LIEBE • EROS • WEISHEIT
Connection Special Nr. 95
Feiner genießen
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95/2014
Schweiz: 16,80 sFr, übrige EU-Länder 9,40 €
9€
30. Jg. B 6128
Tantra
Feiner genießen Kann Sensibilität uns retten?
Mit Beiträgen von Regina Heckert, Saleem Riek, Yella Cremer, Gerd Soballa, Wolf Schneider und anderen
Je mehr es dem Menschen um die Lust geht, umso mehr vergeht sie ihm auch schon.
Je mehr er nach Gl端ck jagt, umso mehr verjagt er es auch schon. Viktor Frankl
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EDITORIAL
Als mir im Sommer 1976 das Buch Zen Mind, Beginner’s Mind (ZenGeist, Anfängergeist) des in Kalifornien lebenden Zenmeisters Shunryu Suzuki in die Hände fiel, wusste ich sofort: Das ist es! Du kannst üben und üben und üben, und wenn du dabei doch nicht wenigstens ein bisschen vom Geist eines Anfängers beibehältst, der jede Situation so sehen kann, als wäre sie zum ersten Mal da, dann hast du verloren. So ist es auch im Tantra und auf all den anderen mystischen Wegen. Allem Anfang wohnt ein Zauber inne, und diesen Zauber gilt es beizubehalten, auch wenn man dazulernt und immer wieder dazulernt und dabei reifer, weiser, vielleicht auch professioneller wird. Kann man Liebe lernen? Ja und nein. Es ist wie im Zen: Du kannst üben und immer nochmal üben, aber wenn du es falsch machst, versteifst du dabei, verhärtest und wirst zu einem Könner und Besserwisser, der auf die Anfänger, die es noch nicht können, runterschaut. So wie die von Jesus verachteten Schriftgelehrten, die glaubten, über Gott Bescheid zu wissen, weil sie sich in den Heiligen Schriften besser auskannten als alle anderen.
Heilige Sexualität
Kann man lernen zu genießen? Kann man das Glück erjagen – das Glück des Bewusstseins, lebendig zu sein, verletzlich, vergänglich, liebenswert? Man kann es nicht, und doch üben wir es oder versuchen das wenigstens. Auf dem Weg des Tantra, des übenden Umgangs mit Sexualität und Liebe als etwas Heiligem, gibt es Professionalität, ja, das gibt es. Sehr vieles gibt es da zu lernen, von der Anatomie über die Wirkungen der Hormone, die Gender-Identitäten und die Grundregeln des Funktionierens unserer Psyche in Sachen Sehnsüchte und Anhänglichkeiten, bis hin zu den hohen Künsten, die das Verweilen in Glückszuständen lehren. Und doch geht es nicht so, wie man eine Universität absolviert oder eine Handwerkslehre, denn das Eigentliche, Wesentliche lässt sich gerade auf diesem Weg nicht einfangen. In dem Moment, da man es zu haben glaubt, entwischt es schon wieder, und genau damit sich anzufreunden, mit dieser Unfassbarkeit des Eigentlichen, das ist die Kunst. Nur zu akzeptieren, dass alles vergänglich ist, dass Liebe, Glück, Ekstase und all das wirklich Wertvolle im Leben sich nicht fest-
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nageln lassen, genügt nicht, wir müssen uns damit anfreunden, wir müssen dieses Mysterium ins Herz schließen, damit es unser Leben in der Tiefe bestimmt.
Das Unmögliche versuchen
In diesem Heft stellen wir zum ersten Mal an die zwanzig »Tantralehrer« vor. Das sind Menschen, die glauben, dass sich die hohe Kunst des Tantra erlernen lässt, dass sie etwas dazu beitragen können, dass das einem Lernenden, Übenden gelingt, und die doch wissen, dass das nicht ›funktioniert‹. Denn das Wesentliche ist unsichtbar, und das Tao, über das sich sprechen lässt, ist nicht das wahre Tao. Aber sie versuchen es. Denn einiges geht doch. Manchmal genügt ein kleiner Wink von außen, und etwas öffnet sich in mir. Liebe ist erlernbar, Sex umso mehr und auch die verflixte Kommunikation, die doch das A&O ist in einer Paarbeziehung und in jeder Freundschaft. Geht es also doch? Ich würde mich freuen, wenn dieses Heft dazu beitragen könnte, dass du und sie und er und wir alle es versuchen. Es lohnt sich! Auch wenn sich das Wertvollste im Leben nicht festhalten lässt und es keinen Weg des Tantra gibt, den du gehen kannst, denn: Da wo du gehst, das ist der Weg!
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Foto: Aniela Adams
Der Anfängergeist des Tantra
Wolf Schneider Herausgeber der Connection Tantra-Specials schneider@connection.de Blog: www.schreibkunst.com
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Inhalt
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Editorial
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Inhalt
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Hier & Jetzt – die Kurzmeldungen
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Eine Collage mit Engel von unserer Grafikerin Christina von Puttkamer
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Den Genuss verfeinern hilft beim Umgang mit der Gier, meint Wolf Schneider
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Quantensex ist Regina Heckerts Methode der Verfeinerung unseres Liebeslebens
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Wie das Leben zur Kunst wird, erklärt Gerd Soballa
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Die Yoni-Erweckung mit Massage – Bettina Dornics praktiziert sie
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Die Yoni von Djanaki – ShivAtiLL weiß, wie sie schmeckt
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Der Weibliche Orgasmus – Yella Cremer erklärt seine Varianten
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Die Dynamik des Seins im Ja- und Neinsagen fasziniert Saleem Riek
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Viktor Frankl über die Jagd nach Lust
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Die Tantramassage ist in Bayern angekommen, denn Elvira und Gérard haben dafür gekämpft
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Einswerden mit dem großen Körper – Marietta Schürholz erfährt es beim Essen und Schmecken
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Portraits von Tantra Lehrenden Einzelnen und Paaren 46 Annette Jahn 47 Ludwig Sandner 48 Moti Theresia König 49 Michael König 50 Regina Heckert 51 Padmini Anne Davidis
Die Connection Tantra Specials gibt es seit 1987. Sie haben die Lebensphilosophie des Tantra zum Thema und erscheinen zwei Mal im Jahr.
