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Die Macht des ersten Kusses
Shakespeares Drama «Romeo und Julia» ist die berühmteste Liebesgeschichte der Welt. Der Mythos von der jungen, romantischen Liebe, die durch nichts zu erschüttern ist, prägt unsere Vorstellungen von Paarbeziehungen bis heute. Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz untersucht das Wesen und die Bedingungen von Liebe in modernen Gesellschaften nicht erst seit ihrem Buch-Bestseller «Warum Liebe weh tut». Wir haben sie in Paris getroffen und mit ihr über «Romeo und Julia» gesprochen.
Die Illustration stammt von Vivian Greven. Die Künstlerin wurde 1985 in Bonn geboren. Ein zentrales Motiv ihrer Bilder ist die zwischenmenschliche Berührung. Dabei verschmilzt sie klassische Formen mit der Ästhetik des digitalen Zeitalters.
Frau Illouz, Romeo und Julia gilt als der Mythos der romantischen Liebe schlechthin. Inwiefern prägen solche Erzählungen das Verständnis unseres Liebesalltags bis heute?
Auf diese Frage gibt es in den verschiedenen Epochen unterschiedliche Antworten. Bei Gustave Flaubert im 19. Jahrhundert beispielsweise ergibt sich ein sehr klares Bild: Seine Figur Emma Bovary liest viele Romane, und die Darstellungen, die sie darin findet, prägen ihre persönlichen Vorstellungen, Erwartungen und Enttäuschungen auch im richtigen Leben stark. Heute ist das Verhältnis zwischen Mythos und Realität aber ambivalenter. Auf der einen Seite ist das Bild des glücklichen Paares allgegenwärtig. Die Kinder werden von klein auf damit konfrontiert, aber es sind heute eher Bilder, weniger Narrative. Visuelle Bilder prägen sich uns noch stärker ein. Andererseits führen wir heute auch sehr starke antiromantische Diskurse: Jugendliche lernen alle möglichen Gründe, nicht an die romantische Liebe zu glauben. Mädchen glauben vielleicht, dass die romantische Liebe eine von Männern erfundene Ideologie ist, oder Jungen glauben, dass die Liebe eine Folge von Hormonen in ihrem Körper ist. Ob feministische Politik oder Wissenschaft, sie stellen den Mythos der Liebe in Frage, während dieser in der Kultur immer noch sehr präsent ist.
Romeo und Julia erzählt von der Liebe auf den ersten Blick und einem tragischen Ende. Die alltäglichen Aspekte einer Liebesbeziehung spielen dabei keine Rolle. Hat die Omnipräsenz dieses Mythos dazu geführt, dass wir einen allzu naiven Begriff von der Liebe haben? Naiv würde ich nicht sagen. Ich denke eher, dass beim Mythos der Liebe in gewisser Weise nie die Entwicklung im Fokus steht. Im Zentrum des Interesses steht immer der Moment der ersten Begegnung, weil sich dieser viel besser für das Drama eignet, das im Theater, im Kino und in der Literatur dargestellt wird. Die Liebe auf den ersten Blick ist im wahrsten Sinne des Wortes dramatisch, denn sie markiert einen Einschnitt, einen Bruch in unserem Alltag. Und solche Momente werden von fiktionalen Genres bevorzugt. Wenn es eine Naivität gibt, dann besteht sie darin, zu glauben, dass Liebe immer so weitergehen kann wie in diesem ersten Moment. Es ist sogar ein tiefgreifender Fehler, zu glauben, dass die weitere Entwicklung der Liebe fehlerhaft sei, wenn sie sich nicht so anfühlte wie ihr Beginn, denn diese Vorstellung hindert uns daran, die vielen anderen Möglichkeiten zu erkennen, wie wir lieben können. Die Liebe auf den ersten Blick haben insbesondere die Männer stets sehr gemocht. Bei Shakespeare und Gounod ist es ja ganz offensichtlich: Letztlich geht es auch Romeo nur um Julias Schönheit. Die Liebe auf den ersten Blick, als Moment totaler, nicht begründbarer Anerkennung, ist also ein Modell, das wir in Frage stellen sollten. Nicht nur, weil es wenig oder gar nichts mit der Entwicklung von Beziehungen zu tun hat, die auf Wissen und Vertrautheit beruhen, sondern auch, weil es den männlichen Blick und die Schönheit der Frau privilegiert. Es ist eine beschränkte und enge Sichtweise der Liebe. Nicht sehr interessant, muss ich sagen. Vergleichen Sie dies mit der Liebe Desdemonas zu Othello: Sie verliebt sich in ihn, als sie von seiner Knechtschaft und seinen Leiden hört und als sie sich seines aufrichtigen Charakters bewusst wird. Das ist etwas ganz anderes.
