The Red Bulletin DE 05/21

Page 1

DEUTSCHLAND MAI 2021 € 2,50

„ WIR MUSSTEN IRRE „ DIE SECURITY SCHNELL SEIN.“ WAR UNS ABSEITS DES ALLTÄGLICHEN

AUF DEN FERSEN.“

SKATEBOARD-FOTOGRAF JAKE DARWEN ÜBER DIE MAGIE DES AUGENBLICKS AM RANDE DES VERBOTENEN



E D I TO R I A L

WILLKOMMEN

DER BESTE MOMENT SONNYBOY AUF TOUR

Für seine spektakulären Bilder geht Skateboard-Fotograf Jake Darwen bis an den Rand des Erlaubten. Beweise ab Seite 18.

26

KÜNSTLER AUF WELLENLÄNGE

Fotograf Lennart Brede (re., u. a. „Vogue“, „High-­ snobiety“) lichtete Deutschrapper Nimo in der Hauptstadt ab. Die ganze Story ab Seite 50.

Viel Spaß mit der neuen Ausgabe von The Red Bulletin! Die Redaktion

JAKE DARWEN (COVER)

BENE ROHLMANN

Kilo wiegt die Aus­ rüstung, mit der Feuer­wehrmann Andreas Michalitz 100  Kilo­meter in Rekord­zeit lief. Ab Seite 38

Manche Augenblicke sind so perfekt, dass wir sie am liebsten für immer festhalten wollen. Nun, dem Neuseeländer Jake Darwen, 28, gelingt genau das. Der Fotograf reist um die Welt und lichtet Skateboarder in Momenten ab, die eine besondere Magie in sich tragen – etwa ­inmitten sprudelnder Fontänen oder unter einem vorbeidonnernden Flugzeug. Wie ihm das gelingt? Durch besondere Leidenschaft für seinen Beruf: „Du kannst nicht aufhören, dich zu verbessern, das macht süchtig.“ Ein Best-of seiner Bilder ab Seite 18. Außergewöhnliche Passion steckt auch hinter dem Erfolg von Tarek Rasouli, 46. Nachdem er 2002 als Mountainbike-Freerider verunglückte und eine Querschnittslähmung erlitt, fand er eine neue Lebens­ aufgabe. Sie sollte ihn zu Europas wichtigstem BikeManager machen. Seine ganze Geschichte ab Seite 62.

ASTRONAUT AUF GEFÄHRLICHER MISSION

Schriftsteller Michael Köhlmeier erzählt die Geschichte von John Glenns Erdumrundung. Ab Seite 92 THE RED BULLETIN

3


I N H A LT The Red Bulletin im Mai 2021

COVERSTORY

18 HELDEN AUF BRETTERN

Skateboard-Fotograf Jake Darwen begleitet Top-Fahrer auf der ganzen Welt bei ihren Stunts. Bei uns erzählt er von seinen besten Bildern.

LAUFEN

56 IN HÖHEREM AUFTRAG

Wie eine Schweizer FreizeitSportlerin mit dem Team Vati­ kan nach den Sternen greift.

34 SONGS IN HIMBEERROT Wenn Lea Lu singt, wird ihre Welt ganz bunt – denn jeder Klang ist für sie Farbe.

ULTRARUNNING

MOUNTAINBIKE

62 DER WEITER-MACHER

E-MOBILITÄT

68 E WIE EHRLICH

Wie umweltfreundlich sind Elektro-Autos? Eine Managerin fordert neue Transparenz.

38 WIE DIE FEUERWEHR

Brandhauptmeister Andreas Michalitz hält den Rekord im 100-km-Lauf in voller Montur.

WINGS FOR LIFE WORLD RUN

40 TEAM DER TRÄUME

GUIDE

Tipps für ein Leben abseits des Alltäglichen

Profi Tadesse Abraham hilft Flüchtlingen mit seiner Trainingsgruppe auf die Beine.

75 TRAVEL. Paragleiten am Mont Blanc mit Guide Calum Muskett.

SKYDIVING

80 G AMING. Ein Star-Spieler erklärt, wie man eSport-Profi wird.

42 KOMET MIT HELM

Wie aus Stunts am Nacht­ himmel Bilder mit besonderer Leuchtkraft werden.

MUSIK

50 NIMO STARTET DURCH

Vom Gefängnis auf Platz eins der Charts – der erstaunliche Aufstieg des Hip-Hop-Stars.

6 GALLERY 12 ZAHLEN, BITTE!

4

WEICH GELANDET  Rapper Nimo über die entscheidende Wendung seines Lebens.

Wie der Münchener Tarek ­Rasouli im Rollstuhl zu Europas Bike-Manager Nr. 1 wurde.

MUSIK

50

62 GUT AUFGELEGT  Wie Bike-Manager Rasouli aus einem Schicksalsschlag das Beste machte.

81 PLAYLIST. Elektroswing-Pionier Parov Stelars Lieblingssongs. 82 RICHTIG GUTES ZEUG. Liebhaber­ stücke, Tipps und Termine. 86 A UTOS & MOTORRÄDER. Sportwagen, Transport-Talente und drei Bikes für alle Fälle. 92 BOULEVARD DER HELDEN. Womit Astronaut John Glenn kämpfte.

14 FUNDSTÜCK 16 DAS PHILOSOPHEN-INTERVIEW

96 IMPRESSUM 98 CARTOON

56 SCHNELL UNTERWEGS  Camille Chenaux läuft für das Team des Papstes.

THE RED BULLETIN

LENNART BREDE, PHILIPP HORAK, NICOLA CARIGNANI, DUSTIN SNIPES


42 SCHÖN GEFLOGEN Der Kometen-Stunt der Red Bull Air Force-­ Skydiver am Nacht­ himmel von Texas.

THE RED BULLETIN

5


ALDEYJARFOSS, ISLAND

Ein Fall für Mr. Garcia Der Pilot des roten Hubschraubers. Der kühne Mann im blauen Wildwasserkajak. Der Fotograf auf dem Felsen gegenüber. Auf diesem Bild, aufgenommen im spekta­ kulären isländischen Hochland, zeigen drei ­Profis, was sie können: Der amerikanische ­Extrem-Kajakfahrer Evan Garcia stürzt sich, ­gefilmt aus dem Helikopter, den 20 Meter ­hohen Aldeyjarfoss-Wasserfall ­hinunter, der tschechische Fotograf Jan Kasl macht das Beste draus. Abenteuer im Bild: jankaslphoto.com


7

JAN KASL



NEOM, SAUDI-ARABIEN

Fabelhaft

ERIC VARGIOLU/DPPI/RED BULL CONTENT POOL

DAVYDD CHONG

Wenn man nur lang genug von oben auf diese Wüstenzunge am Golf von Akaba schaut, dann taucht bald einmal ein schlafender Drache auf. Hier sehen wir den Truck der Russen Anton Shibalov, Dmitrii Nikitin und Ivan Tatarinov, der am Drachenmaul furchtlos Staub aufwirbelt. Die Besatzung hatte allerdings keine Zeit für Fabelwesen, denn bei ihrer Teilnahme an der Rallye Dakar – die nun zum zweiten Mal in Saudi-Arabien stattfand – galt: voll aufs Pedal! Der Franzose Éric Vargiolu hatte jedenfalls den Finger zur richtigen Zeit am Auslöser. Instagram: @eric_vargiolu

9



DAVYDD CHONG ESBEN ZØLLNER OLESEN/RED BULL CONTENT POOL

SILKEBORG, DÄNEMARK

Ab durch den Wald

Natürlich kostet es ein wenig Überwindung, speziell an einem Wintermorgen, aber so eine Wakeboard-Spritztour stärkt die Abwehrkräfte, die wir jetzt dringend brauchen. In Dänemark wissen sie das genau. Im Video „We, The Danes“ wird gesunde Härte als Lebenselixier gefeiert. Unter den Protagonisten: Board-Profi Robin Leroy Leonard, hier bei einer erfrischenden Session auf einem See bei Silkeborg in Zentraldänemark, fotografiert vom Kopenhagener Esben Zøllner Olesen. Das ganze Video gibt’s auf redbull.com. Noch mehr Action: esbenzollnerolesen.com   11


Z AHL EN, BI T T E!

WINGS FOR LIFE WORLD RUN

Gemeinsam läuft’s besser Zum achten Mal laufen Menschen am 9. Mai rund um den Globus zur gleichen Zeit für den guten Zweck. Hier die beeindruckenden Zahlen – von der ältesten Teilnehmerin zum imposanten Bananenverbrauch.

95

32,43

Jahre alt war die bislang älteste Teilnehmerin. Die Südafrikanerin lief 7,24 Kilometer.

Kilometer schaffte Wings for Life World Run-Dauerstarter Andreas Goldberger, der 2020 rund um den Mondsee lief.

Menschen haben bislang im Rollstuhl teilgenommen.

110

Tonnen Bananen wurden beim Lauf verputzt. Das entspricht dem Gewicht von 18 Elefantenbullen.

2.800.000

Euro Spendengeld wurden allein beim Lauf im Vorjahr gesammelt.

110410

59

6

Forschungsprojekte in 13 Ländern unterstützt Wings for Life derzeit. Ihr Ziel: Querschnittslähmung heilbar zu machen.

Kontinente, 13 Zeitzonen und 195 Länder umspannt das Teilnehmerfeld des Laufs.

250.000

22.287

699.150

Rückenmarksverletzungen ­ assieren weltweit pro Jahr, p die Hälfte bei Verkehrsunfällen.

Melde dich an und lauf mit: wingsforlifeworldrun.com

Menschen haben seit 2014 am Wings for Life World Run teilgenommen. 12

THE RED BULLETIN

GETTY IMAGES, MARKUS BERGER FOR WINGS FOR LIFE WORLD RUN

7.378.113,6

CLAUDIA MEITERT

war die Startnummer der Russin Nina Zarina, die 2020 zum zweiten Mal en suite die Weltbeste bei den Frauen war: Sie hielt bei 54,23 Kilometern, als das virtuelle Catcher Car sie einholte.

Kilometer – fast zehnmal die Distanz zum Mond und zurück – legten die Teilnehmer ­in ­sieben Jahren zurück.

Teams (also Gruppen von ­Teil­nehmern, die sich ein ­gemeinsames Ziel setzen) wurden bisher gegründet – mehr, als es ­Fußball­vereine in Deutschland gibt.

4070



F U ND ST Ü CK

Die Beatles am Cover von „Abbey Road“. Der Zebra­ streifen steht seit 2010 unter Denkmalschutz.

THE BEATLES

Rock ’n’ Rolle

14

THE RED BULLETIN

GETTY IMAGES, ALAMY

Original Klopapierrolle von der Toilette der Londoner Abbey Road Studios, 1969 Zwischen Februar und August 1969 nahm die berühmteste Pop-Band der Welt ihr letztes gemeinsames Album auf. Es hieß genauso wie die Studios: „Abbey Road“. Auch unser Fundstück spielte eine Rolle: „Die meisten Dinge liefen damals sehr flauschig ab“, heißt es dazu in einem Brief von einem EMI General Manager, „nicht jedoch dieses Klopapier, das den Beatles zu hart und zu glatt war. Außerdem fanden sie es erbärmlich, dass jedes Blatt von EMI gestempelt war. Die Rolle wurde sofort ausgetauscht.“


ALPHATAURI.COM

© Jean Nouvel, Gilbert Lézénès, Pierre Soria et Architecture-Studio / Adagp, Paris, 2021


DAS F IK T IV E PHILO S O PHEN- IN T ERV IE W

SOKRATES FRAGT

„Erkennst du dich selbst, oder postest du noch?“ Social Media ist für ihn nichts anderes als der antike Markt von Athen: eine Gelegenheit, bei der man die Weltbilder seiner Zeitgenossen zum Einsturz bringt. Wie das funktioniert, erklärt der große Denker ­Sokrates in unserem fiktiven Interview mit dem ­deutschen Philosophen Christoph Quarch.

Heißt das, wir machen uns in den sozialen Medien alle etwas vor? Vielleicht nicht alle, aber viele. Es ist wirklich wie früher auf dem Markt von Athen. Die Leute wollen sämt­ „Den Leuten ist lich Aufmerksamkeit. Sie wollen bewundert und wertgeschätzt jedes Mittel recht, werden. Aus diesem Grund ist um attraktiv zu ­ihnen jedes Mittel recht, um gut und attraktiv zu scheinen – und scheinen, und sie sie vergessen darüber, gut und vergessen darüber, ­attraktiv zu sein. Das ist schade.

Ja, schon. Und was ist aus Ihrer Sicht ein Nutzer? Lassen Sie uns mal so tun, als wäre hier ein Nutzer, den wir fragen könnten: „Hey Nutzer, wer bist du?“ – „Was ist das für eine komische Frage, schau dir mal mein Profil an, dann weißt du’s.“ – „Okay, da finde ich ein Foto und ein paar Infos über dich. Aber das war doch wohl noch nicht alles.“ – „Na klar, ich kann doch nicht mein ganzes Leben in mein Profil quet­ schen.“ – „Das will ich hoffen, aber dann bist du doch offenbar etwas anderes als dein Profil. Oder sagen wir so: Dein Profil ist ein Bild von dir – aber du bist nicht mit diesem Bild identisch …“ Merken Sie, worauf ich hinauswill?

16

zu sein.“

Haben Sie deshalb keinen ­Facebook-Account? Och, ich würd mir schon noch einen anlegen, denn für Social Media gilt am Ende das Gleiche wie für den Markt in Athen: Du kannst darin als Fake-Avatar ­herumlaufen und dich mit deinem Profil verwechseln, du kannst Social Media aber auch für Dialoge nutzen, in denen du anfängst, dich selbst zu erkennen und deine albernen Selbstinszenierungen als das zu durch­ schauen, was sie sind: fruchtlose Schattenspiele, die dich davon abhalten, wirklich du selbst zu sein. SOKRATES (ca. 470–399 v. Chr.) ist die Galionsfigur der euro­ päischen Philosophie. Zu Lebzeiten war der griechische Denker berühmt dafür, unreflektierte Selbst- und Weltbilder infrage zu stellen. Damit zog er den Zorn vieler Mitbürger auf sich, die ihn in einem fragwürdigen Prozess zum Tode verurteilten. CHRISTOPH QUARCH, 56, ist deutscher Philosoph, Theologe, Unternehmens-Coach und Autor zahlreicher philosophischer Bücher. Zuletzt erschienen: „Platon und die Folgen“, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart.

THE RED BULLETIN

BENE ROHLMANN

Wie meinen Sie das? Man nennt diese Leute Nutzer. attraktiv Ja, das weiß ich. Aber was ist das – ein Nutzer? Sehen Sie: Bei uns im alten Griechenland kannte jeder die Tempel­ inschrift in Delphi. Sie lautete: „Erkenne dich selbst!“ Deshalb frage ich jeden Nutzer, ob er sagen kann, was es heißt, ein Nutzer zu sein. Verstehen Sie, was ich meine?

DR. CHRISTOPH QUARCH

the red bulletin: In den sozialen Medien können Menschen sich ­zeigen und einander begegnen – selbst wenn sie physisch an verschiedenen Orten sind. Ist das nicht ein großartiges Instrument, um miteinander ins Gespräch zu kommen? sokrates: Ha, da haben Sie mir ­einen schönen Köder hingeworfen, mein Freund. Denn Sie wissen ja genau, dass ich ein riesengroßer Fan von Gesprächen bin. Und warum nicht auch mal chatten oder twittern? Mir ist nur eines nicht ganz klar dabei: Wer sind eigentlich die­ jenigen, die auf Social Media ­kommunizieren?

Sie wollen sagen, dass man im Netz eigentlich nur mit einem Bild von sich unterwegs ist, aber nicht als die Person, die man eigentlich ist? Genau das meine ich. Und jetzt kommt’s: Ein Bild kann wahr oder falsch sein. Es kann das, was es abbildet, getreu wiedergeben, es kann aber auch ein Zerrbild sein. Meistens ist Letzteres der Fall: Das Bild, mit dem Sie in sozialen Medien unterwegs sind, gibt dann gar nicht zu erkennen, wer Sie tatsächlich sind, sondern nur, wer Sie gern sein wollen. Es ist fast immer ein Wunschbild, das Sie von sich haben. Und das ist ziemlich oft ein verdammter Fake.


FLÜÜÜGEL FÜR DEN SOMMER. MIT DEM GESCHMACK VON KAKTUSFRUCHT.

R NUR FÜ EIT KURZE Z

BELEBT GEIST UND KÖRPER ®.


P O RT FO L IO

„ Wir hatten nicht viel Zeit. Die Securitys waren uns auf den Fersen.“ Skateboard-Fotograf Jake Darwen über die Magie des Augenblicks am Rande des Verbotenen. Text ANDREAS WOLLINGER

Volles Rohr

Anthony Schultz, Seoul, Südkorea, 2016

„Vor dem größten Einkaufszentrum Seouls steht diese perfekte Full Pipe. Das Problem sind nur die vielen Wachleute. Ein paar von den Jungs lenkten sie ab, Anthony hatte Zeit für genau zwei Versuche, dann haben sie uns des Areals verwiesen.“

18

THE RED BULLETIN


THE RED BULLETIN

19


P O RT FO L IO

Unter dem Regenbogen

Casey Ainsworth, Adelaide, Australien, 2015 „Casey entdeckte diese wirklich steile Bank (eine Schräge, die Tricks zulässt; Anm.) tagsüber, wir gingen abends hin, um ungestört zu sein. Da stellten wir fest, dass das Stadion beleuchtet war, was die Sache gleich noch viel schöner machte.“

20

THE RED BULLETIN


THE RED BULLETIN

21


P O RT FO L IO

Nicht mal Fliegen ist schöner

Marius Syvänen, Tugun, Australien, 2018 „Fast zu schön, um wahr zu sein, aber diese Bowl ist nur ein paar hundert Meter von der Landebahn des Flughafens von Gold Coast entfernt. Marius und ich stoppten, dass die Flugzeuge zirka alle 20 Minuten ankamen. Schwebte also ein Flieger ­herein, legte Marius los. Es dauerte lang, bis wir es präzise hinbekamen, aber das war es allemal wert.“

22

THE RED BULLETIN


Sprünge im Schulhof

Jake Hayes & Jordan Trahan, Los Angeles, USA, 2019 „Klassische Schulhof-Session, mitten im Hoch­ sommer. Meine Blitzgeräte explodierten fast in der Hitze, aber die Jungs behielten einen kühlen Kopf und schafften es, ihre Kickflips über den Tisch perfekt zu synchronisieren.“

THE RED BULLETIN

23


P O RT FO L IO

Big City, Bright Lights

Marquise Henry, Los Angeles, USA, 2020 „Ich war schon immer ein großer Fan davon, mein Motiv von hinten zu beleuchten, wann immer ich die Gelegenheit dazu habe. Die Art und Weise, wie die Schatten dann mit dem Boden verschmelzen, und das Glühen hinter der Person: Ich liebe es!“

24

Kunst und Können

Louie Dodd, Melbourne, Australien, 2016 „Louie skatet immer an Stellen, die so toll sind, dass man sich wünscht, ihn dabei fotografieren zu können. Glücklicherweise ging mein Wunsch in Erfüllung: Diese abstrakte Skulptur steht im Herzen von Melbourne.“

THE RED BULLETIN


THE RED BULLETIN

25


P O RT FO L IO

26

THE RED BULLETIN


Springen im Brunnen Dean Palmer, Peking, China, 2014

„Ich wollte immer schon jemanden in einem Springbrunnen fotografieren, aber meistens wollen die Leute nicht nass ­werden. Als ich mit Dean in Peking war, fragte ich ihn, ob er Lust habe. Nach fünf Minuten war er tropfnass. Er ist dann ins Hotel zurück, holte sich neue Klamotten, und weiter ging’s.“

THE RED BULLETIN

27


P O RT FO L IO

Sicherheit ist relativ

Franky Villani, Los Angeles, USA, 2020 „Nach dem Ausbruch von Corona hatte ich einen Monat lang kein Foto geschossen. Dann erkannten wir, dass geschlossene Schulen sichere Orte waren – keine Menschen weit und breit. Franky wählte prompt den am wenigsten sicheren Trick: den 50-50 Grind Hippie Jump – über das Geländer durch das Loch im Zaun.“

28

THE RED BULLETIN


Eine Frage des Gleichgewichts

Gabriel Summers, Melbourne, Australien, 2015 „Bis heute weiß keiner, wer das gebaut oder wozu es ge­ dient hat – eine wilde Konstruktion mit herausstehenden Nägeln und Sperrholzstücken, die sich gegenseitig über­ lappen. Gabriel musste wie ein Turner balancieren, um sein Brett in die richtige Position zu bringen, und dann einfach das Beste hoffen. Zum Glück ist nichts passiert.“

