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Aussenseiter, die in einer besseren Welt leben wollen

Die Liebe von Roméo und Juliette scheitert an der Gesellschaft, in die sie geboren wurden. Der junge amerikanische Regisseur

Ted Huffman folgt in seiner Inszenierung ganz der Gefühlsspur des berühmten Liebespaares.

Fotos Admill Kuyler

Ted Huffman, du inszenierst Gounods Oper Roméo et Juliette. Was verbindest du persönlich mit dieser berühmten Liebesgeschichte?

Wir haben Shakespeares Stück in der Schule gelesen, und später habe ich natürlich Baz Luhrmanns berühmten Film im Kino gesehen, ich glaube vier oder fünf Mal. Für mich ist der Stoff eng mit der Geschichte von Tristan und Isolde verwandt. Es geht um diesen intensiven Moment, in dem sich zwei Menschen zum ersten Mal sehen und verlieben. Man kann diesen Augenblick schlecht in Worte fassen. Es ist, als würde man eine Droge nehmen. Ich kenne dieses Gefühl gut aus meiner Teenager Zeit – jeder kennt es wahrscheinlich… Die erste Liebe fühlt sich an, als würde einem ein richtig tiefer Schnitt zugefügt. Man fühlt sich wie im freien Fall. Aber auch die Gegenseite ist uns aus dem Alltag vertraut, nämlich eine Generation, die diese jungen, verliebten Menschen obsessiv kontrollieren will. Es ist leider vielerorts noch immer üblich, dass die Eltern den Kindern ihre Vorstellung von Liebe aufzwingen und bestimmen wollen, wen sie lieben und mit wem sie Sex haben dürfen. Dabei ist es ein völliger Widerspruch, dass es Regeln für eine Situation geben soll, die alle Regeln sprengen will.

Der Stoff von Shakespeare dient immer wieder als Basis für zeitgenössische Interpretationen. Du selbst hast zusammen mit dem Komponisten Philip Venables die sehr erfolgreiche Kammeroper Denis & Katya geschrieben… Dieses Stück basiert auf einer wahren Geschichte aus dem Jahr 2016, in der es um ein junges Paar geht, das tragisch ums Leben kommt. Als eine Art Hommage an Romeo und Julia haben wir es Denis & Katya genannt. Dieses Stück dreht sich eher um Voyeurismus und das Internet. Aber ganz ähnlich wie bei Gounod oder Shakespeare geht es auch hier darum, dass eine ältere Generation die Kontrolle über diese jungen Menschen haben will.

Anders als bei freien Adaptionen sind in der Oper immer gewisse Zeitebenen vorgegeben: Die Zeit, in der Romeo und Julia ursprünglich spielt, die Zeit von Gounod, die sich stark in der Musik abbildet, und die Zeit, in der du das Stück inszenierst. Was interessiert dich an diesem Spannungsverhältnis?

Ich glaube, dass schon Shakespeare über ein Verona der Vergangenheit geschrieben, das Stück aber in Kostümen seiner eigenen Zeit aufgeführt hat. Bis auf wenige Ausnahmen spielen meine eigenen Stücke meist auch in einem gegenwärtigen Setting. Ein Drama wie Romeo und Julia ist aber so universal verständlich, dass ich verschiedene Ebenen darin nicht störend finde. Die Sprache und die Musik zeigen per se, dass sie sich auf eine andere Zeit beziehen. Ich mag es, wenn man sieht, dass dieser Stoff eben aus mehreren Schichten besteht. Besonders wichtig ist es mir, auch eine zeitgenössische «Schicht» für den Rhythmus der Handlung zu finden. Ich mag es nicht, wenn sich die Musik oder der Text mit dem doppeln, was auf der Bühne zu sehen ist. Ich versuche deshalb immer, die Sängerinnen und Sänger vom musikalischen Text zu befreien. Ich finde, man sollte nach einer Körperlichkeit suchen, die den Darstellern von heute entspricht.

In diesem Fall sind das beispielsweise auch junge Tänzerinnen und Tänzer, die sich zu Walzermelodien aus dem 19. Jahrhundert bewegen sollen. Geht das zusammen?

