MAG 91: Girl with a Pearl Earring

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MAG 91

Stefan Wirth ist der Komponist von «Girl with a Pearl Earring»


Aus Ideen entsteht Zukunft. Der rein elektrische Audi RS e-tron GT.

Future is an attitude

Audi RS e-tron GT, 598 PS, 24,2 kWh/100 km, 0 g CO₂/km, Kat. A


Editorial

Zauber des ersten Mals Verehrtes Publikum, wenn sich in diesen Wochen der Vorhang zu den Vorstellungen im Opernhaus hebt, könnte der Eindruck entstehen, dass alles wie immer ist. Die Aufführungen sind ge­ plant, besetzt, und einstudiert. Die Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne geben ihr Bestes, die Gäste im Zuschauerraum applaudieren. Und trotzdem täuscht der Eindruck. Der Krieg in der Ukraine, die tödlichen Bomben, die dort auf Wohnhäuser, Spitäler oder Theater fallen, das Flüchtlingsleid, das er auslöst, greifen jenseits des Vorstellungsbetriebs tief ein in das Denken und Fühlen der Menschen, die am Opern­ haus arbeiten. Wie könnte es auch anders sein in einer Kulturinstitution, deren Selbst­ verständnis ein friedvolles, kosmopolitisches Miteinander für die Kunst ist, und die Mitarbeitende aus 38 Nationen beschäftigt, darunter etliche aus der Ukraine und Russ­land. Der Opern- und Ballettalltag ist nicht einfach zu leben, wenn um Ange­ höri­ge in der Ukraine und politisch Verfolgte in Russland gebangt werden muss; wenn Empörung sich ohnmächtig Luft verschaffen will; wenn in privaten Initiativen Flücht­ lingshilfe organisiert wird; wenn die Werte von Menschlichkeit und Empathie, die in unseren Bühnenwerken Abend für Abend zum Ausdruck kommen, gerade mit Füssen getreten werden. Wir versuchen es. Zum Beispiel mit einer neuen Oper, die nach mehrjähriger Vorbereitung nun in die Endproben geht und am 3. April das Licht der Welt erblickt. Wenn eine grosse Ur­aufführung ansteht, ist das immer ein ganz besonderer Moment für ein Opernhaus. Dann weht ein Hauch von Theatergeschichte durch die Proberäume, der Zauber des ersten Mals liegt in der Luft, und es gilt die Maxime, die Theodor W. Adorno einst aus­gegeben hat, nämlich dass Kunst bedeute, Dinge zu tun, von denen wir nicht wissen, was sie sind. Der Zürcher Komponist Stefan Wirth hat die neue Oper ge­ schrieben – ein Vollblutmusiker und Theater-Verrückter, der zu den vielseitigsten und kreativsten Künstlern der Schweizer Musikszene gehört und in der Welt der zeitge­ nössischen Musik trotz seiner 46 Jahre noch als junger Komponist gelten darf. Der Stoff, den er sich für sein erstes abendfüllendes Bühnenwerk ausgesucht hat, ist der Bestseller-Roman Girl with a Pearl Earring der amerikanischen Schriftstellerin Tracy Chevalier, der in der Welt des holländischen Malers Jan Vermeer spielt und die fiktive Geschichte des Mädchens mit dem Perlenohrring erzählt, das auf Vermeers berühm­ testem Gemälde zu sehen ist. Wirth, der neben dem Komponieren auch eine Pianistenlaufbahn verfolgt und als Theatermusiker etwa mit Christoph Marthaler zusammengearbeitet hat, legt mit seinem Girl ein Musiktheaterwerk vor, das auf den ersten Blick durchaus traditionell mit Handlung, konsistenten Figuren und luzidem Operngesang daherkommt, aber in seiner klangintensiven, psychologisch pochenden, brodelnden Orchestersprache dann doch mit viel Leidenschaft in die Gefilde des Noch-Nie-Gehörten aufbricht. Kein Geringerer als Thomas Hampson ist in der Partie des Malers Vermeer zu erleben, Laura Aikin ist seine Gattin Catharina und die junge amerikanische Sopranistin Lau­ ren Snouffer gibt die anspruchsvolle Hauptrolle der Dienstmagd Griet. Seien Sie dabei, wenn Wirths Girl with a Pearl Earring dem Publikum zum ersten Mal sein faszinierendes Gesicht zuwendet. MAG 91 / April 2022 Unser Titelbild zeigt den Komponisten Stefan Wirth (Foto Florian Kalotay)

Claus Spahn

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Podcast

sz a m To eczny i Kon Zwischenspiel Der Podcast des Opernhauses.

Der polnische Bass-Bariton Tomasz Konieczny singt den Wotan in unserer Neuproduktion von Richard Wagners «Ring», die Ende April mit «Rheingold» startet. Claus Spahn hat ihn am Rande der Zürcher Proben ins Podcast-Studio eingeladen, um mit ihm über die anspruchsvolle Partie des Göttervaters, über seine enge Beziehung zu den Werken Wagners insgesamt und vieles andere mehr zu sprechen.

Unterstützt von


Inhalt

8 Zwei Mitglieder des Internationalen Opernstudios erzählen, was der Krieg in der Ukraine für sie bedeutet 16 Von der Farbe zur Figur – der Schweizer Komponist Stefan Wirth spricht über seine erste Oper «Girl with a Pearl Earring» 22 Der Regisseur Ted Huffman erklärt, was es heisst, die Welt des holländischen Malers Jan Vermeer auf die Bühne zu bringen 30 Warum werden Gemälde zu Ikonen? Ein Gespräch mit Kunsthistorikerin Katja Lembke Opernhaus aktuell – 7, Drei Fragen an Andreas Homoki – 13, Wie machen Sie das, Herr Bogatu? – 15, Volker Hagedorn trifft … – 34, Die geniale Stelle – 38, Der Fragebogen – 43, Auf der Couch … – 44

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14.10. 2020.20:18  +  ABENDVORSTELLUNG  +  DORNROES


CHEN  +

Der besondere Blick von Monika Rittershaus

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Inspiration

Kultur

Engagement

Musik, Theater und Kunst – faszinieren, inspirieren, bewegen. Und fördern Dialog. Alles Gründe für Swiss Re, sich im Bereich Kultur zu engagieren, Kreativität und Leidenschaft zu unterstützen und neue, spannende Perspektiven zu eröffnen. In Zusammenarbeit mit Kultur-Institutionen und im Dialog mit Künstlern schaffen wir Neues. Und inspirieren Zukunft – gemeinsam: Together, we’re smarter. www.swissre.com


Opernhaus aktuell

8. Brunch- / Lunchkonzert Liederabend

Christian Gerhaher singt Brahms

Gerade eben hat er ein singuläres, hochgelobtes Mammutprojekt abgeschlossen: die Aufnahme aller Schumann-Lieder. Nun widmet sich Bariton Christian Gerhaher, den man in Zürich zuletzt als Alban Bergs Wozzeck und Heinz Holligers Lenau bewundern konnte, in seinem Zürcher Rezital dem mit Schumann eng verbundenen Johannes Brahms. Gerhaher, der für Brahms eine tiefe Zuneigung empfindet, beschreibt den Liedkosmos von Brahms als «breiten, dunkelgrün und dunkelroten Fluss», als «ein gleichsam dreidimensionales Tongebilde». In Gerhahers weitgespanntem Programm erklingen im ersten Teil die aus dunklen Gefühlsregionen stammenden 9 Lieder und Gesänge op. 32 sowie die sich mit dem Tod auseinandersetzenden Vier ernsten Gesänge op. 121, Brahms letztes Liedopus. Im zweiten Teil bringt Gerhaher zusammen mit seinem Klavierpartner Gerold Huber u. a den RegenliedZyklus aus op. 59 zu Gehör. Dienstag, 26 Apr 2022, 19.30, Opernhaus Zürich

Atelier obscura Am Tag der Uraufführung von Stefan Wirths Oper Girl with a Pearl Earring findet im Spiegelsaal ein Kammer­mu­sik­ konzert statt, für das der Komponist ein weiteres Stück geschrieben hat: Dieser druckfrische Gran Siciliano wird auf his­torischen Tasten- und Saitenin­stru­ men­ten gespielt und erklingt in der sogenannten «Mitteltönigen Stimmung», die vor allem in der Renaissance und im Barock gebräuchlich war. Zeitlich weit voneinander entstandene Kompositionen von Orlando di Lasso über Erich Wolfgang Korngold bis hin zu George Benja­min ergänzen dieses Werk. Stefan Wirth führt durch das Programm und spielt Klavier. Ausserdem sind Strei­­cher­ Innen der Philharmonia Zürich, Brian Feehan (Laute/Theorbe) und Naoki Kitaya (Cembalo) zu hören. Brunchkonzert: Sonntag, 3. Apr, 11.15 Uhr Lunchkonzert: Montag, 4 Apr, 12 Uhr Spiegelsaal

Ballett Zürich

Illustration: Anita Allemann

Ballettgespräch 4. La Scintilla-Konzert

Opernhaus Jung

Johann Christian Bach

Die Werkstatt der Schmetterlinge

Von den vier Bach-Söhnen, die als Komponisten berühmt geworden sind, war Johann Christian Bach der jüngste. 1735 in Leipzig geboren, führte sein Weg über Italien nach London, wo er mit Karl Friedrich Abel ein erfolgreiches Konzertunternehmen gründete und 1764 dem 8-jährigen Mozart begegne­­te, dessen Stil er entscheidend beeinflusste. Unter seinen Werken, die der Wiener Klassik den Boden bereiteten, befinden sich zahlreiche Opern und über sechzig Sinfonien. Riccardo Minasi hat daraus ein Konzertprogramm zusammengestellt, das er mit dem Orchestra La Scintilla präsentiert. Die junge Sopranistin Anna El-Khashem, die zuletzt als Susan­ ­na unter Gustavo Dudamel in Paris zu hören war, singt ausgewählte Arien. Montag, 4 Apr 2022, 19.30 Uhr

Ein Wesen zu schaffen, das schön ist wie eine Blume und fliegen kann wie ein Vogel – vor dieser Aufgabe steht der experimentierfreudige Rodolfo, die Haupt­figur in Gioconda Bellis Kinderbuch Die Werkstatt der Schmetterlinge. Zu Kompositionen von Camille SaintSaëns, Léo Délibes, Gabriel Fauré und Nikolai Rimski-Korsakow erleben Kinder auf der Studiobühne, dass sich diese Ge­schichte nicht nur mit Worten, sondern auch mit Musik erzählen lässt. Dabei sind sie nicht nur Zuschauer, sondern singen, tanzen und gestalten das Geschehen mit. Samstag / Sonntag, 9 / 10 Apr 2022, 15.30 Uhr, Studiobühne

Nach nur zwei Vorstellungen war im Herbst 2020 pandemiebedingt Schluss für Dornröschen. Jetzt kehrt Tschai­­kow­ skis Meisterwerk in der Inszenierung von Christian Spuck endlich in den Spielplan zurück. Die mit Spannung er ­war ­te­te Wiederaufnahme ist Thema im Ballettgespräch, in einem Pas de deux sind Michelle Willems und Lucas Valen­te zu erleben. Ausserdem spricht Dramaturg Michael Küster mit Ballettdirektor Christian Spuck über die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die internationale Tanzwelt. Bettina Holzhausen erzählt schliesslich von ihren Erfahrungen als Tanzpädagogin und stellt aktuelle Education-Projekte vor. Sonntag, 3 Apr 2022, 11.15 Uhr Studiobühne

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Der Krieg betrifft auch uns Alina Shevchenko ist Pianistin und stammt aus der Ukraine, Ilya Altukhov ist Bassist und kommt aus Russland. Beide sind zur­ zeit Mitglieder im Internationalen Opernstudio. Sie erzählen, was der Krieg für sie persönlich bedeutet und warum sie es trotz allem wichtig finden, miteinander im Gespräch zu bleiben Fotos Tanja Krebs

