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Michael Beyer

Michael Beyer ist der Bildregisseur unserer TVÜbertragung von Charles Gounods Oper «Romeo et Juliétte». Die Premiere ist am 10. April zeitversetzt live auf ARTE zu sehen. Beyer gilt als absolute Koryphäe seines Fachs. Er hat die verantwortungsvolle Aufgabe der Bildregie in mehr als 250 Musikproduktionen für Fernsehen, Kino und DVDs übernommen, unter anderem beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, den Bayreuther Festspielen und in Produktionen des Opernhauses Zürich wie «Wozzeck», «Winterreise», «Simon Boccanegra», «Messa da Requiem» oder «Land des Lächelns».

Michael Beyer arbeitet in Diensten der von Paul Smaczny gegründeten Firma Accentus.

Siehe auch «Wir haben einen Plan» (S. 33)

Zwei Männer, zwischen denen ein Abgrund von Seelennöten klafft, von Hass und Hoffnung. Eine Schlüsselszene. Simon Boccanegra, Prolog, 6. Szene. Fiesco ist bereit, dem Verführer seiner Tochter zu vergeben, dem kommenden Dogen Venedigs, er möchte dafür das Kind der beiden aufziehen. Das geht nicht. Warum nicht? Die irrwitzige Spannung dieses Dialogs war wohl selten so zu erleben wie in einer Premiere, die nur etwas mehr als 50 Zuschauer im Zürcher Opernhaus sahen, im Lockdown 2020, aber dafür Tausende in der Liveübertragung auf Arte, gefesselt von den Sängern Christian Gerhaher als Boccanegra und Christof Fischesser als Fiesco, von Verdi, von der eindringlichen Regie. Und von den Bildern der Kameras 1, 2, 4, 6, 7. Über diese Kameras wusste ich nichts beim ersten Anschauen, ich dachte gar nicht erst über sie nach. «Tolle Inszenierung», dachte ich, «tolle Sänger.» Mehr nicht. Und das ist ganz im Sinne jenes Künstlers, von dessen Handwerk ich keine Ahnung hatte und der es mir in einem Berliner Café geduldig erklärt. Michael Beyer, Bildregisseur, der nach vielen Zürcher Produktionen nun auch Gounods Roméo et Juliette für die Übertragung auf Arte umsetzen wird, ist nicht der Typ TV­Profi, der sich auf 100 Meter Entfernung seine Wichtigkeit anmerken lässt. Noch aus der Nähe könnte man ihn für einen stillen Musikhistoriker halten. Mitte 50, grauer Sakko, helle Augen.

Er ist nicht in der Filmbranche gross geworden, sondern hat zuerst Klavier studiert, in Hamburg, wo er zur Oper fand und von da in die Welt der Kameras, in der er einer der wenigen ist, die Noten lesen können und, ja, auch spielen. Sonst könnte er die Kameraeinstellungen gar nicht auf die Achtelnote genau in den Klavierauszug schreiben. Aber diese Notizen sind ja auch nur für ihn selbst und Teil des Drehbuchs, mit dem er das Bühnengeschehen ins Video übersetzt. «Für mich fängt die Arbeit richtig an mit der Klavierhauptprobe, die erste, bei der Licht, Kostüme und Bühne zusammenwirken. Dann ist die Inszenierung so konkret, dass ich an die Umsetzung des Videos denken kann, dass ich den Raum sehe, um die Kamerapositionen richtig zu erstellen. Ich möchte auch verstehen, wie ist der Zugriff des Regisseurs, der Regisseurin, die Erzählweise.»

Es folgt die Feinarbeit, das Drehbuch, «bei mir ist das sehr konkret, für jeden Takt, jede Geste, was ich zeige, wie ich es zeige, welche Kamera das zeigt. Und wenn man das zum ersten Mal mit den Kamerakollegen realisiert hat, braucht man den Mut, viel zu ändern. Verstehen, was nicht funktioniert, wie ein Regisseur. Ich finde immer, genaue Vorbereitung ermöglicht Improvisation, Offenheit. Denn ich schwimme ja nicht, ich habe ein Gerüst.» Das ist nicht nur wichtig, weil eine Inszenierung noch auf den letzten Metern geändert werden kann, sondern weil der Kern einer Liveaufführung das Unberechenbare ist, der Spielraum für eine Lebendigkeit, die keine andere Kunst bietet. «Da muss man aufpassen, reagieren wie ein Dirigent. Man könnte sagen, die Kameraleute sind meine Sänger. Alles steht und fällt mit ihnen.»

Und wie funktioniert das im Einzelnen? «Wir werden Roméo et Juliette mit sieben Kameras aufzeichnen, eine ist für die Bühnentotale, die wird nur gelegentlich angefasst, die anderen sind für die Nahaufnahmen und die Halbtotalen. Es ist wichtig, dass die Kameraleute vorher wissen, was erzählt wird.» Aber Noten lesen müssen sie nicht. «Jeder hat ein Pad oder ein Papier mit nummerierten Einstellungen. Da steht genau drauf ‹Roméo halbe Figur› oder ‹folgen nach rechts›.» Um die Blende müssen sie sich nicht kümmern. «In der Bildtechnik wird die Aussteuerung gemacht, das heisst, für die etwas dunkleren Szenen müssen die Blenden geöffnet werden, in sehr hellen Szenen müssen sie geschlossen werden, damit die Bilder nicht überstrahlen.»