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S. 24
S. 28
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Feiner genießen
Inhalt
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S. 40
S. 66
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52 Hella Suderow und Christian Schumacher 53 Nika Kölbl 54 Anne Witte-Reuther 55 Saleem Matthias Riek 56 Anke Felice Pospiech und Ralf Lieder 57 Marietta Schürholz 58 Nirvan 59 Nhanga Grunow und Inari H. Hanel 60 Didi Liebold 61 Martin und Marion Abel 62 Saba Voss und Rainer Kesel 63 Klaus Gabriel Peill
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Promotion: Tantra, Tanz & Osteopathie praktiziert Matthias-Govinda Möbius
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Filmtipp: Der Tantramassagefilm von Michaela Riedl
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Bücher über Liebe, Beziehungen, emotionale Reife und die Vagina
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Die Liebenden von Valdaro – seit 5000 Jahren liegen sie dort
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Promotion: Gut Helmeringen, ein guter Platz für Tantra-Seminare
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Marktplatz
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Veranstaltungskalender und Inserentenverzeichnis
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Vorschau und Impressum
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64 Parvati Margarete Florschütz
»Mystik ist nichts Geheimnisvolles. Sie ist nur für Nicht-Mystiker mysteriös« Peter Riedl
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verfeinern Für einen intelligenteren Umgang mit der Gier nach mehr Tantriker lieben den Genuss, pflegen den Sex, und ihr Liebesleben geht ihnen über alles, stimmt’s? Einerseits ja. Andererseits sind sie aber nicht so einseitig innenweltorientiert wie das über sie kolportierte Klischee. Denn die Beschäftigung mit der eigenen Sexualität – auch ihre Sakralisierung – macht uns Menschen tatsächlich liebevoller und mitfühlender. Was dann unausweichlich dazu führt, dass wir uns auch mehr für unsere natürliche und soziale Umwelt einsetzen
Von Wolf Schneider
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ls ich ungefähr 17 Jahre alt war, passierte etwas, das dazu führte, dass mir nie wieder langweilig war. Kinder können sich ja so unendlich langweilen! »Es passiert ja nichts«, sagen sie. Deshalb langweilen sie sich zu Tode und wollen, dass endlich was Aufregendes passiert. Dabei ist die Welt um sie voller Wunder, man muss nur Augen haben, sie zu sehen. Was mir damals als 17-jährigem passierte, ist: Ich merkte, dass ich nur genauer hinschauen musste. Genauer fühlen, genauer wahrnehmen, dann war das Leben auch in den vordem langweiligsten Minuten höchst spannend – beim Warten an der Bushaltestelle oder wenn jemand, den ich aus
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Schneider: Den Genuss verfeinern
fotolia.com © Cheekita
Den Genuss
Man kann ein Salatblatt so essen oder einen grünen Tee so trinken, als gäbe es nichts anderes auf der Welt: nur dies hier, jetzt!
Gründen sozialer Korrektheit nicht unterbrechen durfte, Stuss redete ohne Ende. Ich entdeckte, dass ich dann irgendetwas in mir auf »feiner« einstellen konnte. Ich hörte dann den Tonfall der Stuss redenden Stimme und fand darin eine Melodie oder beobachtete die Menschen an der Bushaltestelle – oder mich selbst, meine Träume und Erwartungen, meine Gedanken und Gefühle.
Die Feinheit eines Bildes
Inzwischen sind ein paar Jahre vergangen. Ich bin immer noch grundsätzlich wissbegierig und manchmal auch abenteuerlustig, aber diese Einsicht von damals, dass ich nirgendwo hin muss, um »mehr« zu bekommen, ist nicht erloschen. Sie hat in der Zwischenzeit zwar dazu geführt, dass ich manch eine Ekstase ausdehnen wollte, aber nie eine Sucht mein Leben beträchtlich erschweren konnte. Sucht ist ja das Mehrhabenwollen von etwas, das Steigernwollen. In allen Fällen passiver Verführung – oh, da gab es viele; Essen, Sex, Bücher, Wissenserwerb – habe ich immer früher oder später auf Verfeinerung schalten können. Man kann als Fotograf mehr Bilder schießen wollen oder sich das eine in feinerer Auflösung anschauen, es näher betrachten, einen Ausschnitt daraus wählen, jeder Schnitt ergibt wieder ein anderes Bild. Man kann Kürbis und Kartoffeln, dieses billige Gemüse, auf eine Art zubereiten und essen, dass kein Fünf-Sterne-Restaurant-Besuch mithalten kann. Man kann ein Salatblatt so essen oder einen grünen Tee so trinken, als gäbe es nichts anderes auf der Welt: nur dies hier, jetzt! Ich lasse den Bissen oder Schluck auf der Zunge zergehen, als sei dies meine letzte Nahrung, die dieser Körper noch genießen darf.
gibt es neue Geräusche, immer ist es anders, der Strom der Veränderungen hört nie auf. Musik? Ich liebe Musik und habe mir ein paar Jahre lang immer wieder dies und das gekauft, zuletzt am ehesten Jazz. Dann nichts mehr. Dann hörte ich nur noch zu, was es an Geräuschen zu hören gab. Ich habe mir seitdem nie wieder eine Musikkonserve gekauft. Doch einmal, da fand ich zwei Straßenmusiker so hinreißend schön, dass ich ihnen was geben wollte, und habe mir ihre CD gekauft, habe sie aber nie angehört. Es erscheint mir als zu manipulativ, mir meine akustische Umgebung verändern zu wollen, um sie meinen Wünschen anzupassen. Stattdessen kann ich einfach meine Wahrnehmung verfeinern, dann höre ich überall Melodien und interessante Geräusche – das Leben ist ein nicht aufhörender Film mit einer Tonspur, die an Belebtheit und Abwechslung nichts zu wünschen übrig lässt.
Die Gier austricksen
Im Frühjahr 1976 bereitete ich mich darauf vor, in ein buddhistisches Kloster einzutreten, wo man nur das essen durfte, was einem gegeben wurde, wo ich also nichts einkaufen konnte und man von Mittag 12 Uhr bis zum nächsten Morgen nichts essen durfte. Da riet mir ein Freund, der ebenfalls ins Kloster gehen wollte (oder dort schon mal Mönch gewesen war, so genau weiß ich das nicht mehr), ich solle mir nochmal eine Flasche Sojamilch besorgen, für ihn war das ein Elixier, reinster Nektar, und die solle ich Tropfen für Tropfen auskosten, bis ich so innerlich gesättigt wäre, dass ich in der Klosterzeit nie wieder an ein Essen oder Getränk würde denken müssen und davon in meiner Meditation gestört würde. Und das tat ich dann, im Bewusstsein, dass ich vielleicht nie wieder im Leben würde Sojamilch trinken dürfen – der Genuss war himmlisch!
