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EIN MUSIKALISCHES SEELENGEMÄLDE

Ulrich Schreiber

Vorlage für das Stück, das sich erst nach der 1854 im Teatro San Benedetto in Venedig herausgekommenen Überarbeitung durchsetzte, war die 1852 in Paris uraufgeführte Dramatisierung des Romans La Dame aux Camélias (Die Kameliendame) von Alexandre Dumas d.J. Verdi hatte die Bühnenproduktion gesehen und kannte auch zumindest teilweise den 1848 erschienenen Roman gut. Die Titeländerung zwischen der Kameliendame der Vorlage und der vom rechten Wege Abgekommenen in der Oper signalisiert den veränderten Emotionszustand des Stoffs. Die Kameliendame: das ist, vergleichbar dem Troubadour, eine sachliche Beschreibung, in diesem Fall einer Vorliebe der Edelkokotte für ein Accessoire. Als vom rechten Weg abgekommen bezeichnet sich bei Verdi die Titelheldin selbst (in der Arie «Addio del passato»), die Oper wird aus ihrer Perspektive erzählt: Aus dem teilweise sarkastischen Sittenbild bei Dumas wird ein musikalisches Seelengemälde. Für diese Umformung bediente sich Verdi erstaunlicherweise eines Mittels des ursprünglichen Romans. Dieser beginnt mit dem Bericht eines Ich-Erzählers, wie er ein Buch – ausgerechnet die Manon Lescaut des Abbé Prévost – aus dem Nachlass der kürzlich verstorbenen Kurtisane Marguerite Gautier ersteigerte und dadurch mit dem völlig verstörten Armand Duval, einem Liebhaber der Frau, bekannt wurde, der ihm nun allmählich die tragische Geschichte seiner Verbindung zu ihr ausbreitet. Dieser Armand ist im Roman ein «alter ego» Dumas’, der seine eigene Beziehung zu der für «tout Paris» bekannten Alphonsine (genannt: Marie) Duplessis, der zum Beispiel Franz Liszt mehr als nur Klavierstunden gab, in dem Kunstwerk abarbeitete.

Verdi übernimmt von Dumas aus dem Roman – und nicht aus dem Theaterstück – die Zeitschichtentechnik der Rahmenhandlung, indem er das Vorspiel mit den Klängen beginnen lässt, die im 3. Akt der Oper für die tödliche Krank- heit der Heldin stehen. Je acht geteilte erste und zweite Violinen vereinen sich zu einem mit Sekundreibungen durchsetzten vierstimmigen Satz von gläserner Transparenz, deren ätherische Unstofflichkeit mit der abnehmenden Phrasenlänge von vier auf drei und zwei Takte das Leitmotiv der schwindsüchtigen Heldin ist. Dieses Motiv wird auch das Vorspiel zum dritten Akt prägen, in dem die Sekundreibungen As-G sich zu einer ostinaten Schmerzenschiffre verdichten. Die Oper beginnt also mit dem Todesbild der Heldin.

Im zweiten Akt wird das zweite Thema des Vorspiels eine wichtige Rolle spielen, wenn Violetta nach dem Alfredos Vater gegebenen Versprechen, auf ihren Geliebten zu verzichten, diesen um Liebe anfleht. Ihr «Amami, Alfredo» ist die wörtliche Wiederholung, nun allerdings um einen Halbton nach F-Dur angehoben und in den Notenwerten verdoppelt: eine musikpsychologische Argumentation. So exponiert das Vorspiel mit seinen beiden nur auf Violetta bezogenen Themen und ihrer Verbindung die Tragödie dieser Frau, deren Leidmotive von Anfang an den Erzählrahmen bilden.

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