Derweil sitzt in der Bildregie Michael Beyer nebst Assistenten vor Monitoren für alle Kameras, wo er «die sieben Kamerasignale zusammenfügt für eine Sendung». Einfach gesagt: «Im richtigen Moment auf den richtigen Knopf drücken.» Genau so einfach stellt der Laie sich das ja gern vor, nicht wissend, was dahinter steht, vom Drehbuch bis zur Sensibilität, mit der die Kameraleute vorgehen müssen, wenn ein Sänger bei einem hohen Ton ganz aus der Nähe nicht so gut aussieht, wie er klingt, und was es überhaupt heisst, in einer Liveübertragung nichts holpern zu lassen. «Man soll nicht über die Fernsehumsetzung nachdenken. Ich möchte so nah dran sein an dem, was die Sänger verkörpern, was der Regisseur erzählt, es so stark vermitteln, dass ich quasi verschwinde. Dann habe ich meinen Job gut gemacht.»

Geht auch mal was schief? «Kirill Serebrennikov produziert ständig neue Ideen, also DAS ist gefährlich!» Bei Parsifal in Wien sei Serebrennikov der Einfall gekommen, dass Jonas Kaufmann als Titelheld die Worte des Gralshüters Amfortas mitspreche, da Akt 1 und 2 nur eine Erinnerung des alternden Parsifal sein sollten. «Da hab ich ihn gefragt: ‹Why didn’t you tell me?› ‹I thought it would be more fun if it’s a sort of jam session for you›». Beyer lacht. «Der ist so grossartig, dass ich das in Kauf nehme… Ja, ich hab noch reagieren können.» Da er selbst Opernregie studiert und gemacht hat, ganz jung auch als Assistent von Andreas Homoki in Hamburg, reizen ihn gerade die verschiedenen Handschriften der Regisseure. «Ich muss immer einen ganz neuen Weg finden.» Und auch wenn er dabei «verschwindet», entsteht doch eigentlich ein zweites Werk, so wie bei einer Übersetzung ein neues Buch entsteht.

Ganz auf sich gestellt ist Beyer bei Konzertaufzeichungen. «Da sitzt ein Haufen Menschen auf Stühlen, das ist als visueller Vorgang erstmal nicht so spannend. Man muss sich wirklich einlassen auf den Vorgang des Musikmachens, die Kommunikation, die Blicke, das Atmen innerhalb des Orchesters. Ich versuche, eine Erzählung zu machen aus dem kommunikativen Prozess.» Ein Gipfel dieser Arbeit war für ihn Claudio Abbados kompletter Mahler mit dem Lucerne Festival Orchestra. Sieben Jahre lang hat Beyer das Projekt begleitet, bis 2010. «Ich will niemandem zu nahe treten, aber das war kaum zu übertreffen. Die Aufbruchsstimmung dieses neuen Orchesters, bei Abbado das Gefühl, dass die Zeit knapp wird… Er machte alles auswendig, er war ständig mit den Augen bei den Musikern. Was gibt es Schöneres für einen Regisseur?»

Besonders gern filmt Beyer Ensembles der Alten Musik, «weil die viel mehr vom Körper her denken, das geht fast in Richtung Ballett». Womit wir schon beim Choreografen Christian Spuck wären, dessen Arbeit er liebt, und überhaupt kommt neben dem Profi der Enthusiast zum Vorschein, einer, der als 20­Jähriger mit Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau das Musiktheater für sich entdeckte, der von Visconti schwärmt ebenso wie von seinem, Beyers, wichtigstem Lehrmeister, dem Bildregisseur Brian Large. Der zeichnete den Bayreuther­Ring in der Regie von Patrice Chéreau auf. «Für den grossen Monolog von Hagen gibt es da eine einzige Einstellung, einen ganz langsamen Zoom, das finde ich toll in dieser Konsequenz. Früher haben die Leute auch längere Halbtotalen ausgehalten als wir das tun. Aber ich merke, dass ich selbst wieder ruhigere Momente suche. Nur im Kontrast kann etwas wirken.»

So wie die Szene aus Boccanegra, die ich nun erst recht bewundere. Mal Boccanegra und mal Fiesco von nahe, singend oder dem andern zuhörend, dessen Worte in der Mimik spiegelnd, mal Halbtotale mit beiden, dann drei Viertel der Bühne schräg von links gesehen, auf der sich nun alles dreht, während Boccanegra daneben kniet und erzählt, was mit seinem Kind geschah. Sanfter Dreiachteltakt zum schrecklichen Rückblick, den die wegdrehenden Wände enthüllen. Der Vater fand die alte Pflegerin gestorben, die kleine Tochter verschwunden. Mit drei Kameraeinstellungen innerhalb von fünf Takten beschleunigt die Bildfolge den Puls gegenüber der Musik, man gerät in einen Taumel zwischen Überblick und den Gesichtern aus nächster Nähe. Atemberaubend. Genau, einfach nur den richtigen Knopf drücken…

Volker Hagedorn

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