Auch heute noch halte ich die Verfeinerung der Wahrnehmung für das beste Mittel gegen Gier. Wir wollen ja immer mehr. Wir wollen es immer noch aufregender, geiler, ekstatischer haben und landen so in der Sucht. Das beste Mittel dagegen ist Verfeinerung: den Tee, das Wasser oder die Erdbeere auf der Zunge zergehen lassen, jeden einzelnen Schluck, jeden Bissen. Und beim Gehen, im Kinhin des Zen oder der Gehmeditation von Thich Nhat Hanh, jeden einzelnen Schritt wahrnehmend auskosten und jede Einzelheit eines jeden Schrittes. Jeden Atemzug. Wir brauchen nicht mehr – wir brauchen nur das Vorhandene genauer wahrzunehmen, das genügt. Indem wir die Gier auf die Verfeinerung ausrichten, auf das Streben, immer feiner werden zu wollen, was ja auch wieder eine Art von Gier ist, tricksen wir sie aus, denn dort kippt sie nicht in die Katastrophe, wie eine Welle sich am Strand aufbäumt und überschlägt, sondern erlischt, verendet, vergeht in der maximalen Feinheit – im Genuss. Das wäre auch eine Lösung für den Wachstumswahn unserer Wirtschaft, der unsere Umwelt zerstört und darüber hinaus auch unsere Seelen, weil er sie im Wahn des Immer-mehr, Immer-besser gefangen hält. Unsere Gier lässt uns jedes Jahr auf eine Gehaltserhöhung hoffen oder wenigstens hoffen, klüger zu werden oder eine Verbesserung unseres Liebeslebens zu erreichen. Wobei das Zunehmen der Klugheit eher möglich ist als das unendliche Anwachsen der Gehälter. Allerdings führt auch der Versuch, klüger zu werden oder bessere Orgasmen zu erzielen, allzu oft gerade nicht dort hin, wo man will: Was die Klugheit anbelangt, ist das Scheitern eine bessere Voraussetzung für ihre Zunahme als das Gewinnen. Und was die Liebe anbelangt, ist es am besten, auch im Zusammensein bei sich sein zu können.
Hören, was da ist
Tantrisches Streben
Die letzten Tropfen
Auch in Bezug auf Geräusche gelingt es mir oft zu hören, was da gerade zu hören ist. Nur das. Jede Sekunde meines Lebens
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In einer gierigen Gesellschaft wird Tantra zunächst als etwas verstanden, das »noch mehr« bietet als normaler Sex. Mehr
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Wir brauchen nicht mehr – wir brauchen nur das Vorhandene genauer wahrzunehmen, das genügt
so schräg angesehen wie früher. Illusionen über das, was Tantra ist, gibt es noch genug, damit müssen wir leben, aber das Fremdeln der Nicht-Tantriker uns gegenüber nimmt ab. Dabei hilft, dass Tantra heute weniger als eine exotische, asiatische oder indianische Art der sexuellen Praxis angesehen und praktiziert wird, sondern mehr als ein reifer Umgang mit Liebe und Sex – und weit darüber hinaus, als ein reiferer Umgang auch mit Sinnlichkeit, dem Körper, dem Diesseits und unserem irdischem Dasein ganz allgemein.
Engagierte Tantriker
Das Klischee, dass Tantriker nur ihr Sexleben verbessern wollen und sich nicht darum scheren, was außerhalb ihrer Betten, Liebesnester und Beziehungsdramen geschieht, hat ja noch nie gestimmt. Heute stimmt es weniger denn je. Tantriker
Genauer wahrnehmen, so leicht, so schwer
Das Fremdeln wird weniger
Aber dieses Einsinken passiert, und es passiert jetzt und in viel höherem Maße als je bei uns, in unserer deutschen und europäischen Gesellschaft. Seit dem vorigem Jahr, mehr noch heuer, ist Tantra dabei, in Deutschland in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. Noch nicht so sehr wie Yoga, aber doch mit schnelleren Schritten als je zuvor. Überall in den Städten und sogar auf dem Land sprießen Tantrainstitute und -zentren hervor, die in den Tantra-Trainings Ausgebildeten eröffnen eigene Praxen, und man wird als Tantriker nicht mehr
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Liebe, mehr Tiefe, mehr Verständnis füreinander, bessere Orgasmen, mehr Gesundheit und auf jeden Fall mehr Glück. Das ist ja nicht ganz falsch – aber auch nicht ganz richtig. Denn dieses Mehr erreicht man nicht, wenn man das Streben, das sich vorher auf Geld, Besitz oder Karriere gerichtet hat, nun auf besseren oder spirituelleren Sex richtet. Mantras und Yantras können helfen, auch Sutren und Rituale, aber wenn die Art des Herangehens sich nicht ändert, wird es nichts mit der Verbesserung des Liebeslebens. Eine neue Szene, ein neues Vokabular – nun nennen wir uns Shiva und Shakti und unsere Geschlechtsteile Yoni und Lingam, gut so, aber war es das schon? Erst wenn es in uns einsinkt, was dieses neue Vokabular bedeutet, kann Tantra seine Wirkung entfalten. Und das kann dauern, wie jeder weiß, der sich auf diesen Weg begeben hat.
ernähren sich besser, sie sind im Umgang miteinander liebevoller und mitfühlender, und sie gehen besser mit Tieren und Pflanzen um. Das weiß ich, weil ich seit vielen Jahren in meinem Umfeld viel mit ihnen zu tun habe. Das Fokussieren auf das eigene Liebesleben und auf den eigenen Körper als Vehikel transzendenter Erfahrungen führt früher oder später offensichtlich zu reiferen Persönlichkeiten, die dann auch besser mit ihrer Umwelt umgehen. Und die sind dann ein Bonus für das, was wir heute überall brauchen: Menschen, die erst ihren eigenen Lebensstil ändern und sich dann dafür einsetzen – nicht als Missionare, sondern als Vor-
Schneider: Den Genuss verfeinern
Je reifer, zufriedener und glücklicher wir sind, umso mehr können wir für das Glück unserer Mitbewohner auf dieser Erde tun bilder –, dass auch andere solche Schritte in ein neues, anderes, besseres Leben tun. Sonst wird es früher oder später auch nichts mehr mit der Erhöhung unseres sexuellen Genusses, denn dazu braucht es neben der inneren Bereitschaft auch einige äußere Gegebenheiten. Trotz all der Fortschritte scheint mir jedoch, dass die Beziehung zwischen der »Arbeit an sich selbst« und der Veränderung der Außen- und Umwelt sowohl von Tantrikern selbst noch zu wenig verstanden wird, als auch von den Beobachtern der tantrischen Subkultur (von denen Tantriker das sowieso nicht erwarten). Sexualität wird zwar gemäß dem Motto »Sex sells« überall auf den Märkten eingesetzt und benutzt, aber nicht verstanden. Und dieser kommerzielle Einsatz der Sexualität ist weit davon entfernt, sexuelle Bedürfnisse zu erfüllen, im Gegenteil, er kitzelt sie eher nur, als sie zu befriedigen, weshalb Soziologen uns als oversexed but underfucked bezeichnen.