Vorname Name


10 Zum Krieg in der Ukraine

Alina, wo genau kommst du her? Alina: Ich bin in der Nähe von Donezk geboren und aufgewachsen und habe auch dort studiert. Als 2014 der Krieg begann, war ich gezwungen, mein Studium in Lwiw fortzusetzen. Meine Mutter ist in Donezk geblieben. Sie ist jetzt immer noch dort. Ich spreche jeden Tag mit ihr, und mein grösster Wunsch ist, dass sie mit meinen Grosseltern hierher kommt. Aber meine Grosseltern sind alt und weigern sich, die Ukraine zu verlassen. Wie geht es deinen Verwandten jetzt? Alina: Sie sind zutiefst schockiert und voller Angst. Der erste Schock kam 2014, als wir zum ersten Mal in die Luftschutzkeller mussten. Der schlimmste Moment damals war, als ich mich entschieden hatte, nach Lwiw zu gehen und mit dem Bus – wir hatten sehr mutige Busfahrer – trotz der Bombardierungen durch die Stadt fuhr. Es war nicht klar, ob ich meine Mutter jemals wiedersehen würde. Ich konnte dann zwar meine Mutter einige Male besuchen, aber es war nicht so einfach, in die besetzten Gebiete zu gelangen. 2018 wurde ich an der Grenze angehalten und verhört, in Anwesenheit von zwei Soldaten mit Maschinengewehren. Ich wurde gefragt, warum ich nach Donezk fahre; mein Telefon wurde durchsucht. Irgend­ wann hat man mir dann geglaubt, dass ich Musikerin bin und meine Eltern besuche. Nach diesem Vorfall bin ich nie mehr dorthin gefahren. Ich habe nun kein Zuhause mehr. Nach zwei Jahren Studium in Polen bin ich seit September hier im Opern­ studio. Es war oft nicht einfach für mich, wenn alle an Weihnachten nach Hause fuhren und ich allein zurückblieb. Jetzt ist es noch viel schlimmer geworden, weil nicht nur meine Heimatstadt unter Beschuss ist, sondern die ganze Ukraine. Ilya, woher kommst du? Ilya: Ich komme aus Komsomolsk am Amur im fernen Osten. Ich nenne es das reale Russland. Die Menschen leben dort ganz anders als in Moskau oder St. Peters­ burg. Meine Sehnsucht nach meiner Heimat ist sehr gross. Eine Zeit lang habe ich im Musikensemble des Innenministeriums gearbeitet – dort wurden vor allem Volkslieder gesungen. Später bin ich nach Moskau gezogen und habe dort meine Frau kennengelernt; im Juli letzten Jahres haben wir geheiratet. Einen Monat nach der Hochzeit fing ich hier im Opernstudio an. Für uns ist es sehr schwer im Mo­ ment. Ich würde meine Frau sehr gern hierherholen, sie ist krank und braucht regel­ mässig Medikamente, und ich befürchte, dass sie diese Medikamente wegen der Sanktionen in Russland bald nicht mehr bekommen wird. Wie stehst du zum Krieg? Ilya: Dieser Krieg ist grauenhaft. Da, wo ich herkomme, wurde natürlich der Jahres­tag des Sieges über Nazideutschland – des Sieges im «Grossen Vaterländischen Krieg» – gross gefeiert, wie im restlichen Russland auch. Aber nie haben die Vete­ ra­nen von ihren Heldentaten im Krieg berichtet, sondern es wurde vom Krieg immer als von etwas gesprochen, das sehr grausam ist, ein Albtraum, und sich auf keinen Fall wiederholen darf. Deshalb war ich genauso schockiert wie Alina, als ich vom Angriff Russlands auf die Ukraine erfahren habe. Ich verstehe nicht, wozu dieser Krieg gut sein soll – und wie wir damit weiterleben sollen. Die Folgen dieses Angriffskriegs werden wir alle noch sehr lange spüren. Die angebliche Feindseligkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer gegenüber der russischstämmigen Bevölkerung, die in der Ukraine lebt, die von der russischen Propaganda verbreitet wird – die mag es früher hier und da gegeben haben, aber jetzt wird Russland erst recht und verständlicherweise für lange Zeit der Feind der Ukraine sein. Alina, wie hast du das Verhältnis von Russland und der Ukraine vor dem Krieg empfunden? Alina: Wir waren im Grunde schon lange Opfer der russischen Propaganda. Die


Ukraine wollte unabhängig sein, und dazu gehörte auch die Pflege der ukrainischen Sprache und Kultur. Vor einiger Zeit ist dazu ein Gesetz in Kraft getreten, das im russischen Fernsehen als «Unterdrückung der russischen Sprache» kommentiert wurde. Dabei war es historisch gesehen viel häufiger umgekehrt – zur Zeit der Sowjetunion war es die ukrainische Sprache, die unterdrückt wurde, und ukrainische Kulturschaffende durften in ihrer Sprache nicht schreiben. Es gab grosse Umsied­ lungsprojekte: Ukrainer wurden gezwungen, in den fernen Osten zu ziehen, und in der Ukraine wurden Russen angesiedelt. Heute ist die Ukraine eine Demokratie, wir haben Meinungsfreiheit – davon kann man in Russland nur träumen. Ilya: Ja, das stimmt. Ich überlege mir oft, was ich wie ausdrücke. Es ist ge­fähr­ lich geworden, etwas gegen die Mächtigen zu sagen. Für mich ist es geradezu absurd, wenn unabhängige Berichterstattung verboten wird mit dem Hinweis, es handle sich bei den entsprechenden Medien um ausländische Agenten. Wir kehren in die Stalinzeit zurück. Und nur die vollkommen Furchtlosen wagen es noch, gegen den Krieg auf die Strasse zu gehen. Hast du auch hier in Zürich Angst, deine Meinung zu sagen? Ilya: Wenn man in Russland erfährt, was ich denke und hier auch öffentlich sage, werde ich dort als Extremist gelten. Ich werde versuchen, in der nächsten Zeit nicht nach Russland zurückzukehren. Die Menschen in Russland gehen nicht in wirklich grosser Zahl auf die Strasse, weil sie wissen, was passiert, wenn sie fest­ge­ nommen werden: Sie werden geschlagen und auf grausame Weise erniedrigt. Wer in einem russischen Gefängnis landet, gilt nicht mehr als Mensch und wird misshandelt. Und niemand wird je dafür bestraft. Der ukrainische Regisseur Andrej Sholdak hat dazu aufgerufen, sofort jegliche Zusammenarbeit mit Vertretern russischer Kultur zu stoppen. Alina, ist es für dich in Ordnung, weiterhin mit Russen zusammenzuarbeiten? Alina: Darüber habe ich lange nachgedacht. Ich glaube, wir sollten die Zusammen­ arbeit mit denjenigen Russinnen und Russen fortsetzen, die sich offen dazu be­ kennen, dass es sich um einen Angriffskrieg handelt, nicht um irgendeine Spezial­ operation, und die sich für den Frieden aussprechen und dafür, dass Russland seine Soldaten aus der Ukraine abzieht. Indem wir die Beziehungen nicht ganz ab­ reissen lassen, ermutigen wir hoffentlich andere dazu, ihre verständliche Angst zu über­winden und sich gegen den Krieg auszusprechen. Ich bin überzeugt davon, dass das dazu beitragen kann, den Krieg schneller zu beenden. Im grossen Spendenkonzert des Opernhauses, bei dem ihr beide gemeinsam aufgetreten seid, war der bewegendste Moment für mich, als Ilya gesagt hat: «In meinen Adern fliesst russisches, ukrainisches, weissrussisches und kasachisches Blut. Wir dürfen einander nicht umbringen!» Alina: Für mich war es sehr berührend, dass Ilya ein ukrainisches Lied gesungen hat. Ich fand das sehr mutig von ihm. Ilya: Ich könnte tatsächlich Probleme bekommen deswegen. Meine Familie ist in Russland; sie unterstützt Putin. Auch meine Frau ist in Russland, sie ist gegen den Krieg. Um sie habe ich Angst. Alina, kannst du deine Familie momentan irgendwie unterstützen? Alina: Nein, es ist leider nicht möglich, ihnen Geld zu schicken. Ich kann hier protestieren, Benefizkonzerte geben. Aber zu den Menschen in den besetzen Ge­ bieten kommt momentan überhaupt keine Hilfe. Trotzdem werde ich weitere Konzerte geben und weiter auf die Strasse gehen. Das Gespräch führte Beate Breidenbach

Unterkünfte für Geflüchtete gesucht Lidiya Filevych, Sopranistin im Chor der Oper Zürich und ge­­bür ­tige Ukrainerin, engagiert sich für Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten mussten. Die Situation in Zürich ist zurzeit chaotisch, die Be­ hörden sind mit der grossen Zahl der Geflüchteten über­ fordert. Wenn Sie eine Unter­ kunft anbieten möchten, können Sie sich direkt mit Lidiya Filevych in Verbindung setzen; geben Sie dabei un­ bedingt an, wie viele Betten Sie zur Verfügung stellen können und wen Sie bereit sind, aufzu­neh­men (Frauen, Kinder, Familien, Haustiere etc.). 076 606 31 35 lidka.drymba@gmail.com


N H O S S L E MEND

FEST

JETZT

TS TICKE ERN SICH

lucernefestival.ch


Drei Fragen an Andreas Homoki 13

Man muss Vertrauen haben

Foto: Daniel auf der Mauer

Herr Homoki, welche Bedeutung haben Uraufführungen für ein Opernhaus? Sie sind eigentlich eine Selbstverständ­ lichkeit. Es gab Zeiten, in denen man nur zu Uraufführungen in Opernhäuser ging. Das Phänomen, dass die Theater existierende Werke immer wieder auf­ führen, ist erst im 19. Jahrhundert ent­ standen. Heutzutage halten die Bühnen zwar in erster Linie das Repertoire von Monteverdi über Verdi und Wagner bis Bernd Alois Zimmermann lebendig, aber wir haben auch eine Verantwor­ tung, in die Zukunft des Musiktheaters zu investieren. Die nehmen wir hier in Zürich ernst. Regelmässige Urauffüh­ rungen gehören zu unserem fest verein­ barten Leistungsauftrag. Wie ist die Idee entstanden, den Schweizer Komponisten Stefan Wirth mit einem Opernauftrag zu betrauen? Wir hatten vor einigen Jahren ent­schie­ den, Kompositionsaufträge speziell an die Schweizer Musikszene zu ver­­geben, die dann im kleineren Format auf un­serer Studiobühne zur Uraufführung kommen sollten. Zwei neue Werke haben wir in dieser Reihe realisiert. Die dritte wäre Stefan Wirths Oper gewesen. Aber was er sich vorgenommen hat, wuchs in unseren Gesprächen deutlich über das Format einer Kammeroper hinaus, und da wir den Stoff und das kompositorische Temperament von Stefan Wirth sehr überzeugend fanden, haben wir beschlossen, die Uraufführung auf der Hauptbühne zu präsentieren. Die fiktive Geschichte über den Maler Vermeer und das von ihm porträtierte Mädchen mit dem Perlenohrring, die die amerikanische Schriftstellerin Tracy Chevalier in ihrem Bestseller-Roman erzählt, ist sehr attraktiv. Es war nicht leicht, die Rechte dafür zu bekommen, weil es ein Stoff ist, der auch schon prominent verfilmt wurde. Die Begehr­ lichkeiten, was künstlerische Mitsprache und kommerzielle Verwertung angeht,

waren von Seiten der Agenten zunächst gross. Aber die Schriftstellerin Tracy Chevalier selbst hat dann verstanden, dass wir hier kein Musical auf die Bühne bringen wollen, sondern avanciertes Musiktheater. Sie hat das Projekt sehr unterstützt. Die Produktion ist durch die Corona-Pandemie noch einmal in schwierige Fahrwasser geraten, als sie zum ursprünglich geplanten Termin im Mai 2020 wegen des Lockdowns nicht stattfinden konnte. Wir konnten unser Girl aber zum Glück samt aller Engagements in die jetzt laufende Spiel­ zeit verschieben, denn gerade eine Ur­ aufführung will man natürlich auf keinen Fall absagen. Ich bin sehr glücklich, dass wir das nun doch noch hinkriegen. Was kann eine Direktion zum Ge­ lingen einer Uraufführung beitragen? Sie muss das neue Werk in allen Phasen der Entstehung sorgfältig begleiten, Schwierigkeiten aus dem Weg räumen und die Realisierbarkeit im Blick haben. Aber das Wichtigste ist, dass man dem Künstler, dem man einen solch grossen Auftrag erteilt, Vertrauen schenkt und ihm die Freiheit gibt, das zu machen, was er sich vorgestellt hat. Darüber hin­ aus stehen wir natürlich in der Verant­ wortung, so eine Uraufführung seriös und möglichst hochkarätig zu besetzen. Ich denke, dass uns das bei Girl with a Pearl Earring gelungen, ist, denn wir konnten Thomas Hampson für die Rolle des Malers Vermeers gewinnen und haben mit Lauren Snouffer eine junge, hochbegabte Sopranistin für die Haupt­ rolle der Dienstmagd Griet engagiert. Die von mir besonders geschätzte Laura Aikin ist als Vermeers Gattin dabei. Ted Huffman ist genau der richtige Regisseur für diesen, unter einer stillen Oberfläche brodelnden Stoff, und unser Uraufführungsdirigent Peter Rundel ist ein Koryphäe im Umgang mit Parti­ turen, die noch nie gespielt wurden.


