REVIEWS
TURNSTILE Glow On
Das dritte TURNSTILE-Album bringt die Hardcore-Szene in Erklärungsnot. Warum sind künstlerische Ambitionen und musikalische Skills in weiten Teilen in Verruf? Warum darf Hardcore nicht empfindsam, introspektiv und verwundbar sein? Die neuen Songs von TURNSTILE sind Hardcore, weil sie dich sofort packen – „Glow On“ braucht definitiv keine fünf Anläufe, um zu zünden. Trotzdem wir diese Direktheit immer ergänzt durch einen Anspruch, der mehr will, als nur den Pit in Bewegung zu halten. Sei es die unwiderstehliche Basslinie im Opener „Mystery“, die unerwartete Wendung im zweiten Track „Blackout“ oder die Percussions in „Don’t play“, die auf „Glow On“ ohnehin allgegenwärtig sind und die atemberaubend gute Rhythmussektion ergänzen. Ruhigere Tracks sowie die Gastauftritte der Indie-Soul-Stimme von BLOOD ORANGE bieten das passende Kontrastprogramm zu einem Klopper wie „TLC (Turnstile love connection)“. Und trotz vieler Spielereien hat man nicht das Gefühl, dass hier irgendwas ausfranst oder überladen ist. Die Band aus Baltimore kreiert nicht nur eine ganz eigene Atmosphäre, vor allem ist hier alles stets auf den Punkt. Punkt. Es steht fest: TURNSTILE werden mit „Glow On“ zu Recht ganz oben auf vielen Bestenlisten des Jahres stehen und damit ist nicht Platz zwei gemeint. Hat jemand Album des Jahres gesagt? Na, wenn’s da doch steht! (Roadrunner) Christian Biehl
DON BROCO
SPIRITBOX
EVERY TIME I DIE
Eine der spannendsten Rockbands der Neuzeit. Punkt. Ein unfassbar gutes Album. Ausrufezeichen. Bitte hören. Danke! Gern geschehen. Reicht euch nicht? Na gut. Dann gibt’s eben doch noch eine halbwegs ausführliche Begründung dafür, warum sich jeder da draußen „Amazing Things“ unbedingt reinfahren sollte. Nämlich: Weil ein derartiges Feuerwerk an Kreativität seinesgleichen sucht. Diese vier Typen haben es einfach verstanden: „Erfolg“ – und der wird in diesem Kontext mal als Millionen von Streams, immer größeren Shows und einer stetig wachsenden internationalen Fanbase definiert – generiert sich nicht nur aus reinen Hits und Hooks, sondern aus der Tatsache, Menschen dabei noch zu überraschen – und sie mitzureißen. Genau das schafft das Quartett auf Album Nummer vier. Weil diese Scheibe nicht nur runtergeht wie Butter vom heißen Pfannenrand, sondern fleißig verschiedenste Genres auf unerwartet stimmige Weise miteinander verquirlt, so dass es eine wahre Wonne ist. Ein Rock-Rap-Funk-Trip-Metal-Experimental-Spektakel – sowohl für den genügsamen Nebenbei-Hörer als auch für den genussvollen Liebhaber. Über die Klasse der bereits veröffentlichten Auskopplungen muss nichts mehr gesagt werden. Mit Stampfern wie „Uber“ oder dem vielschichtigen „How are you done with existing?“ liefert „Amazing Things“ allerdings noch reichlich weiteres Highlight-Material. Alles in allem: überragend. (SharpTone) Anton Kostudis
Nach einer EP, diversen Vorabtracks und einer Single-Collection kommt im September endlich das Debütalbum von SPIRITBOX. Die kanadische Metal(core)-Band konnte in Deutschland bisher durch ihre Singles von genau diesem Album punkten. Darunter das absolut kraftvolle „Holy roller“, das sogar ein zweites Mal mit einem Feature von Ryo Kinoshita von CRYSTAL LAKE erschien, und die herzzerreißende Ballade „Constance“. Genau die Bandbreite zwischen den beiden Beispielen spiegelt die Gangart des Albums gut wider. Es geht nämlich von brutalen und harten über in fast poppige Songs („The summit“) oder zu sanfteren Balladen. Es ist nicht so, als würden sich Gebrüll und zarter