THE RED BULLETIN

29


P O RT FO L IO

Blitzaktion im Bahnhof

Ronnie Kessner, New York, USA, 2019 „Wir waren in diesem Bahnhof was essen. Beim Rausgehen fiel mir auf, dass man von oben ganz nach unten sehen konnte, was sofort eine Fotoidee zündete. Ich verständigte mich mit

30

Ronnie via Handy, ein Assistent blitzte ihn zusätzlich von oben, was den Schatten erzeugte. Viel Zeit hatten wir nicht, die Securitys waren uns schon auf den Fersen.“

THE RED BULLETIN


Verbotene Leidenschaften

Kayle Lawson, Melbourne, Australien, 2016

„Diese Stelle war jahrelang gesperrt. Doch dann haben Einheimische die Sperren entfernt, und man konnte genau zwei Wochen skaten. Im Bild: mein bester Freund Kayle bei einem Switch Backside Lipslide.“

THE RED BULLETIN

31


P O RT FO L IO

32

THE RED BULLETIN


Mit 16 zog sich Jake Darwen eine Knieverletzung zu – nicht lustig, wenn man davon träumt, Skateboardprofi zu ­werden. Doch der S ­ onnyboy aus Auckland, Neuseeland, nutzte die halbjährige Auszeit kreativ: Er legte sich eine Kamera zu, um Teil der Szene zu bleiben, wenn er schon nicht selber fahren konnte. Schnell wurde die Fotografie zu seiner neuen Leidenschaft, wobei er den gleichen Zugang wählte wie beim Skateboarden: „Du kannst nicht aufhören, dich zu verbessern, das macht süchtig“, sagt er. Nach fünf Jahren in Australien zog er schließlich nach Los Angeles und zählt heute, mit 28, zu einem der gefragtesten Skateboard-Fotografen der Welt. Vor allem weil er es versteht, die flüchtigen Tricks der Boarder und ihre Umgebung mit wachem Blick und perfektem Timing zu Gesamtkunstwerken zu erhöhen. „Ich glaube“, sagt er, „dass man ein Foto auf diese Art dazu bringt, eine Geschichte zu erzählen.“ Bilder aus Jakes Leben: Instagram: @jakedarwen

Tag der Fahne

Jake Hayes, Chongqing, China, 2014 „Diese Flaggen fielen mir auf, als wir von einem Spot zum nächsten unterwegs waren. Ich kletterte auf einen Baum, um den Blickwinkel richtig hinzukriegen, und Jake machte ein paar Kickflips. Zum Glück waren nirgends Securitys.“

THE RED BULLETIN

33


Musik

„Meine Songs sind dunkelgrün und himbeerrot“ Wenn Lea Lu singt, wird ihre Welt ganz bunt – denn jeder Klang ist für sie Farbe. Die Sängerin sieht Töne. Und das gibt ihrer Musik einen einzigartigen Anstrich. Interview SABRINA LUTTENBERGER  Foto CLAUDIO STRÜBY

Wenn Lea Lu auf die dunkle Seite ­ihrer Seele wechselt – dorthin, wo es ein wenig düsterer zugeht –, sieht sie nicht schwarz, nein, sie hört dunkelgrün. Für die Sängerin, 36, steht Dunkelgrün für F-Dur. Und zwar immer. Denn Lea Lu ist Synästhetikerin. Das heißt: Jeder Ton, jeder Akkord lässt vor ihrem inneren Auge eine bestimmte Farbe erklingen. Nur einer von 20.000 Menschen, schätzen Experten wie der Neuropsychologe Lutz Jäncke von der Uni Zürich, besitzt diese Gabe. Der rus­ sische Maler Wassily Kandinsky soll sie gehabt haben, US-Sängerin Lady Gaga und der Frontmann der bri­ tischen Popband Coldplay, Chris ­Martin, sehen Töne wie Lea Lu. Neue Studien gehen davon aus, dass fast jeder Zwanzigste Töne sieht, viele, ohne sich dessen bewusst zu sein. Lange ahnte auch Lea Lu nichts von ihrer Gabe, erst eine Doku über Synästhesie öffnete ihr die Augen. Dabei hatte sich die Schweizerin schon als Sechsjährige mit ihrer speziellen Fähigkeit durch den Geigen-Unterricht geschummelt: Statt der Noten merkte sie sich die Farbfolge, die sie sah, wenn ihr die Lehrerin ein Stück vorspielte.

34

Ob die Farbe vor ihrem inneren Auge ihren Liedern einen besonderen Klang verleiht? Wir meinen ja, ihrer ersten Single „I Call You“ gibt sie ­einen einzigartigen Anstrich, ihr dieses Jahr erscheinendes Album verspricht eine bunte Welt. Ein Happy End, mit einem dunkelgrünen Start in New York. the red bulletin: Wenn du mit anderen Musik machst, kann es passieren, dass andere etwas richtig gut finden, für dich aber die Farbkombination nicht funktioniert? lea lu: Ja, das kommt wirklich vor. Wenn die Komposition toll ist, die Farben aber langweilig sind, beeinflusst das schon meine Wahrnehmung des Songs. Oder zum Beispiel F-Dur, das ist für mich immer dunkelgrün, ein bisschen düster. Es kann schon sein, dass ich dafür eher melancholischere Themen wähle. Auf der anderen Seite würde ich ­niemals einen traurigen Song in A‑Dur schreiben. A-Dur ist himbeerrot, eine fröhliche Farbe! Wie kann man sich das vorstellen, wenn du Musik nicht nur hörst, sondern siehst? Es ist wie eine Farbebene, die immer da ist, also auch jetzt, wenn wir sprechen. Es gibt dieses Empfinden, das mehr im Inneren des Körpers

stattfindet. Ich habe das nicht nur bei Tönen, sondern auch, wenn ich lese und Buchstaben sehe. Da sind dann aber nicht die Buchstaben farbig, sondern ich sehe die Farben. Bei der Musik ist das eben auch so: Es tauchen Farbnebel vor meinem inneren Auge auf. Jeder Akkord und jeder Ton hat in meinem Kopf eine bestimmte Farbe. Und das ist immer dieselbe. Beeinflusst dich diese Fähigkeit auch in anderen Bereichen? Mir hilft das dabei, mir Dinge zu merken. Also, ich hab schon als ­kleines Kind Geige gespielt, konnte aber keine Noten lesen. Die Geigenlehrerin wusste das aber nicht und hat mir das Notenblatt hingestellt. Ich hab sie dann gefragt: „Können Sie das bitte vorspielen?“ Ich habe mir die Tonfolge farblich gemerkt und so getan, als ob ich die Noten lesen würde. Sie hat das sechs Jahre lang nicht gemerkt! (Lacht.) Normalerweise würden wir jetzt über deinen New-York-Aufenthalt sprechen. Doch 2020 kam alles anders. Ja, ich wäre von März bis September mit einem Auslandsstipendium der Stadt Zürich in New York gewesen. Der Traum jedes Künstlers! Ich bin am 9. März angereist und war am 17. März notgedrungen wieder zurück in der Schweiz. Das war ein Schock, wie die Pandemie sich so plötzlich entfacht hat. Wie hast du die Zeit erlebt? Zuerst hatte ich natürlich Angst, um meine Familie, meine Freunde, meine Gesundheit. Ich war wie in einer Schockstarre, bis ich erkannt habe, ich muss da wieder raus. Das habe ich geschafft, indem ich mir möglichst viele wissenschaftliche ­Informationen zu Covid-19 beschafft habe. Ich hab viel gelesen und mich mit Freunden aus Taiwan ausgetauscht, die bereits früh Erkenntnisse

THE RED BULLETIN


„Ich musste raus aus der Schockstarre.“ Lea Lu, 36, kämpfte sich nach einem harten Jahr 2020 wieder zurück.

THE RED BULLETIN

35


Musik

Zum weltweiten Ausnahme­ zustand kam also auch noch ein persönlicher? Ja. Die Kulturbranche wurde von der Situation hart getroffen. Zum Glück gab es nach einigen Monaten Unter­ stützungsbeiträge von verschiedenen Institutionen. Um die erste Zeit zu überbrücken, habe ich mir Geld von Freunden geliehen. Sobald das Finanzielle vorerst geklärt war, hat sofort wieder das Kreieren begonnen. Das Leben kam wieder in Bewegung.­ Ich wollte schon sehr lange an ­meinem neuen Album arbeiten, ­deshalb bin ich ja auch nach New York gegangen. Stattdessen hast du es bei dir daheim in Zürich aufgenommen. Wie war die Arbeit daran? Als ich die Songs geschrieben hatte, habe ich einfach angefangen, die Musik mit meinem Schlagzeuger, mit dem ich mir den Proberaum teile, aufzunehmen – mit den Möglich­ keiten, die wir zur Verfügung hatten. Und ich habe mir Bassspielen bei­ gebracht. Weil ich … na ja, keinen

„I love the songs! I love your voice!“ Der kanadische Musiker Mocky war sofort bereit, Bass für Lea Lu zu spielen.

Bassisten in der Nähe hatte. (Lacht.) Es ging eigentlich ganz okay, aber dann ist mir plötzlich wieder Mocky in den Sinn gekommen. Ein kanadi­ scher Musiker, der schon mit Jamie Lidell (britischer Sänger; Anm.) und Leslie Feist (kanadische Sängerin; Anm.) gearbeitet hatte. Den wollte ich eigentlich in New York treffen. Ich hab mir gedacht, die Chance ist klein, aber ich frag einfach mal per Mail bei ihm an. Er hat zurück­ geschrieben und war begeistert: „I love the songs! I love your voice! I would love to play on your album!“ Er hat dann in Los Angeles die BassLinien eingespielt und uns geschickt. Das war so krass: Es hat sofort so geklungen, als ob wir schon lange eine Band wären! Ohne dass wir uns einmal getroffen haben. Wenn man sich das Album anhört, wird man etwas von der Stimmung des vergangenen Jahres spüren?

Ich glaube, man wird darin deutlich das Bedürfnis nach Austausch spüren. Das, was ich mir in dieser Zeit am meisten gewünscht habe: wieder mit anderen Musikern spielen zu können. Für mich ist das Album auch eine Weiterführung meiner EP „Rabbit“. Die war eine Soloproduk­ tion, ein sehr einsames Stück Musik. Der nächste Schritt wäre gewesen, wieder in die Welt hinauszugehen. Dann kam Corona, und die Welt ging zu. Aber das Bedürfnis ist geblieben. Wie bist du damit umgegangen? Ich habe es so gelöst, wie es eben ging: zum Beispiel mit Mocky online. Als der Lockdown in der Schweiz zu Ende war, so Anfang Mai, konnte man sich auch wieder treffen und zusammen musizieren. Da haben wir das Proberaumstudio in ein Auto gepackt und in einer Alphütte wieder aufgebaut, und ich hab meine Lieblings-Jazzmusiker aus der Schweiz eingeladen. Also, ich hab einfach nur angerufen, und sie sind alle gekommen. Das war ein wunderschönes Erlebnis. Deshalb heißt das Album auch „I Call You“. Dabei wolltest du als Kind auf keinen Fall Musikerin werden. Du hast angeblich gesagt, das sei dir viel zu anstrengend. Das stimmt. Ich hab schon sehr früh Songs geschrieben. Das war das N ­ atürlichste für mich. Ich sag ­immer, das war meine erste Sprache, meine Muttersprache. Die Welt, in der ich mich ausdrücken konnte. Musikerin werden war aber nie ein Berufswunsch oder Traum. Nicht, weil es anstrengend ist – mir war wohl schon immer bewusst, dass es einfach schwierig ist, Musikerin zu werden und davon zu leben. Deshalb habe ich auch mit einem Psychologiestudium begonnen. Da hatte ich in den Vorlesungen aber immer eine Jazz-Notensammlung mit. Eine Mitstudentin hat mich irgendwann einmal gestupst und meinte: „Ey, du bist wirklich im falschen Studium.“ (Lacht.) Danach habe ich Jazz studiert. Und kannst du auch Noten lesen? Ja, das hat auch noch funktioniert.

Als Anheizer für Coldplay: Lea Lu 2016 mit ihrer Band im Stadion in Zürich – 48.000 Zuschauer sahen ihren Auftritt.

36

Wie Lea Lus Leben Farbe gewinnt: lealu.ch THE RED BULLETIN

LUKAS MAEDER

zum Virus hatten. Als die Angst weg war, war das Organisieren wichtig. Okay, was mache ich jetzt? Wie zum Teufel zahle ich meine Miete? Es ist Lockdown. Ich hab keine Konzerte, ich kann keinen Gesangsunterricht geben.


MOTORÖLE ADDITIVE AUTOPFLEGE

Das geht runter wie Öl!

** Die abgebildeten Produkte stehen stellvertretend für die jeweilige Produktgruppe.

Seit Jahren gibt es für uns nur eine Richtung: nach oben! Das gilt für die Spitzenqualität unserer Produkte genauso wie für die Beliebtheit unserer Marke. Wohl deshalb wählten uns die Leser*innen der führenden Automagazine 2021 erneut zu Deutschlands bester Schmierstoffmarke. Bei AUTO ZEITUNG sowie auto motor und sport bereits das 11. Mal in Folge. Zudem glänzen wir bei AUTO ZEITUNG wiederholt mit Platz 2 in der Kategorie Pflegemittel. Eine besondere Ehre, für die wir uns ganz besonders bei Ihnen bedanken!

2. Platz Kategorie Pflegemittel** LIQUI MOLY

1. Platz Kategorie Schmierstoffe** LIQUI MOLY


Ultrarunning

Der fitteste Feuerwehrmann der Welt Andreas Michalitz, 52, Hauptbrandmeister aus Österreich, hält den Weltrekord im 100-Kilometer-Lauf – und zwar in voller Montur. Das heißt: Er muss 26 Kilo mitschleppen. Und das ist nicht seine einzige Bestleistung. Interview WOLFGANG WIESER  Foto PHILIPP HORAK

Seine Vorbereitung für die Weltrekorde absolvierte Hauptbrandmeister Andreas Michalitz in der Nacht: Warum? „Weil es seltsam aussieht, wenn du mit einem Feuerwehrhelm auf dem Kopf läufst.“ Tatsächlich näherte sich der Profi-Feuerwehrmann aus Wiener Neustadt in Niederösterreich seiner Rekordjagd Stück für Stück: Mal trug er den Helm, mal seine schweren Einsatzstiefel („Die sind fürs Laufen völlig ungeeignet“). Bis er schließlich in die komplette, 26 Kilo schwere Montur schlüpfte. Das monatelange Training hat sich gelohnt. Heute hält er vier Weltrekorde: im 100-Kilometer-Lauf (im Einzel und im Team mit drei deutschen Kollegen), für zwölf Stunden am Laufband und im Treppensteigen – alles in voller Feuerwehr-Montur. the red bulletin: Du hältst auch den Weltrekord im Treppensteigen in voller Montur, konkret hast du 82.301 Stufen in 24 Stunden ­geschafft. Frage eins: Was heißt in ­voller Montur genau? Frage zwei: Ganz ehrlich, ist das nicht ein bisschen verrückt? Andreas Michalitz: Die zweite Frage kann ich kurz beantworten: Ja. Zur ersten Frage: Helm, Jacke,

38

Handschuhe, Hose, Stiefel, Atemschutzgerät, Beil, eine Maske – alles in allem 26 Kilo schwer. Wie bist du überhaupt auf diese verrückte Idee gekommen? Den Treppenrekord hat vor mir Joey Kelly von der Kelly Family gehalten – allerdings ohne Montur. Ich wollte nur beweisen, wie fit du als Feuerwehrmann sein musst. Dieser Weltrekord ist nicht dein einziger, du hältst vier, einer davon ist der Weltrekord im 100-Kilo­ meter-Lauf in Feuerwehr-Schutz­ ausrüstung mit Atemschutz. Du hast dafür 15 Stunden, 11 Minuten und 10 Sekunden gebraucht. Was treibt dich zu solchen Leistungen? Das ist schwer zu sagen. Aber ich vermute, es ist die Motivation, etwas Besonderes zu schaffen, was sonst kaum jemand schafft. In Österreich bin ich mit diesen Extremeinsätzen eher ein Einzelkämpfer, in Deutschland sind viel mehr Feuerwehr­ kollegen dabei. Deine Vorbereitung? Ich laufe seit rund 20 Jahren täglich. Zwei-, dreimal in der Woche habe ich speziell für die Weltrekorde trainiert. Auf unterschiedlichen Strecken. Meistens in der Nacht, weil es seltsam aussieht, wenn du

mit einem Feuerwehrhelm auf dem Kopf läufst. Das größte Problem waren die Schuhe, die schweren Stiefel sind fürs Laufen eigentlich völlig ungeeignet. Aber wenn du lange genug übst, haut auch das hin. Was haben die Feuerwehrkollegen dazu gesagt? Und deine Frau, ­deine Kinder? Die waren Feuer und Flamme und haben mich unterstützt. Meine Frau und mein Sohn betreuen mich auch, wenn ich an Extrem­läufen teil­ nehme. Am Anfang deiner Laufbegeisterung stand ein Buch von Extremsportler Christian Schiester. In „Lauf ins Leben“ beschreibt er, wie er vom Kettenraucher zum TopSportler wurde. Es hat mich fasziniert, dass ein Antisportler all das schaffen kann. Bevor Christian mit dem Laufen begann, hatte er jeden Tag sechs Bier getrunken und 40 Zigaretten geraucht. Wie hat dein Sünden­ register ausgesehen? Gegessen habe ich gerne, aber kaum Alkohol getrunken. Sportlich habe ich – außer ein bisschen Ski zu fahren – schlicht nichts gemacht. Sind diese Rekorde mehr als bloß ein Gag? Natürlich, sie sind so etwas wie eine Bestätigung meiner körperlichen, aber auch meiner mentalen Fitness. Wenn ich bei einem Einsatz auf der Autobahn auf 50 Grad heißem Asphalt stehe und im Schutzanzug arbeiten muss, ist es wichtig, nicht nur körperlich, sondern auch geistig fit zu sein. Wohin Andreas Michalitz gerade läuft: ultrarunning-michalitz.at

THE RED BULLETIN


„In dieser Montur lief ich 100 Kilometer am Stück.“ Hauptbrandmeister Michalitz, 52, in seiner Sportbekleidung: „Ich will etwas schaffen, was sonst kaum jemand schafft.“

THE RED BULLETIN

39


Wings for Life World Run

„Du brauchst nur ein Ziel“ Tadesse Abraham, 38, ist einer der besten Marathon­ läufer der Welt. Privat schraubt er das Tempo lieber runter. Und hilft Menschen, die wie er in der Schweiz eine neue Heimat suchen. Interview KARIN CERNY  Fotos JANOSCH ABEL

Er läuft 200 Kilometer pro Woche. Und liebt es, wenn ihm Zeit für ­einen ausgiebigen Mittagsschlaf bleibt. Denn im Leben von Tadesse Abraham geht es um die richtige ­Mischung aus Entspannung und Leistung. Seit 2016 hält er den Schweizer Rekord im Marathon – mit 2 Stunden, 6 Minuten und 40 Sekunden. Der Weg dahin war lang: In Eritrea geboren, setzte er sich während eines Wettkampfs in Belgien ab und stellte 2004 einen Asylantrag in der Schweiz. 2014 wurde er eingebürgert – und gilt heute als bestes Beispiel für gelunge­ ne Integration. Jetzt hilft er jungen Menschen, die wie er Migrations­ hintergrund haben. Sein „THSN ­Refugee Team“ wird am 9. Mai beim Wings for Life World Run in Genf mitlaufen. the red bulletin: Wo erwische ich Sie gerade? tadesse abraham: Ich bin auf Trainingslager in Äthiopien und komme gerade vom Mittagessen. Vormittags bin ich 21 Kilometer g­elaufen, nachmittags stehen noch einmal zehn an. Addis Abeba liegt auf fast 2400 Metern. Probleme mit der Höhe haben Sie keine?

40

Die Höhe liegt mir. So bin ich auf­ gewachsen, ich akklimatisiere mich dementsprechend schnell. Äthiopien ist wie eine Heimat für mich, ich spreche die Sprache, mag das Essen, finde leicht Trainingspartner. Und die Laufstrecken sind sehr abwechs­ lungsreich. 2004 sind Sie aus dem autoritär regierten Eritrea in die Schweiz geflüchtet. Konnten Sie Deutsch? Kein Wort. Das war schon schwierig, aber der Sport hat mir sehr geholfen, mich schnell zu integrieren. Ist das ein Grund, warum Sie sich sozial engagieren? Um anderen zu helfen, denen es ähnlich geht? Definitiv! Viele Leute schämen sich, dass sie die Sprache nicht perfekt beherrschen. Ich möchte ihnen die Hemmungen nehmen. Ihnen klar machen, dass es wichtig ist, zu spre­ chen, auch wenn die Grammatik nicht perfekt ist. Sie leiten das „THSN Refugee Team“. Was ist das genau? Ein Projekt, das die Versicherung Generali Schweiz gemeinsam mit mir ins Leben gerufen hat. Es geht darum, junge Menschen mit Migrationshintergrund und Flucht­ erfahrung über Sport zu integrieren. Beim Trainieren redet man unge­ zwungener, kommt auf neue Ideen und findet Freunde.