Sehnsucht Romantik! Dvořák, Verdi & Puccini

arthouse.ch


Wie machen Sie das, Herr Bogatu? 15

Frischluft für die Drehscheibe Schon häufig habe ich über Bühnenbilder auf Drehscheiben geschrieben und auch über Bühnenbilder, die sich selbst drehen können, aber noch nie über unsere in die Bühne eingebaute Drehscheibe. Diese wird in den nächsten Monaten sehr viele Einsätze haben, da fast alle Neuproduktionen auf ihr spielen: Girl with a Pearl Earring, Rheingold, Le nozze di Figaro, Walküre, das Ballett Nachtträume, Barkouf und Alice im Wunderland. Dazu kommen noch die Wiederaufnahmen von Dorn­rös­chen, Lucia di Lammermoor, Tristan und Isolde und Die Entführung aus dem Serail. Es ist also Zeit, ihr eine Kolumne zu widmen. Wenn unsere Drehscheibe im Einsatz ist, hat sie einen Durchmesser von 15 m. Sie fragen sich jetzt sicher, wie sich um alles in der Welt bei einer Drehscheibe der Durchmesser ändern soll – dazu komme ich gleich. Sie kann sich lautlos unendlich langsam bewegen, doch wenn sich die 15 Tonnen schwere Scheibe schnell drehen soll, wird es laut: Die Scheibe klingt dann wie ein star­tendes Flugzeug. Ich musste mir allerdings sagen lassen, dass ich masslos übertreibe. Nicht übertrieben ist jedoch, dass man sie bei der maximalen Geschwindigkeit während musikalisch eher lauter Stellen auch noch in der letzten Reihe gut hören kann. Das Besondere an unserer Scheibe ist, dass sie nicht da ist, wenn man sie nicht braucht: Die Scheibe ist in eine 16 x 16m grosse Fläche auf Rollen eingebaut, den Dreh­scheibenwagen, der auf unserer Bühne vor- und zurückfahren kann. Wenn man die Scheibe nicht braucht, fahren die Maschinisten den Wagen bis an die Rückwand der Bühne zurück. Da die Scheibe so gross ist, steht dann der vordere Teil des Drehscheibenwagens noch voll auf der Bühne. Um sie komplett von der Hauptbühne zu bekommen, löst die Bühnentechnik mit einem mehr als einen Meter langen Monsterschrauben­schlüssel die Verbindungsschrauben entlang der Mittelachse der Scheibe und des Drehscheibenwagens. Nun sind die Drehscheibe und der Drehscheibenwagen in zwei Teile geteilt. Der Boden unter dem hinteren, an die Rückwand geschobenen Teil wird nun so tief abgesenkt, dass wir den vorderen Teil des Drehscheibenwagens mit dem vorderen Teil der Drehscheibe auf den hinteren Teil fahren können. Nun liegt unsere Scheibe in zwei Teile zerlegt auf der Hinterbühne, und man nimmt sie nicht mehr wahr, da sie auf Bühnenniveau abgesenkt ist. Angetrieben wird die Drehbewegung von zwei Motoren, die in den vorderen Drehscheibenwagen eingebaut sind. Die Motoren treiben über ein Getriebe je zwei Reifen an, die an den Rand der Scheibe gedrückt werden und so die Scheibe drehen. Unsere Steuerung erlaubt es, beliebig viele Drehungen in alle Richtungen zu machen und auf jeder beliebigen Position anzuhalten. Aus technischer Sicht sind dabei nicht die schnellen Bewegungen problematisch, sondern die lautlosen, ganz langsamen: Bei den schnellen Bewegungen drehen sich die Motoren ausreichend schnell, um sich selbst kühle Luft zuzufächern. Drehen sie sich sehr langsam, gibt es keinen Luftzug, und die Motoren laufen heiss und schalten sich dann ab. Damit das nicht geschieht, stellen unsere Maschinisten kleine Ventilatoren in den Drehscheibenwagen, die den Motoren frische Luft zuführen.

Illustration: Anita Allemann

Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich


16 Monteverdi


Girl with a Pearl Earring 17

Radikale innere Zustände Der Schweizer Komponist Stefan Wirth hat eine neue Oper für das Opernhaus Zürich geschrieben, die am 3. April ihre Uraufführung erlebt. Sein «Girl with a Pearl Earring» spielt in der Welt des holländischen Malers Jan Vermeer und erzählt die fiktive Geschichte der jungen Frau, die auf Vermeers berühmtem Gemälde «Mädchen mit einem Perlenohrring» zu sehen ist Foto Florian Kalotay


18 Girl with a Pearl Earring

Stefan, Girl with a Pearl Earring ist deine erste grosse Oper. Was hattest du dir vorgenommen, als du anfingst zu schreiben? Welchem selbstgestellten Anspruch wolltest du auf jeden Fall gerecht werden? Sie sollte einen Sog entwickeln, dem man sich nicht entziehen kann. Das war mir am wichtigsten, denn das macht für mich eine gute Oper aus. Und was sollte sie auf keinen Fall werden? Verzopft und altmodisch. Sie sollte aber andererseits auch kein abstraktes Konstrukt werden, in dem man sich für die Figuren nicht mehr interessiert. Ich wollte, dass die Oper auf einer Geschichte aufbaut, aber radikale innere Zustände aufsucht. Manche Komponistinnen und Komponisten deiner Generation halten die Oper grundsätzlich für eine abgelebte Form, der man nichts Neues mehr hin­ zufügen kann. Wie ist das für dich? Ich habe ein Problem damit, wenn die Forderung nach Neuem gegen das Tradierte in Stellung gebracht wird. Mich interessiert nämlich vieles in der Musik, und wenn mich etwas packt, steige ich ein, egal aus welcher Zeit oder aus welchem Genre es stammt. Ich halte mich als Komponist nicht nur in einem, woran auch immer fest­ge­machten Jetztmoment auf und bewohne mit meinen Hörgewohnheiten ge­ wisser­­massen die gesamte Musikgeschichte. Und gerade was die Oper angeht, habe ich Lust, mich auf den vermeintlichen Anachronismus der Form einzulassen. Deshalb habe ich mir auch ein – auf den ersten Blick – konventionelles literarisches Sujet ausgesucht. Ich nutze das als Plattform, um von dort aus zu Neuem aufzu­ brechen. Wenn man eine Oper schreiben will, muss man viele Konventionen akzep­ tie­ren. Man kann sie alle abräumen, das ist überhaupt kein Problem, ich mache das bei anderen kompositorischen Arbeiten auch, aber dann ist es keine Oper mehr.

Stefan Wirth passt in keine StilSchublade. Der Zürcher Komponist nennt die Franzosen Maurice Ravel, Olivier Messiaen und Gérard Grisey ebenso wie den Amerikaner Charles Ives, wenn man ihn nach seine Referenz-Komponisten fragt. Neben dem Komponieren verfolgt er eine Pianisten-Laufbahn mit einer Vorliebe für sperrig-virtuoses und zeitgenössisches Repertoire. Als Theatermusiker hat er mit Christoph Marthaler und Frank Castorf gearbeitet. «Girl with a Pearl Earring» ist seine erste abendfüllende Oper.

Es gab Zeiten im 20. Jahrhundert, in denen es verpönt war, mit zeitgenössi­ scher Oper überhaupt noch Geschichten erzählen zu wollen. Sind die end­ gültig vorbei? Absolut. Dieses Traditionsverbot der Moderne ist abgeräumt. Wobei ich finde, dass diese heroische Zeit der Neuen Musik mit ihren Dogmen heute fast schon zu sehr diffamiert wird. Sie hat grossartige Werke und kompositorische Möglichkeiten hervorgebracht, die bis heute noch nicht ausgeschöpft sind. Man kann immer nur wieder staunen, wenn man sich damit beschäftigt. Aber natürlich hat eine aus­ schlies­sende Ästhetik in den Zeiten der Globalisierung und der kulturellen Öffnung ausgedient. Heute bewegt sich die Gegenwartsmusik in einem grossen ästhetischen Freiraum. Ich versuche den zu nutzen, ohne so zu tun, als hätte es das 20. Jahr­ hundert nicht gegeben, denn das ist immer noch die Musik, die ich am meisten höre. Wir Komponisten können uns aus allen Epochen und existierenden Traditionen und künstlich erschaffenen Welten etwas bauen. Wichtig dabei ist, dass wir nicht dem Mainstream folgen und Erfolgsumfragen bedienen müssen. Das ist immer schwerer zu vermitteln. Aber es ist die Basis: Autorenmusik. Die ungebundene Recherche einer Autorin, eines Autors oder eines Kollektivs bleibt das einzige ästhetische Kri­te­rium für die Gegenwartsmusik. Der Stoff, den du für deine Oper gewählt hast, war kommerziell sehr erfolg­ reich. Erwuchs daraus kein Problem für dich? Der Roman der amerikanischen Schriftstellerin Tracy Chevalier war ein Bestseller, er wurde mit dem Holly­ wood-Star Scarlett Johansson verfilmt. Und du schreibst eine Oper, die sich freimacht von dem Erfolg und nur, wie du es nennst, deiner Recherche folgt? Am Anfang, als wir uns um die Rechte bemühten, war es schwierig, weil da zwei Welten und völlig unterschiedliche Arten zu denken aufeinanderprallten. Der Agent von Tracy Chevalier war Feuer und Flamme für die Idee, den Stoff zu vertonen und sagte: Super, das bringen wir an den Broadway und spielen es im Londoner