In Ihrem Buch Warum Liebe weh tut zeigen Sie, dass unser Liebesverhalten heute von einem freien Markt geprägt ist, in dem wir unzählige Möglichkeiten haben. Gleichzeitig erklären Sie am Beispiel von Romeo und Julia, dass es ein Verlangen nach einem «einzigartigen» und «unvergleichlichen» Liebesobjekt gibt …
Ich gehe von zwei verschiedenen Modalitäten aus: Die eine würde ich als SupermarktModalität bezeichnen. Das heisst, man kann in einem breiten Angebot stöbern und eine Auswahl treffen. Typischerweise ist das die Situation auf einer DatingApp. Die andere Modalität nenne ich die AuktionshausModalität. Das bedeutet, man hat ein einzelnes Objekt, das nicht in einem Wettbewerb steht, und muss entscheiden, wie wertvoll es ist. Im Auktionshaus sieht man eine einzigartige antike Vase und muss sich überlegen, ob man bereit ist, 3000 Euro dafür zu zahlen oder nicht. In beiden Modalitäten sind die ökonomischen Bedingungen, mit denen man jemandem einen Wert zuschreibt, also damit verbunden, emotionale Bindungen einzugehen oder eben nicht. Die grosse Auswahl erschwert heute natürlich die Suche nach dem Einzigartigen. Aber die beiden Zustände existieren eben gleichzeitig. Die AuktionshausModalität führt dazu, dass man die Einzigartigkeit eines Objekts besser erkennt und ihm einen höheren Wert zuschreibt. Aber das bedeutet im Gegenzug nicht, dass die Menschen nicht glücklich sind, wenn sie eine grosse Auswahl haben. Sie geniessen es.
In Shakespeares Tragödie übersehen wir oft, dass Romeo vor Julia «eine gleicher massen intensive und unmögliche Leidenschaft» zu Rosaline durchmachte, so schreiben Sie. Lesen wir diese berühmte Liebestragödie also zu oberflächlich? Ist Romeos Liebe gar nicht so einzigartig, wie wir denken? Es kann nicht sein, dass Shakespeare Romeos Liebe zu Rosaline umsonst erwähnt. Ich glaube, er hat sich viel stärker über Romeo lustig gemacht, als wir heute glauben. Wir sollten nicht vergessen, dass Liebe im 16. Jahrhundert ein sehr dürftiger Grund zum Heiraten war und dass sie von der damaligen Medizin oft als eine Form des Wahnsinns verstanden wurde. Wir sollten auch nicht vergessen, dass Shakespeare auch den Sommernachtstraum geschrieben hat. Ich kann mir schwer vorstellen, dass er die Liebe in einem Stück enorm ernst nimmt, während er sich im anderen darüber lustig macht. Meiner Meinung nach macht er sich auch in Romeo und Julia darüber lustig. Wir sehen Romeo zunächst todunglücklich über die unmögliche Liebe zu Rosaline, und fünf Minuten später existiert für ihn nur noch Julia. Gibt es eine bessere Möglichkeit, sich über die Gefühle der Liebe lustig zu machen? Ich bin keine ShakespeareSpezialistin, aber ich glaube, wir haben Romeo und Julia zu einseitig gelesen. Wir interpretieren die Liebe mit dem Fokus auf den Tod, obwohl dieses Stück zeigt, dass die Liebe sich auch selbst zerstört und kein sehr kluges Gefühl ist. Das Stück enthält eine stärkere Kritik der Liebe, als wir denken.
Ob bei Shakespeare oder bei Gounod: Romeo und Julia wachsen in einer stark patriarchalisch geprägten Welt auf, in der die Geschlechterrollen klar verteilt sind. Das junge Paar selbst scheint diesen Geschlechterdualismus aber zu unterlaufen: Julia ergreift oft die Initiative, während Romeo eine feminine Tendenz hat. Zeigt sich daran, dass wir das Venus-Mars-Denken in der Liebe überwinden sollten?