Gibt es im Refugee-Team Läufer, die Ihnen später mal Konkurrenz machen können? Fünf sind extrem gut. Aber ich hatte nie Angst, dass jemand besser ist als ich. Wer gut trainiert, der gewinnt. Für mich ist es okay, wenn mich jemand aus dem eigenen Team schlägt. Das bedeutet doch bloß, dass ich meinen Job gut gemacht habe. Es geht beim Sport nicht nur ums Gewinnen, möglichst viele Kilo­ meter möglichst schnell zu laufen. Wichtig ist der Teamgeist. Ist Marathonlaufen denn nicht eine relativ einsame Sache? Klar, bei den Wettkämpfen bist du allein. Aber beim Training wäre ich ohne Team aufgeschmissen. Dann würde ich bei schlechtem Wetter einfach auf dem Sofa liegen bleiben. Welche Tricks haben Sie bei Wett­ kämpfen, um sämtliche Energie­ reserven freizusetzen? Positive Gedanken helfen. Ich blen­ de die Konkurrenz aus, denke an die vielen Leute, die hinter mir stehen. Meine Familie, mein Team, mein Verein, alle, die im Ziel auf mich warten. Dann bin ich mit voller Kraft unterwegs. Was für einen Tipp geben Sie ­jungen Läuferinnen und Läufern? Alles ist möglich, du brauchst nur ein Ziel. Du musst bei der Sache bleiben, auch wenn es gerade nicht rund läuft. Positiv sein, aber Selbst­ kritik zulassen. Abgesehen davon finde ich, dass man nicht immer nur trainieren kann. Auch ein Spitzen­ sportler muss das Leben genießen. Ich möchte keine Maschine werden. Es muss möglich sein, auch mal mit Freunden abzuhängen. Mit Tadesse Abraham unterwegs – auf Instagram: tadesse_abraham_official

THE RED BULLETIN


„Es geht nicht nur ums Gewinnen. Wichtig ist der Teamgeist.“ Tadesse Abraham über seine Prinzipien im Sport

THE RED BULLETIN

41


Skydiving

KOMET

MIT HELM

Die Skydiver der Red Bull Air Force als menschliche Flugobjekte am Nachthimmel: Bei uns erzählt US-Fotograf Dustin Snipes, wie aus seiner verrückten Foto-Idee ein Stunt für die Geschichtsbücher wurde. Text NORA O’DONNELL Fotos DUSTIN SNIPES

42


RED BULL AIR FORCE

Lebende Fackel Ein Skydiver der Red Bull Air Force im Nachthimmel über Marfa, Texas. Die US-Kleinstadt ist für ihre mysteriösen Licht­ phänomene berühmt, die „Marfa Lights“. Um diese für ein Foto­ projekt nachzustellen, zündeten die Athleten kurz nach dem Absprung pyrotech­nische Raketen an ihren Fußgelenken.


Skydiving

HimmelsKunstwerk Dieses Bild besteht aus 48 Fotos: Sechs Kameras und je acht Lang­ zeit­belichtungen waren nötig, ­damit der gesamte Flug der vier Skydiver zu sehen ist – vom Absprung über den Formations­ flug bis zu ihrem Verschwinden ­hinter den Bergen. „Ein abstraktes Gemälde auf einem schier end­ losen Nachthimmel“, schwärmt Fotograf Dustin Snipes.

44



Skydiving

„Wir machen diesen Sprung nicht, weil er leicht, sondern weil er schwierig ist.“ Fotograf Dustin Snipes

W

ie so viele wilde Abenteuer beginnt auch diese Geschichte mit einer verrückten Idee – sie stammte von USFotograf Dustin Snipes. „Je verrückter, desto besser“, sagt er trocken. „In der Regel bedeutet das nämlich, dass es noch niemand vorher versucht hat.“ Die Hochebene von WestTexas hat etwas ganz Besonderes zu bieten: einen Nachthimmel von außerirdischer Schönheit. Die Seehöhe und die Abwesenheit von Lichtverschmutzung lassen Millionen von Sternen funkeln wie Juwelen. Und über allem schwebt der mystische Schleier der Milchstraße. Doch damit nicht genug: Nahe der Kleinstadt Marfa werden immer wieder mysteriöse Lichterscheinungen ­beobachtet – pulsierende ­Kugeln in allen möglichen Farben, mittlerweile weltweit 46

bekannt unter dem Schlagwort „Marfa Lights“. Para­ normale Phänomene? Atmosphärische Spiegelungen von Scheinwerfern oder Lager­ feuern? UFOs? Wer weiß. Für Fotokünstler Dustin Snipes jedenfalls eine würdige Kulisse, um einen Nachtflug der Red Bull Air Force ge­ bührend zu inszenieren: Was wäre, so der Grundgedanke der Aktion, wenn diese Weltklasse-Athleten selbst zu ­Marfa Lights würden? Snipes, in Los Angeles daheim, verbrachte Monate mit der Planung des Husarenstücks: Es galt, hunderte von Variablen mit einem Team von Experten einigermaßen berechenbar zu machen. „Es gab mehr Unwägbarkeiten als bei jedem anderen Shooting, das ich je gemacht habe“, sagt er. Snipes und das Team der Red Bull Air Force schlugen ihr Basislager auf der historischen Cibolo Creek Ranch auf. Zu ihr gehören mehr als

Ein Mann sieht Rot Kurz nach Sonnenuntergang bringt Dustin Snipes seine ­Ausrüstung in Stellung. Das rote Licht ist ein entscheidendes Werkzeug für die Nachtfotografie – weil es die Augen des ­Fotografen im Dunkeln weniger blendet als normales Licht. THE RED BULLETIN

DAN WIX, RED BULL AIR FORCE

Fotograf Snipes (li., mit seinem Team) kam im September 2020 zum ersten Mal nach Marfa, Texas, um sich nach Locations für das Nacht-Skydiving-Shooting umzusehen. „Die Planung dauerte Monate“, sagt er, „weil es jede Menge Variablen gab.“


Aufstieg und Fall Bild oben: Das Red Bull Air Force-Team im Flugzeug vor dem Absprung. Um sich auf einem mondlosen Himmel sichtbar zu machen, ­wickelten sich die Athleten in Ketten von LED-Lichtern; dazu ver­ wendeten sie Pyro­technik, die das Tempo und die Energie während des freien Falls rüber­ bringen sollte. Das ließ sie am Ende wie mensch­liche Kometen wirken.


„Es gab mehr Unwägbarkeiten als bei jedem anderen Shooting, das ich je gemacht habe.“ Fotograf Dustin Snipes Fotograf Snipes bat die Athleten, während der drei Sprünge mit dem Einsatz von LED-Lichtern und Pyrotechnik zu experimentieren. „Das LED liefert schnörkellose Linien“, sagt er. „Aber die Pyro fügt so viel Zufälligkeit hinzu und verleiht dem Ganzen einen wunderbar geheimnisvollen Look.“


Skydiving

Touchdown

RED BULL AIR FORCE

Bloß zwei winzige Lichter boten den Springern Orientierung auf dem Weg zur Landung. „Rundherum waren nur Berge … und absolute Finsternis“, sagt Team-Captain Jon DeVore. „Das Abenteuer wäre wohl ziemlich böse ausgegangen, hätten wir es nicht zum rich­ tigen Landeplatz geschafft.“

Schweres Geschütz Um die ganze Schönheit des Nachthimmels über Marfa und den Flug der Bullen auf ein Bild zu bekommen, bastelte sich Fotograf Snipes ein Gestell für seine Canon-EOS-Kameras. Jede von ihnen machte acht Langzeitbelichtungen über die drei Minuten, die die Springer in der Luft waren. Die Konstruktion musste leicht für den Transport sein und stabil genug, um den Kameras Halt zu bieten. Snipes brauchte fünf Tage, um das Ding zu bauen. THE RED BULLETIN

120 Quadratkilometer Land – mehr als genug Platz für störungs­ freie Aufnahmen. Doch all die penible Vor­ bereitung half Snipes nicht bei der größten Herausforderung: beleuchtete Körper, die aus 3000 Metern drei Minuten lang in die Dunkelheit fallen, ordent­ lich aufs Bild zu kriegen. Er verwendete ein Set-up aus neun Kameras, die auf ein selbst gebasteltes Gestell montiert wa­ ren, um ein 180-Grad-Panorama hinzubekommen. „Immer, wenn ich so etwas mache“, sagt Snipes, „muss ich an das denken, was Präsident John F. Kennedy seinerzeit über die Mondmissionen sagte: ‚Wir machen das nicht, weil es leicht, sondern weil es schwierig ist.‘ Du willst schließlich nicht den ganzen Tag mit langweiligen ­Spaziergängen verbringen.“ Das ganze Video der Marfa-LightsSprünge: redbull.com

49


Musik

RELAX-POSE

Rapper Nimo, 25, ganz entspannt beim The Red BulletinShooting in Berlin

50

THE RED BULLETIN


Text JONAS VOGT  Fotos LENNART BREDE

Mit 17 saß er im Knast, mit 23 schrieb er seinen ersten Nummer-eins-Hit. Heute sagt Rapper NIMO: Jeder kann sein Leben zum Positiven ändern. Hier erzählt er, wie ihm das gelang.

THE RED BULLETIN

„ Ich bin nur ein Junge, der zur Vernunft gekommen ist“   51


Musik

U

nd wenn Nimo schreien muss, dann schreit er. Der 25-jährige Deutschrapper mit iranischen Wurzeln spielt gern mit seiner Stimme, er singt, aber er rappt auch ganz klassisch. Und manchmal bricht es aus ihm heraus. Dann legt er in seine Zeilen eine Emotion, die man in diesem Genre nicht häufig findet. Als Hoffnung in der Rapszene galt Nimo seit seinem 2016 erschienenen ­Debüt-Mixtape „Habeebeee“. 2017 kam sein Debüt-Album „K¡K¡“ heraus, 2019, mit seinem zweiten Album „Nimoriginal“, startete er dann endgültig durch. Die Single „Kein Schlaf“ ging in den Charts auf Nummer eins und wurde auf YouTube bislang fast 40 Millionen Mal angeschaut. Was Nimo zum Gesprächsthema ­werden lässt, sind aber nicht nur Klickzahlen. In Interviews, aber auch in seinen Liedern transportiert er inzwischen eine überwiegend positive Botschaft. Das ist im Deutschrap, der hauptsächlich von Fehden, Drohungen und Aggressionen geprägt ist, bemerkenswert. Natürlich folgt auch Nimo manchen Genre-Regeln. Auch bei ihm geht es um V12-Motoren, um dicke Gagen, die auf dem S-KlasseRücksitz gezählt werden, und darum, wer der krasseste Typ von allen ist. Aber Nimo traut sich, das Spiel ein wenig auszuweiten. Er traut sich Emotionalität zu. Verletzlichkeit. Und er distanziert sich von einer Straßen-Vergangenheit, die ihn in den Jugendknast brachte. Anstatt damit zu prahlen, spricht er lieber darüber, was er inzwischen alles dazugelernt hat. „Ich danke Gott jeden Tag, dass ich so bin, wie ich bin“, sagt Nimo. „Ich möchte nie in mein altes Leben zurück.“ Mit The Red Bulletin sprach Nimo über Musik, Mode und Wandelbarkeit. Und darüber, welche Art von Gedanken ihm halfen, durch ein schwieriges Jahr 2020 zu kommen. 52

the red bulletin: Nimo, wir leben nun schon über ein Jahr in einer Pandemie. Wie würdest du die Zeit rückblickend beschreiben? nimo: Es war voller Überraschungen. Wir wussten nicht, was auf uns zukommt, wissen das ja eigentlich immer noch nicht. Es ist ein bisschen vergleichbar mit Untersuchungshaft: Dort weißt du auch nicht, was sein wird und wann du rauskommst. Du hast Ende 2019 mehrere große Interviews über deinen ­veränderten Lebenswandel gegeben. Wie fühlt man sich danach, wenn so was ­draußen ist? Es fühlt sich gut an, den Menschen eine positive Message mitzugeben. Ich hab damit anderen geholfen. Die Leute, auch aus der Szene, sind danach auf mich zugekommen und haben gesagt: Wir haben dein Interview gesehen, Respekt! Was ist das Neue an deinem Leben? Das Neue ist das Normale. Ich mach jetzt die Dinge, die für jeden Menschen normal sein sollten. Ich funktioniere, ich arbeite, ich lebe. Ich bin fokussiert. Ich bin klar im Kopf, ich weiß, was ich mache. Ich nehme mein Umfeld wahr. Und ich bin mir meiner Sache bewusst. Ich bin nichts Außergewöhnliches. Nur ein Junge, der zur Vernunft gekommen ist, der sich verändert hat. Glaubst du, dass man Krisen durchleben muss, um daran zu wachsen? Ich denke, ja. Eine Wandlung ist nichts, wofür man sich schämen muss, im ­Gegenteil. Wandel ist gut.

Von der Rettung durch Arbeit und inspirierenden Vorbildern

Das Jahr 2020 war auch für Nimo nicht nur einfach. „Vom Kopf her bin ich Gott sei Dank sehr gut durchgekommen“, sagt er, auch dank seines intakten Umfelds. Für ihn war das Jahr von Studio-Arbeit für sein neues Mixtape „Steinbock“ geprägt. Aber trotzdem fehlte was. Er liebt das Live-Spielen am meisten, und das ist ausgefallen. Nur Songs zu releasen und dann der „verbissene Vergleich, wer die meisten Klicks und Streams hat“, das sei

so gar nicht sein Ding. Nimo liebt den ­direkten Kontakt zu seinem Publikum. Er erzählt von Fans, die ihm geschrieben haben – was ihm wichtig war. Trotz des Unbehagens mit der neuen Situation stand Nimo in den vergangenen Monaten fast pausenlos im Studio, hat 30 bis 40 Tracks aufgenommen. Welcher Rapper hat dich früh ­geprägt? Niemand so wie Haftbefehl. Ich hab von Anfang an mehr in ihm gesehen als die anderen, hab mehr aus ihm rausgehört. Zu der Zeit, so 2012, da hat er etwas vollkommen Neues gemacht und eine komplett neue Subkultur erschaffen. Er war auf eine ganz besondere Art wieder real. Das kannte man vorher nicht. Wie er geredet hat, wie detailliert er von den Sachen erzählt hat. Dreckig, direkt, aber eben so, wie es wirklich ist. Vorher ging es immer um „Ich f*** deine Mutter, ich hab das dickere Auto“. Haftbefehl hat die Karten auf den Tisch gelegt. Kannst du dich an den Moment ­erinnern, in dem du das erste Mal mehr in deiner eigenen Arbeit ­gesehen hast? Ich kann mich an die ersten Momente erinnern. Ich hab ganz normal als Teenager vor meinen Freunden mit dem Rappen begonnen. Ich hatte einen Kumpel, der war so drei Jahre älter als ich. Der hat mich immer bestärkt. Und irgendwann war ich an dem Punkt, wo ich Parts aufgeschrieben hab und plötzlich dachte: Das ist brutal gut. Wenn die Leute das hören, werden sie sagen: Das ist gut. Und genauso ist es gekommen. Wie fühlt man sich da? Du musst dir das so vorstellen: Du bist 16 Jahre alt und hast gerade etwas geschrieben, wo du als Rap-Liebhaber weißt: Das ist was ganz Neues. Aber im selben Moment sitzt du hinter Gittern. Du kannst niemandem deine Kunst ­zeigen. Das waren gemischte Gefühle:­ Ich war sehr motiviert und sehr frustriert. Ich hatte einen Rubin in der Hand, aber ich konnte der Welt diesen Rubin nicht zeigen. THE RED BULLETIN


PUNKTLANDUNG

Die Kategorie Kingsize gilt für seine Abrufzahlen – und für seine Hotelbetten.

„Ein Künstler ist nicht nur jemand, der Musik macht oder zeichnet. Künstler ist man durch und durch.“


Manchmal bricht es aus ihm heraus, dann legt Nimo in seine Zeilen eine Emotion, die man im Rap selten findet.

TIME-OUT

Nimo produziert reihenweise Tracks, aber er nimmt auch Auszeiten.


Musik

MAKE-UP: CAROLINE TORBAHN/NINA KLEIN ARTISTS

Vom ersten Auftritt ohne Bühnenerfahrung und Mode als Kunst

„Nie wieder geh’ ich in Zelle wegen Patte (Slangausdruck für Geld; Anm.), nie wieder wegen Raub und Erpressung vor dem Richter stehen, nie wieder. Nie wieder geh’ ich mit Achter (Handschellen; Anm.) und Fußfesseln runter in Bunker und wart’ auf mein Urteil.“ Nimo hat sein früheres Leben und ­seine Fehler in seinen Raps verarbeitet: Er wird in eine Karlsruher Familie mit iranischen Wurzeln hineingeboren, wächst in der Nähe von Stuttgart auf. Der junge Nima Yaghobi, wie Nimo mit bürgerlichem Namen heißt, baut viel Mist. Seinen 16. und 17. Geburtstag verbringt er im Jugendgefängnis, unter anderem wegen räuberischer Erpressung. Aber er hat eine Idee und jede Menge Reime im Kopf. Als er wieder draußen ist, geht es los: Er nimmt Raps auf, postet sie in den sozialen Medien. Die Frankfurter Rapper und Labelchefs Celo & Abdi werden nach einigen mit einfachsten Mitteln gedrehten Handyvideos auf ihn aufmerksam, nehmen den bühnenunerfahrenen Jungrapper sofort mit auf Tour. 2016 erscheint sein Mixtape „Habeebeee“. Darauf rappt er gleich zu Beginn: „Soll nicht bedeuten, dass ich denk, ich wär was Besseres wie du. Bin nur ein Hoodie, der mit Glück und Handyvideos einen Deal bekam.“ Nimo rappt auch über seine ­Eltern und seine „Prioritäten im Leben“. Zum ersten Mal verrät er etwas über ­seinen Wandel und die Wurzeln der Veränderung: „Man denkt erst nach, wenn man alleine ist.“ 2017 folgt das Debüt-Album „K¡K¡“. Dort gibt er sich als gereifter und selbstbewusster Künstler. Wieder hat das ­Album einen programmatischen ersten Song: „Michelangelo“. Darin gesteht er zuerst bescheiden und sachlich korrekt: „Ich habe Rap nicht erfunden, hab’ Trap nicht erfunden, hab’ Hip-Hop nicht er­ funden.“ Um dann beiläufig hinterher­ zuschieben: „Ich bin Deutschraps Michel­ angelo.“ Den Größenwahn der Zeile fängt er selbst wieder auf: „Auf einmal sagen sie, ‚der Typ ist abgehoben‘, weil ich mich selber als Künstler bezeichne, wir sind die Renaissance, ekho, die neue Generation.“ Ein Künstler zu sein, das kann durchaus mehr umschließen als das Rappen. Nimo ist die Musik nicht mehr genug. Er schlüpft mittels Mode immer wieder in andere Rollen. Oder THE RED BULLETIN

„ Es fühlt sich gut an, den Menschen eine positive Message mitzugeben.“ wie er wahrscheinlich sagen würde: ­andere Teile seiner Persönlichkeit. Du hast deinen Horizont über den Hip-Hop hinaus erweitert. Mode scheint dir sehr wichtig zu sein. Ja, das ist eine Ambition neben der Musik. Im Großen und Ganzen würde ich sagen, ich bin ein Künstler. Ein Künstler ist nicht nur jemand, der M ­ usik macht, der schreibt oder zeichnet. Künstler ist man durch und durch. Und Mode ist eine der ältesten Künste, die der Mensch hat. Was fasziniert dich so daran? Mit Klamotten kannst du eine Menge über dich aussagen. Wie du drauf bist, wie du dich heute fühlst, wie dein Mood ist. Es gibt Tage, da liebe ich es, elegant herumzulaufen. Und Tage, da schau ich gern wie ein Hoodboy aus. Ich zieh mich privat sogar noch verrückter und modebewusster an als im Internet. Warum unterscheidest du da? Heute zeigen die Leute ständig im Internet, was sie haben. Für mich ist das eher privat. Es standen schon oft Leute vor meinem Kleiderschrank und haben gesagt: Wow, du hast das und das Kleidungsstück, das denkt man gar nicht. Dann sag ich: Ja, ist auch besser so. Ich trag’s für mich, nicht für die anderen.