In der Welt, die wir hier behaupten, spielt die Handlung auf einem grossen Ball. So fängt die Geschichte ja bei Gounod an. Bei uns ist es aber kein Ball aus dem 19. Jahrhundert, sondern einer von diesen Gesellschaftsbällen, die wir in den USA «Cotillion» nennen. Es ist ein ziemlich altmodisches Ritual, das wir heute aber noch immer pflegen. Ich glaube, daraus ergibt sich eine gute Grundspannung für unsere Erzählung. Auf solchen Debütantenbällen begeben sich junge Menschen in eine formelle Welt, in der sie zu Musik tanzen, die vor langer Zeit entstanden ist, wie eben beispielsweise der Walzer. Es ist eine Welt des Anstands und der Benimmregeln, die ich aber auch brechen will, etwa durch Juliettes Vater, Capulet. Für mich ist er eine dieser unvermeidlichen Figuren aus der Welt, die der Film

The Wolf of Wall Street entwirft, also ein reicher Unternehmer, der sich alles erlauben kann, weil er glaubt, ihm gehöre die Welt.

Roméo und Juliette wachsen in dieser patriarchalisch bestimmten Welt auf, stehen selber aber in einem grossen Kontrast dazu. Siehst du das auch so? Ja, es gibt in diesem Stück eine riesige Kluft zwischen den Geschlechtern, und auch das Libretto von Jules Barbier und Michel Carré ist ziemlich binär und sexistisch angelegt. Jedes Mal, wenn es um eine Frau geht, dreht sich alles nur um ihr Aussehen oder ihre Reinheit. Zum Beispiel, wenn Juliette auf dem Ball auftritt. Wenn ihr Vater über sie spricht, ist es ein bisschen, als ob Donald Trump sagt: «Ivanka ist so heiss! Wenn sie nicht meine Tochter wäre, würde ich sie daten». Es geht um Besitz und um den Körper als Kapital der Frau. Niemand würde in dieser Welt über Roméo sagen: Er ist so hübsch! Nein, das passiert nur den Frauen. Roméo selbst geht anders mit Juliette um. Er ist viel stärker an ihrem Wesen interessiert. Ihre Unterhaltungen sind von einem anderen, sensibleren Ton geprägt, und es gibt einen Austausch auf Augenhöhe. Für mich sind sie zwei Aussenseiter, die beide in einer besseren Welt leben wollen.

Gounod hat für Roméo et Juliette eine sehr lyrische Musik geschrieben, die sich stark den Gefühlen der beiden widmet. Wie gehst du beim Inszenieren mit dieser Emotionalität um?

Mir geht es immer darum, die Absichten von Figuren herauszuarbeiten. Die erste Arie von Juliette, «Je veux vivre», ist beispielsweise von einem beschwingten, träumerischen Charakter geprägt. Wenn man das genauso inszeniert und spielt, dann kommt dabei eine rosarote Disney-Prinzessin heraus, die in einem naiven Traum lebt. Das ist mir aber viel zu stereotyp. Für mich träumt Juliette in diesem Moment von einer anderen Welt, die mit ihrer aktuellen Realität nichts zu tun hat. Wenn die Sängerin hingegen ihre Sehnsucht nach einer besseren Zukunft und ihre Frustration über den Ist-Zustand zum Ausdruck bringt, dann wird die walzerselige Arie zu einem Subtext: Die Musik steht dann für den starken Wunsch, glücklich zu sein. Es geht mir immer darum, zu fragen: Wo zieht es den Charakter hin? Was will er? Bühnencharaktere, die alles haben, was sie wollen, finde ich etwas vom Langweiligsten überhaupt.

Im dritten Akt der Oper werden Roméo und Juliette durch Pater Laurent verheiratet. Vor ihrem Tod bitten die beiden Gott um Verzeihung. Hat die Religiosität, die das Stück durchzieht, eine besondere Bedeutung für dich? Wir haben es in Gounods Fassung auf jeden Fall mit einer Gesellschaft zu tun, die an Gott glaubt und für die die Kirche eine Rolle spielt. Wenn verfeindete Gruppen einen Konflikt austragen, was zwischen den Capulets und den Montagues ja passiert, dann beobachtet man oft, dass die Religion beigezogen wird und eine starke Rolle dabei spielt, alle möglichen Dinge zu rechtfertigen, die anders nicht zu rechtfertigen sind. Auf der persönlichen Ebene von Roméo und Juliette glaube ich, dass sie mit Religion aufgewachsen sind und diese nicht gross hinterfragen. Wenn sie am Ende Gott um Verzeihung bitten, verstehe ich das eher als eine universale denn als eine tief religiöse Geste. Sie fühlen sich nicht schuldig, aber sie bereuen, dass sie für ihre Liebe so weit gehen mussten, sich das Leben zu nehmen.

Die beiden Librettisten haben Shakespeares Stück stark gekürzt. Gounods Oper entwickelt sich rund um vier grosse Liebesduette zwischen Roméo und Juliette. Welcher Dramaturgie folgt die Erzählung?