Wir sollten den Menschen als das sehen, was er ist, nämlich als ein menschliches Wesen. Das ist eine Idee, die man im frühen Christentum findet. Da gibt es die Vorstellung, dass Gott kein Geschlecht hat, dass er androgyn ist. Und es gibt die Vorstellung von der Seele, die kein Geschlecht hat. Die zunehmende Sexualisierung von Frauen und Männern hat dazu geführt, dass es heute nicht nur eine grosse Distanz, sondern auch eine grosse Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gibt. Ich bin überzeugt, dass Ungleichheit toxisch ist. Da bin ich zutiefst feministisch. Diese Ungleichheit wäre nur erklärbar, wenn Männer und Frauen tatsächlich unterschiedliche Rollen in unterschiedlichen Sphären einnehmen würden. Das ist in unserer Gesellschaft aber nicht mehr der Fall und kann es auch nicht sein. Insofern ist auch das VenusMarsDenken nicht mehr zielführend. Wir haben uns sehr stark auf unsere Genitalien konzentriert, um zu sagen, schaut mal, wie unterschiedlich Männer und Frauen sind. Diese Unterschiede mögen ja vorhanden sein. Aber warum konzentrieren wir uns nicht viel stärker auf die Attribute, die uns verbinden? Männer und Frauen sind gleichermassen verletzlich, sie sind gleichermassen kreativ… Das zeigt, dass wir der gleichen Spezies angehören. Ich denke, die Gleich berechtigung ist heute der einzige Weg, der uns Liebe und vielleicht auch tragfähige politische Beziehungen ermöglicht.
In Gounods Oper nimmt Juliette nicht unbedingt eine untergeordnete Rolle ein. Sie ist Roméo gegenüber jedoch sehr zögerlich und prüft mehrfach, ob er es mit seinen Liebesschwüren ernst meint ... Wenn eine adelige Frau jemanden heiraten oder mit jemandem Sex haben wollte, der nicht von ihren Eltern ausgewählt wurde, dann war es ihre Pflicht zu prüfen, ob er nicht ein Verführer ist wie etwa Don Juan. Das Verführen einer Frau war ursprünglich ein Verbrechen gegen die Familie, für die der Verführer mit Gefängnis oder sogar mit dem Tod bestraft werden konnte. Ab dem 16. Jahrhundert werden die Familien bürgerlicher und die Väter versuchen die Heirat der Kinder zu kontrollieren. Wenn Gounod und seine Librettisten dieses Stück im 19. Jahrhundert auf die Opernbühne bringen, müssen sie Juliette zu einer sympathischen Figur für das bürgerliche Publikum machen. Juliette muss dem Publikum die richtigen Zeichen geben. Sie muss alle Beweise liefern, dass sie Roméo auf seine Treue überprüft. Wenn sie das nicht tut, fällt sie für das Publikum in die Kategorie der leichten Mädchen, wie etwa Violetta Valéry in Verdis La traviata. Ihr Verhalten zeigt dem bürgerlichen Publikum, dass sie tugendhaft und unschuldig ist.
Anders als Shakespeares Stück ist Gounods Oper von einer sentimentalen religiösen Tendenz geprägt. Bevor sie sterben, bitten Roméo und Juliette Gott um Verzeihung. Warum geht Gounod diesen Schritt?
Die Geschichten der christlichen Liebe und der romantischen Liebe sind eng miteinander verwoben. In gewisser Weise ist es sehr schwierig, die beiden auseinanderzuhalten. So sind im Christentum beispielsweise erotische Motive sehr präsent. Aber auch die Art und Weise, wie wir die romantische Liebe auffassen, ähnelt der christlichen Liebe: Es soll nur einen Gott geben, man soll das Gegenüber aus ganzem Herzen lieben wie ein Gläubiger, man darf weder Gott noch das Gegenüber in einer monogamen Beziehung betrügen. Wenn Roméo und Juliette am Ende der Oper um Vergebung bitten, ist das aber möglicherweise wieder ein Zeichen gegenüber dem Publikum. Indem Gounod sie zu Christen macht, werden sie vom bürgerlichen Publikum als tugendhafte Menschen gelesen.
Sie haben in einem Interview erwähnt, dass Sie an der christlichen Perspektive der Liebe interessiert sind. Warum?