Vom schonungslosen Blick in den Spiegel und der Kraft guter Werte „Ihr wollt den alten Nimo? Hier ist der neue Nimo“, heißt es auf „Bereit“. 2019 ist das Jahr, in dem Nimo mit mehreren Nummer-eins-Hits durchstartet, zuerst auf „Capimo“, mit dem Kollegen Capo, dann als Solokünstler auf „Nimoriginal“. Und er spricht offen über Ups and Downs. Über falsche Freunde und Drogen, darüber, wie es ist, an einen Punkt zu kommen, wo man sich für sich selbst schämt. In den Spiegel zu schauen und zu denken: Das bin nicht ich.

Auf „Kein Schlaf“ zeigt er sich von e­ iner emotionalen, verletzlichen Seite. Anstatt harter Raps dominiert eher ­Gesang. Auf der Single tritt die Rapperin Hava als Gast auf. Eigentlich hat der Song sogar zwei Perspektiven: eine männliche und eine weibliche. In Interviews spricht er sich gegen Rassismus und Homophobie aus, verteidigt auch mal viel attackierte Rap-Kolleginnen wie Shirin David öffentlich. „Gute Werte“, wie Nimo es nennt. „Kein Schlaf“ wird seine erste Nummer eins als Solokünstler. Kein Schwachsinn mehr. Dafür Arbeit, Familie und Fokus. Als Grund für seine Wandlung nennt Nimo auch die – vorerst anonyme – neue Frau an seiner Seite. „Erst durch sie habe ich gelernt, mit ­Kritik umzugehen“, sagt er. Seit 2019 sind die beiden liiert, sogar von Hochzeit ist schon die Rede. Er hat die Kurve bekommen. Und er will, dass das anderen auch gelingt, will sie bestärken, wie ihn sein älterer Freund bestärkt hat, als er mit dem Rappen begonnen hat. Er hat eine Spendenaktion für Obdachlose angestoßen und redet darüber, der Gesellschaft etwas zurückgeben zu wollen. „Für die Generation jetzt und für die Generation, die nach uns kommt.“ Nimo ist ein Rapper, und das wird er auch immer bleiben. Aber er ist definitiv schon mehr als das. Was kommt als Nächstes von dir, wo geht die Reise hin? Ich hab gelernt, nicht mehr groß über Pläne zu reden. Das letzte Jahr hat ge­ zeigt, wie schwierig Pläne sind. Sagen kann ich: Wenn wir was machen, dann wird es etwas ganz Neues sein. Etwas, was wir noch nicht gemacht haben. Welcher ist der echte Nimo – der im Anzug oder der in der Jogginghose? Es gibt keinen echten Nimo und keinen unechten. Es gibt nur einen einzigen Nimo, mit verschiedenen Stimmungen. Aber es ist total egal, ob im Anzug oder in Jeans – Nimo ist Nimo.

CLASH DER DEUTSCHRAP-STARS Ein Studio, zwei Künstler, eine Aufgabe: Bei der „Red Bull Soundclash Studio Edition: The Take­ over“ performen Nimo und Jamule je einen ­eigenen Song, den der andere ab der Hälfte fortsetzen muss. Das alles im Red Bull Music Studio Berlin inklusive Live-Band und mit anschließendem Fan-Voting. Am 29. April auf dem Kanal Red Bull Rap Einhundert auf youtube.com

55


Laufen

IM NAMEN DES HEILIGEN VATERS

Vor drei Jahren ist die Studentin CAMILLE CHENAUX unverhofft zur Leicht­athletin geworden – sie läuft für das 2019 gegründete Team des Vatikans. Jetzt will sie mit Gottes Hilfe die Flagge des Heiligen Stuhls zu den Olympischen Spielen bringen. Text CHRISTOF GERTSCH Fotos NICOLA CARIGNANI

SIE HAT EINEN SCHUTZENGEL

Camille Chenaux, 30, beim Training auf der Engelsbrücke in Rom

56

THE RED BULLETIN


THE RED BULLETIN

57


S

ie kam als Achte ins Ziel, über eine halbe Minute hinter der Siegerin, vom Publikum auf der Piazza del Popolo nicht weiter beachtet. Trotzdem veränderte dieser Samstag im September 2018 das Leben von Camille Chenaux. Denn einer nahm bei dem Wettlauf über eine Meile in Rom doch von ihr ­Notiz – ein spanischer Priester, betraut mit einer großen Aufgabe: Als Unter­ sekretär des Päpstlichen Rates für die Kultur sollte er „Athletica Vaticana“ ­aufbauen, den ersten offiziellen Sport­ verband des Vatikans. Dazu brauchte er ­unter anderem Läuferinnen und Läufer, die mit dem kleinsten Staat der Welt auf irgendeine Weise verbunden waren. „Ist das nicht die Tochter von Philippe Chenaux?“, fragte er. Die Schweizerin Camille Chenaux, damals 27 Jahre alt, war Hobbyläuferin mit einer Vergangenheit als Hobbyfuß­ ballerin und Hobbytriathletin. Ihre ersten Lebensjahre hatte sie in der Schweiz, in Belgien und Frankreich verbracht, doch heimisch geworden war sie in Italien. Zwei Jahre zuvor hatte sie ihren Master in European Studies ge­ macht, und jetzt, im September 2018, 58

BLICK NACH VORN

Ursprünglich war Camille nur Hobbyläuferin. Doch mit den Erfolgen wurden die Ziele ambitionierter.

„ALS KIND SCHWOR ICH MIR, DASS ICH MICH ALS PROFISPORTLERIN VERSUCHEN WÜRDE.“ THE RED BULLETIN


Laufen

„FRÜHER GLAUBTE ICH, DASS IM LEBEN NICHT PLATZ IST FÜR UNI UND INTENSIVES TRAINING.“

begann sie ihre Dissertation an der Uni­ versità Roma Tre. Thema: „Populismus in Deutschland und Italien“. Und ja: Camille Chenaux ist die Toch­ ter von Philippe Chenaux, einem Profes­ sor für Kirchengeschichte an der Päpst­ lichen Lateranuniversität. Das machte sie in den Augen des spanischen Pries­ ters zu einer potenziellen Sportlerin für ­Athletica Vaticana.

PICTUREDESK.COM

Nonnen, Museumsangestellte und Zimmerleute sind im Team dabei.

Als der Verband ein Vierteljahr später ge­ gründet wurde, im Rahmen einer spekta­ kulären Medienkonferenz Anfang 2019 im Presseraum des Heiligen Stuhls, zählte er sechzig Mitglieder, darunter Nonnen, Zimmerleute, Apotheker, Museums­ angestellte, Schweizergardisten – und die Tochter eines päpstlichen Professors. In den darauf folgenden Wochen be­ richteten Medien aus aller Welt über das Leichtathletikteam des Papstes. Man erfuhr, dass sich vatikanische Läuferinnen und Läufer bereits seit ­Jahren zum morgendlichen Training am Ufer des Tiber treffen und natürlich ­davon träumen, die Flagge des Heiligen Stuhls irgendwann bei der Eröffnung der Olympischen Spiele zu sehen. Man erfuhr aber auch, dass sie realis­ tisch bleiben wollen und sich zunächst die Teilnahme an den Kleinstaatenspielen zum Ziel gesetzt haben, einem alle zwei Jahre stattfindenden Sportereignis, bei dem europäische Länder mit weniger als einer Million Einwohnerinnen und Ein­ wohnern startberechtigt sind. Überhaupt, so hieß es, verstehe man sich eher als Amateurbewegung, deren Zweck auch darin bestehe, die päpstliche Botschaft in den Sport zu tragen. Wer konnte da ahnen, dass Zufalls­ mitglied Camille Chenaux schon bald viel größere Ambitionen hegen würde? THE RED BULLETIN

ZUVERSICHTLICH

Camille Chenaux mit Mitgliedern von „Athletica Vaticana“ vor der beein­ druckenden Kulisse des Petersdoms

STRAHLEND

Papst Franziskus schüttelt „seiner“ Botschafterin Camille die Hand.

Camille hält alle Vatikan-Rekorde von 1000 bis 10.000 Meter.

Zwei Jahre nach der Gründung von ­Athletica Vaticana ist Camille Chenaux mit Abstand die beste Läuferin der Grup­ pe, auf sämtlichen Distanzen zwischen 1000 und 10.000 Metern hält sie den ­vatikanischen Rekord. Sie ist nicht Welt­ klasse, bei weitem nicht – aber sie ist jetzt 30 Jahre alt, und kaum ein Wettkampf

vergeht, an dem sie nicht ihre Bestzeiten pulverisiert. Um das ein wenig einzuord­ nen: Mit der Zeit, die sie voriges Jahr über 1500 Meter lief, hätte sie in der Schweizer Saison­bestenliste Platz 8 belegt. Die ehemalige Hobbyläuferin und bal­ dige Doktorin der Politikwissenschaft ist also in kurzer Zeit an den Punkt gelangt, an dem niemand lacht, wenn sie sagt, sie möchte sich für die Leichtathletik-­ Europameisterschaften 2022 qualifi­ zieren. Und dann vielleicht für die Olym­ pischen Spiele 2024.

Späte Karriere: „Mit 20 hätte ich nicht die Fähigkeiten gehabt.“

Wie kam das? Camille Chenaux sagt, alles begann mit einem Versprechen, das sie sich als Kind gegeben habe. „Ich war ein großer Sportfan, schaute im Fernsehen unzählige Wettkämpfe. Ich schwor mir, dass ich mich irgendwann in meinem Leben als Profisportlerin versuchen würde.“ Die Eltern standen dem Traum lange im Weg: Nicht, dass sie sich dagegen wehrten, dass ihre Tochter Sport treibt, aber sie bestanden darauf, dass die Schule Vorrang hat. Damals tat sich Camille Chenaux ­gelegentlich etwas schwer mit dieser   59


Laufen

Vorgabe, doch heute betrachtet sie die elterliche Hartnäckigkeit als Glücksfall. „Ich hätte mit zwanzig nicht die Fähig­ keiten für eine Profikarriere gehabt. Jetzt ist mein Körper zwar zehn Jahre ­älter, aber mein Kopf ist dafür auch um zehn Jahre erfahrener.“ Erstens wisse sie nun genau, wie sie sich ernähren müsse, „das ist im Sport ja eine kleine Wissenschaft“. Zweitens habe sie im Studium gelernt, mit Prüfungs­ situationen klarzukommen und sich vom Stress nicht bremsen, sondern antreiben zu lassen. Und drittens zehre sie von ­einer gewissen Gelassenheit: „Ich hatte schon im Studium Erfolg, ich muss mir im Sport nichts beweisen.“

Ein Leben zwischen Dissertation und ausgiebigem Lauftraining.

Am Beispiel der Läuferin Camille Chenaux könnte man einige spannende Fragen stellen: Wie leistungsfähig ist ein ver­ gleichsweise alter, dafür noch nicht jahr­ zehntelang auf Spitzenniveau geschun­ dener Körper? Gibt es eine Alternative zum im Sport allgegenwärtigen Jugend­ wahn? Was ist im Wettkampf wichtiger – Körper oder Geist? Doch um all diese Fragen geht es ihr gar nicht. Wenn sie läuft, folgt sie einem

„ICH HATTE SCHON IM STUDIUM ERFOLG, ICH MUSS MIR IM SPORT NICHTS BEWEISEN.“ 60

Urbedürfnis. Sie sagt: „Schaue ich beim Laufen in den Himmel, fange ich an zu träumen. Ich bin in Kontakt mit der ­Natur, bei Sonne, Regen, Schnee. Laufen hat für mich etwas Mystisches, es ist tat­ sächlich so etwas wie eine Entdeckungs­ reise zu mir selbst.“ Dazu gehört, dass sie erfahren will, wo ihre Grenzen liegen. Darum dieser beinahe grenzenlose Aufwand, das täg­ liche Ausbalancieren von Dissertation und Langstreckenläufen: Morgens arbeitet sie von sieben bis neun und läuft von zehn bis zwölf Uhr, nachmittags arbeitet sie von zwei bis vier und läuft von fünf bis sieben. „Früher glaubte ich, dass im Leben nicht Platz ist für zwei derart in­ tensive Beschäftigungen. Heute weiß ich, dass man besser beides hat: Sport lenkt mich von der Universität ab, und die Uni­ versität macht, dass ich mir nie lange den Kopf zerbreche, wenn es im Sport einmal nicht läuft.“

„WENN ICH LAUFE, FÜHLE ICH MICH FREI VON ALLEM, DA BIN ICH MIR GANZ NAH.“

Mit jedem Schritt wurden Camille ihre Ziele klarer.

Meistens trainiert sie allein, aber Athle­ tica Vaticana stellt ihr einen Profitrainer zur Verfügung, der ihr Pläne schreibt. Sie sagt: „Wenn ich laufe, fühle ich mich frei von allem, ich brauche niemanden, da bin ich mir ganz nah.“ Camille Chenaux spricht so hin­ gebungsvoll, aber auch abgeklärt über ­ihren Sport, dass man leicht vergessen kann, wie jung ihre Karriere noch ist. Als der spanische Priester sie an jenem Samstag im September 2018 ansprach, war ihr Training weit von der heutigen Ernsthaftigkeit entfernt. Sie erkannte auch nicht sofort, dass Athletica Vaticana die Chance ist, ihren Kindheitstraum zu verwirklichen. „Erst als ich den Aufwand erhöhte und von Wettkampf zu Wett­ kampf besser wurde, fing ich an, die Ziele zu formulieren, die ich jetzt verfolge.“

Bezüglich dieser Ziele gibt es allerdings noch ein Problem, das außerhalb ihres Einflussbereichs liegt. Bei Olympischen Spielen sowieso, aber auch bei den Klein­ staatenspielen sind streng genommen nämlich nur nationale Komitees mit ­mindestens fünf verschiedenen Sport­ verbänden zugelassen. Zwar verfügt der Vatikan noch über ein Fußball- und ein Cricket-Team, doch deren Mitglieder treffen sich bloß zum Vergnügen. Möglich, dass man für das Leichtathletikteam des Papstes irgend­ wann eine Ausnahme macht, die nächste THE RED BULLETIN


GUT IN SCHUSS

Ge­legenheit dazu besteht allerdings erst 2023: Bei den letzten Kleinstaatenspielen 2019 in Montenegro war Athletica ­Vaticana noch nicht zugelassen, und die diesjährigen Wettkämpfe in Andorra sind wegen der Pandemie abgesagt.

Eine sehr dezent formulierte Botschaft an junge Menschen.

Camille Chenaux, die sich als moderat gläubig bezeichnet, weiß das alles, aber sie betont auch, dass es ihr mit Athletica Vaticana noch um etwas anderes gehe. Auf Instagram hat sie mehr als 50.000 THE RED BULLETIN

Follower, voriges Jahr war sie zusammen mit Papst Franziskus auf einem Buch­ cover zu sehen. „Über den Sport kann ich junge Menschen ansprechen, die sonst vielleicht nicht in Berührung mit der k ­ atholischen Kirche kämen.“ Dass sie das einmal sagen würde, hätte sie wahrscheinlich auch nicht gedacht, als sie im September 2018 auf der Piazza del Popolo nach Luft rang, zufrieden mit sich, aber auch wahnsinnig ausgelaugt, vom Publikum fast gänzlich unbemerkt.

Mit ernsthaftem Training fing Camille Chenaux erst vor drei Jahren an.

Camille Chenaux beim Laufen via Instagram begleiten: @thesportyblonde

61


WHEELIE

Was für Tarek Rasouli auf dem Bike noch Spaß war, ist im Rolli im Alltag ­Notwendigkeit (was jetzt nicht heißt, dass er daran keinen Spaß hätte).

62

THE RED BULLETIN


Mountainbike

DAS IST EUROPAS WICHTIGSTER BIKE-MANAGER Vor seinem Unfall war TAREK RASOULI, 46, ein exzellenter Mountainbike-Freerider. Doch erst seit er im Rollstuhl sitzt, wurde er zum Dreh- und Angelpunkt der Szene und veränderte eine komplette Branche zum Besseren. Text WERNER JESSNER Fotos PHILIPP HORAK

THE RED BULLETIN

63


Mountainbike

ine Liste von exakt zehn Personen, die dich beruflich geprägt haben und die du gern zum Abendessen einladen würdest: Wer Tarek Rasouli, 46, diese Frage stellt, beschäftigt ihn über Tage. Zehn Namen, keiner mehr. Legenden der Frühzeit, ­Superstars von heute, visionäre BikeparkEntwickler, prägende Event-Erfinder, ­legendäre Filmer, renommierte Sport­ ärztinnen, ­hingebungsvolle Trainer: Es ist das Who’s who der Szene. Wirklich nur zehn N ­ amen? Tarek streicht und ergänzt, doch die Liste bleibt viel zu lang.

Der Neuanfang: Optimismus als Rettung

Der Start: Ein Sonnyboy erobert die Bike-Welt Wer wissen will, warum dieser Mann so gut vernetzt ist, muss mitkommen auf eine kleine Zeitreise um die Jahrtausendwende. Wer damals Mountainbike-Fan war, hatte sehr wahrscheinlich ein Poster oder ein Magazin mit Tarek zu Hause. Der Münchner war der einzige Europäer ­unter den legendären „Fro-Ridern“, dem ersten Profi-Freeride-Team des KultHerstellers Rocky Mountain. Diese rare Pflanze hatte seine Wurzeln in einer BMX-Karriere und einer als Fotomodell. Tarek zierte in seiner Karriere eine zweistellige Zahl an Covern internationaler Bike-Magazine. Er sah gut aus und konnte verdammt gut fahren – eine seltene Kombination, vor allem in Europa. So startete er nach dem Abi eine Karriere, die er selbst managte. „Ich war meine eigene globale One-Man-Show: Manager, Presse­ sprecher, Trainer und mehr. Ich war überarbeitet, aber oft untertrainiert. Manchmal war mein Training das Fotoshooting selbst!“ Aber es funktionierte. Sein Geld verdiente er auch mit Shows und BMXRennen. Und dann das: „1999 wurde ich auf meiner Heimbahn nur Vizemeister. 64

mit dem Lift im Bike-Resort Sun Peaks rauffahren durften, um die Stelle anzu­ schau­en, an der sie drehen wollten, sagte ­Tarek: „What a beautiful view from a wheel­chair.“ Er hatte eigentlich „chairlift“ gemeint, also Sessellift – und doch war der Satz beinahe prophetisch. Was die wenigsten wissen: Tareks Halbbruder, der im österreichischen Kärnten lebt, sitzt seit einem Kletter-Unfall im Rollstuhl. Kurz dachte er an ihn. Zwei Stunden nach diesem Satz schlug der Blitz bei ­Tarek ein. Der Landehügel war unter­ dimensioniert, er zu hoch gesprungen. In mehreren M ­ etern Höhe warf er das Bike weg. Bei der L ­ andung auf den Beinen gab der oberste Lendenwirbel auf. Sofort waren bestialische Schmerzen da. Taubheit. Und die Vermutung, dass die BikeKarriere unwiderruflich zu Ende war.

PIONIER DER LÜFTE

Tarek sprang den später ikonisch gewordenen Stunt „Mushroom Drop“ in Moab, Utah, als Erster.

wenn es hinter den Kulissen nicht immer so glitzerte – aber wen kümmerte das schon: „Nach meinem ersten Auftritt in ‚Kranked‘ musste ich reihenweise Autogramme geben – etwas, was mir all die Cover und die sportlichen Erfolge im BMX nie gebracht hatten.“

Der Einschlag: ein Sturz, der plötzlich alles veränderte Für „Kranked 5“ sollte im Spätsommer 2002 im kanadischen British Columbia gedreht werden, jenem Geburtsort des Freeriding. Ein neuer Berg, große Verwirrung bezüglich der Drehgenehmigungen, alles sehr konfus. Als die Rider endlich

Wenn Tarek Rasouli von jener Zeit spricht, in der er den Grundstein zu ­allem Weiteren legte, beginnt er noch im ­Krankenhaus in Kanada. Der freundliche 150-Kilo-Pfleger mit der Piepsstimme. Dann das Dreibettzimmer in der Reha in Murnau, wo sich der eine Nachbar gar nicht und der andere nur einen Arm bewegen konnte, was diesem immerhin das Kettenrauchen ermöglichte. Tarek lag fröhlich dazwischen: „Ich habe einen Luxus-­Querschnitt! Volle Beweglichkeit der Arme und Hände, sogar der Bauchmuskeln. Was soll ich da jammern?“ Eine Eigenschaft, die Trial-Legende Danny MacAskill an Rasouli bewundert: „Ich habe Tarek noch nie – niemals – über seinen Zustand klagen gehört.“ In seinem Inneren sieht es bisweilen freilich anders aus: „Natürlich habe ich Schmerzen. ­Jeden Tag. Aber andere sind viel schlechter dran.“ Man würde seine Schmerzen nicht ahnen, genau wie man vergisst, dass der charismatische Mann mit den vielen Ideen im Rollstuhl sitzt, wenn man länger mit ihm zu tun hat. Seine ­Zuversicht und sein Anpackergeist sind es auch, die ihn schnell in Kontakt mit Gleichgesinnten bringen – etwa mit den Machern der Wings for Life Stiftung, die sich für die Heilung von Querschnitts­ lähmung einsetzt (s. Kasten S. 67). Als Stiftungs-Botschafter spricht Tarek seit über 15 Jahren anderen Betroffenen Mut zu, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. THE RED BULLETIN

SCOTT MARKEWITZ

E

Im Ziel hab ich geweint, weil ich so enttäuscht war.“ Tarek war da immerhin schon 24 Jahre alt. Er stellte das BMX in die Ecke, konzentrierte sich voll aufs Mountainbike – aber nicht auf Rennen, sondern auf Videoproduktionen. Mit immer actionreicheren Clips wuchs er in die Freeride-Szene rein, die sich ausgehend vom kanadischen British Columbia gerade etablierte. Das Medium jener Tage war die VHS-Kassette, die KultReihe hieß „Kranked“. Dort fuhren die Götter. Dank seiner Professionalität, aber auch seinem Style arbeitete sich Tarek bis zu den Fro-Ridern nach oben. Seine Sponsoren inszenierten ihn als Sonnyboy mit Models, Party und Glamour, selbst


DAS NETZWERK DES TAREK RASOULI Bei ihm laufen die Fäden zusammen: Der Bike-Manager (in der Mitte) kennt auf zwei Rädern die Götter und die Welt – und bringt sie zusammen.