Asexuell versus sexbesessen
Übrigens gibt es eine ähnliche Unerfülltheit wie bei den sexualisierten Massen auch bei der Minderheit der Asexuellen, die mir durch einige persönliche Begegnungen kürzlich (wieder) ins Blickfeld kamen. Schätzungsweise ein bis zwei Prozent der Bevölkerung (es könnten auch viel mehr sein, Untersuchungen hierzu fehlen) empfinden keinerlei sexuelles Bedürfnis. Ihnen erscheint die Mehrheit der Bevölkerung als sexbesessen. Ein interessanter Blick, finde ich, der einiges an Wahrheit enthält. Die zölibatären Formen spiritueller Praxis (in Indien als Brahmacarya weit verbreitet und traditionell sehr geschätzt) suchen ja einen Ausweg aus der sexuellen Getriebenheit, mit all dem, was diese an menschlichem und seelischem Schaden anrichten kann, indem sie auf Sex verzichten. Was aber den wenigsten gelingt, wie alle Welt weiß: Die meisten der Zölibatären unterdrücken Sex zu ihrem eigenen Schaden und dem vieler anderer in ihrer eigenen Umgebung, die anderen »sündigen« mit oft schlimmen sozialen und psychischen Folgen; nur ganz wenigen gelingt es, durch sexuelle Abstinenz ihren Geist und Charakter zu verfeinern. Sigmund Freud diagnostiziert unterdrückte Sexualität als Hauptursache der Neurosen, sein Schüler Wilhelm Reich sogar als Grundübel fast aller charakterlichen Deformation bis hin zum »faschistischen Charakter«, und der Kleriker Eugen Drewermann legte dann sozusagen seine Kollegen auf die Couch (in seinem Opus Magnum Kleriker, Psychogramm eines Ideals). Die Tantriker haben im Umgang mit der sexuellen Gier einen anderen Ausweg gefunden: die Verfeinerung. Sensibler werden im Umgang mit sich selbst, mit Dingen, Mitmenschen und Tieren, mit allem. Nicht zuletzt auch mit Kindern! Die ja als sexuelle Wesen zur Welt kommen, empfindsam und verletzlich, und dann je nach Kultur mehr oder weniger stark in ihrer Sexualität von der umgebenden Gesellschaft geprägt werden, meist in Richtung auf: Das darfst du nicht, das tut man
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nicht, lass das – womit wir die Unterdrückung und Verurteilung eines menschlichen Grundbedürfnisses und die daraus resultierenden psychischen Krankheiten und sozialen Verirrungen an die nächste Generation weitergeben.
Das Elend in der Welt
Wir leben in einer Welt voller Kriege und Umweltzerstörung, in der idiotische alte Religionen noch immer den Geist der Menschen gefangen halten. Weit über 100 Millionen Frauen sind nicht nur sexuell unterdrückt – das gilt wahrscheinlich für die Mehrheit – sondern genital verstümmelt; laut UNICEF gilt das für 125 Millionen Mädchen und Frauen, also 3–4 % der weiblichen Weltbevölkerung. Eine Milliarde Menschen hungert oder ist mangelernährt. Ein Sechstel der Weltbevölkerung kann weder lesen noch schreiben, ein Viertel lebt von weniger als einem Euro pro Tag. Während wir uns damit beschäftigen, ob unsere Orgasmen echt ganzkörperliche sind, die bis in unsere Zehen- und Haarspitzen reichen …
Glückliche Menschen tun Gutes
Ich meine, dass wir uns durchaus mit unserer Genussfähigkeit beschäftigen dürfen und das sogar sollten, denn als griesgrämige, körperlich wie geistig verkümmerte oder verklemmte Menschen werden wir ganz sicher nicht den Armut erzeugenden Weltkapitalismus aus den Angeln heben und das Patriarchat beseitigen, und ganz sicher auch nicht der Genitalverstümmelung Einhalt gebieten oder die Abholzung der Urwälder verhindern. Je reifer, zufriedener und glücklicher wir sind, je mehr wir mit uns selbst im Reinen sind und in uns ruhen, je weniger wir als Aktivisten welcher Agenda auch immer gegen uns selbst ankämpfen, umso mehr können wir für das Glück unserer Mitbewohner auf dieser Erde tun, denn Genussfähigkeit und Mitgefühl hängen eng miteinander zusammen. Wer sich selbst Gutes tut und dabei den engen Zusammenhang sieht zwischen dem eigenen Genuss, der eigenen Gesundheit und dem eigenen Glück und dem aller anderen Wesen auf der Welt, wird viel eher Gutes für andere tun als ein grober, gieriger oder verklemmter Mensch. Deshalb brauchen wir nicht nur ein Ergrünen der Welt, eine ökologische Revolution, sondern auch eine tantrische, die unsere innere Natur befreit. n
Wolf Schneider, Jg. 1952. Autor, Redakteur, Kursleiter. Studium der Naturwissenschaften und Philosophie (1971–75) in München. 1975–77 in Asien. 1985 Gründung der Zeitschrift Connection. Seit 2008 Theaterspiel & Kabarett. Kontakt: schneider@connection.de
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Leben zur Kunst wird Von Gerd Soballa
e perfekter unsere postmoderne Zivilisation wird, desto mehr laufen wir Gefahr, in unseren Sinneswahrnehmungen und in unserem feinen Empfinden zu verarmen. Indi gene Völker wussten noch in ihrer Alltagswelt und auf ihren Streifzügen durch die Natur zwischen Dutzenden von fein nuancierten Grüntönen zu unterscheiden. Wenn dagegen wir Heutige uns fortbewegen – in Autos, Zügen und Flugzeugen –, die eine Hand am Laptop, die andere am Handy, nehmen wir in der Regel überhaupt keine Farben und schon gar keine Farbnuancen mehr wahr. »Da braut sich einiges zusammen: massenhafte Sehnenscheidenentzündungen an den ›WhatsApp-Daumen‹, deutliche Häufung von Unfällen im Straßenverkehr, weil die Leute sogar noch auf der Autobahn die Welt wissen lassen müssen, dass sie gerade auf der Autobahn fahren, und wenn die ers ten Jugendlichen mit Sprachschwierigkeiten versuchen, sich durch Wischbewegungen über den Mund zu verständigen, dann sollten wir uns mal Gedanken machen«, schreibt Mathias Siebold in La Palma Aktuell. Er muss es wissen, denn unter spanischen und palmerischen Jugendlichen gibt es kaum mehr welche, die ohne Handy in der Hand unterwegs sind –
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ob am Steuer, in der Stadt, in der Natur, beim Essen, vielleicht sogar im Bett.