Das Libretto ist sehr geschickt angelegt, so nämlich, dass Roméo und Juliette immer wieder gestört und getrennt werden. Es ist den beiden bis zur letzten Szene nicht gestattet, ungestört zusammen zu sein. Sie wissen, dass man sie nicht zusammen sehen darf, und sind sich immer bewusst, in welcher Gefahr sie sich gerade befin-

Roméo et Juliette

Oper von Charles Gounod

Musikalische Leitung

Roberto Forés Veses

Inszenierung

Ted Huffman

Bühnenbild

Andrew Lieberman

Kostüme

Annemarie Woods

Lichtgestaltung

Franck Evin

Choreinstudierung

Ernst Raffelsberger

Choreografie

Pim Veulings

Dramaturgie

Fabio Dietsche

Roméo Montaigu

Benjamin Bernheim

Stéphano

Svetlina Stoyanova

Mercutio

Yuriy Hadzetskyy

Benvolio

Maximilian Lawrie

Juliette Capulet

Julie Fuchs

Le Comte Capulet

David Soar

Gertrude

Katia Ledoux

Tybalt

Omer Kobiljak

Le Comte Paris

Andrew Moore

Gregorio

Jungrae Noah Kim

Frère Laurent

Brent Michael Smith

Le Duc de Vérone

Valeriy Murga

Philharmonia Zürich

Chor der Oper Zürich

Statistenverein am Opernhaus Zürich

Premiere 10 Apr 2023

Weitere Vorstellungen

13, 16, 22, 25, 28 Apr; 4, 7, 13, 18 Mai 2023

Official Timepiece

Opernhaus Zürich den. Wenn man einmal selbst in der Situation gesteckt hat, sich irgendwo zu befinden, wo man eigentlich nicht sein sollte, dann weiss man, dass das mit einer grossen emotionalen Intensität einhergehen kann. Man kennt das ja auch aus Wagners Tristan und Isolde: Das heimliche Liebespaar befindet sich im zweiten Akt in dieser unerlaubten Situation, weil Isolde eine verheiratete Frau ist und den besten Freund ihres eigenen Mannes liebt. Sie wissen genau, wie gross die Gefahr ist, entdeckt zu werden. Aber die Zeit, die ihnen bleibt, wird dadurch viel kostbarer und intensiver.

Erzählt wird natürlich auch die Fehde zwischen den Capulets und den Montagues. Wie interpretierst du diese Figuren?

Roméos bester Freund Mercutio ist für mich eine berührende Figur, weil er eine gewitzte und lockere Haltung zur Welt hat und über vieles lachen kann. Dass ausgerechnet er zwischen den aggressiven Tybalt und seinen Freund Roméo gerät und aus einer unbeteiligten Zuschauersituation plötzlich mitten in den Konflikt gezogen und getötet wird, ist ein sehr tragischer Moment im Stück. Diese Rolle des Zuschauers, der mitleidet, ist auch in aktuellen Konflikten nicht zu unterschätzen. Die übrigen Capulets und Montagues stehen alle für eine aggressive Welt, die von Männern geprägt ist. Sie sind ständig bereit, sich gegenseitig zu verprügeln. Es ist, als würde man sich auf einer gefährlichen Strasse befinden. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen und Beschimpfungen, die man schon in Shakespeares Text findet, sind leider auch in unserer Gesellschaft virulent. Es wird immer noch versucht, Konflikte durch Gewalt zu lösen.

Eine der bekanntesten Adaptionen des Stoffs ist Leonard BernsteinsWest Side Story. Er zeigt den Konflikt zwischen den Capulets und den Montagues als ethnischen Bandenkrieg zwischen rivalisierenden Jugendlichen. Wie gehst du in deiner Inszenierung damit um? Wir wollten, dass die Capulets und die Montagues mehr oder weniger gleich aussehen. Wir wollen damit zeigen, dass es völlig unnatürliche Spaltungen in der Gesellschaft gibt. Diese unsinnigen, unsichtbaren Gräben werden von Generation zu Generation weitergegeben. Als ich ein Teenager war, sah ich im Kino immer Filme, in denen der Russe der Bösewicht ist. Solche Narrative prägen uns natürlich stark. Aber wir sollten aufhören, in Nationen zu denken. Wir wollen deshalb Montagues und Capulets zeigen, die am gleichen Ort leben und gleich aussehen, aber immer noch in der Tradition dieser Aggression stehen, die ihnen durch die Elterngeneration vermittelt wurde. Diese Generation zeigt den Kindern eben nicht nur, wen sie lieben sollen, sondern auch, wen sie hassen sollen. In unserer Inszenierung soll man sich die Frage stellen: Warum kämpfen die eigentlich miteinander? Ich weiss darauf keine Antwort.

Das Gespräch führte Fabio Dietsche

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