DER KULT-FILMER DEREK WESTERLUND Von „New World Disorder“ bis „Where the Trail Ends“: Er setzt die Athleten in Szene.

BORIS BEYER/RED BULL CONTENT POOL(2), BRYAN RALPH, PHILIP PLATZER/RED BULL CONTENT POOL, COLIN MEAGHER, YORRIX CARROUX, JONNIE BOER, DAVE MACKISON/RED BULL CONTENT POOL, KLAUS BAUER

DER LOCAL HERO ERIK FEDKO

DER YOUTUBE-­ SUPERSTAR FABIO WIBMER

Tarek hat den besten deutschen Freerider einst bei einem kleinen Event entdeckt.

Der gebürtige Osttiroler hat die Ideen, Tarek und Co tragen sie in die Welt.

DER EVENT-GURU TODD BARBER

DIE BESTE SCHWESTER NATHALIE TANOS

Erfinder des legendären Red Bull Rampage und weiterer Bike-Spektakel

Stellvertretende Geschäftsführerin bei Rasoulution und Tareks rechte Hand

DIE ÄRZTIN DR. CHRISTINE BACHMANN Behandelt Tareks Biker und weitere Top-Athleten.

DER TRAINER LORENZ WESTNER Kümmert sich um begnadete Körper auch in schwierigen Lagen.

DIE TRIAL-IKONE DANNY MacASKILL Der Mann, der uns immer wieder staunen lässt, ist mittlerweile mehr Freund als Klient von Tarek.

THE RED BULLETIN

DER FREERIDE-­ ÜBERFLIEGER EMIL JOHANSSON DER BIKEPARK-VISIONÄR KORNEL GRUNDNER Setzte Leogang in Salzburg auf die Bike-Landkarte – auch dank Tareks Events.

Der Freerider mit dem vielleicht größten sportlichen Potenzial weltweit vertraut auf Tareks Netzwerk.

65


WIEDER AUF DEN BEINEN

Es ist ein persönlicher Durchbruch: Seit kurzem kann Tarek wieder eigene Schritte machen – mit Hightech-Unterstützung des Exoskeletts EksoNR von Ekso Bionics und immer in Begleitung einer Physiotherapeutin. So will er am 9. Mai sogar beim Wings for Life World Run wieder als Läufer starten.

66

THE RED BULLETIN


Mountainbike

Die Revolution: Ein Kolumnist erfindet etwas andere Bike-Events Nach der intensiven Reha-Phase machte Tarek da weiter, wo er vor dem Unfall aufgehört hatte: Er jammerte nicht, sondern managte sich selber, genau wie er es immer getan hatte. Nutzte seine Kontakte. Er schaute beim Magazin „Bike“ rein und kam mit dem Auftrag für eine ständige Szene-Kolumne raus. Schließlich die Anfrage, ob er sich zutrauen würde, ein Event zu organisieren. Hatte er zwar noch nie gemacht, aber er hegte schon lange den Traum, auch Menschen jenseits der Szene für Bike-Events zu begeistern. Und so wählte er die Location nicht versteckt in den Bergen, sondern bei Konstanz am Bodensee und setzte auf Good Vibes und Partystimmung. Aus „Ride to the Lake“ sollte später der Red Bull District Ride entstehen, ein BikeSpektakel vor zehntausenden Zuschauern, zuletzt etwa in der Nürnberger Altstadt. Ermutigt vom Erfolg in Konstanz, gründete Tarek mit einer Freundin eine Event-Agentur: Rasoulution. Die Begeisterung und der Optimismus, mit denen Tarek an die Sache heranging, erweckten Dinge zum Leben, die sonst nie und nimmer funktioniert hätten. Das Feuer, das damals aufflackerte, brennt heute unverändert hell: Wenn er vorab den streng geheimen Pilot des jüngsten Danny-MacAskill-Videos „The Slabs“ durchschickt, freut er sich wie ein Kind, weil einem seiner Athleten wieder einmal etwas Unfassbares gelungen ist und er seinen Teil dazu beitragen konnte.

back auf dem Bike geben: „Ohne das persönliche Engagement von Tarek weiß ich nicht, wie es ausgegangen wäre. Dafür bin ich ihm total dankbar!“ Elf Athleten hat Rasoulution elf Athleten unter Vertrag. Wie sucht ihr die aus? „Spezielles Talent. Und ganz wichtig ist ihr Charakter. Ihre Offenheit, Umgänglichkeit und Bodenständigkeit.“ Die letzte Entscheidung trifft Tarek. Ein junger ­Local Boy wie Erik Fedko kann es genauso schaffen wie jüngst ein bis dato völlig unbekannter Japaner namens Tomomi Nishikubo, den Tarek auf Videos entdeckte. Oder man nimmt den klassischen Weg wie Fabio Wibmer, der als Sechzehn­ jähriger bei einem von Tarek und Danny

Am 9. Mai: Mit Tarek für die gute Sache laufen Wings for Life World Run Weltweit starten zeitgleich alle Teilnehmer zum Wings for Life World Run. Jeder läuft einzeln, eine App feuert dich an und signalisiert, wenn dich das virtuelle Catcher Car eingeholt hat. Die Einnahmen fließen zu 100 Prozent in die Rückenmarksforschung. Übrigens, über die App kannst du auch Tareks Rasoulution-Laufteam beitreten. Sei dabei: wingsforlifeworldrun.com

PHILIP PLATZER FOR WINGS FOR LIFE WORLD RUN

Die Familie: Eine Heimat für globale Zweirad-Stars entsteht Rasoulution bietet nämlich auch Athleten-­ Management, also genau das, was Tarek einst für sich selbst gemacht hat, bloß viel, viel professioneller. Es sind nicht die Schlechtesten, die auf Rasoulution vertrauen: YouTube-Megastar Fabio Wimber zum Beispiel. Das deutsche Supertalent Erik Fedko. Danny MacAskill, längst mehr Kumpel als Kunde. Wer bei Rasoulution ist, gehört zur Familie. Als den schwedischen Jungstar Emil Johansson monatelang mysteriöse Rückenprobleme quälten, ließ Tarek ihn nach München einfliegen, wo Spezialisten ein Problem mit einem Wirbel diagnostizierten, außerdem ein Autoimmun-Problem. Nach zehn Monaten konnte Emil sein ComeTHE RED BULLETIN

Zusammen stark für die Forschung Wie die Wings for Life Stiftung Querschnittslähmung heilen will. Robotergestützte Reha, Proteine, die Nervenwachstum fördern, künstliche Intelligenz, die maß­geschneiderte Therapien berechnet: Weltweit fördert die von Bot­schaf­tern wie Tarek Rasouli unterstützte Wings for Life Stiftung wegweisende Forschungsprojekte zur Heilung von Querschnittslähmung – und ermöglicht damit schon heute vielen Betroffenen ein besseres Leben. Mehr Infos: wingsforlife.com

MacAskill organisierten Camp auffällt, behutsam reift, mit „Fabiolous Escape“ den YouTube-Hit des Jahres l­ andet – und dann zum globalen Star wird: Der Clip „Wibmer’s Law“ zählte zu Redaktionsschluss über 160 Millionen Views.

Das Ergebnis: ein neues Level für das Fahrrad-Universum Das alles liest sich wie ein Märchen. Fest steht: Die Freeride-Szene wäre nicht so professionell und präsentabel, würde nicht Tarek mit seiner Crew die Standards hochschrauben. Vorbei sind die Zeiten, in denen Poster von Mountainbikern nur in den Zimmern der Freaks hingen. Typen wie MacAskill oder Wibmer kennt heute jedes Kind. Auch dass Events um so viel sicherer geworden sind, bei gleichzeitig immer ärgeren Stunts, ist ein Verdienst von – nicht nur, aber auch – Tarek Rasouli. Wenn er vom Rollstuhl aus ­befindet, dass eine Landung breiter gemacht werden soll, wer würde da widersprechen? Oder dass es eine Kamera­ position gibt, die die Action der Kids besser einfängt? Oder tausend Details, die nur jemand kennt, der dem Sport seit fast drei Jahrzehnten so viel gegeben hat? „Und warum gibt es im Großraum München nur drei Pumptracks, aber hunderte Fußballplätze?“, fragt Tarek provokant, und man ahnt, womit er sich die nächsten Jahre beschäftigen wird. Das einzig unlösbare Problem bleibt jenes mit den zehn wichtigsten Menschen seiner Karriere. Typen mit einem der­ maßen fest gewobenen Beziehungsnetz kann man kaum in ein so enges Korsett zwängen – sie brauchen Events, um dort alle zu treffen. Wie passend, dass Tarek Rasouli diese Events veranstaltet. Dieser Mann ist goldrichtig da, wo er ist. Hast du dir jemals überlegt, wo du heute ohne den Unfall wärst? „Vermutlich wäre ich viel zu lang bloß Rider ­geblieben und hätte einiges versäumt.“ Wenn er da so sitzt, beim Red Bull ­Rampage in Utah, dem Red Bull District Ride in Nürnberg oder einem kleinen Event ­irgendwo, wenn die Jungs draußen sind und fahren, wenn alles läuft, dann fällt ihm manchmal der Satz ein, den er einst zwei Stunden vor dem großen Crash g ­ esagt hat: „What a beautiful view from a wheelchair.“ Mehr über Tareks Welt: rasoulution.com

67


E-Mobilität

Göteborg: ­Klarén vor der ­schwedischen ­Zentrale von ­Volvo, der ­Muttermarke des Polestar


„Wir legen die Karten offen auf den Tisch“ BJÖRN LARSSON ROSVALL

Wie umweltfreundlich ist E-Mobilität wirklich? Gibt es klimaneutrale Fahrzeuge? Und: Fahren wir morgen überhaupt noch eigene Autos? FREDRIKA KLARÉN, Nachhaltigkeits­­managerin bei der Volvo-Tochter Polestar, über die neue Ehrlichkeit der Autoindustrie. Interview WERNER JESSNER

69


E-Mobilität

he red bulletin: Was macht eigentlich eine Nachhaltigkeits-Managerin bei ­einem Autohersteller? fredrika klarén: Ich versuche, die Energie und die Ideen, die es innerhalb von Polestar gibt, zu kanalisieren. Unsere Leute hier wollen Dinge anders machen als in der Autoindustrie bisher üblich – nachhaltiger. Ich möchte daraus eine Strategie formen, die diese Power best­ möglich nutzt. Wie macht man das? Ich versuche, kompromisslos zu sein, wenn wir uns im Dreieck Nachhaltigkeit, Kosten und Aufwand bewegen. Das heißt, ein Polestar darf mehr ­kosten, wenn er dafür die Kriterien der Nachhaltigkeit erfüllt? Es kann auch heißen, dass wir mehr ­arbeiten müssen, um bessere Lösungen zu finden. Ein Beispiel: Für unsere Fabrik in Shanghai mussten wir uns zwischen einer Heizung mit Biogas und einer mit Strom entscheiden. Gas wäre billiger ge­ wesen, aber damit hätten wir keine CO²neutrale Fabrik mehr gehabt. Mit Strom aus erneuerbaren Energien geht das. Echte und behauptete Nachhaltigkeit sind oft enge Verwandte, Stichwort „Greenwashing“. Wie stellen Sie ­sicher, dass das nicht passiert? Als Polestar 2017 gegründet wurde, schrieb man „no bullshitting“ in der ­Unternehmenskultur fest. Das gilt auch für die Kommunikation. Oft wird ja so getan, als wäre E-Mobilität der Königs­ weg für nachhaltige Mobilität. Die Wahr­ heit ist: E-Mobilität mag aktuell bereits die beste Lösung sein, aber wirklich 70

Da haben Sie viel zu tun. Offizielle Durchschnittsverbräuche hatten in der Vergangenheit selten etwas mit der Realität zu tun, und niemanden hat es groß gekümmert … Ich hoffe, dass die Kunden bei Autos bald ebenso genau hinschauen werden, wie sie es bei Lebensmitteln oder Bekleidung ohnehin bereits tun. Wir wollen, dass sie jene Informationen bekommen, die sie – ganz zu Recht – verlangen, wenn sie ein neues Auto kaufen. Eine Studie besagt, dass 36 Prozent der Autoindustrie aktiv misstrauen. Wir stellen dem absolut transparente Kommunikation entgegen. Wie bringt ein kleiner Hersteller wie Polestar seine Konkurrenten dazu, bei Offenheit und Nachhaltigkeit mitzuziehen? Es gibt ja bereits Netzwerke in der ­Industrie, und sie wachsen. Uns eint das gemeinsame Ziel. Wir sollten einheit­ liche Standards haben, wie wir den CO²Abdruck eines Autos messen, aus Fairness unseren Kunden gegenüber, die sich zu Recht Vergleichbarkeit erwarten. Dazu muss man klar kommunizieren, wie ­gemessen wurde, und diese Standards

müssen für alle gleich sein. Noch gibt es ein großes Wirrwarr. Wir sind die Ersten, die die Karten offen auf den Tisch legen, auch wenn uns viele Zahlen noch nicht gefallen, und wir wissen, dass wir besser werden müssen. Wir sprechen das offen aus. Auswüchse wie Autos, die als „klima­ neutral“ beworben werden, sollte es nach unserem Verständnis nach nicht ­geben. Kein Auto ist CO²-neutral. Gehen wir also davon aus, dass ein ­Polestar nachhaltig produziert wird. Tanke ich „schmutzigen“ Strom, verhagelt das die Öko-­Bilanz aber ganz schnell wieder. Egal welchen Strom-Mix man tankt: ­Früher oder später erreicht man den Punkt, ab dem ein E-Auto einen k ­ leineren CO²-Fußabdruck hat als eines mit Ver­ brennungsmotor. Über die Lebensdauer eines Autos gemessen, lässt er sich durch erneuerbare Energien grob gesprochen halbieren. Wofür wir als Hersteller ver­ antwortlich sind, ist die Energie, die im

„Echte Nach­haltig­ keit erreicht man nur, wenn innovative Technologien für die ganze Industrie zugänglich sind.“

Privat „tankt“ ­Fredrika Klarén ­bereits seit acht Jahren ausschließlich Strom. Mit im Bild: ihr Privatauto, der Polestar 2 THE RED BULLETIN

BJÖRN LARSSON ROSVALL

T

nachhaltig ist sie noch längst nicht. Wir sprechen das ganz offen aus, weil wir glauben, dass die Automobilindustrie ihre Art der Kommunikation dramatisch ändern muss: hin zu absoluter Trans­ parenz und Ehrlichkeit, gerade wenn es um E-Mobilität geht.


Der wahre Fußabdruck Wie viel CO² produzieren E-Autos im Vergleich zu Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor tatsächlich? Über seine gesamte Lebensdauer (200.000 Kilometer) gerechnet, ist ein E-Auto umwelt­freundlicher als ein Verbrenner, selbst wenn bei seiner Herstellung ursprünglich mehr CO² entsteht. Knapp wird die Rechnung beim Betrieb mit dem globalen Strom-Mix, in den CO²-Bomben wie Kohle, Öl und Gas eingerechnet sind.

„Das Umwelt­ bewusstsein hat zuletzt dramatisch zugenommen. Ich würde es als Revolution bezeichnen.“

Quelle: Polestar

60

58 50

50

Verschrottung

42

40

Betrieb

27

30

20

Produktion

Batterieherstellung

10 RohmaterialHerstellung

GesamtTonnen CO²

Volvo XC40 Verbrenner

Polestar 2, betrieben mit globalem Strom-Mix

Polestar 2, betrieben mit europäischem Strom-Mix

Polestar 2, betrieben mit erneuerbaren Energien

CO²-Check: Ab wie viel Kilometer Fahrleistung ist der Elektromotor umweltfreundlicher als der Verbrenner?

112.000 km 78.000 km

50.000 km

Polestar 2 mit globalem Strom-Mix *

Polestar 2 mit EU28-Strom-Mix

Polestar 2 mit erneuerbaren Energien

* Auflösung: Im Vergleich zum Verbrennungsmotor ist der Polestar erst nach 112.000 Kilometern auf der grünen Seite, wenn er ausschließlich mit dem ­globalen Strom-Mix betrieben wird. Die größten CO²-Treiber: Kraftwerke, die Öl, Kohle oder Gas verbrennen.

Das sieht um einiges besser aus: Wenn (wie in der EU im Jahr 2020) ­bereits 40 Prozent des ­Betriebsstroms aus erneuer­baren Quellen gewonnen wird, ist der ­Polestar seinen Kollegen mit Verbrennungsmotor auch schon nach 78.000  Kilo­metern überlegen.

Der Idealfall: Kommen 100 Prozent des Stroms für den laufenden Betrieb aus erneuerbaren Quellen wie Wind- oder Sonnenenergie, kippt die Rechnung schon bei 50.000 Kilometern ins Positive.

THE RED BULLETIN

Produktionsprozess draufgeht. Ein Pole­ star 2 verlässt die Fabrik heute mit einem CO²-Abdruck von 26 Tonnen, ein Wagen mit Verbrennungsmotor verursacht nur rund die Hälfte. Unser Ziel ist die CO²neutrale Produktion. Ist das realistisch? Erste Schritte haben wir bereits gesetzt: erneuerbare Energien in den Fabriken. Die Energie-Effizienz des Autos im Fahr­ betrieb ist ein großer Faktor, Stichwort Gewicht. Wir verwenden klimaneutrale Materialien im Innenraum. Ein gutes Bei­ spiel ist das Schweizer Start-up Bcomp, das hochleistungsfähige Verbundwerk­ stoffe aus nachhaltigem Flachs herstellt. Die Textilien bestehen aus recycelten ­Fischernetzen. Wussten Sie, dass nahezu die gesamte Badebekleidung in Skandi­ navien so hergestellt wird? Ein perfektes Beispiel für Nachhaltigkeit: Aus Müll ent­ stehen intelligente Produkte – und ein Geschäftsmodell. Als kleinerer Hersteller haben wir die Möglichkeit, neue, inno­ vative Zulieferer ins Boot zu holen. Wie findet man diese Start-ups? Indem man seine Augen offen hält und aktiv auf der ganzen Welt sucht. Bcomp ist ein gutes Beispiel dafür. Und dann schließt man einen Exklusiv­ vertrag, um als einziger Hersteller Flachs statt Plastik im Innenraum ­verwenden zu können? Echte Nachhaltigkeit erreicht man nur, wenn innovative Technologien für die ganze Industrie zugänglich sind. Die alte Autowelt hätte Exklusivverträge ­geschlossen. Wir machen das nicht. Ich hoffe, dass wir damit einen Kultur­ wandel anstoßen. Bleiben wir bei Bcomp: Skalierungseffekte sind in der Autobranche extrem wichtig. Wenn sie profitabel sein wollen, brauchen sie viele Abnehmer für ihre Flachsprodukte.   71


Schwedischer Weg: Nach Stationen bei IKEA und der Modekette ­KappAhl ist Klarén bei Polestar angekommen.