Westend. Können Sie mir nicht schon mal zwei, drei Songs schicken, damit ich einen ersten Eindruck davon kriege? Und ich musste sagen: Sorry, damit kann ich nicht dienen, mir schwebt etwas anderes vor. Das Opernhaus hat dann bei den Verhandlungen um die Rechte deutlich machen können, dass sich kommerzielle Hoffnungen bei einer Opern-Uraufführung kaum erfüllen werden und es aus­ schliess­lich um die Ermöglichung von Kunst geht. Man spürte auch den Unterschied im Kultur­ver­ständnis zwischen der angelsächsischen Welt und dem alten Europa. Aber wir bekamen die Rechte. Das haben wir vor allem Tracy Chevalier zu ver­ danken, die die Art des Projekts verstanden und sehr unterstützt hat. Wie bist du auf den Stoff gekommen? Das Opernhaus hat mich gefragt, ob es einen Stoff gibt, den ich gerne vertonen würde. Ich sass im Garten, habe darüber nachgedacht und plötzlich fiel mir dieses Buch ein, das ich vor Jahren gelesen hatte – Girl with a Pearl Earring. Das war’s! Ich bin bei der spontanen Idee geblieben. Ich kenne das vom Komponieren, es braucht diesen einen intuitiven Moment, in dem man spürt: Hier liegt etwas ver­ borgen, das sich auszuloten lohnt, und von der ersten Note an spürst du, dass das Projekt möglich ist. Diese Intuition hat dich auch später nicht mehr getrogen? Nein, grundsätzlich habe ich das nicht mehr in Frage gestellt, obwohl es natürlich auf dem Weg schwierige Phasen gab. Sehr wichtig war die enge Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Librettisten Philip Littell, der genau verstanden hat, worum es mir geht und mit mir gemeinsam das Formgerüst geschaffen und einzelne Szenen auch immer wieder umgearbeitet hat. Was braucht ein literarischer Stoff, damit er sich für eine Oper eignet? Er muss Raum lassen für Musik. Das Buch spielt in der Welt des holländischen Malers Jan Vermeer. Es geht um das Betrachten von Bildern und Menschen und was der Anblick in den Betrachtern auslöst. Es geht um intensivierte Wahrnehmung, um Beziehungsspannungen, um Unausgesprochenes, aber umso stärker Empfunde­ nes. Da höre ich sofort Musik. Schon beim Lesen des Romans? Bestimmte Akkorde und Klangtexturen habe ich schon bei der Lektüre gehört. Tracy Chevalier erzählt eine fiktive Geschichte um die Entstehung von Vermeers Gemälde Mädchen mit einem Perlenohrring. Sie geht der Frage nach, wer das junge Mädchen auf dem berühmten Bild ist und in welchem Ver­ hältnis es zum Maler stand. Sie entwickelt eine Geschichte ohne spektakuläre äussere Ereignisse. Was geschieht, passiert klandestin. Ist es gut für eine Oper, wenn die literarische Vorlage handlungsarm ist? Das ist sehr gut. Ich will ja nicht zum Sklaven des Plots werden. Interessant wird es doch in der Oper immer erst dann, wenn die Handlung still steht, wie etwa im berühmten Rigoletto-Quartett, in dem Verdi die Zeit plötzlich anhält und alle Prota­gonisten gleichzeitig ihre sehr unterschiedlichen Gefühle nach aussen kehren. Im Zentrum des Stoffes steht die Dienstmagd Griet. Sie ist das Mädchen mit dem Perlenohrring. Wer ist diese Griet? Was macht sie interessant für dich? Tracy erzählt die Geschichte aus Griets Perspektive. Es ist ihre Sicht auf die Welt, die in dem Buch zum Ausdruck kommt. Sie wird zwar von Vermeer gemalt, aber sie entwirft bei Tracy auch ein Bild von Vermeer. Darum habe ich auch als Komponist quasi durch ihre Augen geblickt. Griet ist eine Figur mit vielen Fa­cet­ten. Sie hat die Dienstmagdstelle im Haus der Vermeers wider Willen angetreten, weil ihre Familie in Not geraten ist. Als Bedienstete muss sie mit harter Arbeit, Schikane

«Ich nutze die Form eines konventionellen literarischen Sujets als Plattform, um von dort aus zu Neuem aufzu­brechen.»


«Der transzendente Realismus von Vermeer ist eine enorme Anregung. Er malt die Sachen, die da sind, wie ein Fotograf, und gleichzeitig erfahren sie eine Überhöhung»

und Belästigung klarkommen. Gleichzeitig hat sie eine extrem wache Beobachtungs­ gabe. Sie ist hochbegabt und eine Seelenverwandte Vermeers. Sie hat den künst­ lerischen Blick und assistiert ihm, indem sie seine Farben herstellt. Gleich­zeitig ist sie unglaublich geschickt darin, die Psychologie der Menschen und Machtver­hält­nisse in dem Haus zu durchschauen. Am Ende findet sie ihren Weg durch dieses Laby­ rinth und kann alle Bedrohungen, die mal subtiler, mal weniger subtiler Natur sind, abwenden. Sie ist eine stille Heldin, mit der man sich gut identifizieren kann. Und wer ist Vermeer? Er ist die Blackbox. Das ganze Stück basiert darauf, dass man nicht weiss, wer er ist. Das ist ja auch bei der historischen Figur der Fall: Man weiss nicht viel über das Leben des Malers Jan Vermeer. Im Buch kommt er mir manchmal vor wie ein Gott, der nicht anwesend ist, den man aber spürt. Er existiert ausschliesslich in seiner Kunst. Deshalb hat Tracy auch so viel von ihr eingefangen. Vermeer scheint eine warme Seele zu haben, immerhin schützt er Griet. Aber er kann auch kalt und unbeteiligt wirken. Man weiss es nicht. Als der Librettist Philip Littell und ich erfahren haben, dass Thomas Hampson die Rolle übernimmt, haben wir darüber diskutiert, ob man ihm nicht eine grosse Arie komponieren sollte. Aber wir kamen zu dem Schluss, dass dieser Vermeer seine Gefühle nicht offenbart, indem er eine Arie singt. Er ist die grosse Leerstelle. Mich fasziniert an Vermeers Kunst auch, welche Bedeutung den Objekten in seinen Bildern zukommt, wie sinnlich und liebe­voll sie von ihm in den Blick genommen werden. Sie sprechen. Es scheint, als interessiere er sich mehr für den drapierten Samtstoff als für die Frau am Cembalo. Da entsteht ein Sog jenseits der Figuren, den ich für die Oper nutzen wollte. Wie ist das Verhältnis zwischen Griet und Vermeer? Das ist das grosse Thema. Ist es ein kühles Angestelltenverhältnis? Ist es die Kunstbeziehung zweier Seelenverwandter? Oder doch eine Liebesgeschichte? Viel­ leicht sucht Griet in Vermeer ihren Vater, der auch Künstler war und durch einen Unfall erblindet ist. Vielleicht sieht Vermeer in Griet die junge Frau, die Eros in sein Leben bringt. Ist das Verhältnis der beiden geprägt von Einvernehmlichkeit oder missbräuchlich? Es gibt ein grosses Spektrum in dieser Beziehung, und ich habe ver­ sucht, alles gleichzeitig zu erzählen. Eine Tat von grosser symbolischer Bedeutung gibt es im Roman dennoch: Das Stechen der Ohrlöcher. Griet muss die Perlenohrringe von Vermeers Ehe­ frau tragen. Erst dadurch erfährt das Bild seine Vollendung. Ja, das ist der einzige Augenblick, in dem er sie berührt und ihr etwas antut. Sie bittet ihn, das Ohr zu durchstechen. Genau. Beim ersten Ohrloch will sie es. Man könnte sagen, es ist die Vereinigung der Liebenden mit ihrer Zustimmung. Aber Vermeer besteht darauf, dass auch das zweite Ohr durchstochen wird, das auf dem Bild gar nicht zu sehen ist. Griet sieht das nicht ein. Er zwingt sie. Solche vielschichtigen Momente lassen sich durch Musik natürlich gut erzählen. Was folgte kompositorisch für dich aus der Wahl dieses Stoffes? Philip Littell hat im Libretto eine Abfolge von vielen Miniszenen – fast könnte man sagen – Genrebildern geschaffen, die auch im Roman schon so angelegt sind. Sie öffnen wie in der Malerei des 17. Jahrhundert kleine Fenster in eine intime Welt. Diese Struktur gibt mir die Möglichkeit, was den Stil angeht, zu variieren, die Farben, den Ton, die Atmosphäre immer wieder zu ändern. Deine Partitur spielt mit der Verschränkung von Sichtbarem und Imaginier­ tem, Realem und Erinnerten, Anwesenheit und Abwesenheit.


Gerade dieses Changieren macht die Kunstform Oper ja stark. Wir hatten anfangs überlegt, ob man mein Stück als Doppelabend mit Béla Bartóks Herzog Blaubarts Burg kombinieren soll, bevor klar war, dass es dafür zu lang sein würde. Es gibt Parallelen zwischen Blaubarts Welt, seinen Zimmern, dem Verborgenen dahinter und diesem Haus von Vermeer. Hat dich die Malerei Vermeers beim Komponieren inspiriert? Wenn man eine Oper schreibt, muss man eine Welt erschaffen, und da ist der trans­zendente Realismus von Vermeer schon eine enorme Anregung. Er malt die Sachen, die da sind, wie ein Fotograf, und gleichzeitig erfahren sie eine Über­ höhung. Man kommt durch seine Bilder direkt zu Musik. In den Kosmos von Vermeer ein­zu­tauchen, Stimmungen zu hören, surreale Räume zu schaffen – das hatte für mich Potenzial auch im Sinne eines zeitgenössischen Komponierens. Ich habe beispielsweise versucht, Formen zu konstruieren, die aus der Maltechnik von Vermeer abgeleitet sind. Die ist wirklich faszinierend. Man nimmt an, dass er die Camera obscura, also diesen ersten «Fotoapparat», benutzt hat, um die Szenen mit einem unglaublichen Realismus abbilden zu können. Gleichzeitig wählt er einen ganz eigenen Weg, von der Farbe zur Figur zu kommen. Er arbeitet mit Farbaufträgen, schichtet sie auf der Leinwand und irgendwann erscheint die Figur. Sie ist nicht gezeichnet und entsteht daraus wie die Farben aufgetragen werden. In meiner Oper gibt es eine grosse Malszene, das ist der Moment, in dem Vermeer das Mädchen mit dem Perlenohrring malt. Ich habe diese Szene als eine rein instru­­ mentale Szene angelegt und mich von der Vermeerschen Maltechnik inspirieren lassen. Es gibt zunächst nur eine leere Akkord-Leinwand. Dann legt sich eine Farbe darüber, dann die nächste, immer noch ohne Figur. Es kommen einzelne KlangPunkte hinzu, und langsam beginnt die Figur sich abzuzeichnen aus einzelnen Tönen, die aus Akkordschichten gefiltert werden. Oper lebt vom Gesang. Fiel es dir leicht für Stimmen zu schreiben? Die Gesangslinien perfekt zu schreiben, war mir extrem wichtig. Es hat mich selbst ein wenig überrascht, wie sehr mich diese Aufgabe eingenommen hat. Ich habe die Phrasen immer wieder überarbeitet, hier noch einen Ton geändert, sie dort ein Viertel früher beginnen lassen, und erst als wirklich alles auf den Punkt war, kam die Emotion, so wie ich sie wollte.

Girl with a Pearl Earring Stefan Wirth Uraufführung Musikalische Leitung Peter Rundel Inszenierung Ted Huffman Bühnenbild Andrew Lieberman Kostüme Annemarie Woods Lichtgestaltung Franck Evin Choreografische Mitarbeit Sonoko Kamimura Dramaturgie Fabio Dietsche Griet Lauren Snouffer Jan Vermeer Thomas Hampson Catharina Vermeer Laura Aikin Maria Thins Liliana Nikiteanu Pieter Yannick Debus Tanneke Irène Friedli Van Ruijven Iain Milne Griet’s Mother Sarah Castle Child engine Lisa Tatin Philharmonia Zürich

Du bist also auf den Spuren Bellinis gewandelt? lacht Ein bisschen. Sonst bin ich eher der strukturalistische Typ. Eine vollendete vokale Linie zu schreiben, ist ein Handwerk, das in der zeitgenössischen Musik kaum mehr gepflegt wird. Du kannst heute in der Horizontalen jeden Ton schreiben, den du willst. Das ist das Erbe der Atonalität. Aber ich wollte diese Herausfor­ derung, perfekte vokale Linien zu schreiben, bei dieser Oper unbedingt meistern. Dieser Anspruch hat im Komponierprozess bei mir alles andere überlagert.

Premiere 3 Apr 2022 Weitere Vorstellungen 7, 9, 16, 24, 29 Apr; 6, 8 Mai 2022

Du wusstest, für welche Sängerinnen und Sänger unserer Produktion du schreibst. Hat dich das beflügelt? Extrem. Das Instrument zu kennen, für das man komponiert, war sehr hilfreich und hat auch meine kompositorischen Entscheidungen beeinflusst. Bei Laura Aikin beispielsweise habe ich gemerkt, ich muss es schwer machen, sie langweilt sich sonst zu Tode. Ich hätte ihre Partie nicht so geschrieben, wenn ich nicht gewusst hätte, dass es für sie ist. Ich wollte die Möglichkeiten ihrer Stimme ausschöpfen. Das gilt ebenso für Lauren Snouffer, die die Partie der Griet singt, für Thomas Hampson als Vermeer und alle anderen.