Technik als Zeit- und Raumfresser
Je mehr wir freiwillig »ubiquitär« werden, d.h. allgegenwärtig zu jeder Tages- und Nachtzeit und an allen Orten erreichbar sind, desto mehr wird dies von uns erwartet und zur Pflicht. Wie so vieles in unserer Technik, das als hilfreich und zeitsparend begann und dann zum Stress erzeugenden Zeitund Raumfresser wurde. Doch diese Phänomene betreffen nicht nur die Kommunikation, sondern nahezu alle Bereiche in unserer gegenwärtigen Lebenswelt. Wir sind nicht nur als gläserne Bürger allgegenwärtig geworden, sondern bis zum Rand übervoll – überreizt und abgestumpft – und so zu instrumentalisierten und hyperperfektionierten Funktionsträgern geworden. Der Preis dafür ist oft ein Nicht-Funktionieren, wie z.B. bei Staus auf Autobahnen. Wer mit diesem Zuviel nicht mehr zurecht kommt, bezahlt mit seiner Lebensenergie, mit Überforderung und Stress, Depression und Burnout, und kann an der
Soballa: Wie das Leben zur Kunst wird
Claude Monet, Seerosen, 1915
Wie das
Sensibler werden können wir durch Retreats, die uns in neue Räume der Wahrnehmung führen. Und auch durch Kunst – und die kann zur Lebenskunst werden selbst geschaffenen Lebensrealität kirre werden. Nix-wie-weg scheint dann oft der einzige Ausweg zu sein. Doch wohin?
Weggehen vom Gewohnten
Dem Hamsterrad einer hoch spezialisierten und »ent-sinnten« Stresswelt zu entkommen, gelingt uns meist nur durch Abstand. Einen Abstand von dieser Welt, der uns hilft, uns zu wandeln und zu neuen Einsichten und Lebensvisionen zu gelangen. Dabei hilft es, sich im »Lebenskino« nicht mehr mit dem Darsteller auf der Leinwand zu identifizieren, der wir glauben sein zu müssen. Nicht mehr davon auszugehen, dass – wie im Höhlengleichnis eines Platon – das Leben identisch wäre mit den Schattenbildern, die es an die Wände projiziert. Dann sind wir frei, den Film zu wechseln, das Kino, den Regisseur und Produzenten, denn all dies sind wir selbst. Dann haben wir sogar die Kompetenz und Freiheit, das Drehbuch für unser Leben neu zu schreiben. Wenn wir dies nicht freiwillig tun, können Krankheiten uns zu Auszeiten und Veränderungen zwingen. Besser, wir tun dies aus freien Stücken, rechtzeitig. Normale Urlaube sind dafür meist zu kurz und Sabbatjahre oft zu lang. Besser sind schöpferische Pausen, Retreats, das heißt zeitweilige Rückzugs- und Auszeiten, die uns helfen, wieder zu uns selbst zu finden, uns neu wahrzunehmen, um mit neuer Lebenskraft und Vision entweder zurückzukehren und all das zu verändern, was uns geschadet hat, oder wo ganz anders hinzugehen. Doch unabhängig davon, ob unser Retreat ein Meditationsretreat in einem Ashram oder Kloster ist, ein tantrisches Retreat, eine Zeremonial- oder Ritualreise, ein Naturerleben in der freien Wildnis oder eine schöpferische Pause an einer künstlerisch-kreativen Wirkstätte, es geht dabei darum, leer zu werden, zu einer neuen Besinnung zu kommen und eine Reise zu sich selbst zu unternehmen. Dieser Switch in einen anderen Film und ein anderes Kino wird auch helfen, das ganze Leben neu wahrzunehmen und zu gestalten. Ebenso können Kunst, Spiritualität und eine neue Wahrnehmung des Alltags dabei helfen.
Bedeutung zuweisen
»Die Aufgabe des Künstlers besteht darin, das darzustellen, was sich zwischen dem Objekt und dem Künstler befindet, nämlich die Schönheit der Atmosphäre«, schrieb Claude Monet, einer der größten Maler des französischen Impressionismus. »Die Dinge sind leer«, sagen die Buddhisten. Sie entstehen erst in gegenseitiger Bedingtheit. Das »Ding an sich« (Kant) ist nicht evident, es ist reines Sein und noch nicht als »Seiendes« (Heidegger) in die Welt getreten. Manifest ist es erst dann, wenn es mit uns und wir mit ihm in Beziehung getreten sind. Ein Maler wie Monet nahm die Seerosenteiche, die er malte, anders wahr, als ein Photograph oder Ökologe es getan hätte. Auch die Badewanne eines Beuys, die zum Kunstwerk wur-
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de und von einer Putzfrau unbeabsichtigter Weise wieder zum Alltagsgegenstand »zurückgeputzt« wurde, war mit verschiedenen Bedeutungszumessungen belegt.
Schöpferische Pausen
Ich lebe in einem kleinen Zentrum für schöpferische Pausen auf La Palma. Mit den kreativen Wirkstätten dort habe ich die Erfahrung gemacht, dass wir im kreativen Gestaltungsprozess nicht nur lernen können, »die Dinge« neu wahrzunehmen, sondern auch uns selbst dabei verändern. Ein unachtsam weggeworfenes Stück Metall oder ein am Meer angestrandetes Stück Holz, ein »Objet Trouvé«, das nach Marcel Duchamp schon an sich ein perfektes Kunstwerk darstellt, wird im kreatürlichen Prozess plötzlich zu einem Wesen, zu einer Göttin, zu einer mythologischen Figur, zu etwas Lebendigem. In diesem Prozess werden auch andere Naturgegenstände neu wahrgenommen, sie werden zu Artefakten, die zu leben scheinen; sie enthüllen ihre bis dahin verborgene Schönheit in Farbe, Struktur und Textur. Plötzlich wird evident: Alles wird zu Kunst und »jeder ist ein Künstler« (Beuys) – der gefundene Gegenstand, der Kontext, der Garten, die umgebende Landschaft, die Natur als Schöpfer, die in ihrer Schönheit kaum zu überbieten ist, und wir selbst darin als Ko-Kreatoren im Gestaltungsprozess. Das Leben selbst wird zur Kunst, zur Lebenskunst, zu einem Gesamtkunstwerk, so wie das auch die schon fast vergessenen »vierundsechzig tantrischen Künste« im Kamasutra zum Ausdruck bringen.
