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DIE AUSGESCHLOSSENE, AN DIE MAN SICH ERINNERT

Wie Catherine Clément in ihrem Buch über die Niederlage der Frau in der Oper festhält, setzte die Kultur des 19. Jahrhunderts die Monogamie als Norm, um die Weitergabe des Privateigentums zu sichern. Das Gesetz des Mündels basiert auf einem gegenseitigen Tausch. Der Vater gibt dem Bräutigam seine Tochter, um sowohl symbolisches als auch reales Kapital zu akkumulieren; er hält den Namen seiner Familie aufrecht, sichert die Abfolge seiner Gattung und vergrössert sein Eigentum. In diesem Sinne steht Giorgio Germont vornehmlich für den klar geregelten Austausch. Ihm ist die Vorstellung, sein verblendeter Sohn würde sich wegen einer Kurtisane finanziell ruinieren, ebenso unrecht wie die Tatsache, dass Violetta ihren gesamten Besitz verkauft, um ein Dasein mit seinem Sohn zu finanzieren. Er kann sich als redlicher Bürger nur eine gänzliche Tilgung der von Violetta verkörperten Haltung der Verausgabung vorstellen. Nicht eine vorübergehende Entfernung von seinem Sohn fordert er von ihr, sondern eine Entsagung von ihrem Liebhaber für immer. Violetta ist zwar zu diesem Opfer bereit, doch sie kennt die Gesetze der kapitalistischen Marktwirtschaft gut genug, um daraus ein auch für sie vorteilhaftes Tauschgeschäft entstehen zu lassen. Sie will eine Gegengabe. Die Tochter, deren Glück somit gesichert wird, soll von ihrer Entsagung erfahren. Sie bittet Giorgio Germont, dieser davon zu berichten, dass eine arme, unglückliche Frau sich für sie geopfert hat und daran gestorben ist. Violetta mag zwar in ihrem gegenwärtigen Leben mit ihren Kräften und Gütern verschwenderisch umgehen, aber für die Zeit nach ihrem Tod sichert sie sich somit eine geistige Erbschaft. Indem ihre tödliche Entsagung bewusst als Voraussetzung für die glückliche Eheschliessung der

Tochter in die Familienannalen der Germonts eingeht, wird sie unweigerlich zum Mitglied dieser Familie: die Ausgeschlossene, an die man sich erinnert. (...) An Violettas Leiche versöhnen sich Vater und Sohn sowohl mit ihr, als auch miteinander. Vereint in der gemeinsamen Pathosgeste der reumütig Trauernden werden sie ihrer ewig gedenken, wie die Oper selbst diesen Augenblick einer kollektiven Versöhnung, der in der Romanvorlage gänzlich fehlt, als Höhepunkt des Geschehens verewigt. Nochmals müssen wir nach dem Tauschgeschäft fragen, das in dieser kathartischen Denkfigur enthalten ist. Denn als Gabe für ihre Verausgabung wird Violetta mit diesem Schlusstableau nicht nur auf immer in die Annalen der Familie Germont aufgenommen. Sie wird auch explizit zu der allegorischen Figur geboren, die der Titel der Oper ankündigt. Nicht zufällig hat Violetta die Frage der imaginären Heimsuchung kurz vor ihrem Tod noch einmal angesprochen. Hatte sie im zweiten Akt den Vater gebeten, er solle seiner Tochter von ihrem Opfer erzählen, damit diese ihrer gedenke, bittet sie nun ihren Geliebten, ein Bild von ihr aus vergangenen Tagen an sich zu nehmen: zur Erinnerung an sie, die Verschollene, aber auch als Gabe für die jungfräuliche Frau, die er einst heiraten wird. Sie schwindet leiblich, um so als Erinnerte eine geisterhafte Vereinigung mit dem Geliebten, über den Körper einer anderen Frau, zu erhalten – eine dauerhafte Verbindung, die ihr in ihrem irdischen Leben nicht möglich war.

Wie willst du das Beste spüren, wenn du nicht bereit bist, die Abgründe auszuhalten? Das ist unmöglich. Es ist wie mit der Geburt und mit dem Tod. Das eine bedingt das andere. Du kannst dich für das verfickte Mittelmass entscheiden. Auf Pfaden trampeln, die ausgetreten und matschig sind von all den anderen Millionen Fussabdrücken. Oder du kannst deine Grenzen leben. Nach oben wie nach unten. Kannst testen, ausprobieren, auf die Schnauze fallen, wieder aufstehen, kannst glauben, vor Glückseligkeit zu fliegen.

Dann erst kannst du dich entscheiden. Fürs Weitermachen oder fürs Beenden.

Nur dann hast du eine wirkliche Wahl. Wandelst du im Mittelmass, im Stinkenden, im Langweiligen, dann wirst du niemals wählen müssen. Denn dann ist alles gleich gut oder gleich schlecht. Oder gleich gleich. Ich gebe mich schon lange nicht mehr mit Menschen ab, die nicht verstehen wollen. Ich sortiere aus, ja, auch ich urteile. Denn nichts ist tödlicher als diese Langeweile.

Bettina Gundermann, lines

Ich spüre mich nicht. Alles wirkt unecht. Die Ebenen verschieben sich. Ich verliere den Bezug zur Realität. Oder anders: Es scheint mehrere Realitäten zu geben, die zeitgleich nebeneinander bestehen. Dann ist der Schmerz ein klares Signal – wenn er stark genug ist, wenn ich tief genug geschnitten habe.

Das Blut zeigt mir, dass ich noch lebe. Wenn ich das Gefühl habe, innerlich zu verbluten, ist dieses äussere Blut ein Sichtbarmachen/Begreifbarmachen/ Kontrollierbarmachen meines inneren Schmerzes.

Andreas Knuf, Leben auf der Grenze

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