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MITTENDRIN UND AUSSEN VOR

Mittendrin und außen vor

Die Kunst sollte den Raum unserer Realität umhüllen – das Haus der beste Freund des Menschen und der Natur werden.

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Lillian Gössel

© LG

Man fühlt sich beschützt in diesen Traumhöhlen, die mit ihren Fenstern hinaus in die Welt schauen. Eine extrovertierte Welt mit „Fensterrecht“, bei dem die Bewohner die Möglichkeit haben, die Fassade um ihr Fenster herum selbst zu gestalten, soweit ihr Arm reicht. Hundertwasser will zeigen: „Dort wohnt ein Mensch“, ein Individuum. © Lillian Gössel

Eine Modellansicht auf die Grüne Zitadelle von Magdeburg. Sie bietet eine detaillierte Übersicht über den Gebäudekomplex. © LG

Nähert man sich in Magdeburg dem gotischen Dom, sticht einem, neben dem Kloster Unser Lieben Frauen und dem modern verglasten, mit brasilianischem Marmor umrahmten, Bankgebäude, ein beinahe unwirklicher, spiralförmiger Turm ins Auge. Durch die rosa verputzte Fassade, die Zwiebeltürme und die drei riesigen Kugeln aus 18 Karat Gold auf dem Dach, bildet das Gebäude einen besonderen Kontrast zur umgebenden Baustruktur. Es handelt sich um die Grüne Zitadelle von Magdeburg.

Das Baukunstwerk ist das letzte Großprojekt des Malers Friedensreich Hundertwasser, der dafür 1997 erste Entwürfe zeichnete, die in der Folge von den Architekten Peter Pelikan und Heinz M. Springmann geplant und realisiert wurden. 2005, fünf Jahre nach Hundertwassers Tod, wurde der Bau fertiggestellt. Auf den ersten Blick sieht man: Hier, wo sich Hundertwassers Welt versammelt, ist nichts gerade oder rechteckig. Die Fenster des Gebäudes sind blau schattiert, Bäume, die sogenannten Baummieter, wachsen aus einigen Fenstern heraus, Dachziegellinien laufen vertikal über die Fassade und eine Vielzahl bauchiger, bunter Säulen, jede ein Unikat, bilden einen Wald. Man steht vor einem dreidimensionalen Hundertwasser-Bild - vor einer architektonischen Skulptur; die Grenzen zwischen Malerei und Architektur werden unscharf.

Geboren wurde Friedensreich Hundertwasser als Friedrich Stowasser am 15. Dezember 1928. Obwohl, oder gerade wegen seines jüdischen Hintergrunds, ließ ihn seine Mutter 1935 katholisch taufen. Hundertwasser besuchte drei Jahre lang die kunstausgerichtete Montessori-Schule in Wien, wechselte 1938 auf eine staatliche Schule und wurde in die Hitlerjugend aufgenommen. 1943 wird ein traumatisches Jahr für den damals Fünfzehnjährigen; neunundsechzig jüdische Familienmitglieder kommen im Holocaust um. Zusammen mit seiner Mutter wird er zwangsumgesiedelt, überlebt, und macht 1948 seine Matura.

Diese Erfahrungen und Erlebnisse sind prägend. In der bildenden Kunst findet er seine Erfüllung und entwickelt einen außergewöhnlichen Farben- und Formensinn, wie auch in seinem späteren Architekturprogramm. Drei Monate lang besucht er die Akademie der Künste und sieht in einer Ausstellung der Albertina in Wien, Bilder von Egon Schiele und Walter Kampmann. Sie werden

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neben Gustav Klimt, Paul Klee und Henri Rousseau zu wegweisenden Inspirationsquellen. Er bewundert die Farbigkeit, das fließend Natürliche in den Bildern; das beinah Naive, wie man es in Zeichnungen von Kindern, noch bevor sie das Abzeichnen gelernt haben, finden kann. Friedrich bricht das Studium ab, denn das Menschliche, das Persönliche, haben vor Konformismus und vor gestalterisch künstlerischen Eitelkeiten absolute Priorität. Er beginnt zu reisen und ändert seinen Namen in Hundertwasser.