Der Schmetterling des Wandels
Auf Teneriffa gibt es ein Kultur- und Retreatprojekt namens Mariposa, was auf spanisch Schmetterling heißt. Ähnlich wie der Tarot-Garten von Niki de Saint Phalle sowie die Gärten von André Heller lässt es uns ein Stück Paradies erahnen. Solche tantrischen Gärten und Bauten berühren unser Herz und unseren Sinn für Schönheit und Natur, und sie können uns zu neuen Ufern der Wahrnehmung führen. »Mariposa« als Symbol des Wandels kann überall sein in der Welt – und vor allem ist es in uns selbst. n
Gerd Soballa, Architekt und Zukunftsgestalter, wohnt auf La Palma und in Freiburg. Er ist Mitinitiator einer kreativen Wirkstätte mit Wandelgarten auf La Palma, die er gemeinsam mit seiner Partnerin Iseris Reichl betreut. gerd.soballa.ag.21@t-online.de
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© Institut Jembatan
Die Tantramassage ist
in Bayern angekommen Die erfolgreiche Klage des Münchner Tantra-Instituts Jembatan gegen den Freistaat Bayern Europaweit ist die Anerkennung der Tantramassage als einer therapeutischen Behandlung seitens der Behörden ein Problem. Immer noch wird sie vielfach als Prostitution eingeordnet. In Deutschland sind die katholischen Bundesländer in dieser Hinsicht bislang verstockter als die protestantischen oder gar die östlichen. Gérard und Elvira, zwei Tantramasseure mit ihrer Praxis in einem Vorort von München, haben nun auf dem Weg der Akzeptanz und Anerkennung ihrer Massagen als eigenständigen Bereich einen bedeutenden Sieg errungen
Von Elvira und Gérard
ier Jahre ist es her. Wir waren gerade dabei, uns in der neuen Praxis einzurichten und die ersten Massagen zu geben, da bekamen wir auch schon Besuch von der Münchner Sittenpolizei mit der für uns existenziell bedrohlichen Ankündigung, dass wir hier außerhalb des Sperrbezirkes illegal tätig seien und uns bei weiterer Ausübung der Tantramassage eine deftige Geldbuße drohe.
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Tantramassage in München
In München gibt es wie in manch anderen Städten einen Sperrbezirk. Das sind bestimmte, meist gewerbliche Gebiete, in denen Prostitution ausgeübt werden darf. Die Tantramassage wird hier ganz selbstverständlich zur Prostitution gezählt, was außerdem bedeutet, dass alle Tantramassagestudios von der
Elvira & Gérard: Die Tantramassage ist in Bayern angekommen
Unter »Tantramassage« stellen sie sich nichts anderes vor, als dass Männer zur schnellen »Handentspannung« dorthin gehen
Sittenpolizei regelmäßig kontrolliert werden und jeder dort Tätige als Prostituierter registriert wird. Das hat zur Folge, dass sich bisher kaum eine seriöse Tantramassage-Praxis hier etablieren konnte. Manch engagierte Kollegen und Kolleginnen sind in den letzten Jahren aus Bayern, speziell aus München wieder abgewandert, weil sie hier überwacht, gegängelt und kriminalisiert wurden. Sie sind zum Beispiel in das freizügigere Berlin gezogen. Geblieben sind die vielen erotischen Massagen, die sich gerne aus werbewirksamen Gründen Tantramassage nennen und das Bild hier dominieren.
»Handentspannung«?
Haben wir uns blauäugig hier niedergelassen und gedacht, uns bemerken sie vielleicht nicht? Nichts dergleichen. Seit Beginn meiner ersten kleinen Massagepraxis inmitten der Stadt ab 2008 habe ich (Gérard) Gespräche um diese Problematik mit dem Leiter des KVR München gesucht, um meine Tätigkeit abzusichern. Es waren sehr offene Gespräche, in denen es aber immer wieder um Orgasmus und Ejakulation ging, und immer nur um Männer. Das einzige Bild in den Köpfen der Gesprächspartner ist, dass Männer für eine schnelle »Handentspannung« zur Tantramassage gehen. Mit dem Einvernehmen, dass, wenn bei der Massage keine Ejakulation stattfinde, was in unserer Tantramassage auch nicht das Ziel ist, dann sei es keine Prostitution, und es bedürfe keiner Registrierung als Prostituierter. So habe ich meine Arbeit begonnen, und als ich mit Elvira, die aus Berlin kam und dort ihre eigene Tantramassage-Praxis geführt hatte, zusammen das Tantra-Institut Jembatan in unseren schönen Altbauräumen in München-Riem gegründet hatte, gingen wir von diesem Stand der Dinge aus. Auch wenn wir hier an der Stadtgrenze von München schon zum Landkreis und somit zur Zuständigkeit des Landratsamtes (LRA) gehörten. Pustekuchen, bald wehte ein anderer Wind. Ein extremer Gegenwind, der uns heute noch mit Angst und Schrecken in den Gliedern steckt. Was tun? Aufgeben und, wie manch andere, abwandern? Das wollten wir nicht. So haben wir als erste Praxis begonnen, uns den bestehenden Strukturen zu widersetzen und für unsere Anerkennung zu kämpfen. Mit Erfolg.
Drei harte Jahre
Nach über drei Jahren der Auseinandersetzungen, amtlicher Bescheide, Verbote der Berufsausübung, gerichtlicher Klagen und Kontrollen der Polizei in unserer Praxis haben wir als erstes Tantra-Institut in Bayern erreicht, dass • wir mit gerichtlicher Erlaubnis außerhalb des Sperrbezirks Tantramassage ausüben dürfen • wir nicht mehr als Prostitutionsbetrieb eingestuft werden • wir nicht mehr als Prostituierte bei der Sittenpolizei registriert werden und • wir nicht mehr durch die Sittenpolizei kontrolliert und besucht werden dürfen.