72

THE RED BULLETIN


E-Mobilität

Wie genau stellen Sie denn sicher, dass Kobalt für die Akkus unter ­menschenwürdigen Bedingungen ­abgebaut wird? Wir haben Blockchain-Technologie ­implementiert, wie sie bei Krypto­ währungen auch verwendet wird. Die ­Herkunft jeder Lieferung ist somit ­absolut fälschungssicher nachvollziehbar. Ich habe zuvor in der Bekleidungs­ industrie gearbeitet. Da geistert mehr Bio-Baumwolle am Weltmarkt herum, als überhaupt wächst! Mittels Blockchain stellen wir sicher, dass Korruption in der Lieferkette ausgeschlossen wird. Kobalt ist der Anfang, aber wir werden das auch auf andere Materialien und Rohstoffe ausweiten. Soll ich also mein altes Auto mit Ver­ brennerantrieb durch ein elektrisches ersetzen? Das allein ist nicht die Lösung. Wir müssen mehr Flexibilität ins System bringen. Wie bringen wir Menschen und Güter möglichst umweltschonend von A nach B? Diese Frage müssen wir klären, anstatt bloß jedem ein E-Auto vor die Tür zu stellen. Auch die Infrastruktur muss mitwachsen – und das wird sie. Wir sehen unsere Rolle darin, Produkte zu bauen, die langlebig sind und die man reparieren kann – auch die B ­ atterien.

BJÖRN LARSSON ROSVALL, POLESTAR

Wie sieht es mit dem Recycling aus? Die EU schreibt eine Quote vor, die alle Hersteller erreichen. Aber wir müssen noch besser werden und die Quote, die derzeit bei 88 Prozent liegt, weiter er­ höhen. Es ist zum Beispiel nicht einzu­ sehen, dass das Plastik alter Autos noch immer thermisch entsorgt, also schlicht verbrannt wird. Mischfasern in Textilien mögen ein Problem beim Recycling sein. Das Plastik eines so großen Teils wie eines Armaturenbretts sollte es nicht sein. Hier müssen wir als Autoindustrie besser werden und in feinere Recycling-Anlagen inves­tieren. Autos sollten zu 100 Prozent wiederverwertbar sein. Welche Lebensdauer nehmen Sie bei Ihren Berechnungen für den Fuß­ abdruck über die komplette Nutzungs­ zeit eines Polestar 2 an? 200.000 Kilometer. Nun sehen wir aber bereits, dass sowohl das Auto selbst als auch die Batterie deutlich länger halten, die Gesamtposition also positiver aus­ fallen wird als von uns ursprünglich ­berechnet. THE RED BULLETIN

„In acht Jahren wird das E-Auto die Normalität sein, der Verbrenner die Ausnahme.“ Wie nutzen Sie persönlich E-Autos? Ich fahre seit acht Jahren ausschließlich elektrisch. Wenn ich ausnahmsweise wieder in einem Auto mit Verbrennungsmotor sitze, merke ich, wie sich meine Art, Autos zu nutzen, verändert hat. Im Winter heize ich mein Auto immer bereits vor, bevor ich einsteige. Das Fahrgefühl bei Verbrennern ist viel lang­ weiliger. Sie sind laut und vibrieren. Wo werden wir in weiteren acht ­Jahren stehen? Das E-Auto wird die Normalität sein, der Verbrenner die Ausnahme. Wir werden die Produktionsketten so umgebaut ­haben, dass die Emissionen in der Produktion dramatisch niedriger sein werden als heute, gerade in den Bereichen Batterie-, Alu- und Stahlherstellung. Die Energielade-Infrastruktur wird exponentiell gewachsen sein. Die Entwicklung wird uns rasanter vorkommen, weil wir Menschen linear denken, der Fortschritt aber exponentiell passieren wird. Wie groß wird der globale Automarkt im Vergleich zu heute sein? Ich hoffe, dass wir mit weniger Autos mehr Geld verdienen als heute, weil ­Hersteller nicht mehr nur Autos b ­ auen, sondern eine ganze Kette an MobilitätsServices wie etwa Car-Sharing anbieten. Polestar bietet mit der Studie „­Precept“ einen Zukunfts-Ausblick auf ein künftiges Modell. Kommt ­dieses Auto wirklich so? Ja. Precept ist sehr mutig, aber die Autoindustrie sollte auch mutig sein, anstatt noch immer Geld in die Entwicklung von Verbrennungsmotoren zu stecken, vor a ­ llem für Märkte in Südamerika und ­Afrika. Man kann doch keine Energie für Technik von gestern vergeuden und sich damit zufriedengeben, schöne ­„grüne“ Prototypen herzuzeigen, die dann ohnehin nicht kommen. Der Precept ist kein Concept-Car, er ist unser Commitment-Car.

Heute Concept-Car, m ­ orgen b ­ ereits in Serien­produktion: der Polestar Precept

POLESTAR PRECEPT

Zukunft in Serie

Vom Material bis zur Form: Dieses Auto setzt alles auf smarte Effizienz. „Hightech-Minimalismus“ nennt Polestar-Chef Thomas Ingenlath das Design des Precept. Markt­ einführung: in zwei Jahren. Auffällig: Statt eines Kühlergrills befinden sich in der geschlossenen Front die Sensoren für Assistenzsysteme. Was einst dem Luftzug diente, ist jetzt also fürs Sehen zuständig. Ober­ flächen aus Flachs, recycelten PETFlaschen oder Fischernetzen sind im Innenraum verbaut. Anstelle einer Heckscheibe ist das Glasdach für ein luftiges Raumgefühl bis ganz nach hinten gezogen.

Mehr Inspiration für ­Innovative gibt es im aktuellen INNOVATOR. Infos und Abo unter: ­redbulletininnovator.com

73


AUF DEM SPRUNG IN DIE SELBSTSTÄNDIGKEIT? FREE

Wie Sie alle Hürden meistern: www.wingfinder.com

AS

SE

SS

MENT


GUIDE

JAKE HOLLAND

CALUM MUSKETT

Tipps für ein Leben abseits des Alltäglichen

PARAGLEITEN AM MONT BLANC – mit Bergführer Calum Muskett

75


GUIDE Reisen

„In der kühlen Morgen-­ luft stürze ich mich hinab Richtung Italien und freue mich auf einen stärkenden Cappuccino im Café neben dem Landeplatz.“ Calum Muskett, Bergführer und Paragleiter, erzählt vom Abenteuer „Para-Alpinismus“.

U

nter meinen Füßen knirscht der Schnee, als ich die ­letzten Schritte auf dem schmalen Grat mache, der zum höchsten Gipfel der Alpen führt: zum Mont Blanc, 4809 Meter über dem Meer. Eine Wolke bedeckt die französische Seite des Berges, eine eisige Brise bringt meine Augenlider zum Gefrieren. Es ist der 1. September 2019, sieben Uhr früh, und das Gleitschirmverbot in der Region wurde gerade aufgehoben. Mir wird ein bisschen übel, als ich meine Tasche auspacke – die Anstrengung des Aufstiegs hat mir körperlich zugesetzt. Ich bin von Les Houches aus aufgestiegen und seit ein Uhr früh unterwegs – das sind 3800 Höhenmeter in sechs Stunden. Das Tal von Chamonix liegt tief unter mir. Von meinem Standpunkt aus wäre der Weg den Mont Blanc hinunter normaler­ weise lang, beschwerlich und riskant, er würde über Gletscher und Felswände führen, aber ich werde den Abstieg nicht zu Fuß vornehmen. Ich werde fliegen. Seit 2006 besteige ich Berge. Damals absolvierte ich eine Ausbildung auf den Klippen meiner Heimat Nordwales. Heute, als professioneller Kletterer und Bergführer, folge ich den Jahreszeiten und teile meine Zeit zwischen den Bergen von Snowdonia in Wales und den franzö­ sischen Alpen auf. Vor zwei Jahren habe ich Paragleiten gelernt, was mir neue Horizonte eröffnet hat. Eine Besteigung des Mont Blanc dauert normalerweise drei Tage und umfasst zwei Seilbahnen und eine Zug­ fahrt. Wenn ich heute sehr früh auf den Berg klettere, kann ich zum Früh­ stück wieder zurück sein. Das Fliegen hat etwas Befreiendes – wie nach dem Start, bei dem alles einfach 76

Aufstieg über den Pilier Rouge du Brouillard

stimmen muss, der Druck entweicht, die Füße baumeln surreal über dem Abgrund, man trickst die Evolution aus und gesellt sich segelnd zu den Vögeln. Nach zehn Minuten, in denen ich die frostbedeckten Seile entwirrt und den Fallschirm ausgelegt habe, bin ich dahin, stürze mich in der kühlen Morgenluft vom Gipfel hinab, gleite Richtung Italien und freue mich – heilfroh, nicht mehr weiterwandern zu müssen – auf einen stärkenden Cappuccino im Café neben dem Landeplatz. Der Flug dauert un­ gefähr 40 Minuten. Zu Fuß würde eine geführte Gruppe, je nach Können, ein bis zwei Tage brauchen. Para-Alpinismus, wie man in Frank­ reich sagt, wird zu einer immer belieb­ THE RED BULLETIN


Wohin soll’s gehen? Ort: Chamonix-Tal

Frankreich Italien

Nächster Flughafen: Genf, Schweiz Transport: sechs Seilbahn­ anlagen Startplätze: Im Mont-Blanc-­ Massiv gibt es mehrere, Calum flog einmal vom Gipfel des Mont Blanc, einmal vom Glacier du Brouillard in knapp 4000 Meter Höhe.

JAKE HOLLAND

CALUM MUSKETT

Schmaler Grat: Calum Muskett auf dem Weg zur Biwakstation Pic Eccles

Talfahrt: Der Gletscher ist für den Start ideal, aber der Untergrund etwas glatt. THE RED BULLETIN

Saisonale Information: Im Juli und August ist Paragleiten im MontBlanc-Massiv ver­ boten. Grund dafür sind Unfälle in den ver­ gangenen Jahren und die steigende Zahl der Helikopterflüge.

teren Freizeitbeschäftigung. Wie der Name schon verrät, handelt es sich dabei um eine Kombination aus Paragleiten und Alpinismus, und die europäischen Alpen mit ihren überschaubaren Flug­ beschränkungen und der hervorragenden Infrastruktur eignen sich für so ein Vor­ haben besonders gut. Das Konzept ist nicht neu: Pioniere wie der Franzose Jean-Marc Boivin starteten schon vor rund vierzig Jahren von einigen der höchsten Gipfel der Welt. Diese Früh­ zeit des Sports gipfelte in Boivins Flug vom Mount Everest 1988. Seither hat sich die Technologie des Paragleitens eher zu den Cross-Country-Flügen hin verlagert, wo die Leistung der Trag­ flächen vor allem darauf ausgerichtet ist, Gleitzahl und Auftrieb zu verbessern. Der aktuelle Weltrekord gelang brasilia­ nischen Piloten 2016: Sie legten eine Strecke von 564 Kilometern zurück. Die Pioniere des Para-Alpinismus schulterten noch riesige Rucksäcke, die mehr als zwölf Kilo wogen (und darin ist die erforderliche Bergsteigerausrüstung noch nicht eingerechnet), wodurch sich die Kletter/Flug-Missionen eher mühsam und unpraktisch gestalteten. Das änderte sich erst vor kurzem mit neuen Schirmtypen. Die neuen Trag­ flächen wiegen jetzt nur noch ein Kilo, lassen sich in einen mittelgroßen Beutel stopfen und haben ein ultraleichtes Sitz­ geschirr. Dieser Technologiesprung hat dem Sport deutlichen Auftrieb gegeben. September 2020. Zusammen mit mei­ nen Freunden Paul und Jake bin ich wie­ der auf dem Mont Blanc. Wir versuchen einen Aufstieg über den schwierigsten   77


GUIDE Reisen

78

„Lauer Wind hebt den Schirm – und mich sanft von den Füßen.“ Calum Muskett, Bergführer und Paragleiter

schlagenen Schneevorsprung 30 Meter neben mir. Es ist Pauls erster Flug unter Jakes Kommando auf einem ultraleichten Tandemparagleiter. Was für ein Ort für eine Premiere! Mit Steigeisen, um mir Halt auf dem glatten Untergrund zu verschaffen, mache ich meinen Anlauf. Der leichte Stoff erhebt sich schnell und einfach über meinen Kopf, und sobald die Vorder­ kante die Sonne zu berühren scheint, bläst lauwarmer Wind aus dem Tal den Schirm auf und hebt mich sanft von den Füßen. Ich schaue zurück und sehe, wie Jake und Paul vor Freude jauchzend starten und es sich unter ihren Trag­ flächen bequem machen. Bergführer Calum Muskett buchen unter: ­muskettmountaineering.co.uk (für Touren im Raum Chamonix). Ein fünftägiger ParagleitKurs kostet zwischen 500 und 900 Euro, die Ausrüstung rund 3000 Euro. THE RED BULLETIN

JAKE HOLLAND

Felsen des Berges, den Pilier Rouge du Brouillard, einen imposanten Granit­ monolithen auf 4000 Metern, und das über eine erst im Juli erstmals bezwun­ gene Route, die als „Incroyable“ (zu Deutsch: unglaublich) bekannt ist. Die Sonne scheint, es ist heiß. Unter schmelzendem Schnee auf den Hängen über und unter uns taucht eine schwindel­ erregende rote Felswand auf, die wir mit unseren Fingerspitzen hinaufklettern. Am Ende eines erfolgreichen Kletter­ tages schaffen wir es bis zur winzigen Blechschutzhütte auf dem Pic Eccles und zu einem geeigneten Startplatz an einem hängenden Abschnitt des Gletschers nahe der Hütte. Die Position ist furchterregend. An sich ist der immer steiler werdende Schnee­ hang perfekt für einen Absprung – oder besser: Er wäre perfekt, wenn nicht der ganze Hang immer noch gefroren wäre. Paul und Jake stehen auf einem ausge­

CALUM MUSKETT

Segeln wie die Vögel: Calum Muskett fliegt über die Gletscherspalten des Glacier du Brouillard (oben) und nähert sich dem Landeplatz im italienischen Val Veny (unten).


JAHRESABO

getredbulletin.com

€ 25,90

BEYOND THE ORDINARY Erhältlich am Kiosk, im Abo, als E-Paper, auf theredbulletin.com oder als Beilage in einer Teilauflage von:

LORENZ HOLDER/RED BULL CONTENT POOL


GUIDE Gaming

TIPPS

Spielend Karriere machen Jacob Mourujärvi ist ein Weltklasse-Spieler des EgoShooters „Valorant“. Hier verrät der Schwede, wie er es zum Profi geschafft hat.

80

Scharfschützen: die Charaktere Phoenix (li.) und Jett aus dem Game „Valorant“

Als Mourujärvi mit achtzehn den üblichen Bildungsweg hinter sich ließ, spielte er 15 Stunden täglich „CS:GO“. „Acht Uhr morgens schlafen gehen, fünf Uhr nachmittags aufstehen und weiterspielen“, erinnert er sich. „Aber sobald mir bewusst wurde, dass ich damit Karriere machen kann, änderte ich meine Routine und fing an, wie ein Profi zu denken. Ich hörte auch mit dem Lästern auf, wie es in der Szene üblich ist. Jetzt bin ich ein lieber Kerl.“

Neues riskieren

2015 betrat Pyth Neuland und half beim Aufbau des neuen kanadischen „CS:GO“-Teams Luminosity Gaming. „Durch diese Erfahrung bin ich jetzt teamfähiger, offener und ­ehrlicher.“ Dieser erfolgreiche Schachzug inspirierte ihn gleich für den nächsten: Mourujärvi hörte mit „CS:GO“ auf,

Stärken ausspielen

Pyth ist ein Meister des „Clutch Play“– der Fähigkeit, ein Spiel in den letzten ­Sekunden umzudrehen. Schon 2014 bezwang Pyth im Alleingang seine Gegner in einem „CS:GO“-Match. „Beweise dich, und man wird dich w ­ ahrnehmen“, sagt er. „Aber Abkürzungen gibt’s keine. Man muss sich Schritt für Schritt hocharbeiten.“

„Ich bin jetzt teamfähiger, offener und ehrlicher.“ Jacob Mourujärvi, genannt „Pyth“, 27

vor allem auch deshalb, weil er auf Twitter während des Spiels Morddrohungen erhalten hatte. „‚Valorant‘ hat eine sehr unterstützende Fanbase“, erzählt Pyth. Angenehme Arbeits­kollegen seien schließlich überall entscheidend. „Bei G2 sind wir Freunde. Beim Spielen und auch danach.“

Niemals aufhören

Mit 27 gehört Mourujärvi zu den eSport-Veteranen. Was nach dem Karriereende nun kommt? „Ich will weiter im ­eSport arbeiten, vielleicht ja als Trainer. Viele Spieler üben ­jeden Tag ihre Treffsicherheit, verstehen aber nicht viel von Teamwork und Strategie. Dabei ist es wie im Fußball: Die Spieler im Team sollten ein­ ander nicht zu sehr gleichen und eine Einheit bilden.“ „Valorant“ auf Microsoft Windows: playvalorant.com Die aktuellen Matches beim Red Bull Campus Clutch findest du auf redbull.com. Folge Pyth auf: twitch.tv/pyth THE RED BULLETIN

JOE ELLISON

15 Stunden Gaming

YUNG ELDR

Red Bull Campus Clutch ist ein weltweites eSport-Turnier für Spieler im Studierenden­ alter. Gespielt wird „Valorant“, ein taktisches Ego-ShooterGame. Schon bevor das Spiel vergangenes Jahr veröffentlicht wurde, brach es einen Rekord: Mit 34 Millionen Stunden an einem Tag ist nie zuvor ein Spiel länger verfolgt worden – und zwar von Zuschauern, die sich die Streams ausgewählter Spieler ansahen. Im Weltfinale von Red Bull Campus Clutch kämpfen die Siegerteams aus jedem Land im Juli um 20.000 Euro Preisgeld und ein Gaming-Center für ihren Uni-Campus. Von Jacob „Pyth“ Mourujärvi könnten die CampusClutcher einiges lernen. Der 27-jährige Schwede gehört zur Elite-eSport-Mannschaft G2 und ist einer der besten „Valorant“-Spieler der Welt. Vor neun Jahren wollte er noch IT-Experte werden. „Ich hatte keinerlei Vorstellung von meiner Karriere, außer dass ich gerne mit Computern arbeitete.“ Damals spielte er das gerade neu erschienene „Counter-Strike: Global Offensive“ („CS:GO“), als Mitspieler ihn einluden, einem Team beizutreten. „Mittlerweile arbeite ich jeden Tag mit Computern.“ Und zwar als Profispieler …


GUIDE Playlist PAROV STELAR

Mein Sohn, 8, ist mein wichtigster Kritiker Electroswing-Pionier Parov Stelar verrät, welche Lieder sein Leben prägten – wie etwa jenes, das seinem Sohn Max einen schulfreien Tag bescherte.

JAN KOHLRUSCH

FLORIAN OBKIRCHER

In seinem Studio auf Mallorca produziert Marcus Füreder, 46, geläufiger als Parov Stelar, gerade ein Album für sein Alter Ego Stelartronic: „Stelartronic – The Observer“ soll „elektronischer, experimenteller, poppiger“ grooven. Daneben bereitet er eine Ausstellung seiner Gemälde in Palma vor; im Clip zum neuen Stelar­tronic-Remix von „Brass Devil“ bringt sich der Oberösterreicher als Grafiker und erstmals als Darsteller ein. Und mit seiner „Voodoo Sonic Documentary“ gibt er auf 160 Streaming-­ Plattformen (darunter Amazon und Apple TV; mit Untertiteln in 80 Sprachen!) einen Einblick in sein Leben. Uns verrät der DJ, Produzent und Remixer, welche Lieder ihn bewegen.