1953 malt er seine erste Spirale im Pariser Studio seines Freundes René Brô. Sie wird das Symbol einer Weltansicht, lässt sich zweifach deuten: Nach innen gewendet und nach außen führend - Leben und Tod. Sein weltweites Renommee hatte sich bereits Ende der sechziger Jahre, nach einer langen Reihe von Ausstellungen, Reisen und Manifesten, gefestigt. Als Träumer, Grenzgänger und Suchender bewegt sich Hundertwasser zwischen Europa und Neuseeland und findet sich im Raum zwischen Malerei, Architektur, Kommerz und Ökologie. Hundertwassers Lebenseinstellung und Überzeugung war, dass die Menschen alles falsch machen; sich selbst und der Natur gegenüber. Der Mensch stehe mit seinen selbstzerstörerischen Kräften im Gegensatz zur Natur, wo die Pflanzenwelt immer aufbauend sei. Die Natur wird zum Lehrmeister, sowohl im schöpferischen als auch im ökologischen Sinn, wenn sich Hundertwasser an der Geometrie von Bienenwaben, der Konstruktion eines Ameisenhaufens oder den Gängen von Maulwürfen inspiriert.

Seinen Durchbruch als Architekt hatte Hundertwasser mit dem Bau des Hundertwasser Hauses in Wien. Am Tag der offenen Tür, dem 08. September 1985, wird es der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Neugier der Wiener ist groß. 70.000 Besucher stehen Schlange. Sie sehen Hundertwassers Welt, wie er sie in seiner Malerei, dreißig Jahre, unermüdlich gebaut hatte. Eine Welt, in der seine gemalten Bilder architektonische Umwelt werden, ohne dabei an Beweglichkeit zu verlieren. Seine Vorliebe für die Ornamentkunst des Nahen Ostens und indigener Gemeinschaften, die in besonderer Naturnähe leben, tritt, wie auch in seinen Bildern, hervor. Überall sind die natürlichen Farben, Ton, Erde, Ziegel, Kalk zu sehen. Der Putz ist unregelmäßig aufgebrachte. Die Kunst sollte den Raum unserer Realität umhüllen, das Haus der beste Freund des Menschen, sowie der Natur werden.

3 Knapp vierzig Architekturen unterschiedlichster Anforderungen und Funktionen sind von 1980 bis 2007 nach Hundertwassers Plänen realisiert worden. Das Fernwärmewerk in Spittelau (1987) wurde zum Wahrzeichen am Donaukanal. Dieser spektakuläre Industriebau soll ein Beispiel für eine harmonische Symbiose aus Technik, Ökologie und Kunst, ein Mahnmal für eine abfallfreie Gesellschaft sein. Ein Kleinod unter den Hundertwasser Objekten ist die St. Barbara Kirche in Bärnbach, in der Steiermark. 4 Die schlichte Kirche verwandelte Hundertwasser bis 1988 in ein märchenhaftes Gotteshaus mit vergoldetem Zwiebelhelm, aufwendigen Mosaikarbeiten und einem farbigen Dach. Es folgt unter anderem die im Jahr 2000 fertiggestellte Wohnanlage Waldspirale in Darmstadt. Auch hier gleichen sich keine zwei Fenster, das Dach ist mit Recycling-Beton gedeckt. Dem eigenen Grundsatz folgend, „Was man der Natur entwendet hat, sollte sich auf den Dächern wiederfinden“, ist es mit Ahorn-, Linden- und Buchenbäumen bepflanzt. Das letzte Gebäude: Die Grüne Zitadelle von Magdeburg. Obwohl Hundertwasser nie persönlich in Magdeburg war, empfand er diesen Entwurf als seinen schönsten und gelungensten. Hier bietet sich das gesamte Hundertwasser Repertoire: Baummieter, Terrassengärten, Zungenbärte an und kronenartige Formen über den Fenstern, verschiedenste Türschlösser und Klinken, runde Ecken. Sein Kampf gegen die gerade Linie ist gewonnen! Hier ist nichts eben und gerade. Die Grasflächen befinden sich auf Fensterbrettebene, sodass sich der Bewohner durch das geöffnete Fenster eine Blume pflücken kann. Man fühlt sich beschützt in diesen Traumhöhlen, die mit ihren Fenstern hinaus in die Welt schauen. Eine extrovertierte Welt mit Fensterrecht, bei dem die Bewohner die Möglichkeit haben, die Fassade um ihr Fenster herum selbst zu gestalten, soweit ihr Arm reicht. Hundertwasser will zeigen: „Dort wohnt ein Mensch“, ein Individuum. Werkzeuge sind in die Geländer des Hauses eingearbeitet - eine Hommage an die Handwerker. In der Grünen Zitadelle wohnt man, mitten in der Innenstadt, wie in einem eigenen Biotop. Man ist mittendrin und außen vor. Das Gebäude war lange Zeit unbeliebt. Heute wird auf die Frage, welcher Mietzins denn höher sei, der der Grünen Zitadelle oder der des Gebäudes gegenüber, geantwortet: „Gegenüber, weil wir in der Grünen Zitadelle keinen