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Das ist ein großer Erfolg für die Tantramassage in Bayern. Damit hat die seriöse Tantraheilmassage in Bayern nun auch offiziell Fuß gefasst. Es waren drei harte Jahre, in denen die Ausübung der Tantramassage am Rande der Legalität geschah und unsere Arbeit teils mit dem Verbot der Ausübung belegt war und wir die gerichtliche Auseinandersetzung vor Augen hatten. Doch jetzt haben wir es geschafft – Tantra ist in Bayern angekommen. Hier ein kurzer chronologischer Abriss unserer Auseinandersetzungen. Im Nachhinein gesehen ist es schon verrückt, mit welchen Schwierigkeiten sich unsere Arbeit auseinandersetzen muss. Sexualität ist eben immer noch ein bedrohliches Thema, das Ängste aufkommen lässt, vor allem dort, wo es um – meist männliche – Macht und Kontrolle geht. Erster Besuch der »Sitte« mit Feststellung unserer Personalien und Registrierung als Prostituierte, verbunden mit dem Hinweis, dass unsere Arbeit hier illegal sei, und der Aufforderung, unsere Arbeit einzustellen. März 2011
Erste Gespräche mit dem zuständigen Mitarbeiter des LRA München mit beruhigenden und optimistischen Signalen zu unserer Arbeit. Dann eine lange Zeit des Wartens. April 2011
Aufforderung des LRA, die Ausübung der Tantramassage in unserer Praxis sofort zu unterlassen. Einleitung eines Ordnungswidrigkeitsverfahrens. Erneute Gespräche mit dem Vertreter des LRA und viel Überzeugungsarbeit: Unsere Tantramassage unterscheide sich wesentlich von der erotischen Massage, sagten wir, und sei weit davon entfernt, eine sexuelle Handlung im Sinne der Prostitution zu sein. Januar 2012
Bescheid des LRA, dass in unserer Praxis keine sexuellen Handlungen im Vordergrund stünden und es sich somit nicht um einen Prostitutionsbetrieb handle. Einstellung des Ordnungswidrigkeitsverfahrens. Februar 2012 – ein erster Sieg
Als das Polizeipräsidium München davon Kenntnis erhält, wird von deren Seite beim LRA interveniert. Das LRA gibt daraufhin dem Druck nach und nimmt seine bisherige Meinung zurück. Erneute Gespräche mit dem neuen Leiter der Abteilung bleiben völlig erfolglos. Juli 2012
Wie erwartet und befürchtet folgte der Bescheid des LRA mit der Untersagung der Ausübung der Tantramassage in unseren Räumen. Daraufhin entschließen wir uns, dagegen zu klagen mit der Unterstützung unserer engagierten Rechtsanwältin Frau Lex. Die Klage wird gegen den Bescheid des LRA am Verwaltungsgericht München vorbereitet und eingereicht. Wieder langes Warten. November 2012
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Sexualität ist immer noch ein bedrohliches Thema, das Ängste aufkommen lässt, vor allem dort, wo es um – meist männliche – Macht und Kontrolle geht
Das Verwaltungsgericht München stellt unzweideutig fest, dass durch unsere Praxis keine öffentliche Belästigung hervorgerufen werde und somit die Sperrbezirksverordnung entsprechend der bisherigen Rechtsprechung nicht greife. Der Bescheid des LRA mit dem Verbot unserer Berufsausübung sei also nicht rechtens. Daraufhin zieht das LRA seinen Bescheid zurück, und das Verfahren wird eingestellt. Leider wird von Seiten des Gerichts keine verbindliche Aussage getroffen, ob die Tantramassage der Prostitution zuzuordnen ist oder nicht. Wie sich bald herausstellen wird, ist das also erst ein halber Sieg. November 2013
Wir fordern das Polizeipräsidium München auf, unsere Registrierung als Prostituierte zu löschen. Januar 2014
Neue Kontrollen der Sittenpolizei und ein Schreiben des Polizeipräsidiums, dass weiterhin daran festgehalten werde, unsere Praxis als Prostitutionsbetrieb einzustufen, und dass die Kontrollen in unserer Praxis notwendig seien und außerdem unserer eigenen Sicherheit dienten. Februar 2014
Aufforderung unsererseits an das Polizeipräsidium, ihre Einschätzung unserer Praxis als Prostitutionsbetrieb zurückzunehmen und die rechtswidrigen Kontrollen durch die Sitte einzustellen, welche nur der Einschüchterung und Kriminalisierung dienten. Sollte dies nicht geschehen, würden wir vor dem Verwaltungsgericht erneut klagen. März 2014
Das Polizeipräsidium München zieht sich zurück und anerkennt zum ersten Mal, dass wir uns von einem Prostitutionsbetrieb deutlich unterscheiden, und dass im Falle unserer Praxis »aktuell keine polizeilichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung … erforderlich sind.« Damit erhalten wir die Zusicherung, in Zukunft nicht mehr von der Sitte kontrolliert zu werden. Natürlich mit dem Vermerk, dass alle bisherigen Kontrollen rechtens gewesen seien – eine gerichtliche Auseinandersetzung darüber vermeidet das Polizeipräsidium wohlweislich. Endlich aufatmen! Wir können es heute noch gar nicht richtig fassen, dass wir dies durchgestanden und erreicht haben. Welche Erfahrungen haben wir im Laufe unserer Auseinandersetzungen gemacht? April 2014
Erfahrungen mit der Politik
Von einigen grünen Politikern bekamen wir Unterstützung. Sie trugen unsere Angelegenheit in den städtischen Arbeitskreis »Prostitution« hinein. Unsere SPD-Landrätin verweigerte uns jedoch einen Gesprächstermin und ließ durchblicken, dass sie die Tantramassage als moralisch verwerflich ansehe. Im laufenden Verfahren durfte dann keiner mehr dazu Stellung nehmen.
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Erfahrungen mit der Polizei
Entgegen den teils auch offenen Ohren bei den Zuständigen der Ordnungsämter war das Verhalten der Polizeivertreter durchweg von einer vorgefertigten Meinung geprägt. Die Münchner Polizei hat nicht nur eine eigene Politik vertreten, sondern sich auch zur eigenen Rechtsprechung ermächtigt und gegen das LRA ihre Machtposition massiv ausgespielt. Sogar dann noch, als ein Gerichtsentscheid vorlag. Teils hatten wir das Gefühl, die Polizei habe nichts Wichtigeres zu tun, als uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Nach dem Polizeiaufgabengesetz dürfen Polizeivertreter im Umfeld der Prostitution Wohnungen betreten und durchsuchen und die Identitäten der Personen dort feststellen, wenn eine »Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person« besteht. In unserem Fall konstatierten die Polizeivertreter eigenmächtig eine solche Gefahr, ohne dass irgendetwas darauf hindeutete. Mit dem verkündeten Ziel, so für Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Nicht nur in München, sondern in ganz Bayern wird mit zweierlei Maß gemessen. Denn pikant wird es, wenn wir in Bayern über den Tellerrand von München hinaussehen. In den bayrischen Städten gelten nämlich ganz unterschiedliche Regelungen. Das führt zum Beispiel dazu, dass in Rosenheim, in der Fußgängerzone neben der Eisdiele, unter einem großen Holzchristus das bekannteste Rosenheimer Bordell zu Hause ist. Das darf dort sein, weil es in Rosenheim überhaupt keinen Sperrbezirk gibt. Und in Regensburg gibt es nur einen sehr kleinen, so dass der Club d’Amour 150 Meter von dem Internat der bekannten Regensburger Domspatzen entfernt zu finden ist, die Schüler laufen dort täglich vorbei. Die Sperrbezirksverordnungen sind sehr seltsam, keiner weiß wirklich, welchen Sinn sie überhaupt haben.