Mit freundlicher Unterstützung von Pro Helvetia

Das Gespräch führte Claus Spahn

Mit freundlicher Unterstützung der Landis & Gyr Stiftung

Mit freundlicher Unterstützung der Ringier AG Kompositionsauftrag von Opernhaus Zürich gefördert durch die


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Nachdenken über und Geometrie Der junge amerikanische Regisseur Ted Huffman inszeniert Stefan Wirths Oper «Girl with a Pearl Earring». Sie kreist um Jan Vermeer. Aber wie bringt man den Kosmos des holländischen Malers auf die Bühne, ohne eine historische Strasse in Delft zu zeigen? Fotos T + T, Toni Suter


Form


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Ted Huffman, nach Puccinis Madama Butterfly inszenierst du am Opernhaus Zürich nun die Uraufführung von Stefan Wirths Oper Girl with a Pearl Earring. Was machst du lieber: das Repertoire neu befragen, oder neue Stücke kreieren? Wenn wir wollen, dass die Oper als Kunstform überlebt, dann müssen wir mindestens so viele neue Werke auf die Bühne bringen wie Repertoirestücke. Hälfte-­Hälfte fände ich ein gutes Gleichgewicht. Ich habe selber immer wieder an Urauf­füh­r un­gen mitgearbeitet, nicht nur als Regisseur, sondern auch als Librettist: Zu­sammen mit dem Komponisten Philip Venables habe ich beispielsweise das Stück Denis und Katya konzipiert. Diese Kammeroper, die in Philadelphia uraufgeführt wurde, hat gerade auch den Weg auf die europäischen Bühnen gefunden. Es ist schön zu sehen, dass die Anzahl neuer Werke während der Zeit, in der ich am Theater arbeite, enorm gewachsen ist und dass auch das Publikum mitwächst. Ich verbringe viel Zeit damit, neue Stücke zu kreieren und mag diese Arbeit sehr! Aber natürlich liebe ich auch das Repertoire. Ich glaube nicht, dass ich mich für das eine oder das andere entscheiden könnte. Stefan Wirths Oper Girl with a Pearl Earring trägt den Titel eines berühmten Gemäldes von Jan Vermeer. Welche Bedeutung hat dieses Porträt für die Oper? Die junge Frau, die auf Vermeers Gemälde zu sehen ist, blickt den Künstler an, der sie porträtiert. Ich glaube, dass dieser Blick den Betrachter fesselt, weil er so komplex ist: es drückt sich darin Aufregung aus, Angst, aber auch eine Energie, die etwas über das Verhältnis zwischen dem Künstler und der abgebildeten Frau erzählt. Dieses Gemälde ist einzigartig unter Vermeers Werken, weil es im Gegensatz zu seinen anderen Bildern, die oft einen grösseren Raumausschnitt zeigen, ganz auf das Gesicht fokussiert ist. Es wirkt sehr persönlich. Über die historische Entstehung dieses Gemäldes wissen wir nichts. Die Autorin Tracy Chevalier hat aber vom Bild aus­gehend eine Geschichte erfunden, die auch in Stefans Oper erzählt wird.

vorherige Doppelseite: Thomas Hampson als Jan Vermeer und Lauren Snouffer als Griet rechts: Thomas Hampson, Ted Huffman, Stefan Wirth und Lauren Snouffer diskutieren eine Szene Vermeer (Thomas Hampson) ist in Gedanken versunken

Worum geht es? Erzählt wird die Geschichte von Griet, einem Mädchen aus einer unvermögenden Familie, die im Haushalt des Malers Jan Vermeer als Dienstmagd angestellt wird. Dort wird sie mit den harten Realitäten der damaligen Zeit, des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden, konfrontiert. Sie erfährt, was es bedeutet, eine Frau aus der unteren Gesellschaftsschicht zu sein. Griet muss lernen, mit den Umständen in Vermeers Haus zu leben. Es ist ein Haushalt mit vielen Kindern, und Vermeers Frau Catharina erwartet schon das nächste. Griet hat aber auch die Aufgabe, im Atelier von Vermeer sauber zu machen, wo sie einer ganz anderen Welt begegnet: der­ jenigen der klaren Formen, des Lichts und der Farben. Vermeer entdeckt, dass Griet ein gutes Auge für seine Arbeit hat, und er lässt sie daran teilhaben. So ent­wickelt sich eine intime Beziehung zwischen den beiden. Je weiter die Handlung voran­ schrei­tet, desto klarer wird aber, dass Griet und Vermeer in der realen Welt keine Beziehung führen können. Sie können sie nur im Atelier haben, in dem es keine gesellschaftliche Struktur gibt. Auf der Ebene der Kunst können sie sich als Gleichberechtigte begegnen, und in einer Szene erkennt man, dass Griets ästhetisches Urteilsvermögen dasjenige von Vermeer sogar übertrifft. Tracy Chevaliers Roman schildert diese Geschichte äusserst detailreich. Der Regisseur Peter Webber hat den Roman mit Scarlett Johansson und Colin Firth in den Hauptrollen nah an einer möglichen historischen Realität verfilmt. Was kann eine Oper dem hinzufügen, und wie setzt du dich als Regisseur von diesem prominenten Film ab? Ich muss gestehen, dass ich den Film nicht gesehen habe. Absichtlich. Ich wollte ihn nicht in meinem Kopf haben. Diese Geschichte als Oper zu erzählen, finde ich



Griet (Lauren Snouffer) wird vom Kunstmäzen van Ruijven (Ian Milne) belästigt


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deshalb interessant, weil Musik und Psychologie sehr eng miteinander verbunden sind. In Tracy Chevaliers Roman gibt es wenig Dialog, dafür sehr viele Momente, in denen die Erzählung Griets innere Gedankenwelt wiedergibt. Ich glaube, dass dieser innere Monolog, in dem es um psychologische Strukturen, aber auch um ästhetische Überlegungen geht, auch für Stefans Musik entscheidend waren. Mich inspirieren sie jedenfalls zur Inszenierung: Eine Bühne ist für mich immer ein Raum, der Gedanken darstellt, nicht nur äussere Schauplätze. Gleichzeitig möchte ich aber auch, dass die Vorstellungskraft des Publikums angeregt wird, über die Orte des Geschehens nachzudenken, sie sich vorzustellen. Auf der Bühne wird also nicht eine Strasse in Delft zu sehen sein, aber es wird verschiedene Hinweise geben, die der Vorstellungskraft eine Richtung vorgeben. Waren die Gemälde von Vermeer eine wichtige Inspiration für deine Inszenierung? Auf jeden Fall. Ich kann mich gut erinnern, wie ich während einem Austausch­ semester in London zum ersten Mal Gemälden von Vermeer begegnet bin. Es war in der National Gallery in einem sehr kleinen Eckzimmer. Vermeers Bilder lassen einen tatsächlich innehalten. Ich finde, dass darin eine grosse formale Klarheit und tiefe Menschlichkeit aufeinandertreffen. Man meint, den Geist des Künstlers zu fühlen. Genauso wenig, wie ich ein historisches Setting auf die Bühne bringen möch­te, interessiere ich mich aber dafür, Vermeer-Bilder nachzustellen oder abzubilden. In meiner Inszenierung versuche ich, der Gedankenwelt Griets zu folgen und lasse bewusst Szenen entstehen, die ich dann auch wieder dekonstruiere. Die Menschen, Tische und Stühle möchte ich dabei genauso durchdacht platzieren, wie Vermeer das in seinen Gemälden macht. So will ich das Publikum dazu bringen, über Form und Geometrie nachzudenken. Form spielt in deiner Regiearbeit eine grosse Rolle, das hat schon deine Ma­da­ ­ma Butterfly gezeigt. Susan Sontag hat in ihrem Essay Against Interpretation in den 1960er Jahren einmal sehr dafür plädiert, sich weniger mit dem Inhalt aufzuhalten und dafür die Form von Kunstwerken sichtbar zu machen. Ist das ein Ansatz, der dich geprägt hat? Dieses Thema ist, wie du sagst, nicht neu. Aber ich finde, dass wir, die Opern machen, darüber nachdenken und sie besuchen, uns auch heute mit dieser Frage beschäftigen sollten. Ich bin sehr daran interessiert, durch die Form zu sprechen. Und eine Oper, die im Umfeld eines Künstlers spielt, der sich intensiv mit Fragen der Optik, der Geometrie und der Perspektive auseinandergesetzt hat, kommt mir da natürlich sehr entgegen. Ich nähere mich den Dingen auch oft durch die Form, wenn ich selber schreibe. Stark formalisierte Stücke wie beispielsweise Sarah Kanes 4.48 Psychose, das ich auch als Kammeroper von Philip Venables zur Uraufführung gebracht habe, haben mein Theaterverständnis geprägt. Wie bereitest du dich jeweils auf Uraufführungen vor? Oft muss ja über die Inszenierung nachgedacht werden, bevor das Stück überhaupt fertig vorliegt. Bei Stefans Oper hatte ich ein bisschen mehr Zeit, da diese Oper schon vor zwei Jahren auf die Bühne gelangen sollte. Und das Haus hat mir eine Aufnahme mit Klavier und markierten Singstimmen zur Verfügung gestellt. Das war eine grosse Hilfe. Aber Stefans Musik lebt natürlich stark von den strukturell aus­ge­feilten Klängen, die erst durch das Orchester hör- und erlebbar werden. Drei Wochen vor der Uraufführung weiss ich also noch immer nicht genau, wie das Stück klingen wird und freue ich sehr, bald eine Orchesterprobe zu hören. Bei meinen eigenen Stücken haben wir teilweise lange Workshops gemacht, auch mit den Orchestern. Das war natürlich ein Luxus, den man nicht immer und überall hat. Aber ich finde, es lohnt sich!


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Müsste man für Uraufführungen und für die intensive Beschäftigung mit neuer Musik also eigentlich andere Strukturen zur Verfügung haben, als wir sie an einem grossen Repertoirehaus wie dem Opernhaus Zürich bieten können? Ich glaube, das hängt sehr von der Art und Weise des Stücks ab. In diesem Fall war der Prozess eher «traditionell»: zuerst das Libretto, dann die Komposition, dann die Regie. Allerdings wurde ich sehr früh in das Projekt hereingelassen und hatte die Möglichkeit, mich intensiv mit Tracy Chevalier, Stefan Wirth und dem Librettisten Philip Littell auszutauschen. Das war sehr wertvoll und hat für mich gut funktioniert. Ich glaube, es ist auch richtig, dass Musik sich dem Verständnis zunächst entzieht, dass sie sich abstrakt anfühlt. Man muss sich ihr dann annähern. Jetzt, wo ich mit Stefans Musik von Tag zu Tag vertrauter werde, gefällt mir die Art und Weise, wie er die Gedanken der Figuren reflektiert, sehr gut. Als ich zum ersten Mal von Stefans Idee hörte, eine Oper aus dem Stoff Girl with a Pearl Earring zu machen, war ich ein bisschen skeptisch. Oberflächlich gesehen, geht es doch um ein allzu bekanntes Narrativ über den berühmten Künstler und seine Muse… Mir gefällt gerade gut, dass sich diese Geschichte einer solchen Vereinfachung entzieht. Im Mittelpunkt steht nicht der Künstler, sondern die Persönlichkeit und auch die Sexualität von Griet selbst. Zwischen ihr und Vermeer entsteht ausserdem keine sexuelle Beziehung, sondern eine erotische Anziehungskraft, die letztlich in einem künstlerischen Prozess mündet. Mit sexueller Energie wird Griet hingegen von den anderen beiden Männern des Stücks konfrontiert: der Kunsthändler van Ruijven, der viel Geld und Einfluss hat, belästigt Griet und versucht, sich an ihr zu vergreifen. Der junge Fleischer Pieter hingegen konfrontiert sie mit einer Art von sexueller Neugierde, die für Griet zwar ein unbekanntes Gebiet ist, die sie bei Pieter aber zulassen kann. Ich finde, dass Tracy Chevaliers Erzählung und Stefans Oper sehr ehrlich die Herausforderungen, Anziehungen und Gefahren wider­ spiegeln, mit der eine junge Frau konfrontiert werden kann. Und im Rahmen der MeToo-Bewegung haben wir in den letzten Jahren glücklicherweise gelernt, diese Themen öffentlich zu diskutieren. Am Ende der Oper bricht Griet aus der Situation in Vermeers Haus aus und entscheidet sich für ein anderes Leben, in dem sie keine Dienstmagd mehr ist. Der grosse Bogen dieser Erzählung beschreibt also, wie eine junge Frau zu sich selbst findet. Stefan Wirths Oper geht von einem Gemälde Vermeers aus. Im Zentrum der Oper malt Vermeer dieses Porträt. Am Ende ist es dasjenige, was von der Beziehung zwischen Griet und Vermeer übrigbleibt. Ist Kunst an sich auch ein Thema dieser Oper? Ich denke, dass uns diese Oper dazu bringen kann, ein Kunstwerk, das wir vielleicht nur aus der Populärkultur kennen, eingehender zu überdenken und vielfältigere Bedeutungsebenen dahinter zu entdecken. Ausserdem kann sie uns dazu anregen, über die Funktion von Kunst in unserer Gesellschaft nachzudenken. Meiner Meinung nach hilft uns die Kunst dabei, die Welt anders zu verstehen als sie auf den ersten Blick erscheint. rechts: Regisseur Ted Huffman Vermeers Ehefrau Catharina (Laura Aikin) erwartet ein Kind. Im Hintergrund: Maria Thins (Liliana Nikiteanu) und Child Engine (Lisa Tatin)