Gesang im A-B-A-B-Schema abwechseln, sondern die Band hat eine gute Reihenfolge für ihre Songs gefunden. Oftmals stört es, wenn sich zu viele gleichförmige Stücke aneinanderreihen, denn dann prägt sich keines davon richtig ein. SPIRITBOX haben es geschafft, diese Falle zu umgehen, so dass von jedem einzelnen Song schon nach dem ersten Hören des Albums etwas hängenbleiben kann. Ich sag’s, wie es ist: Ich hätte auch ein Album nur mit Tracks im Stil von „Holy roller“ oder „Circle with me“ gefeiert. Aber gerade dank seiner Varianz kann „Eternal Blue“ noch mehr überzeugen und die Erwartungen übertreffen. (Rise) Britt Meißner
Die Meldung, dass EVERY TIME DIE wieder einmal das beste Album ihrer Karriere aufgenommen haben, dürfte niemanden mehr vom Hocker reißen, denn das tut die Band aus Buffalo konstant seit locker zwanzig Jahren. Das bedeutet aber nicht, dass „Radical“ seine Hörer nicht vom Hocker reißt. Es ist faszinierend, wie eine ohnehin schon tighte Band es immer wieder aufs Neue schafft, noch einen draufzulegen, ohne grundlegend am eigenen Erfolgsrezept herumzudoktern. Die Entwicklungen bei EVERY TIME I DIE schleichen sich von Album zu Album ein und plötzlich sind sie da. Das neunte Album ist Welten entfernt von einem Frühwerk wie „Hot Damn“, trotzdem hätte ein zeitreisender MetalcoreFan aus dem Jahr 2003 keine Probleme, die Band wiederzuerkennen. Okay, eine verhältnismäßig ruckartige Veränderung gibt es dann doch: Sänger, Texter und Literat Keith Buckley war es satt, die Dinge, die er sagen möchte, in Rhetorik zu verpacken, bis es zwar cool klingt, aber die Wahrheit verschleiert. Auf „Radical“ geht es nicht nur inhaltlich um ein grundsätzliches Umdenken, auch die Texte spiegeln das nun wider. Dabei ist Buckley nicht etwa redselig geworden, im Laufe der 16 Songs und 51 Minuten Spielzeit gibt es nicht eine Silbe zu viel. Es wird nicht eine Sekunde verschwendet und musikalisch tut der Rest der Band es ihrem Sänger gleich. Für Nachlässigkeiten ist diese Band zu radikal. (Epitaph) Christian Biehl
Amazing Things
Eternal Blue
Radical
DYING WISH
Fragments Of A Bitter Memory
Uff! Ouch! Hossa! DYING WISH fallen nicht nur mit der Tür ins Haus, sondern reißen es direkt ab. Ab Sekunde und Atemzug eins presst die Band aus Portland ihren rohen Metalcore aus den Boxen. Auf seinem Debüt verbindet das Quintett seinen geliebten Sound der New Wave of American Heavy Metal mit PunkKrach. Es gibt ergo Metalcore-Riffing à la CALIBAN und Hardcore-Intensität à la WALLS OF JERICHO. DYING WISH verbinden die melodische Verspieltheit der Essener mit der Rücksichtslosigkeit der Detroiter:innen. Auch stimmlich sind die elf Songs sehr nah bei Candace Kucsulain. Doch spuckt Sängerin Emma Boster, ähnlich wie Jazmine Luders (ex-CURSED EARTH), eine deutlich größere Portion Galle mit jedem Vers aus. Ein Highlight des Albums ist Bryan Garris’ (KNOCKED LOOSE) Gastpart bei „Enemies in red“. Hier darf gern gestritten werden, wer von beiden Sänger:innen den C-Part mehr zerreißt und killt. Heftig! So viel Gas die Band aus Portland auch gibt, sie schaffen es doch, „Fragments Of A Bitter Memory“ stets genügend Raum, Ruhe und Melodie zu geben, dass die derben Momente möglichst intensiv wirken. Etwas mehr als zehn Jahre nach dem Höhepunkt dieses Genres pushen Bands wie DYING WISH, ISEEYOUSPACECOWBOY oder IF I DIE FIRST Oldschool-Metalcore zurück ins Untergrundrampenlicht. Endlich mal wieder eine Band, die ich mir live angucken würde. (SharpTone) Marcus Buhl
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