Figure 1_ „Das ich weiß es noch nicht“ 1960 gemalte Bild greift das Motiv einer Spirale auf. Die Spirale gilt als Sinnbild für die Endlosigkeit eines scheinbar geschlossenen Kreises. Die Komprimierung und Lockerung von Linien, die gegensätzliche und zugleich ergänzende Verbindung zwischen Leben und Tod, die vegetative Imperfektionen, nach denen Hundertwasser sein Leben lang strebt, werden symbolisch in ihr aufgenommen.

Figure 2_ Hundertwasserhaus Wien, aufgenommen 2015 von Thomas Ledl

Figure 3_ „Ein Mann in einem Mietshaus muß die Möglichkeit haben, sich aus einem Fester zu beugen und - so weit seine Hände reichen - das Mauerwerk abzukratzen. Und es muß ihm gestattet sein, mit einem langen Pinsel- so weit er reichen kann- alles außen zu bemalen“ Hundertwasser, 22. Januar 1990

Fensterrechtsdemonstration in Essen, Deutschland, anlässlich der Sendung „Wünsch Dir was“ 1972.

Figure 4_ Fotos einer Wohnsilo-Stadt in Norddeutschland werden mit unregelmäßigen Baum- und Fensterstrukturen, nach Hundertwassers Vorbild, 1972 für den Film „Hundertwasser-Regentag“ vom deutschen Regisseur und Produzent Peter Schamoni übermalt.

Figure 5_ Ostansicht des Fernwärmewerks in Spittelau, Wien 1988-1992. Das Fernwärmewerk gilt als Wahrzeichen am Donaukanal und beschreibt die Symbiose aus Technik, Ökologie und Kunst. Foto: Herbert Schwingenschögl

Figure 6_ The End of Greece, Painted in Delphi - Heraklion - on the SS Delos - Santorini - Mykonos, September 4-23, 1963 - Venice, Giudecca, October 1963 - Hanover, Wedemeyerstraße, February 1964 670x480 mm

Blick auf das Hundertwasserhaus haben.“

Die Natur wird zum

Lehrmeister, sowohl im schöpferischen als auch im ökologischen Sinn, wenn sich Hundertwasser an der Geometrie von Bienenwaben, der Konstruktion eines Ameisenhaufens oder den

Gängen von Maulwürfen inspiriert.

Grüne Wiesen und wilde Gewächse inmitten und Teil der Archi tekturen Hundertwassers sind allgegenwärtig. Die „Baummie - ter“ der Grünen Zitadelle schauen aus ihren Fenstern. Eine der vielen und begehbaren Dachterrassen bietet einen Aus - blick auf den Turm, der über einen spiralförmigen Aufstieg erreicht werden kann. © LG

Biberschwanz-Mosaike klettern die Innenfassade der Grünen Zitadelle hoch. Bewusst wird die Assoziation zu Baumstämmen erzeugt. © LG

Werkzeuge sind in die

Geländer des Hauses eingearbeitet- eine Hommage an die Handwerker. © LG

Lillian Gössel, 1998 in Berlin geboren, in Spanien und Berlin aufgewachsen, machte 2017 an der Sophie-Scholl-Oberschule das Abitur. In Schottland absolvierte sie, als Reisejournalistin und in Hamburg als Textredakteurin von viewStern, zwei Praktika. 2018 begann sie das kulturwissenschaftliche Studium an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Aktuell ist sie an der Organisation des Theaterfestivals „Unithea“ in Frankfurt (O.) beteiligt und auf dem Sprung nach Island.

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