Multitalent Marcus Füreder alias Parov Stelar

GUSGUS

MACKLEMORE & RYAN LEWIS

CARLA MORRISON

PAROV STELAR

WITHIN YOU (2011)

CAN’T HOLD US (2011)

AZÚCAR MORENA (2015)

BRASS DEVIL (2020)

„Diese Nummer habe ich vor zehn Jahren im heftigen Liebeskummer auf und ab gehört. Solche Zeiten fräsen sich in dein Hirn und dein Herz. Das Komische ist: Eigentlich erinnert sich ja niemand gern an solche Situationen. Aber Musik kann so viel! Wenn ich ‚Within You‘ heute höre, denke ich mir: Das war damals echt scheiße. Was bin ich froh, dass es mir wieder so gut geht!“

„Ich beschäftige mich als Produzent intensiv mit Sound-Ästhetik und muss mich davor hüten, Musik zu sehr zu analysieren. Als ich diesen Song zum ersten Mal gehört habe, dachte ich: Ist das ihr Ernst? Das Tempo, in der Macklemore rappt, ist unwirklich – Respekt! Ich bin nicht der größte Hip-Hop-Fan, aber diese Nummer hat so einen Drive, dass ich aufstehen und tanzen muss.“

„Azúcar morena, das heißt ,brauner Zucker‘. Dieses bittersüße Lied der Mexikanerin Carla Morrison ist relativ neu, aber zeitlos schön. Ich tue mir schwer damit, über Musik zu reden und etwas zu beschreiben, was man nicht in Worte fassen kann. Vor allem bei Songs, die dieses gewisse Etwas haben und damit etwas in dir be­ rühren. Dieses Lied schlägt einfach ­verborgene Saiten in mir an.“

„Eine Nummer aus meinem eigenen Repertoire, die ich nie vergessen ­werde. Mein Sohn Max, er wird bald neun, ist mein wichtigster Indikator; Kinder sind gnadenlos ehrlich. Als ich ihm ‚Brass Devil‘ zum ersten Mal vorgespielt habe, hat er sofort zu hüpfen begonnen. Wir haben im Studio vier Stunden Party gemacht und waren dann beide total erledigt. Max hat am nächsten Tag schulfrei bekommen.“

THE RED BULLETIN

81


LENNY KRAVITZ, LAVENDEL UND WEIHRAUCH ROCK-LEGENDE WIRBT FÜR PARFUM, SEINE TOCHTER FÜR YSL-LIPPENSTIFT Wie Lenny Kravitz (li.) riecht, wissen wir jetzt: nach „lichtdurchflutetem Lavendel, schwarzem Zedernholz und mystischem Weihrauch“ – kurz nach „Y Le Parfum“ von Yves Saint Laurent (YSL), wofür er gerade wirbt; Töchterchen Zoë (re.) rümpft ­darob nicht das Näschen, sie macht das Gleiche mit YSL-Lippenrot. loreal.com

Richtig gutes Zeug COURTESY OF FERRAGAMO, DAVID SIMS/YVES SAINT LAURENT BEAUTY ÖSTERREICH, GARMIN, COUCH CONSOLE, VÖSLAUER

Handverlesene Liebhaberstücke, Tipps & Termine. Von der Redaktion empfohlen.  Text WOLFGANG WIESER

SCHUH-KUNST DAS VIRTUELLE MUSEUM VON SALVATORE FERRAGAMO Diese lässigen Schuhe von Ferragamo stehen symbolisch für das virtuelle Museum des italienischen Modevisionärs. Klare Empfehlung: Schau dir das an! Wer Mode und Geschichte liebt, klickt sich mit wachsendem Entzücken durch. ferragamo.com/museo

82

THE RED BULLETIN


GUIDE Trends HALTE DEINEN FLOW! GARMIN ENDURO Diese Uhr weiß praktisch ­alles über ihren Träger. Die Eigenschaft, die uns am besten gefällt? Sie misst deinen Flow – also wie flüssig du mit dem Mountainbike die Trails bewältigst. Je niedriger der Wert, desto besser. PS: Und wann du besser Pause machst, sagt sie dir auch. garmin.com

LEBEN IM GLEICHGEWICHT THE COUCH CONSOLE Manch einer mag sagen, das Leben auf der Couch sei nicht das Wahre. Antworte: Aber dafür ich bin ausbalanciert. Dank dieser Konsole – sie enthält ­alles, was du für einen entspannten Tag brauchst. Ein Hit auf Kickstarter, eh klar. Lieferung ab Mai. couchconsole.com

MEHR KOMFORT Ein neues atmungs­ aktives Nylonarmband sorgt für einen ­perfekten Sitz.

GUTES GEWISSEN Wer diese Tasche trägt, trägt 100 Prozent ­recycelte PET-Flaschen.

FRISCH WIE DER FRÜHLING TASCHE VOM DESIGNER Wer diese Einkaufstasche sieht, denkt: Frühling, Gott sei Dank! Für die ­Wasser-Spezialisten von ­Vöslauer entworfen hat sie ein österreichischer ­Designer mit Armani-­ Vergangenheit: Arthur ­Arbesser, bekannt für ­seine Vorliebe zu klaren Mustern. voeslauer-designshop.com

THE RED BULLETIN

83


FÜR IMMER JUNG SWATCH IM MOMA-DESIGN Tadanori Yokoo, Jahrgang 1936, zeigt, dass Kunst nie wirklich alt wird: Sein Werk mit dem schönen Titel „The City and Design, The Wonders of Life on Earth, Isamu Kurita“ aus dem Jahr 1966 schmückt, 55 Jahre später, fein zitiert, eine Swatch aus der MoMA-Kollektion. swatch.com

DIESES WERK PACKT ALLE EIN „THE PACKAGE DESIGN BOOK 6“: AUSGEZEICHNETE VERPACKUNG In den 1980er-Jahren empfahl die Glamour-Band „ABC“, nie ein Buch wegen des Covers zu kaufen. Das war schon damals pure Ironie. Wie wichtig – und wie kunstvoll – Verpackung heute sein kann, zeigt dieser Band, der über 500 Arbeiten der Gewinner des Pentawards der Jahre 2019 und 2020 versammelt. taschen.com

Beurteile ein Buch immer nach seinem Cover!

MODERN ART Ein Werk aus dem Jahr 1966 ziert jetzt eine Uhr. Kunst aus dem Hand­ gelenk sozusagen.

WELTWEITER BATTLE DER STUDENTEN TASCHEN, SWATCH, BRIAN SPECTOR, MATTHIAS BALK/DPA/PICTUREDESK.COM, PHILIP PLATZER, SAMSONITE

RED BULL CAMPUS CLUTCH Willkommen beim ersten globalen eSport-Turnier für Studenten: Beim Red Bull Campus Clutch treten Teams aus fünf Spielern ­einer Universität im Taktik-­Shooter „Valorant“ gegen­einander an. Präzise Schießtechnik ist hier ebenso gefragt wie Agenten­ fähigkeit. Noch bis zum 2. Mai steigen die nationalen Qualifier, bevor im Juli die Gewinnerteams zum weltweiten Finale antreten. Alle Termine: redbullcampusclutch.com

84

THE RED BULLETIN


GUIDE Trends

WIR SPIELEN GLEICHBERECHTIGUNG

LETZTES DUELL VOR HEISSER EISZEIT

ENDLICH! KÖNIG UND KÖNIGIN SIND GLEICH VIEL WERT

EHC RED BULL MÜNCHEN EMPFÄNGT DÜSSELDORFER EG

In einem neuen Kartenspiel – gibt’s vorläufig nur auf Englisch – sind Queen und King (= Queeng) endlich gleich viel wert, die ­ehemalige Dame heißt jetzt Duke. Und selbstverständlich sind auch alle Hautfarben vertreten. Worauf wir jetzt noch warten? Auf die Revolution der Zweier: ¡Venceremos! queengcards.com

Jetzt wird’s erst richtig spannend: Am 18. April endet die Hauptrunde der Deutschen Eishockey Liga – und im Anschluss starten die Play-Offs. Am letzten Spieltag empfängt EHC Red Bull München (im Bild: Trevor Parkes) das kampfstarke Team aus Düsseldorf. Olympia-Eissportzentrum München; redbullmuenchen.de

BELASTBAR Das Spezialmaterial aus PET-Flaschen ist reiß- und schnittfest.

RUCKSACK FINDET STADT ALARM AN DER ALGARVE MOTO GP IN PORTUGAL Unebener Asphalt und Highspeed-Geraden: Der MotoGP Grand Prix von Portugal am 18. April wird den Fahrern (im Bild: Brad Binder) alles ­abverlangen. ServusTV überträgt die Qualifyings, das vierte freie Training und die Rennen aller Klassen. Infos: servustv.com/motogp

THE RED BULLETIN

SAMSONITE SECURIPAK Endlich ein Rucksack, der nicht so tut, als wollte er auf einen Gipfel geschleppt werden. Er ist eindeutig für den modernen Stadtbewohner gedacht. Das Material heißt Recyclex (ja, es sind PET-Flaschen), ist reiß- und schnittfest – und klar gibt es eine Lademöglichkeit. samsonite.com

85


Sport wagen Die derzeit prickelndsten Autos: Die einen sind für besonders dynamische Ausfahrten gemacht, die anderen bringen uns mit viel Stauraum zum Training. Plus: drei aktuelle Motor­ räder für alle Fälle.  Text WERNER JESSNER, JOHANNES MITTERER

Das aktuell schnellste ­Serienauto auf der Nord­ schleife des Nürburg­rings: der AMG GT Black Series

86

THE RED BULLETIN


GUIDE Autos

NEUER SPEED ÜBERFLÜGEL Wenn man ein Rennauto straßentauglich macht, ohne Kompromisse einzugehen, kommt exakt so etwas dabei heraus.

RENNMASCHINE FORD MUSTANG MACH 1 Dieser Mustang ist ein Straßenwagen, der auch auf der Renn­ strecke besteht. Kein in Europa angebotener Serien-Mustang war bis jetzt schneller. Das verdankt der Mach 1 einem 5-Liter-V8-Motor mit 460 PS, einem renntauglichen Sportfahrwerk, das auch bei ­hohen Kurvenfliehkräften klare Rückmeldung gibt, und einer besonders direkten Lenkung. Ach ja: 22 Prozent mehr Abtrieb und zusätzliche Kühler bringt er auch noch mit. Höchstgeschwindigkeit: bis zu 267 km/h Preis: ab 60.800 Euro

NEUE BESTZEIT

6:48,047

HERSTELLER

AMG GT Black Series Das ist der neue Rundenrekord auf der Nürburgring-Nordschleife, der wohl schwierigsten Rennstrecke der Welt. Aufgestellt hat ihn der deutsche Rennfahrer Maro Engel mit dem AMG GT Black Series. Er prügelte den 730 PS starken Wagen bei bloß zehn Grad Streckentemperatur und feuchten Flecken auf der Bahn über die 20,832 Kilometer. Wie das möglich war? Mit professioneller Renntechnik und allerhand Set-up-Möglichkeiten. Höchstgeschwindigkeit: 325 km/h Preis: ab 335.240 Euro THE RED BULLETIN

NEU AM START

HOCH- UND BREITENSPORT CUPRA FORMENTOR VZ Cupra ist die Sport-Marke der spanischen VW-Tochter Seat, und das SUV-Coupé Formentor löst diesen Anspruch perfekt ein. ­Besonders gut gelingt ihm das in der Version mit 310 PS starkem Zweiliter-TSI-Motor mit Allrad, 7-Gang-DSG-Getriebe und einer Nullauf-hundert-Beschleunigung von 4,9 Sekunden. Das coole Design, Bremsen mit gelochten Scheiben und das Digitalcockpit l­ assen die 2018 gegründete Marke auf Anhieb ganz oben mitspielen. Höchstgeschwindigkeit: 250 km/h Preis: ab 45.090 Euro   87


GUIDE Autos

NEU KOMPONIERT

NEUES KÜRZEL

ZUKUNFTSMUSIK

SUPER TROFEO OMOLOGATO

AUDI RS E-TRON GT

LAMBORGHINI HURACÁN STO

Athletischer war e-tron noch nie: Mit dem RS e-tron GT verleiht Audi seinem vollelektrischen Modell radikale Dynamik. 440 kW, also umgerechnet 598 PS, stellen die E-Motoren bereit und ermöglichen so eine Beschleunigung von null auf hundert in 3,1 Sekunden. Für den passenden Klang außen und innen sorgt auf Wunsch ein eigens komponierter voluminöser Sportsound, den der Fahrer regeln kann. Die Reichweite der Batterie liegt bei bis zu 487 Kilometern. Höchstgeschwindigkeit: 250 km/h Preis: ab 138.200 Euro

Genau dafür stehen die drei Buchstaben STO, und sie bedeuten, dass der Rennwagen aus der Super-Trofeo-Serie straßentauglich gemacht wurde. Der 10-Zylinder-Motor mit 640 PS trifft auf Heckantrieb und nur 1339 Kilo. Möglich wurde das durch eine Karosserie, die zu 75 Prozent aus Carbon besteht. Besonders auf­ fällig: der neu entwickelte Schnorchel auf der Motorhaube (hinten) mit integrierter Haifischflosse und verstellbarem Heckspoiler. Höchstgeschwindigkeit: 310 km/h Preis: ab 296.800 Euro

STARKER SPRINT Das hier gezeigte Modell 4S des Porsche Cross Turismo beschleunigt in 4,1 Sekunden von null auf hundert.

NEUE WEGE

Gelände-Fan Rallye-Feeling mit dem E-Porsche? Der Taycan Cross Turismo verspricht genau das. Auf losem Fahrbahnunter­ grund kommen Allradantrieb, Radlaufblenden und das Fahrprogramm „Gravel Mode“ zu Hilfe. Das Letzt­ genannte hebt den Wagen dank der adaptiven Luftfederung um 30 Millimeter an. Genug Wumms gibt’s auch: 460 kW/625 PS als Turbo S, (560 kW/761 PS im Overboost). Höchstgeschwindigkeit: 250 km/h Preis: ab 93.635 Euro 88

THE RED BULLETIN

HERSTELLER

Porsche Taycan Cross Turismo


ERFOLGSMODELL

Raumwunder reloaded Mazda CX-5 Wie verkauft man über drei Millionen Exemplare eines Autos? Ein kluges Raumkonzept hilft, wie der seit 2012 gebaute Mazda CX-5 beweist. Auch im Modelljahr 2021 bietet er der ­ganzen Familie komfortabel Platz – samt Kletterausrüstung für die ­Bergtour. Mit umgeklappten Sitzen entstehen 1620 Liter Stauraum. Die aktuelle Variante bietet ver­ besserte Motoren, die schärfer an­ sprechen und weniger verbrauchen. Kofferraumvolumen: 506 – 1620 Liter Preis: ab 27.600 Euro

RUNDUM-BLICK Von außen nicht sichtbar sind im Mazda CX-5 vier Kameras verbaut, die beim Einparken helfen.

E-ALLROUNDER

HYBRID-SUV

STROM LADEN

WACHSTUMSKURS

VW ID.4

MITSUBISHI ECLIPSE CROSS PLUG-IN HYBRID

Einer der größten Vorteile von E-Autos ist, dass die Antriebstechnik weniger Platz braucht als bei konventionell befeuerten Fahrzeugen – Platz, der den Passagieren oder eben auch Sportgeräten zugute kommt. Dazu gibt’s eine inzwischen abenteuertaugliche (statt abenteuer­liche) Reichweite: VW verspricht für den im Frühling ­erhältlichen 204 PS starken ID.4 bis zu 520 Kilometer. Bonus: Man kann ­Anhänger von bis zu einer Tonne ziehen. Kofferraumvolumen: 543 – 1575 Liter Preis: ab 36.950 Euro

Mehr Platz lautete auch die Devise bei der Überarbeitung dieses Modells: Um 14 Zentimeter ist die aktuelle Variante des Eclipse Cross im Vergleich zum Vorgänger gewachsen. Beim neuen Plug-In Hybrid mit Allradsystem stammt die Antriebseinheit (2,4-Liter-­ Benziner und zwei Elektromotoren) aus dem Outlander (188 PS Systemleistung). Rein elektrisch können bis zu 61 Kilometer ­gefahren werden, die Gesamtreichweite liegt bei bis zu 750 . Kofferraumvolumen: 359 – 1108 Liter Preis: ab 39.890 Euro

THE RED BULLETIN

89


GUIDE Autos

BESTSELLER

POWER-HYBRID

SCHNELLER RUCKSACK

TEAMFÄHIG

ŠKODA OCTAVIA COMBI RS

KIA SORENTO PLUG-IN HYBRID

Still und leise ist der Octavia zum Herausforderer des Platzhirschen VW Golf herangereift. Überzeugendes Platzangebot und ein scharf kalkulierter Preis sind dafür wohl ausschlaggebend. Das Topmodell RS ist als Diesel oder Benziner zu haben, mit Frontoder Allradantrieb, ist 200 oder 245 PS stark – und dank der ­scharfen ­Optik hat man die Garantie, den eigenen unter all den ­anderen ­Octavias auf dem Parkplatz sofort zu finden. Kofferraumvolumen: 640 – 1700 Liter Preis: ab 39.810 Euro

Eine Volleyball-Aufstellung (sechs Spieler) plus Trainer können in diesem SUV zum Match fahren. Die Variante mit Plug-In Hybrid ist nicht nur die neueste, sondern auch die leistungsstärkste. Kombiniert kommen die Antriebe – 1,6-Liter-Turbobenziner plus Elektro­ motor – auf 265 PS und 350 Nm Drehmoment. Eine 6-Gang-Automatik gibt die Power an alle vier Reifen weiter. Wer den Raum hinten für Gepäck nutzen will, baut den Sieben- zum Fünfsitzer um. Kofferraumvolumen: 175 – 898 Liter Preis: ab 53.940 Euro

KRAFTPAKET Unter der Gladiator-Haube steckt ein 3.0 V6 MultiJet Turbodieselmotor mit 264 PS und 600 Nm Drehmoment.

PICK-UP

Kämpfertyp Nach 28 Jahren bietet Jeep zum ­ersten Mal wieder einen Pick-up. Als Basis des Gladiator dient das Kult-Modell Wrangler. Von diesem erbt er auch die Geländegängigkeit – unter anderem dank intelligentem Allradsystem, Dana-44-Achsen der dritten Generation und O≠roadReifen. Für Sportgeräte wie Fahr­ räder, Kajaks, Surfbretter oder Skier gibt’s auf Wunsch spezielle Träger. Ladefläche: 153 Zentimeter lang. Preis: ab 60.500 Euro 90

THE RED BULLETIN

HERSTELLER

Jeep Gladiator


GUIDE Motorräder

FÜR NEULINGE

Sein ohne Schein Brixton Rayburn Achtung, Einstiegsdroge! Das Bike sieht nach sündteurem CustomBike-Umbau aus, nach viel Hubraum und Spielzeug für harte Jungs – ist aber ein 125er-Motorrad, das man mit Autoführerschein bewegen darf. Die „Rayburn“ k ­ ombiniert RoadsterLook mit luftgekühltem Einzylindermotor. Style-Highlight: der gefederte ­Ledersattel. G ­ eschmack ist keine Frage des Hubraums: Selbst in der Achtelliter-Klasse gibt es ­keinen Grund mehr, b ­ illige Plastikroller zu fahren. Ab 3039 Euro

ALLES AN BORD LED-Tagfahrlicht und -Blinker, digitaler Tacho und elektronische ­Einspritzung zählen u. a. zur Serienausstattung.

FÜR VIELSEITIGE

FÜR SPORTLER

UM DIE WELT

JEDE KURVE EINE FREUDE

KTM 1290 SUPER ADVENTURE S

BMW F 900 R

Große Freiheit! Nur blöd, wenn im richtigen Leben unterwegs der Wind zerrt, der Hintern zwickt und die Knie pitschnass werden. Für die große Tour nehme man also ein Bike, das Unbill vom Fahrer fernhält, souverän motorisiert ist und a­ ller Tricks mächtig, die tausend Kilo­meter oder mehr im Sattel zur ­Freude werden lassen. Das neue KTM-­Flaggschiff hat fünf Fahrmodi von Regen bis Rally, 7-Zoll-­ TFT-Display und 23-Liter-­Tank für enorme Reichweite: Wer jetzt noch zu Hause bleibt, dem ist nicht mehr zu helfen. Ab 18.495 Euro

Präzises Handling, sportliches Design und ein drehmomentstarker Zweizylinder-Reihenmotor – die BMW F 900 R steht für unkomplizierten Fahrspaß bei jeder Gelegenheit. Der dynamische Roadster hat bereits in der Grundausstattung einen Schalt­assistenten und wählbare Fahrmodi. Mit 105 PS ist in jeder ­Situation reichlich ­Power vorhanden, und dank TFT-Display und Connectivity behält man die wichtigsten Infos stets im Blick – egal ob auf dem Weg ins Büro oder auf Kurvenjagd in den Alpen. Ab 8800 Euro

THE RED BULLETIN

91


B O U L E VARD DER HEL DEN

JOHN GLENN

VOM GRÖSSTEN SCHMERZ Serie: MICHAEL KÖHLMEIER erzählt die außergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit. Folge 2: Womit der erste US-Astronaut, der die Erde umkreiste, zu kämpfen hatte.