Das Gespräch führte Fabio Dietsche



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Die späte Karriere der holländischen Mona Lisa Im 17. Jahrhundert war Vermeers Gemälde «Mädchen mit einem Perlenohrring» nur ein paar Gulden wert. Heute ist es weltberühmt und unbezahlbar. Wie werden Bilder zu Ikonen? Ein Gespräch mit der Kunsthistorikerin Katja Lembke

Frau Lembke, Sie haben ein Buch über Ikonen der Kunst geschrieben. Warum haben Sie sich mit den berühmtesten Werken der Kunstgeschichte beschäftigt? Bei einem Besuch im Louvre sah ich die Menschenmassen vor Leonardo da Vincis Mona Lisa und begann mich für die Menschen zu interessieren, die das Bild, vor dem sie stehen, kaum sehen können. Gute Abbildungen der Mona Lisa gibt es in jedem Kunstbuch und im Internet. Aber es geht eben nicht um das Bild, sondern darum, dass die Menschen im selben Raum sein wollen. Es geht also um die Aura, wie Walter Benjamin dieses Phänomen genannt hat, und ich wollte gerne wissen, wie eine solche Aura eigentlich entsteht. Als klassische Archäologin habe ich mich gefragt, warum die Venus von Milo so berühmt ist. An ihrem Beispiel zeigt sich etwa, dass Ikonen oft im Zuge eines Kulturimperialismus entstehen, also in einem Kampf zwischen verschiedenen Staaten oder Metropolen um die kulturelle Vorherr­ schaft. Die Venus von Milo kam 1821 in den Louvre, wo sie zur «schönsten Frau der Antike» hochstilisiert wurde, nur wenige Jahre, nachdem das British Museum Skulpturen und Tempel-Schmuck von der Akropolis nach London geholt und ausgestellt hatte. Es geht also oft um Kriterien, die mit dem eigentlichen Kunstwerk nichts zu tun haben, sondern diesem später zugeschrieben werden. Wovon hängt es noch ab, dass wir ein Kunstwerk als «bedeutend» einordnen? Ein grundlegendes Kriterium ist die Zugänglichkeit. Wenn ein Werk nicht zu sehen ist, kann es auch keine Ikone werden. Eine Ausnahme bildet in gewisser Weise die Mona Lisa, die schon im 16. Jahrhundert von Giorgio Vasari, dem «Vater» der Kunstgeschichte, beschrieben wurde, obwohl sich das Bild damals in der Samm­ lung des französischen Königs in Fontainebleau befand. Man rätselt bis heute, wie diese Beschreibung zustande kam. Fest steht, dass Vasari das Bild nicht gesehen haben kann, was sich auch daran zeigt, dass er die Augenbrauen der Mona Lisa beschreibt, die es auf dem Bild gar nicht gibt… Die Form der Präsentation im Museum, wie wir sie heute kennen, hat erst ab dem 15. Jahrhundert langsam ein­ gesetzt. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass Leonardos Abendmahl lange Zeit berühmter war als seine Mona Lisa: Letztere ist erst 1804 aus der königlichen Sammlung in den Louvre übergegangen; das Abendmahl, das sich im Refektorium eines Klosters befindet, konnte hingegen schon immer besucht werden. Haben neben den Kunstwerken auch ihre Schöpfer eine Bedeutung für die Ikonisierung? Ja, gerade im 19. Jahrhundert wurden einige Künstler zu regelrechten Heroen gemacht. In Verbindung mit dem Namen des Künstlers wurden ihre Werke zu na­tio­nalen Denkmälern: Im Madrider Prado gibt es einen Raum, der eine geradezu sakrale Aura hat, weil darin Velázquez’ Las Meninas hängt, das die Königsfamilie zeigt. Man denke auch an die grosse Ehrenhalle im Amsterdamer Rijksmuseum: Rembrandt und seine Nachtwache repräsentieren dort symbolhaft die Nieder­lande.


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In Ihrem Buch schreiben Sie, dass auch die Medialisierung von Kunstwerken zu deren Ikonenstatus beiträgt und führen als Beispiel etwa den millionenfach angeklickten Musikclip Apeshit von Beyoncé und Jay-Z im Louvre an. Inwiefern geht es in diesem Fall eigentlich noch um das Kunstwerk selbst? Laut Walter Benjamins These vom «Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Re­ produzierbarkeit» würde das Bild durch einen solchen Vorgang seine Aura verlieren. Diese These wird heute aber kritisch betrachtet. Persönlich denke ich, dass durch diese unglaubliche mediale Verbreitung eine Art neue Aura entsteht. Gerade in der Folge dieses Musikclips wollten jede Menge junge Menschen den Louvre sehen. Natürlich ist aus kunsthistorischer Sicht ein T-Shirt mit Botticellis Geburt der Venus dem Werk nicht angemessen. Aber dass es überhaupt wahrgenommen wird, hat doch einen Wert an sich. Für mich gibt es keine guten oder schlechten Besucher. Wichtig ist, dass die Menschen überhaupt ins Museum gehen! Wir spielen in Zürich eine Oper, die Jan Vermeers Gemälde Mädchen mit einem Perlenohrring thematisiert. Sie haben diesem Bild in Ihrem Buch ein Kapitel gewidmet. Warum ist es zu der Ikone geworden, die heute vielfach reproduziert auf Tassen, T-Shirts und Schlüsselanhängern zu finden ist? Am Künstler selbst liegt es in diesem Fall sicher nicht. Vermeer war zu seinen Leb­ zeiten vollkommen unbekannt und wird deswegen auch als «Sphinx» von Delft bezeichnet. Wir wissen bis heute nur sehr wenig über ihn. Vermeer hat nur eine ge­ ringe Anzahl Bilder hinterlassen, die zunächst völlig in Vergessenheit gerieten. Das Mädchen mit einem Perlenohrring hat Ende des 17. Jahr­­­hunderts für wenige Gulden den Besitzer gewechselt! Die Wieder­entdeckung von Vermeer hat erst im 19. Jahrhundert eingesetzt, als erste Studien über sein Werk erschienen. Sie bezeichnen das Mädchen von Vermeer als «Holländische Mona Lisa». Sind die Geschichten dieser beiden spät bekannt gewordenen Bilder zu vergleichen? Die Mona Lisa wurde, wie gesagt, bereits im 16. Jahrhundert beschrieben. Diese Aufmerksamkeit hatte Vermeers Bild erst viel später. Eine Parallele gibt es aber bei der Frage, wer auf den Bildern dargestellt ist. Das Lächeln der Mona Lisa und der leuchtende Blick des unbekannten Mädchens fordern diese Frage heraus.

Das Bild «Mädchen mit einem Perlen­ ohrring» von Jan Vermeer ist im Mauritshuis in Den Haag zu sehen.

In Ihrem Kapitel über die Mona Lisa berichten Sie, dass das Bild nach seiner Veröffentlichung im Louvre bald auch prominent beschrieben wurde, etwa von Théophile Gautier, George Sand oder Sigmund Freud. Trägt die Literarisierung zur Ikonisierung von Kunstwerken bei? Im Fall von Vermeer ist das Verhältnis zur beschreibenden Literatur tatsächlich interessant. Marcel Proust war ein grosser Verehrer des Malers und hat gegen Ende seines Lebens eine Vermeer-Austellung in Paris besucht. In seinem grossen Roman À la recherche du temps perdu lässt er den Protagonisten Bergotte vor Vermeers Ansicht von Delft sterben. Zuvor fällt dessen Blick aber noch auf eine «gelbe Mauer­ ecke» – eine literarische Erfindung, die zu vielen Spekulationen geführt hat, weil es sie in Vermeers Bild so gar nicht gibt. Daraufhin sind zahlreiche Proustianer nach Holland gepilgert, um dieses Bild zu sehen – und die Mauerecke zu suchen. Durch Proust wurde die Ansicht von Delft ein sehr bedeutendes Bild. Das Mädchen mit einem Perlenohrring erlangte seine eigentliche Berühmtheit hingegen erst 1995/96, als es in einer grossen Vermeer-Retrospektive in Den Haag als Aushänge­ schild verwendet wurde, als «Covergirl» sozusagen. Mit Tracy Chevaliers Roman von 1999 und dem darauf basierenden Film mit Scarlett Johansson in der Hauptrolle erreichte die Popularität des Bildes noch einmal ganz andere Dimensionen. In Ihrer Beschreibung von Vermeers Mädchen mit einem Perlenohrring schildern Sie «exotische» Details, die heute nicht sofort als solche wahrgenommen werden…


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Perlenohrringe galten damals als exotischer Schmuck, der oft schwarzen Frauen zugeschrieben wurde, der Turban ist eine deutliche Anleihe aus der Kultur des Orients. Beide Attribute in Vermeers Bild sagen viel über die damalige Zeit aus: Die Niederlande erlebten im 17. Jahrhundert eine kurze aber intensive Blütezeit des Handels und der Kunst, die oft als «Goldenes Zeitalter» bezeichnet wurde. Das ist zumindest der Eindruck, den uns die holländische Malerei vermittelt. Dass diese Zeit auch ihre Schattenseiten hatte, also dass die Blüte der Kunst ohne Kolonialismus und Sklavenhandel gar nicht möglich gewesen wäre, das wird heute endlich mehr in den Mittelpunkt gestellt und aktuell in etlichen Ausstellungen thematisiert. Warum ist Vermeer unter diesen Umständen nicht ein reicher Mann geworden? Man schätzt, dass Vermeer nur zwei Bilder im Jahr gemalt hat… Daneben führte er eine Art Schenke, in der auch mit Kunst gehandelt wurde. Viel Geld hat er auf diese Weise wohl nicht verdient. Vermeers Frau, Catharina, die mit ihm 15 Kinder hatte, musste kurz nach seinem Tod Konkurs anmelden. Vermeer hat auffällig viele Frauen gemalt. Setzen sich seine Frauendarstellungen von anderen Gemälden der damaligen Zeit ab? Auf jeden Fall. Ich habe gerade in Hamburg eine Ausstellung über niederländische Interieurs gesehen. Da fällt auf, dass Frauen häufig mit Kindern gezeigt werden oder bei der Arbeit als Mägde. Vermeer hingegen malte fast ausschliesslich gebildete Frauen. Bei ihm werden sie nie bei den alltäglichen Verrichtungen gezeigt, die sie damals ausführen mussten, sondern beim Lesen oder beim Musizieren. Er malt in gewisser Weise ein Idealbild, eine Welt, die seinem eigenen Haushalt und seinem eigenen Leben völlig widerspricht. Aus dieser Spannung heraus entwickelt Tracy Chevalier ihren Roman. Sie entwirft ein mögliches Bild einer Frau, die in Vermeers Leben tritt. Wie stehen Sie als Kunsthistorikerin zu so einer fiktiven Geschichte? Mir gefällt ganz besonders, dass Tracy Chevalier das Bild zum Ausgangspunkt nimmt und die Geschichte von dorther entwickelt. Ich finde es völlig nachvollzieh­ bar, dass dieses Bild die Frage aufwirft, wer hier eigentlich dargestellt ist. Wegen der Realitätsnähe scheint es eine Frau zu sein, die Vermeer gekannt hat und die er, in welcher Form auch immer, ansprechend fand. Geschichten über Künstlerfiguren, sogenannte Biopics, sind ja heute sehr beliebt. Natürlich handelt es sich dabei um subjektiv geprägte Erzählungen, um ein anderes Genre als die wissenschaftliche Biografie. Ich befürworte es aber sehr, dass wir diese Art von populärwissenschaft­ licher Erzählweise, die im angelsächsischen Sprachraum schon üblicher ist, auch im deutschen Sprachraum stärker akzeptieren. Ich finde es wichtig, dass Menschen gute Geschichten schreiben und damit die Kunst populär machen. Denken Sie, dass wir durch Bücher oder Opern, die von Ikonen der Kunst inspiriert sind, auch deren Aura auf eine andere Weise näherkommen können? Ich will jetzt eine Oper nicht mit einem T-Shirt gleichsetzen, aber in gewisser Weise sehe ich sie auch als eine Art von Rezeption, die sich frei, unabhängig vom Kunstwerk bewegt, und diesem dadurch wieder eine neue Bedeutung verleiht. Dass ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert im 21. Jahrhundert zu einer Oper führt, finde ich hochinteressant. Solche Wechselwirkungen zwischen den Genres sind für beide Seiten eine unglaubliche Bereicherung. Das Gespräch führte Fabio Dietsche Prof. Dr. Katja Lembke ist Direktorin des Landesmuseums Hannover. 2021 erschien ihr Buch «Ikonen der Kunst – und wie sie zu dem wurden, was sie heute sind»


