FUZE.90

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EVERY TIME I DIE

Foto: Karo Schäfer (cateyephotography.com)

RADIKAL IST DAS NEUE COOL. Im Frühjahr 2020 dokumentierten EVERY TIME I DIE die Entstehung ihres neunten Werks auf Social Media. Erscheinen wird „Radical“ aufgrund der Pandemie aber erst im Herbst des darauffolgenden Jahres, was laut Frontmann Keith Buckley aber für weit weniger Diskussionen gesorgt hat, als man eventuell vermuten würde. Quasi als Entschädigung für die Wartezeit geht es auf dem neuen Album noch einmal deutlich heftiger zur Sache, denn es hat ein radikales Umdenken stattgefunden.

E

VERY TIME I DIE sind bekannt dafür, nur dann nicht auf Tour zu sein, wenn sie ein neues Album produzieren, also was zur Hölle hast du in den vergangenen Monaten getrieben? Oh Mann, ich habe versucht, irgendwie die Pandemie zu überleben. Das allein ist ja schon eine große Leistung für wirklich jeden Menschen und ich bin glücklich, dass ich es bis hierhin geschafft habe. Ich hatte Zeit, mich wieder um mich selbst zu kümmern. Es war eine Art erzwungene Auszeit, aber wie es der Zufall wollte, haben wir sie zu diesem Zeitpunkt auch wirklich gebraucht. Ich will nicht sagen, dass es der perfekte Zeitpunkt für eine Pandemie war, den gibt es natürlich nicht, aber wir waren gezwungen, nicht zu touren, als es wirklich wichtig für uns war, einfach mal zu Hause zu sein. In einem Podcast mit Matt Cauthran von THE BRONX seid ihr beide im Gespräch übereingekommen, dass es für eine Rockband keinen Sinn macht, ein Album in einer Zeit zu veröffentlichen, in der Touren nicht möglich ist. Aber wie viele Diskussionen hat es um das Thema gegeben, seit „Radical“ Mitte 2020 fertig war? Auch hier ist es mir noch mal unangenehm es so zu formulieren, aber wir hatten großes Glück, dass wir die Platte noch nicht veröffentlicht hatten, als es mit der Pandemie losging. Wäre es anders gewesen, hätte das alle Pläne zerstört, die es um die Veröffentlichung gegeben hätte. Aber man kann keine Pläne über den Haufen werfen, die es überhaupt nicht gibt. So hatten wir die Freiheit zu sagen: Lasst uns alle mal chillen und abwarten, bis wir mit der Pandemie über den Berg sind und in diesem Moment kommen wir zuallererst mit der Platte um die Ecke. Also gab es kein Vor und Zurück, während die Monate vergingen? Nein, das Gegenteil war der Fall. Immer wenn wir davon sprachen, hieß es: „Ich dachte, du willst, dass die Platte veröffentlicht wird.“ Und der andere sagte: „Nein, auf keinen Fall! Ich dachte, du willst das.“ Sprechen wir über „Radical“: Mein erster Eindruck war, dass das Album sehr mit dem Zustand der Welt

hadert, du aber auch mit deiner Rolle darin. Der Begriff „Weltschmerz“, der ja international verstanden wird, kam mir dabei immer wieder in den Sinn. Es geht tatsächlich viel darum, aber das ist nur die Ausgangssituation des Albums. Danach folgt Akzeptanz und schlussendlich so etwas wie Hoffnung. In erster Linie geht es also um verschiedene Stadien und Traurigkeit ist nur ein Teil davon. Außerdem fällt beim Hören des Albums auf, dass deine Texte sehr viel persönlicher erscheinen. So heißt es in „Post-boredom“: „I broke my own heart, I’m trying to forgive myself“. Und in „AWOL“: „I owe myself an apology, I hope that I mean it“. Du scheinst nicht mehr alles kompliziert verpacken zu wollen, sondern bist um Klarheit bemüht. Ich glaube, ich war das Verpacken einfach leid. Ich hatte das Gefühl, dass ich die ganzen Wortspiele, in die ich mich sonst immer verwickelt habe, nicht mehr brauche. Es gefällt mir mittlerweile besser, zum Kern des Problems vorzustoßen und all das Blumige drumherum wegzulassen. Aber ist es nicht auch ein Risiko, sein Innerstes so offenzulegen? Absolut. Aber ist das nicht großartig? Welches Risiko kann man als 41-jähriger Vater sonst überhaupt noch eingehen? Ich meine, ich muss doch sonst immer vorsichtig sein. Für jemanden wie mich, der das Risiko liebt, ist das doch perfekt. Schon allein der Titel „Radical“ hat mich dann aber auch auf den Trichter gebracht, dass es auf dem Album eben nicht nur ums Wehklagen geht. Radikal bedeutet schließlich so ziemlich das Gegenteil, nämlich, dass man aktiv Position gegen etwas bezieht. Oberflächlich verweist der Titel zunächst auf das SlangWort „Radical“, was so viel wie cool bedeutet. Es soll zunächst also nur heißen, dass unser Album cool ist, haha. Aber dann geht es darum, was ich eben schon angedeutet habe, nämlich eine radikale Veränderung des Denkens. Der Titel soll klarmachen, dass das, was

mal war, nicht mehr gilt. Das hier ist anders, aber ich verbürge mich auch dafür, dass es cool ist – also zieht es euch rein! Die Maschine EVERY TIME I DIE läuft seit über 20 Jahren. Würdest Du Dich, aufgrund Deiner Erfahrung, zu einer Prognose hinreißen lassen, wo du in zehn Jahren stehst? Oh Gott, nein! Weißt du was, hättest du mich das beim letzten Album „Low Teens“ gefragt, hätte ich behauptet, die Antwort zu wissen. Bei diesem Album habe ich aber nicht mehr die leiseste Ahnung. Ich bin so überwältigt von den Veränderungen in meinem Leben, ich will eigentlich noch nicht mal sagen, wo ich morgen bin. Ich erlebe diese Veränderung, weil ich das erste Mal in meinem Leben so etwas wie Stabilität fühle. Es ist verwirrend, weil das normalerweise der Punkt ist, wo Dinge aufhören sich zu ändern, aber bei mir ist es genau andersherum. Du warst nie bekannt als jemand, der sein Mittagessen auf Social Media postet oder jeden Schritt seines Privatlebens, aber in den letzten Monaten hast du ein paar sehr persönliche Dinge auf Twitter von dir preisgegeben. Schließt sich da der Kreis zum persönlicheren Ansatz der Platte? War es Zeit, das Image der Partyband zu korrigieren? Ich will eigentlich nichts korrigieren, ich will nur sicherstellen, dass ich mich nicht länger auf diesem Pfad bewege. Natürlich hat er mich bis hierhergebracht, viele gute Dinge sind passiert, aber jetzt geht es darum, nicht stehenzubleiben oder rückwärts zu gehen. Es war keine Entscheidung, im Rahmen von EVERY TIME I DIE offener zu sein, sondern diese Entscheidung musste ich für mein gesamtes Leben fällen. Also wird man demnächst auch mehr im Internet von mir lesen, das erscheint mir sehr gesund. Dabei geht es mir nicht darum anzugeben, sondern etwas mit den Leuten zu teilen. Ich erlebe coole Sachen, also warum nicht? Wenn dir also jemand demnächst sagt, dass du lahm geworden bist, ist dir das herzlich egal. „Mach’s gut!“, sage ich dann. Das sind wirklich nicht die Leute, die ich als Fans brauche, um ehrlich zu sein. Christian Biehl

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