92

THE RED BULLETIN

BENE ROHLMANN, CLAUDIA MEITERT MICHAEL KÖHLMEIER

U

GETTY IMAGES (2)

M

itte der Neunzigerjahre des die jemals ein Mensch durchlebt hat. vorigen Jahrhunderts fuhr ich Das war am 20. Februar 1962 gewesen. mit Bob Didonato durch die Nein, der erste Mensch im All war US-Staaten Pennsylvania, Ohio, er nicht. Viele Amerikaner wollten das Kentucky und West Virginia. Bob zwar glauben. Und viele wollten damals war Professor an der Miami University in glauben, seine Mission diene in erster Linie Oxford, Ohio, er unter­richtete deutsche der Wissenschaft. So war es aber nicht. Literatur und deutsche Sprache, die StuJohn Glenn war eine politische TrumpfMICHAEL KÖHLMEIER denten liebten ihn wegen seiner unkonDer Vorarlberger karte im Wettstreit mit der S ­ owjetunion. Bestseller-Autor gilt ventionellen Einfälle. Er sagte, er wolle mir Ein Jahr zuvor nämlich, am 12. April 1961, als bester Erzähler Dinge zeigen, die in keinem Fremdenführer hatte der russische Astronaut Juri Alexejedeutscher Zunge. witsch Gagarin die Erde als tatsächlich ersaufgeführt seien, die aber für das SelbstZuletzt erschienen: verständnis und das Selbstbewusstsein ter Mensch, jedoch nur einmal, umrundet, „Die Märchen“, der Amerikaner große Bedeutung hätten sein Flug dauerte 108 Minuten. Damit hat816 Seiten, Carl Hanser Verlag. te der verteufelte Kommunismus das glor– „eine sub­kutane Bedeutung“, so drückte er sich aus. Was er darunter verstand, reiche Amerika, das Land der unbegrenzten demonstrierte er mir in New Concord, einem Dorf im Möglichkeiten, das sich allen Nationen überlegen Muskingum County in Ohio, das sich durch nichts von fühlte, in die Schranken verwiesen. Die Kränkung war den umliegenden Dörfern unterschied, eingerahmt so bitter, dass manche amerikanische Zeitungen und von Tankstellen und Fast-Food-Lokalen. Die AusfahrtsRundfunkanstalten gar nicht darüber berichteten. straße im Norden führte an einem schmalen Fluss entNun also die Revanche. lang – dem Fox Creek, wie mich Bob unterrichtete. m 9 Uhr 47, Ostküstenzeit, startete die Atlas-RaIrgendwann hielt er an. Wir gingen auf einem Seitenweg in ein lichtes Wäldchen, nach einer Meile blieb kete, an deren Spitze der vierzigjährige Astro­naut er stehen und sagte: John Herschel Glenn saß. Er selbst hatte sich „Hier ist es.“ gewünscht, dass seine Mission „Friendship“ ­genannt „Was?“, fragte ich. würde. Die Schüler durften an diesem Tag zu Hause „Genau hier“, flüsterte er. bleiben, die meisten Betriebe unterbrachen die Arbeit „Bob“, sagte ich, „was ist hier? Und warum fl ­ üsterst für eine oder zwei Stunden, Präsident Kennedy saß du?“ wie Millionen andere Amerikaner vor dem Fernseher und sah sich mit klopfendem Herzen an, wie die „Hier hat er gelegen“, flüsterte er weiter. ­gigantische Rauchwolke über der Cape Canaveral Air „Wer, verdammt noch mal!“ Force Station in Florida in den Himmel quoll und aus „John Glenn.“ ihr der haardünne Kondensstreifen der Rakete höher John Glenn – der große John Glenn – war der erste und immer höher schoss. Der Sprecher im Fernsehen Mensch, der die Erde gesehen hat, wie ich den Globus sehe, der auf meinem Schreibtisch steht: als eine verkündete: „Oberstleutnant Glenn ist soeben mit vorwiegend blaue Kugel. Er war der erste Mensch, ­seiner Rakete in die Erdumlaufbahn gestartet. Bitte der unsere Erde in einer Umlaufbahn umkreist hat. beten Sie für ihn.“ Dreimal. Er allein. Die längsten und zugleich kürzes­ Gegen fünfhundert Konkurrenten hatte Glenn ten vier Stunden, 55 Minuten und 23 Sekunden, sich durchgesetzt, und er hatte nicht die besten


­ oraussetzungen. Sein größter Nachteil gegenüber V den anderen Anwärtern war sein Alter. Ein Vierzigjähriger sei körperlich nicht mehr auf der Höhe, ein solches Unternehmen aber verlange das Äußerste. So hieß es. Glenn konnte mithalten. Er bestand in den Dunkelräumen bei stundenlanger Schwärze und absoluter Stille; er hielt in der Hitzekammer aus, gegen die eine Sauna eine kühle Veranda sei, wie einer der Kandidaten witzelte; auch minutenlanges Ausharren im Eiswasser konnte ihm nichts anhaben, und die Zentrifuge und die Rüttelmaschine verließ er breitbeinig

THE RED BULLETIN

zwar, aber ohne zu wanken und ohne dass er sich – wie die meisten seiner Kollegen – übergeben musste. Mental, so hieß es, war John Glenn allen überlegen. Und darauf komme es an. Man könne unten auf dem Boden trainieren und simulieren, so viel man wolle, niemand sehe voraus, was einen dort oben alles erwarte. Und dann seien nicht allein Muskeln und Sehnen gefragt, sondern Intelligenz, Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung. Über diese Fähigkeiten verfügte Oberstleutnant John Herschel Glenn. Am Ende der Mission musste er diese Fähigkeiten beweisen.

93


B OU L EVAR D DE R HE L D E N

Ich greife vor: Bevor er die Umlaufbahn um die Erde verließ, um in die Erdatmosphäre einzutauchen, schlug ein System Alarm. Der Keramikschild, der die Kapsel vor dem Verglühen bewahren sollte, schien sich zu lösen. Wenn das geschähe, wäre der Astronaut nicht mehr zu retten. Glenn behielt die Nerven, von der Bodenstation aus konnte der Schaden behoben werden, allerdings musste er die Landung händisch steuern – Intelligenz, Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung. Zu diesen Begriffen würde in Zukunft eine ganze Generation den Namen John Glenn assoziieren. Angst und Panik konnten ihm nichts anhaben. Diese Gefühle ließ er nicht zu, er besiegte sie, triumphierte über sie. Mit einem anderen Gefühl aber hatte er nicht gerechnet, und kein Techniker unten auf der Erde, kein Psychologe, der Priester nicht, nicht einmal Anna Margaret, Johns Ehefrau, die ihm schon im Alter von fünf Jahren das Ja-Wort fürs Leben gegeben hatte, nicht einmal sie hatte damit gerechnet: Heimweh.

D

urch das winzige Fenster der Raumkapsel blickte er hinunter auf die Erde, er konnte ihre Rundung sehen, er geriet in heilige Verzückung, als sich unter ihm der blaue Pazifik dehnte, er sah Hawaii, sah die Perlenkette Japan, sah die goldenen Weiten der asia­tischen Wüsten, sah die Gipfel des Himalaya, sah Europa, klarer als auf jeder Landkarte. Und dann sah er die Küste von Amerika. Er war allein, er traute sich nicht, laut mit sich selbst zu sprechen, weil er dachte, die Bodenstation höre zu. Er wollte singen. Ihm fiel ein, wie er als Kind in dem Wald am Fox Creek gespielt hatte, er war aufgewachsen in New Concord. Wie glücklich war er gewesen, er, ganz mit sich allein. Wenn er im Sommer unten beim Bach die Libellen beobachtet hatte, manche ganz nahe. Wenn er über die schillernden Farben ihrer Flügel gestaunt hatte, die sich in den Spiegelungen des Wassers änderten. Wenn er das feuchte Moos gerochen hatte, kein Parfum konnte damit konkurrieren. Sogar an die Moskitostiche erinnerte er sich gern, zu Hause rieb seine Mutter die betreffenden Stellen mit Zitronensaft ein. Da habe er begriffen – erst viele Jahre nach diesem großen Menschheitsabenteuer erzählte er einer Journalistin davon –, da habe er begriffen, dass Alleinsein das Schönste auf der Welt sei, allein mit sich und seinen Gedanken, seinen Träumen, seinen Gedankenspielen weit voraus in eine Zukunft, seine Zukunft. „Aber doch nur“, sagte er der Reporterin ins ­Mikrofon, „wenn du auf den Wegen gehst, auf denen du schon oft gegangen bist, auf denen Menschen gegangen sind, die du liebst oder hasst, die dir ­Gutes oder Böses wollen. Wenn du die Wegbiegung dort vorne kennst, wenn du die riesige Fichte dort drüben kennst, wenn du die Steine kennst, auf die du dich setzen und mit den nackten Füßen im Bach plantschen kannst.“ Einsamkeit sei dagegen etwas anderes. Er habe geglaubt, sein Herz breche entzwei: Wenn ich nie wieder, nie wieder … Die Einsamkeit, das wisse er nun, sei das Entsetzlichste.

94

Mit einem Gefühl hatte der Astronaut John Glenn nicht gerechnet: Heimweh. Er war glücklich gelandet, war als Held gefeiert worden. Im Triumphzug fuhr er durch New York, hunderttausend Menschen jubelten ihm zu. Präsident Kennedy bat ihn um seine Freundschaft und warb mit ihm für seine Politik. Er tourte durch das Land, hielt Vorträge, wurde zu Fernsehshows eingeladen – er hatte Amerika den Stolz zurückgegeben. Er war ein Star. Als er an Bord des Schiffes, das ihn und seine Kapsel aus dem Meer geborgen hatte, aus dem Raumanzug stieg, hatte ihn der Kapitän gefragt: „Sir, was gedenken Sie als Erstes zu tun?“ Glenn antwortete: „Ich möchte nach Hause.“ Zu Hause fragte ihn Anna Margaret: „John, was willst du als Erstes tun?“ Er antwortete: „Ich möchte nach Hause.“ Sie wusste, was er meinte, sie fragte: „Soll ich dich begleiten?“ Nein, sagte er, er wolle allein sein. Und sie wusste wieder, was er meinte. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr nach New Concord, das war nicht weit. Er spazierte am Fox Creek entlang bis zu dem Wäldchen. Und dort legte er sich bäuchlings mitten auf den Weg. Breitete die Arme aus, als wolle er den Globus, die Welt, die ganze Welt, nämlich unsere Erde, umarmen und küssen.

S

o hat man ihn gefunden“, erzählte mein Freund Bob Didonato. „Ach, du wirst es nicht glauben“, sagte er, „ein junger schwarzer Musiker fand ihn. Er meinte, er sei tot. So wie er dalag. Ohne R ­ egung. Die Lippen auf den Lehmboden gepresst. Der Musikant – glaub mir, es ist die Wahrheit –, er muss wohl ein frommer Mann gewesen sein, er kniete sich nieder und betete, betete für die Seele dieses Mannes, der da, ganz allein, ohne jeden Beistand, einsam, mitten auf dem Weg nahe dem Fox Creek gestorben war. Aber er war nicht gestorben. Er ist aufgestanden – auferstanden, sozusagen.“ „Und das ist hier geschehen?“, fragte ich. „An dieser Stelle, genau hier?“ „Genau hier“, sagte Bob. „Woher weißt du das?“ „Jeder weiß es, jeder hier in New Concord, jeder in Muskingum County. Frag, wen du willst.“ „Das werde ich“, sagte ich. Und ich tat es. Ich fragte in einem Coffeeshop, ich fragte eine Frau auf der Straße, ich klopfte an Türen und fragte, ich fragte Kinder auf dem Spielplatz. Alle bestätigten, was Professor Bob Didonato mir erzählt hatte.

THE RED BULLETIN


Echte Flammen. Echter Geschmack. Ohne Zusatzstoffe Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker.

Mehr unter www.burgerking.de/echte-flammen-echter-geschmack. TM & © Burger King Corporation. Unter Lizenz verwendet. Alle Rechte vorbehalten.


IMPRESSUM

THE RED BULLETIN WELTWEIT

Aktuell ­erscheint The Red Bulletin in sechs Ländern. Das ­Cover unserer Kollegen in Österreich zeigt in diesem Monat B-Girl Sina aus Tirol, die erst auf einer langen Reise nach Marokko lernte, was sie wirklich auszeichnet – als Tänzerin und als Mensch. Mehr Geschichten abseits des Alltäglichen findest du auf: ­redbulletin.com

96

Gesamtleitung Alexander Müller-Macheck, Sara Car-Varming (Stv.) Chefredaktion Andreas Rottenschlager, Andreas Wollinger (Stv.) Creative Direction Erik Turek, Kasimir Reimann (Stv.) Art Direction Marion Bernert-Thomann, Miles English, Tara Thompson Grafik Martina de Carvalho-Hutter, Cornelia Gleichweit, Kevin Goll Fotoredaktion Eva Kerschbaum (Ltg.), Marion Batty (Stv.), Susie Forman, Tahira Mirza, Rudi Übelhör Digitalredaktion Christian Eberle-Abasolo (Ltg.), Lisa Hechenberger, Elena Rodriguez Angelina, Benjamin Sullivan Head of Audio Florian Obkircher Special Projects Arkadiusz Piatek Managing Editors Ulrich Corazza, Marion Lukas-Wildmann Publishing Management Ivona Glibusic, Bernhard Schmied, Anna Wilczek Managing Director Stefan Ebner Head of Media Sales & Partnerships Lukas Scharmbacher Head of Co-Publishing Susanne Degn-Pfleger Projektmanagement Co-Publishing, B2B-Marketing & Communication Katrin Sigl (Ltg.), Mathias Blaha, Katrin Dollenz, Thomas Hammerschmied, Teresa Kronreif (B2B), Eva Pech, Valentina Pierer, Stefan Portenkirchner (Communication) Creative Services Verena Schörkhuber-Zöhrer (Ltg.), Sara Wonka, Julia Bianca Zmek, Edith Zöchling-Marchart Commercial Management Co-Publishing Alexandra Ita Editorial Co-Publishing Raffael Fritz (Ltg.), Gundi Bittermann, Mariella Reithoffer, Wolfgang Wieser Executive Creative Director Markus Kietreiber Projekt Management Creative Elisabeth Kopanz Art Direction Commercial & Co-Publishing Peter Knehtl (Ltg.), Erwin Edtmayer, Simone Fischer, Martina Maier, Andreea Parvu, Alexandra Schendl, Julia Schinzel, Florian Solly, Dominik Uhl, Sophie Weidinger, Stephan Zenz Abo & Vertrieb Peter Schiffer (Ltg.), Marija Althajm, Nicole Glaser, Victoria Schwärzler, Yoldaş Yarar Anzeigenservice Manuela Brandstätter, Monika Spitaler Herstellung & Produktion Veronika Felder (Ltg.), Friedrich Indich, Walter O. Sádaba, Sabine Wessig Lithografie Clemens Ragotzky (Ltg.), Claudia Heis, Nenad Isailović, Sandra Maiko Krutz, Josef Mühlbacher Finanzen Mariia Gerutska (Ltg.), Klaus Pleninger MIT Christoph Kocsisek, Michael Thaler Operations Melanie Grasserbauer, Alexander Peham, Yvonne Tremmel Projekt Management Gabriela-Teresa Humer Assistant to General Management Sandra Artacker Herausgeber & Geschäftsführer Andreas Kornhofer Verlagsanschrift Heinrich-Collin-Straße 1, A-1140 Wien Telefon +43 1 90221-0 Fax +43 1 90221-28809 Web redbulletin.com Medieninhaber, Verlag & Herausgeber Red Bull Media House GmbH, Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15, A-5071 Wals bei Salzburg, FN 297115i, Landesgericht Salzburg, ATU63611700 Geschäftsführer Dkfm. Dietrich Mateschitz, Dietmar Otti, Christopher Reindl, Marcus Weber

THE RED BULLETIN Deutschland, ISSN 2079-4258 Länderredaktion David Mayer Lektorat Hans Fleißner (Ltg.), Petra Hannert, Monika Hasleder, Billy KirnbauerWalek, Belinda Mautner, Klaus Peham, Vera Pink Country Project Management Natascha Djodat Media Sales & Partnerships Thomas Hutterer (Markenlead), Alfred Vrej Minassian, Franz Fellner, Ines Gruber, Thomas Gubier, Daniela Güpner, Wolfgang Kröll, Gabriele Matijevic-Beisteiner, Nicole Okasek-Lang, Britta Pucher, Jennifer Sabejew, Johannes Wahrmann-Schär, Ellen WittmannSochor, Ute Wolker, Christian Wörndle, Sabine Zölß; Abo Abopreis: 21,90 EUR, 10 Ausgaben/Jahr, getredbulletin.com, abo@de.redbulletin.com Druck Quad/Graphics Europe Sp. z o. o., Pułtuska 120, 07-200 Wyszków, Polen

THE RED BULLETIN Frankreich, ISSN 2225-4722 Länderredaktion Pierre-Henri Camy Country Coordinator Christine Vitel Country Project M ­ anagement Youri Cviklinski

THE RED BULLETIN Großbritannien, ISSN 2308-5894 Länderredaktion Ruth McLeod (Ltg.), Tom Guise, Florian Obkircher Lektorat Davydd Chong (Ltg.), Nick Mee Publishing Management Ollie Stretton Media Sales Mark Bishop, mark.bishop@redbull.com Fabienne Peters, fabienne.peters@redbull.com

THE RED BULLETIN Österreich, ISSN 1995-8838 Länderredaktion Wolfgang Wieser Lektorat siehe entsprechenden Eintrag bei Deutschland Publishing Management Bernhard Schmied Media Sales & Partnerships Thomas Hutterer (Markenlead), Thomas Hutterer (Markenlead), Alfred Vrej Minassian, Franz Fellner, Ines Gruber, Thomas Gubier, Daniela Güpner, Wolfgang Kröll, Gabriele Matijevic-Beisteiner, Nicole Okasek-Lang, Britta Pucher, Jennifer Sabejew, Johannes Wahrmann-Schär, Ellen WittmannSochor, Ute Wolker, Christian Wörndle, Sabine Zölß; Kristina Krizmanic (Team Assistant) Sales Operations & Development Anna Schönauer (Ltg.), David Mühlbacher

THE RED BULLETIN Schweiz, ISSN 2308-5886 Länderredaktion Wolfgang Wieser Lektorat siehe entsprechenden Eintrag bei Deutschland Country Project Management Meike Koch Commercial & Brand Partnerships Manager Stefan Bruetsch Media Sales Marcel Bannwart (D-CH), marcel.bannwart@redbull.com Christian Bürgi (W-CH), christian.buergi@redbull.com Goldbach Publishing Marco Nicoli, marco.nicoli@goldbach.com

THE RED BULLETIN USA ISSN 2308-586X Länderredaktion Peter Flax (Ltg.), Nora O’Donnell Lektorat David Caplan Publishing Management Branden Peters Media Network Communications & Marketing Manager Brandon Peters Media Sales Todd Peters, todd.peters@redbull.com Dave Szych, dave.szych@redbull.com Tanya Foster, tanya.foster@redbull.com

THE RED BULLETIN


A NZ E I GE

must-haves

1

2

3

4

1  LIGHT TRAILRUNNER

Der leichte und technisch präzise RIBELLE RUN von Scarpa ist der ideale Trailrunningschuh in rauem Terrain. Er ist konzipiert für kurze bis mittlere Distanzen und über­ zeugt mit seiner optimalen Passform sowie seinem atmungsaktiven Ober­ material. Dazu sorgt seine exklusive SuperGum-Außensohle dafür, dass du auch auf rutschigen Wegen locker vorankommst. scarpa.net

2  NEUE MOTORRADMARKE

Erst vor wenigen Wochen global ­gelauncht, versprüht die neue Motorradmarke MOTRON frischen Wind und besticht durch lässiges Design zu ­einem top Preis-Leistungs-Verhältnis. Sie begeistert Motorradfahrer, Elektro-Fans und Roller-Liebhaber gleichermaßen. Der ultimative Reisebegleiter für Abenteurer: Die neue MOTRON X-Nord 125 ist ab jetzt ­bestellbar. motron-motorcycles.com

3  AUSGEZEICHNET INNOVATIV

Die Odin 9 Worlds Infinity Shell-Jacke von Helly Hansen ist deine nachhaltige ­Begleiterin auf all deinen Abenteuern: Sie überzeugt mit einer revolutionären, wasserdichten und atmungsaktiven LIFA® Infinity Pro™ Technologie, die komplett ohne chemische Zusätze auskommt. Ausgezeichnet mit dem GOOD DESIGN® Award 2020, setzt die innovative Jacke neue Maßstäbe in puncto Outdoor-Bekleidung. hellyhansen.com

4  MIT POWER AUF UND AB

Mach dich bereit, mit dem X ULTRA™ 4 GTX von Salomon kraftvoll bergauf und bergab zu laufen. Er ist so wendig wie ein Trailrunningschuh, aber bietet dazu die Stabilität, den Grip und den wasserabweisenden Schutz, den du fürs Gelände brauchst. Mit einem neuen Chassis schützt der Schuh den Knöchel­ bereich noch besser, ohne die Bewegungsfreiheit einzuschränken. salomon.com


NICOLAS MAHLER

N IC OL AS M A HL ERS SPI T ZF ED ERL ICHES CHA R A K T ER-K A BINE T T

Die nächste Ausgabe des RED BULLETIN erscheint am 11. Mai 2021.

98

THE RED BULLETIN


WIR LAUFEN FÜR ALLE, DIE ES NICHT KÖNNEN.

9. MAI 2021 – 13 UHR JETZT APP LADEN UND ÜBERALL MITLAUFEN 100 % DER STARTGELDER FLIESSEN IN DIE RÜCKENMARKSFORSCHUNG

WINGSFORLIFEWORLDRUN.COM

LAUF MIT:


P L E NT Y OF G RI P TO RU N D OWN ADVENTURE.

E XP LO R E T H E B F G O O D R I C H ® ADVAN TAG E SUV T I R E AT w w w. b fg o o d r i c h .d e

WHAT AR E YO U BUILD ING FOR?


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.