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Peter Rundel Peter Rundel wurde in Friedrichshafen geboren und war Geiger im Frankfurter Ensemble Modern, das auf zeitgenössische Musik spezialisiert ist, bevor er Dirigent wurde. Ein Experte für Neues ist er bis heute: Es gibt nicht viele Dirigenten, die so viele Opernpartituren zur Uraufführung gebracht haben wie er.

Immer wieder ein Crescendo und Decrescendo, Rasseln und Rappeln von Rädern auf schmalspurigen Schienen und Weichen, Signaltöne dazu, voller Varianten. An dieser Ecke des Sechseläutenplatzes kreuzen und bündeln sich gleich fünf Tramlinien, so dass wir gleichsam im Klang des Transits sitzen, draussen vor der Brasserie. Das passt bei einem Musiker, der so viel unterwegs ist wie Peter Rundel, der in seinem Leben mehr als einmal das Gleis wechselte und dem nur ein Gleis sowieso zu wenig wäre. Der vor zwei Tagen noch in Porto war, um dort, wo er auch lebt, sein Ensemble für neue Musik zu leiten, und heute mit der Philharmonia Zürich zum ersten Mal die Partitur von Stefan Wirths Oper Girl with a Pearl Earring erkundet hat. Und der noch Geiger war, als wir uns, im vorigen Jahrhundert, knapp verpassten. Peter Rundel verliess die Musikhochschule Hannover gerade, als ich dort zu studieren anfing. Da hatte er allerdings schon einen weiten Weg vom Bodensee bis nach New York hinter sich. Hannover war die letzte Station, «ehe ich ins Ensemble Modern reingerutscht bin, und das hat meinen weiteren Lebensweg bestimmt.» Er blinzelt in die Spätnachmittagssonne, energisch, gespannt, nicht ungeduldig, obwohl in den dicken Partituren auf dem Schemel neben ihm noch viel Probenarbeit wartet, auch gleich nach unserem Treffen. Rundel gilt als einer der besten Dirigenten für neue Musik. Aber die war es gar nicht, die ihn als 25-Jährigen zum jungen Ensemble Modern brachte, sondern dessen Arbeitsweise. «Ich wollte alles, nur nicht ins Orchester», sagt er. «Das Orchester als sozialer Körper hat mich damals geängstigt mit den hierarchischen Strukturen. Kammermusik als Arbeitsweise war mein Ideal, und das habe ich beim Ensemble Modern in einer Form verwirklicht gefunden, die ich mir nicht erträumt hätte, in höchstem Masse freundschaftlich, professionell, engagiert. Viele dort waren wie ich Greenhorns, mit dem Anspruch, dieses Gebiet der neuen Musik nach und nach zu erobern. Dann gleich mit tollen Dirigenten, interessanten Komponisten zusammenzuarbeiten, das war so kreativ!» Es weitete den Horizont so, dass er sich um die Dreissig herum fragte: «War’s das jetzt?» Er lacht. «Ich war quasi etabliert als Geiger und fühlte mich richtig wohl, auch mit der Musik, aber ich begann parallel, ein Dirigierstudium anzufangen. Ich bin ein Späteinsteiger, was das betrifft, und es wäre an meinen mangelnden Klavier­ kenntnissen fast gescheitert. Aber ich habe mich immer schon wahnsinnig gern mit Partituren beschäftigt.» Das geht auf eine keineswegs luxuriöse Kindheit zurück, auf seinen Vater, einen Bauernsohn am Bodensee, der sich selbst und seinen vier Kindern das Blockflötenspiel beibrachte «und mit einem autodidaktischen System, das etwas krude war, aber unheimlich effektiv, das Lesen von Musik. Das war ganz schnell da.» Da setzte auch Rundels erster und wichtigster Dirigierlehrer an, Michael Gielen. «Das Dirigierhandwerk hat ihn überhaupt nicht interessiert. Was wir da gemacht haben, war Analyse. Wir sassen stundenlang über Partituren von Mozart, Schumann, Brahms. Seine Überzeugung war: ‹Wenn ihr nicht wisst, wie das gemacht ist, braucht ihr gar nicht erst den Taktstock zu heben.›» Zugleich hat ihn Gielen als Vollblutmu­ si­ker beeindruckt. «Der hat sich ans Klavier gesetzt, La bohème gespielt, alle Partien ge­sungen und, während er spielte, auch noch die Handlung erklärt!» Die Schlagtechnik, «der Umgang mit dem Körper, das Dirigieren von Charakteren», das nahm Rundel dann von Peter Eötvös mit, dem nächsten Lehrer. Inzwischen gibt er es selbst lehrend weiter. «Auf dem Streichinstrument gibt es ja unendlich viele Artikulationen von legato bis staccatissimo. Genauso wandelbar sollte ein Schlag sein.» Wie wandelbar, das werde ich später bei der Orchesterprobe an der Kreuzstrasse erleben, auch wenn das noch ein frühes Stadium der Stückerkundung ist. Wie Rundel, sitzend, den


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ganzen schmalen Körper unter Spannung hat und diese Spannung in kleine, genaue, federnde Gesten umsetzt, bei denen es eben nicht egal ist, ob eine Hand nach innen gebogen wird oder einen knappen Kreis nach aussen beschreibt. Klingt die Partitur von Stefan Wirth denn so, wie er sie sich vorgestellt hat beim Lesen? «Ich habe so viel Erfahrung angehäuft! Es gibt ein ständiges Lernen durch die Praxis. Man stellt sich etwas vor, korrigiert das an der Realität, und das entwickelt sich immer weiter, sodass ich jetzt nicht wahnsinnig überrascht war. Aber natürlich gibt es Überraschungen, etwa dass Dinge schöner und interessanter klingen, als man sie sich vorgestellt hat.» Wirth habe sich inspirieren lassen von der Idee der Farben, des Malens, der Schichtun­ gen. «Er arbeitet viel mit Klangflächen, die sich in den grossen Tuttistellen überlagern, aber er denkt auch ganz stark polyrhythmisch. Ob das jetzt Glocken sind oder pizzicati – es gibt rhythmische Schichten, die in verschiedenen Tempi gleichzeitig ablaufen, vielleicht ein Bild für die vergehende Zeit. Und alles, was die Sänger singen, ist ganz nah am Sprachduktus komponiert… ja, man kann an Janáček denken.» Wie die Philharmonia Zürich und andere Orchester heute an neue Partituren herangehen, das sei nicht zu vergleichen mit den Jahren seiner Anfänge als Dirigent. «Was mir da zum Teil für ein Wind entgegenwehte, auch in sehr guten Orchestern! Mittlerweile hat man Orchestermusiker, die versierter und offener sind. Nicht alle lieben die neue Musik, das erwarte ich auch gar nicht, aber es gibt einen gemeinsamen Nenner, und die Philharmonia hier in Zürich hat schon viel Erfahrung mit den avanciertesten Spieltechniken.» Und Peter Rundel seinerseits hat mit Opern, auch denen des Repertoires, weit mehr Erfahrung, als unter das Etikett «Neue-Musik-Dirigent» passt. Er liebt das Genre zutiefst, «wegen der Spontanität, die das Operngewerbe hat. Da kann immer alles passieren, dieses Risiko liebe ich unendlich, die Fragilität, die das hat. Die Gefährdetheit eines Sängers, der sich auf die Bühne stellt und ohne Noten und mit einer Stimme einen Charakter verkörpert, mit all dem, was es impliziert, auch das Scheitern. Dem Moment ausgeliefert, nichts, was festgehalten werden kann. Der Moment und die Vergänglichkeit, daher kommen diese Energie und diese Magie. Manchmal ist es ein Wunder.» Vielleicht werden solche Wunder in diesen Tagen besonders gebraucht, in einer bedrohlichen Zeit. Schon einmal hat Peter Rundel erlebt, wie die Arbeit an einer Oper mit dem Weltgeschehen zusammenfiel, im September 2001, als er an der Deutschen Oper Berlin mit dem Regisseur Peter Konwitschny zusammen Luigi Nonos Intolleranza probte. «Nine eleven passierte währenddessen. Das hat die Arbeit tat­ säch­lich verändert, wie jetzt ja auch. Wir haben gerade in Porto, in der Casa da Música, die Oper Kassandra von Michael Jarrell im Konzert gespielt – als wir das programmierten, haben wir uns nicht ausmalen können, dass das so eine unglaubliche Präsenz und Aktualität entwickelt, aufgrund dieses Krieges.» Die Sonne ist hinter den Höhen östlich des Sees verschwunden und in den paar Minuten bis zum Aufbruch erzählt Peter Rundel noch von der geheimnisvollen Geige, die sein Vater besass, ihrer traurigen Geschichte und ihrer Anziehungskraft. Vier Jahre musste er warten, bis seine Hände gross genug für sie waren (für eine Kindergeige fehlte das Geld), dann ging alles so schnell, dass er mit fünfzehn Jahren Schule und Elternhaus verliess, um in Köln Geige zu studieren, «die richtig harte Schule.» Mit achtzehn stellte er alles in Frage, brach alles ab, wollte Schauspieler werden, schlug sich in New York durch. «Dann wurde mir aber doch immer klarer, dass die Musik zu stark ist.» Er lacht. «Ich war ziemlich freigeistig unterwegs.» Das ist er eigentlich immer noch. Nur, dass er nichts mehr abbricht. Ausser beim Proben wie in Takt 440, wo die Kontrabässe im Violinschlüssel spielen… Volker Hagedorn


Fotos: Admill Kuyler / Ida Zenna


Wiederaufnahme 37

Widerspiel von Gut und Böse «Dornröschen», der BallettKlassiker mit der Musik von Pjotr I. Tschaikowski, kehrt in den Spielplan zurück. In seiner humorvollen Neufassung für das Ballett Zürich hinterfragt Choreograf Christian Spuck liebgewordene Klischees. Vorstellungen: 10, 18, 23, 24, 28 Apr; 6, 11, 12 Juni 2022



Die geniale Stelle 39

Ungeschönte Wirklichkeit Zwei Takte in Giuseppe Verdis «Rigoletto»

Hören und im Notentext mitlesen können Sie die «Geniale Stelle» hier:

