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FEST UND KATASTROPHE
from La Traviata
Ulrich Schreiber
Das romanhaft ausgesponnene Geflecht von Motiven, Wünschen und geheimen Vereinigungen verfehlt nie seine melodramatische Wirkung, da es eingebunden ist in die oftmals schmerzhaft lärmende Aussenwelt mit ihren Bällen, Stierkämpfern, Spielern und Zigeunern. Wie in Ernani und Rigoletto werden auch hier in der Introduktion Vorder- und Hintergrund sinnfällig auseinandergespreizt, und Violettas Schwächeanfall auf dem Ball im ersten Akt signalisiert schon die Verschränkung von Fest und Katastrophe. Auch für dieses Motiv findet Verdi eine szenische Klammer, wenn er auf Violettas a-moll-Abschied von der Vergangenheit im Schlussakt Addio del passato unvermittelt und brutal die von draussen hereintönenden Karnevalsklänge montiert. Die saugen rückwirkend dem Dur-Refrain von Violettas Arie das Lebenslicht aus, und selbst in ihrem letzten Duett mit dem zurückgekehrten Alfredo hören wir das trennende Moment vor ihrer gemeinsamen Paris-Sehnsucht «Parigi, o cara, noi lasceremo» (Lass uns, Geliebte, Paris verlassen): Violettas Repliken werden von jenem Gespinst der geteilten Geigen getragen, das diese Vertreterin der Halbwelt von vornherein durchsichtig werden liess für einen vom irdischen Stoff befreiten Zustand. Und die klagende f-moll-Melodie, mit der sie im Finale des zweiten Akts am Spieltisch ihr Lied singt – als sie zuvor Alfredo den erzwungenen Verabschiedungsbrief geschrieben hatte, überantwortete sie den Klagelaut ebenso der Klarinette wie Luisa Miller bei der analogen Situation –, erhebt sich aus jenem walzernden Thema, das sich als Variante des Walzers im ersten Akt entpuppt: Was zuerst in kessem Stakkato reinen Lebensgenuss signalisiert hatte, in den Violettas Schwächeanfall montiert wurde, äussert sich jetzt in einem Allegro agitato als ebenfalls stakkatiertes Sechzehnteldrängen nach dem wie im ersten Akt durch Vorhaltnoten unterstützten Aufwärtsschwung.
Fest und Katastrophe liegen wirklich beieinander, letztlich bedingt das eine sogar das andere. Verdi versucht das in seinem Drang nach Naivität zu verheimlichen, indem er fordert, Violetta trete erst im sechsten Takt dieses KartenspielAgitatos auf. Aber die Noten sprechen hier eine andere Wahrheit als die Buchstaben der Partitur: Violetta ist von vornherein zugegen, die Musik schreibt ihr Schicksal.