durch den sogenannten Priming-Effekt, also durch äußere Eindrücke, Glaubenssätze usw. werden unsere Urteile und Entscheidungen in allen Lebenslagen manipuliert. Unser subjektives Erleben besteht zum größten Teil aus dem, was unser Verstand sich selbst über das erzählt, was vor sich geht. Wir wissen weniger als wir glauben bzw. die Wahrheit ist seltener als gedacht. Trotzdem wollen wir nicht mehr Information, die unsere Geschichte verderben könnte. Es ist unser übermäßiges Vertrauen in das, was wir zu wissen glauben, und unsere scheinbare Unfähigkeit, das ganze Ausmaß unsres Unwissens und der Unbestimmtheit der Welt zuzugeben. Wir können gegenüber dem Offensichtlichen blind sein, und wir sind darüber hinaus blind für unsere Blindheit.«
Experten irren In der Wissenschaft wurde für die Neigung der Menschen, ihre Meinung nicht aus der Vielfalt der Möglichkeiten, sondern lediglich aus dem äußerst eingeschränkten Fundus der eigenen Wahrnehmung zu schöpfen, folgende Abkürzung eingeführt: WYSIATI steht für »What You See Is All There Is«.
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sind aus endlich vielen Schritten bestehende, eindeutige und ausführbare Handlungsvorschriften zur Lösung eines Problems) objektiv die richtige Entscheidung zu treffen, sträuben sich vor allem die Experten dage-
Die Illusion des Verstehens Die meisten Experten unterliegen einer – mein neues Lieblingswort: Kompetenzillusion. Eine weitere Fallgrube auf dem Weg zur Wahrheit ist die Tatsache, dass wir nicht die mächtige Intuition unterdrücken können, dass das, was heute im Rückblick einen Sinn zu ergeben scheint, gestern vorhersagbar war. Die Illusion, wir verstünden die Vergangenheit, fördert die Überschätzung unserer Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen. Anders ausgedrückt: Wenn ein Ereignis eintritt und wir hinterher behaupten, das hätten wir kommen sehen, unterliegen wir in der Regel einem Selbstbetrug. Wenn wir daraus auch noch den Schluss ziehen, Ereignisse in der Zukunft antizipieren zu können, sind wir meistens auf dem Holzweg. Eine mögliche Trefferquote ist reiner Zufall. Das ist die Illusion des Verstehens: fadenscheinige Berichte über die Vergangenheit konstruieren und diese für wahr halten. Ebenso oft fallen wir dem sogenannten Ergebnisfehler zum Opfer: Dumme Entscheidungen, die zufälligerweise trotzdem zu einem guten Ergebnis führen, machen uns glauben, dass es richtige Entscheidungen waren. Aber damit wir gut weiterschlafen können, gibt es ein sicheres Fundament: die beinahe unbegrenzte Fähigkeit, die eigene Unwissenheit zu ignorieren! Nachtrag: Fast alle psychologischen Stu dien werden in den USA durchgeführt, die meisten an den Universitäten, und die Probanden sind in der Regel Psychologiestudenten. Diese gehören fast ausnahmslos einer als WEIRD bezeichneten Gruppe an: White, Educated, Industrialized, Rich, De-
»Trau niemandem – auch nicht dir selbst –, der dir sagt, dass du seinem Urteil vertrauen solltest« Daniel Kahnemann
gen. Sie behaupten, dass sie kraft ihrer Erfahrung und ihres Wissens die besseren Entscheidungen treffen. Tatsache ist aber, dass inzwischen in mehr als 200 Versuchen das Gegenteil bewiesen wurde: In 60% der Untersuchungen waren die auf Statistiken basierenden Ergebnisse besser, in den restlichen 40% gab es Gleichstand mit den von den Experten gemachten Vorhersagen. Es gibt keinen einzigen Gegenbeweis, dass Experten die besseren Prognostiker sind. Kahnemann meint dazu: »Experten sind geblendet von ihrer Brillanz und hassen es, daneben zu liegen. Das Vertrauen, das Menschen in ihre Intuitionen haben, ist kein verlässlicher Maßstab für deren Richtigkeit. Anders gesagt: Trauen Sie niemandem – auch nicht sich selbst –, der Ihnen sagt, dass Sie seinem Urteil vertrauen sollten.«
mocratic – ein nicht besonders repräsentativer, sehr kleiner, atypischer Teil unserer enormen menschlichen Vielfalt. Ursprünglich erschienen in der Osho Times: www.oshotimes.de
DEVENDRO THOMAS MATUSZEK, Jg. 60, Autor, DJ, Meditationslehrer und Scherenschleifer. Lebt z.Zt. in Heideberg. www.zabbermusic.de, devendro@ zabbermusic.de
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Blind für die eigene Blindheit
Eine weitere zuverlässige Methode, sich selbst und andere Menschen dazu zu bringen, falsche Aussagen zu glauben, ist häufiges Wiederholen, weil Vertrautheit sich nicht leicht von Wahrheit unterscheiden lässt. Auch wenn es in vielen Bereichen die Möglichkeit gibt, mit Hilfe von Algorithmen (das
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hat gezeigt, dass sie sich in 40% ihrer Beurteilungen geirrt hatten.
© STEFAN STUTZ
Welche Art der Magie darf’s denn, bitteschön, sein?
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Themenvorschau: 11 – 12/15 Jetzt mal im Ernst: Sind wir komisch? 01 – 02/16 Weisheit und Empathie – warum es gut ist, klug zu sein 03 – 04/16 Transspiritualität – es gibt ein Leben jenseits der Gefängnisse, die wir uns auf dem Weg der Befreiung gebaut haben
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