Victor Hugo war nicht erfreut, dass sein Schauspiel Le roi s’amuse in eine Oper um­ gearbeitet wurde. Noch weniger dürfte ihn gefreut haben, dass Verdis Rigoletto um einiges erfolgreicher war als die Vorlage. Als er schliesslich nach einigem Widerstreben eine Vorstellung besucht hatte, kommentierte er seinen Eindruck so: «Wenn auch ich in meinen Dramen vier Personen zugleich sprechen lassen könnte, so dass das Publi­ kum die Worte und die Gefühle verstünde, würde ich einen ähnlichen Effekt erzielen.» Gemeint ist jene Szene, in der Rigoletto seine Tochter zwingt zuzusehen, wie sich der Herzog, den sie liebt und von dem sie sich geliebt glaubt, mit einer Prostituierten ver­gnügt. Der Vater will ihr durch diese Schocktherapie die Augen für die Wirklichkeit öffnen, die so ganz anders ist als ihre Jungmädchenträume. Aber was sie für das Leben tauglich machen soll, bewirkt das Gegenteil: Gilda zerbricht an dieser Erfahrung. Victor Hugo, der mit allen Wassern gewaschene Theatermann, hat auf den ersten Blick erkannt, dass die im Schauspiel zwar wirkungsvolle aber kaum originelle Szene unter Verdis Händen zum Kernstück des Werkes und zu einem epochemachenden Moment der Operngeschichte geworden war. Der Vorgang ist in ein Quartett, eigentlich zwei parallel laufende Duette gefasst, am emotionalen Höhepunkt aber vereinigen sich die Singstimmen zu einem kom­ pakten vierstimmigen Satz, in dessen Oberstimme Gildas verzweifelte Klage über ihre zerstörten Hoffnungen, ihren vernichteten Glauben an die Liebe und das Leben sich ausspricht: Es ist ein mühsamer Anstieg bis zur None und ein kraftloses Zurücksinken zum Ausgangspunkt, wobei die melodische Linien von zahllosen Pausen in kleinste Bruchstücke, ein atemloses Stammeln zerrissen wird. Die Passage hat für den Leser der Partitur etwas Rätselhaftes: Wie ist es nur mög­ lich, dass diese Stelle eine so starke emotionale Wirkung entfaltet? Die Singstimme bewegt sich eigentlich nur die Tonleiter auf und ab, die Harmonie wechselt von der Tonika zur Dominante und zurück – wie kann es sein, dass eine derartig simple Mu­ sik auch den anspruchsvollsten Zuhörer zu Tränen rührt? Ist sie nicht einfach banal? Ja, sie ist banal. So banal, wie es eben ist, wenn ein Leben zerbricht. Und Verdi setzt diesen Vorgang mit all seiner Banalität und all seinem Schrecken in Musik: Nichts weiter als ein atemloses Stammeln, als ein hilfloser Versuch, wenigstens dem körper­ lichen Zusammenbruch zu entgehen, wenn der seelische schon unvermeidlich ist – das ist alles. Die paar Töne aufwärts, ein paar abwärts, Tonika – Dominante – Tonika, so geht ein Mensch zugrunde. Verdis Komposition stellt diesen Vorgang sozusagen nackt hin, ja, er reduziert ihn geradezu auf das Skelett: auf den körperlichen Vorgang, der mit nahezu medizinischer Präzision geschildert wird, und die seelische Katastrophe, die keine Schilderung erreichen kann, nur ahnen lässt. Gerade die scheinbar wahllose, in Wahrheit sorgfältig ausgearbeitete Simplizität dieser Musik lässt das Entsetzliche des Geschehens mit fast unerträglicher Wucht hervortreten und macht diese Szene zu einer der ungewöhnlichsten und ergreifendsten der Opernliteratur. Hugo hat sich geirrt: Die starke Wirkung der Szene rührt nicht einfach daher, dass vier Personen gleichzeitig ihre Empfindungen äussern, sondern entsteht ganz und gar aus der Musik. Um einen «ähnlichen Effekt» zu erzielen, hätte er also «ähnlich starke» Musik komponieren müssen. Und das ist unmöglich: Es gab nur einen, der dazu in der Lage war. Werner Hintze



Böse Spässe Hofnarr Rigoletto ist der zynische Anheizer einer ver­ dorbenen Männer-Gesellschaft, die sich auf Kosten anderer amüsiert – bis seine eigene Tochter Gilda zum Opfer wird. Wir zeigen einmal mehr Verdis Klassiker in Tatjana Gürbacas Inszenierung, die zu den erfolg­reichsten Produktionen des Opernhauses gehört. mit Liparit Avetisyan, Quinn Kelsey u.a. Vorstellungen: 10, 13, 18, 22, 27 Apr 2022


Ein Film von Ryusuke Hamaguchi Regisseur von DRIVE MY CAR

Ab 7. April im Kino & 4/COLOR DOMESTIC 1-SHEET


Fragebogen 43

Laura Aikin Aus welcher Welt kommen Sie gerade? Ich komme gerade aus Köln, wo ich in Zimmermanns Soldaten zum ersten Mal die Gräfin gesungen hätte. Am zweiten Tag wurde die Produktion aber «aus Angst vor möglichen Komplika­ tionen mit Corona» abgesagt, und bereits am Tag danach stand ein Ersatzprogramm mit einer kleineren Besetzung fest. Sehr suspekt... Ich hoffe, dass wir möglichst bald wieder aus dieser Schiene herausfinden! Auf was freuen Sie sich in Girl with a Pearl Earring besonders? Ich freue mich gerade sehr auf die erste Probe mit dem Orchester. Das ist bei neuen Stücken immer extrem spannend, und bei Stefan Wirths Oper ganz besonders: Neben Griet spielt das Orchester darin quasi die zweite Hauptfigur. Wer ist Catharina Vermeer? In dieser Oper ist sie ist eine Frau, die nicht besonders begabt, aber mit einem Genie verheiratet ist. Sie hat mit Jan Vermeer 15 Kinder und scheint sich sehr über dieses Muttersein zu definieren, wohl auch um die Ehe am Leben zu halten und ihre Position an der Seite von Vermeer zu sichern. Catharina kriegt mit, wie die Dienstmädchen von den mächtigen Männern, die bei Vermeer ein- und ausgehen, sexuell belästigt werden. Gegenüber dem neuen Dienstmädchen Griet ist sie aber selber miss­ trauisch, und als sie erfährt, dass Vermeer sie mit ihren Perlenohrringen gemalt hat, verliert sie darüber die Fassung. Welches Bildungserlebnis hat Sie besonders geprägt? Der entscheidende Moment für meine Karriere war eine Operngala in Berlin. Ich habe damals bei Reri Grist in München studiert, die mich für dieses Konzert vorsingen liess. Georg Quander, der das Konzert organisierte, hat mich gehört und wurde kurz darauf Intendant

der Berliner Staatsoper. Einen besseren Moment hätte ich für das Vorsingen nicht treffen können... Das hat mir die wichtigen Türen geöffnet. Welches Buch würden Sie niemals aus der Hand geben? Die Schirmer-Anthologie der Koloratur-­ Arien. Das ist zwar ein Notenbuch, aber eines, aus dem ich ständig unterrichte. Welche CD hören Sie immer wieder? Das ist eine Aufnahme von Ravels Tombeau du Couperin, dirigiert von Pierre Boulez. Sie erinnert mich an meinen ersten Auftritt in der Carnegie Hall in New York, wo ich Pli selon pli gesungen habe. Ich weiss noch, wie Boulez mich fragte, ob ich nicht ein bisschen bei der Probe zuhören möch­te, und da hat er dann dieses Stück von Ravel dirigiert. Diesen Moment habe ich in besonders schöner Erinnerung. Welchen überflüssigen Gegenstand in Ihrer Wohnung lieben Sie am meisten? Meine zwei Hunde und die Katze! Für jemand, der viel reist, ist das echt eine Herausforderung. Aber ich liebe sie! Welche Persönlichkeit würden Sie gerne einen Tag lang sein und warum? Ich habe einen irrsinnigen Respekt vor Michelle Obama, wie sie ihr Leben organisiert und trotz ihrer Position eine unglaubliche Ruhe ausstrahlt! Oder Anja Silja, mit der ich oft zusammen­ gearbeitet habe und gut befreundet bin: Sie hat so lange auf der Bühne ge­ standen. Eine so lange Karriere würde ich mir selber auch wünschen!

Laura Aikin ist Amerikanerin. Ihre künst­le­ri­sche Laufbahn begann sie als Mitglied des En­ sembles der Staatsoper Berlin. Mit Par­tien wie Lulu, der Königin der Nacht und Zer­­­bi­netta gastierte sie an allen be­deu­ten­den Opern­­­ bühnen und -festivals. In «Girl with a Pearl Earring» singt sie Catharina Vermeer.


44 Auf der Couch

Rigoletto aus Giuseppe Verdis gleichnamiger Oper Von Wolfgang Schmidbauer

triarchats in die primär egalitären, auf Ko­operation von Männern und Frauen hin orientierten Kulturen der Altsteinzeit übertrug. Besitz und Macht spielen in der Welt der Jäger und Sammler keine wichti­ ­ge Rolle. Niemand hat mehr, als er tragen kann; die Natur gehört allen. Ein Jäger der Altsteinzeit, der den erbeuteten Ele­ fanten zu seinem Besitz erklärt und nicht mit seinen Freunden teilt, ist nicht mäch­ tig, sondern dumm. Wenn überhaupt irgendwohin, dann gehört der Gedanke vom Bündnis der Söhne, die dem Patriarchen seine Macht rauben, in die Epoche der bürgerlichen Revolution. Ihr hat die klassische Oper die schönsten Themen zu verdanken: Der Adel ist korrupt, aber interessant. Das Volk leidet. Es gibt Chancen für kluge Köpfe. Denken wir an den Barbier von Sevilla, an Figaros Hochzeit, an Don Giovanni. Was wäre, wenn Leporello eine schöne Tochter hätte? Rigoletto kann es sich erlauben, in beissendem Spott die Korruption der ho­ hen Herrn anzuprangern. Seine Tochter aber möchte er in Anstand und Sitte er­ ziehen, fernab von seiner Rolle am Hof. In sie projiziert er seine ganze Sehnsucht

nach dem Guten. Sie soll ein reiner Mensch sein und bleiben, anders als er, der sich täglich erniedrigt, um seinen zü­gellosen Herrn zu amüsieren. Rigoletto ahnt nicht, dass seine Überzeugung, besser zu wissen, was gut für seine Tochter ist, diese dem Jäger in in die Arme getrieben hat: Der ge­ wissenlose Herzog hat die Schöne längst bezaubert. Zur Tragödie gehört die Übertrei­ bung; ihre reinigende Macht verdankt sie dem Erleben der Zuschauer, dass sie mehr Einsicht in der Bewältigung des Unaus­ weichlichen entwickelt haben als die Dar­ steller auf der Bühne. Dass ein Vater mit gelassenem Humor die Männer willkom­ men heisst, die ihm seine zur weiblichen Blüte gereifte Tochter abspenstig machen, ist bis heute nicht selbstverständlich. Mo­ derne Töchter lösen das Problem auf ihre Weise: der Vater wird nicht gefragt, so muss er auch nicht gegen die Versuchung kämpfen, sich einzumischen. Wolfgang Schmidbauer ist Psycho­ analy­tiker und schreibt in jeder MAG-­Aus­gabe über Figuren des Opern­repertoires

Illustration: Anita Allemann

Lassen wir die Maske weg, dann dominiert Rigoletto ein archaisches Motiv: Der Ur­ vater will alle Frauen für sich behalten, er will sie keinem anderen Mann geben, sie in seinem Harem haben und jeden töten, der ihm sein Privileg streitig macht. Die Grandiosität dieser sexuellen Übermacht ist in der Oper auf zwei Männer verteilt – den schönen, ehrlosen Herzog und seinen buckligen Narren. Sigmund Freud hat in Totem und Tabu den Patriarchen der Urzeit beschrie­ ben, der seinen Söhnen keine der von ihm gezeugten Töchter gönnt, bis sie sich zu­ sammentun, ihn erschlagen und fressen. Nach seinem Tod werden sie von einem bisher unbekannten Gefühl überwältigt: Sie fühlen sich schuldig. Der tote Vater wird mächtiger als der lebende, er wird von nun an in Tiergestalt als Halbgott verehrt. Das erste Gesetz der menschli­ chen Kultur lautet: Das entsprechende Tier darf von den Mitgliedern der Totem-­ Ge­meinschaft nicht verspeist werden. Freuds Mythos über die Entstehung des Totemismus hat den Poeten und Schrift­stellern besser gefallen als den Eth­ nologen. Diese tadelten, dass der Vater der Psychoanalyse die Strukturen des Pa­


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EPISODE 14

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