Die christliche Religion hat ein sehr breites Verständnis von Liebe. Sie ist die Religion der Liebe, und damit ist nicht die romantische Liebe gemeint, sondern die Liebe als Prinzip. Ich bin daran interessiert, das Konzept der Liebe zu er weitern, denn ich habe das Gefühl, dass unsere Gesellschaft von der Idee der romantischen Liebe zwischen Mann und Frau besessen ist, also von der Vorstellung einer sexuellen Liebe, die alle anderen Formen, in denen Menschen sich lieben können, zum Schweigen gebracht hat. Deshalb ist die queere Revolution in gewisser Weise so wichtig, denn sie bringt mich zu einer Sichtweise, die der religiösen Definition von Liebe entspricht: Es gibt nicht nur einen Weg. Wir sollten die Definitionen von Liebe öffnen und sie nicht nur an Sexualität und Geschlechter rollen binden.
Sie haben das Verhältnis von Emotionen und Kapitalismus intensiv untersucht. Gounods Oper wurde 1867 während der Pariser Weltausstellung uraufgeführt, die eine Leistungsschau des frühen Kapitalismus war. Die Oper war mit über hundert Vorstellungen ein grosser Erfolg. Ist das ein frühes Beispiel dafür, dass Emotionen vermarktbar sind?
Dass Kunstwerke auf Emotionalität ausgerichtet sind, ist natürlich keine Erfindung des Kapitalismus. Die sakrale Kunst hat immer versucht, Menschen durch Emotionen zu bewegen. Wenn man eine Kreuzigung darstellt, möchte man, dass der
Betrachter mit Gefühlen darauf reagiert. Die emotionale Verbindung ist in der künstlerischen Vermittlung der schnellste und stärkste Weg. Emotionen funktionieren so gut, weil sie der kleinste gemeinsame Nenner sind. Sie machen unser Menschsein aus. Mancher weiss vielleicht nicht, was eine Tautologie ist, aber jeder weiss, was Wut ist. Ausserdem glaube ich, dass uns Emotionen sehr stark auf uns selbst zurückwerfen. Wenn wir empfinden, sind wir sehr stark bei uns. Das Verlangen, Kunst zu konsumieren, geht also mit dem Verlangen einher, sich selbst intensiver zu spüren.
Die Sängerin Miley Cyrus hat gerade ein Album herausgebracht, in dem sie sich stark mit sich selber beschäftigt, aber überhaupt nicht an zweisamer Liebe interessiert ist: «I can love me better than you can» ist ein vielsagender Satz aus ihrem Song «Flower». Ist Selbstliebe die aktuelle Form von Liebe? Ich glaube, dabei spielen zwei Aspekte eine Rolle. Einerseits gibt es diese Vorstellung, dass man, um andere Menschen zu lieben, zuerst sich selbst lieben muss. Diese Idee der Selbstliebe wird von der gängigen Psychologie sehr gerne gefördert. Es gibt sogar die Ansicht, dass Selbstliebe ein Weg ist, die emotionalen Defizite zu heilen, die man in seinem Leben hat. Andererseits stelle ich fest, dass wir zunehmend zu einer Gesellschaft von unzusammenhängenden Atomen werden. Als Soziologin gehe ich aber davon aus, dass wir als Menschen zutiefst abhängig sind. Diese Abhängigkeit kann sich zum Beispiel als Liebe manifestieren, die wir von anderen brauchen und die wir anderen geben wollen. Als atomisierte Wesen fehlen uns diese Quellen, die uns nähren. Die Selbstliebe verstehe ich als ein Ersatz für dieses Defizit.
Am Ende Ihres Buches Warum Liebe weh tut schreiben Sie, dass wir «alter native Modelle der Liebe» formulieren sollten. Wie könnten diese Modelle aussehen?
Ich meine damit, dass wir die Idee der Liebe nicht aufgeben sollten. Wir sollten sie aber auch nicht ausschliesslich auf die romantische Liebe beschränken. Die Liebe kann romantisch sein oder nicht. Sie kann sexuell sein oder nicht. Sie kann mit einer Person sein oder mit mehreren. Wir sollten uns öffnen und die Definitionen der Liebe erweitern.
Das Gespräch führte Fabio Dietsche
Eva Illouz ist eine der renommiertesten Soziologinnen unserer Zeit. In ihrem Werk beschäftigt sie sich besonders mit der Frage, wie die Kultur der Moderne unser Gefühls- und Liebesleben verändert hat. Zu ihren erfolgreichsten Werken gehören die beiden Bücher «Warum Liebe weh tut» und «Warum Liebe endet». Im April erscheint beim Suhrkamp Verlag die deutsche Übersetzung ihres neuen Buchs «Undemokratische Emotionen», in dem sie die Bedeutung von Emotionen in der Politik am Beispiel Israel erläutert.