Anerkennung für die Tantramassage
Großartige Unterstützung erhielten wir von Ärzten. Frauenärzte, Urologen und Therapeuten, die uns empfehlen und im sexualtherapeutischen Bereich arbeiten, haben uns durch ihre Unterstützerbriefe den Rücken gestärkt. Wir danken hier allen, die sich für uns und unsere Arbeit stark gemacht haben. Die seriöse Tantramassage hat heute dank der emsigen Öffentlichkeitsarbeit vieler Kollegen einen ganz anderen Stellenwert als noch vor ein paar Jahren. Sie bewegt sich langsam hin zu einer Anerkennung, wie es sich das Yoga vor dreißig Jahren auch noch nicht hat erträumen können. In den Diskussionen stellten wir jedoch immer wieder fest, wie schwer es zu vermitteln ist, was die Tantramassage ist und was sie bewirkt. Menschen, die sich in den gängigen Vorstellungen von Sexualität in unserer Gesellschaft bewegen, können oft schon gar nicht begreifen, dass sich zwei Menschen nackt begegnen können, ohne miteinander Sex zu haben, und dass es etwas anderes geben kann als den männlichen Orgasmus. Dass es darüber hinaus eine Energie gibt, die geweckt werden kann,
Elvira & Gérard: Die Tantramassage ist in Bayern angekommen
© Institut Jembatan
In den Diskussionen stellten wir immer wieder fest, wie schwer Wesen und Wirkung der Tantramassage zu vermitteln sind
von ganzheitlicher Ekstase noch gar nicht zu reden. Frauen tauchen in diesen Diskussionen nur als Prostituierte auf, nie als Personen, die sich nach einer sexuell-spirituellen Erfahrung sehnen, durch die sie sich entfalten und entwickeln können, oder einfach nur in ihrem Bedürfnis nach zärtlichen Berührungen.
Prägende Erfahrungen
Diese Jahre der Auseinandersetzungen mit den Autoritäten haben uns geprägt und verändert. Wir stehen heute ganz woanders als ohne sie. Unsere Vorstellung war in erster Linie, eine Praxis für Tantramassagen aufzubauen und Massagen zu geben. Durch das teilweise Berufsverbot haben wir uns mehr und viel schneller der Weitergabe unseres Wissens gewidmet, und so haben wir heute einen vollen Seminarkalender, in dem wir neben den Selbsterfahrungsseminaren und den offenen Tantraabenden auch die Ausbildung zum Tantramasseur/-in auf dem Qualitätsniveau des Tantramassageverbandes e.V. anbieten können. Wir waren natürlich gezwungen, unseren Internetauftritt sehr seriös zu gestalten, das heißt ohne unsere schönen sinnlichen Bilder mit nackter Haut, denn wir mussten uns so weit wie möglich von den erotischen Studios abheben. Dabei mussten wir den therapeutischen Charakter der Tantramassage stark hervorheben, was für uns auch vollkommen authentisch ist, denn für uns ist die Tantramassage wesentlich eine Heilmassage.
Immer mehr Frauen kommen
Das ist wohl der Grund dafür, dass die Männer, die von der Tantramassage in erster Linie eine erotische Massage erwar-
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ten, den Weg zu uns nicht fanden, sondern nur diejenigen, welche ein Anliegen mitbringen und eine tiefere körperliche und spirituelle Erfahrung suchten. Und darunter waren erfreulicherweise auch viele Frauen. Inzwischen sind wir wohl die einzige Tantramassagepraxis weit und breit, in die zur Hälfte Frauen kommen. Frauen fühlen sich bei uns wohl, in einer sehr sicheren Umgebung und für ihre Anliegen am richtigen Ort. Daraus hat sich auch unsere Frauenarbeit entwickelt. Elvira begleitet die »Wilden Shaktis« in ihren Seminaren und offenen Abenden auf ihrem Weg der körperlichen Neuentdeckung und sexuellen Entfaltung. In Zukunft werden wir mit den Männerabenden auch einen Ort schaffen, in dem Männer sich berühren und im Kreis der Brüder stärken. Männer haben ihre Frauen mitgebracht und Frauen ihre Männer, so dass bei uns auch die Arbeit mit den Paaren einen großen Platz eingenommen hat, zumal wir selbst als Paar die Seminare anleiten.
Meilensteine auf dem Weg
Und es geht weiter. Mit der erstrittenen Freiheit und unseren gesammelten Erfahrungen sind wir nun glücklich, in Zukunft hier in München einen Ort anbieten zu können, wo Frauen und Männer in ihrer Sehnsucht nach Berührung, Entfaltung und Selbstverwirklichung einen Platz finden, und wir freuen uns auf alle Menschen, die uns in unserer Arbeit als Kollegen und Kolleginnen unterstützen werden, die hier unsere Räume mieten und ihre eigenen Massagen geben – und auf alle Männer und Frauen, die den Weg zu uns finden. Ein kleiner Wermutstropfen bleibt. Leider wurde noch immer kein Urteil gesprochen, dass die seriöse Tantramassage nicht der Prostitution zuzuordnen ist. Das wird hoffentlich bald noch jemand erstreiten. Aber die Anerkennung unseres Tantra-Instituts Jembatan von Seiten des LRA und des Polizeipräsidiums sowie der Gerichtsentscheid zur Ausübung der Tantramassage außerhalb des Sperrbezirkes sind Meilensteine auf dem Weg der Anerkennung der Tantramassage hier in Bayern. n
Gérard Mühlbauer, Jg. 63, (Stud. der Theologie,) HP für Psychotherapie, Gestalttherapeut, Dipl. Theologe, gibt Tantra- und Taomassagen, Therapie und Lomimassagen. Elvira Jamala Malinovskaa, Jg.65, Körpertherapeutin, Tantra- und Meditationslehrerin. Tantra- und Tao-Massage, Paartherapie und Frauenarbeit. Zusammen bilden sie in Tantra-Massage aus: Tantra-Institut Jembatan, München-Riem, www.Jembatan.de
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