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EINE UNABHÄNGIGE FRAU

Leo Karl Gerhartz

Die Moderne von La traviata und die besondere Aktualität dieser Oper gerade in unserer heutigen Zeit wurzeln zuvörderst in dem Entwurf eines von Männerprojektionen vergleichsweise freien Frauenbildes, das für die Gattung der VerdiOper nicht eben üblich ist. Denn zumindest in der Relation zu den weiblichen Figuren etwa im Rigoletto oder auch in Macbeth, Luisa Miller oder Il trovatore ist Violetta nachgerade autark.

Bei der musikalischen Charakterisierung von Violetta Valéry setzt Verdi darum folgerichtig jene Mittel ein, die er bis dahin seinen avanciertesten männlichen Personen vorbehielt. Tatsächlich scheinen die Verhältnisse zwischen Männer- und Frauenpartien etwa im Vergleich zu Rigoletto praktisch umgekehrt. Dort ist Rigoletto der Mann eines offenen und unkonventionellen Gesangs, und im Widerspiel dazu repräsentieren, dialektisch aufeinander bezogen, sowohl der Herzog wie auch Gilda die Tradition. In La traviata bleiben demgegenüber sehr viel mehr Vater und Sohn Germont an überkommene Regeln gebunden; ihre Grundformen sind geschlossen, während Violetta in jenem offenen und progressiven Parlando lebt, das in jedem Augenblick frei und dazu fähig ist, sich vom blossen Sprechen hin zur Kantilene zu öffnen oder auch sich dieser Kantilene wieder zu verschliessen. Die Kritiker der missglückten Uraufführung der Traviata haben das ausnahmsweise sehr viel schneller begriffen als das am Premierenabend weitgehend konsternierte Publikum.

Nur, wäre hinzuzufügen, weiss Verdi sehr wohl zu unterscheiden, wer im schnellen Wechsel der Situationen und Gefühle in seinem Duett die Konventionen vertritt und wer sie stört. Vater Germont nähert sich Violetta im gesicherten Terrain vertrauter und damit (musikalisch wie gesellschaftlich) etablierter Formen. Ein wenig überspitzt könnte man sagen, er singt eine kleine Arie nach der anderen. Unbestreitbar jedenfalls sind Cavatine und Lied die Markenzeichen seiner umgrenzten, durch Gewohnheiten und Gesetze geschützten Welt. Vio- letta dagegen kann und muss auf die geordneten Appelle frei und ohne institutionalisierte Hilfen reagieren, auch musikalisch ganz auf sich allein gestellt und ausschliesslich angewiesen auf die eigene vielfältige, aber eben nicht durch den Regelkanon einer geschlossenen Gesellschaft gestützte und abgesicherte Menschlichkeit. Mit der Beweglichkeit und im Aufgespaltensein ihres Melos beansprucht Violetta die avancierten und grenzüberschreitenden Vokabeln im Singen etwa Rigolettos für die Verhaltensweisen einer Frau.

Eine unabhängige Frau stört durch einen ungewöhnlichen und ungewohnten Anspruch die Konventionen ihrer gesellschaftlichen Umgebung: dieser Inhaltskern von La traviata spiegelt sich in Verdis Partitur auf vielen Ebenen: in den frechen Tänzen, die als sozusagen komponierte Gesellschaft schon das Aufblühen der Liebe, aber auch ihren Weg im Drama immer wieder grundieren und von Anbeginn und bleibend bedrohen, im gespannten Widerstreit zwischen offenen und geschlossenen Formen im Duett des zweiten Akts, vor allem aber in der Redeweise einer Protagonistin, die in ihrer Sehnsucht nach Glück förmlich zittert.

Zittern scheint ein Schlüsselwort für die erregte Sensibilität der TraviataMusik. Sechzehntel der Streicher und Sechzehntel-Triolen der Holzbläser bereiten im ersten Akt die Arie der Violetta vor und formulieren deren nervöse Grundstimmung. Aber auch insgesamt herrscht mit Achtelrepetitionen, Trillern und Tremolo Unruhe vor. Alfredos Liebesschwüre werden im Gesang Violettas mit zitternden Seufzern und aufgeregten Kadenzen beantwortet.

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