Relax Magazin 2022

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IM ZEI TALTER DES NARZISSMUS Stress, Angst und innere Leere. Viele Menschen sind heute st ark verunsicher t . Wir stecken in unlösbar scheinenden Kr isen. Und kaum ein Lösungsversuch, der die Leiden nicht nochmals verschlimmer te. Es heißt , die moderne Gesellschaft trage Züge eines pathologischen Charakters. Eine kleine Anregung zum besseren Verst ändnis unserer Zeit .

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ir stecken in der Klemme. Krisen und Niedergang auf allen Ebenen: die Verarmung des Mittelstandes, die Zersplitterung des Gemeinschaftsgefühls, der wachsende Analphabetismus, die explodierenden Staatsschulden, die Rohstoffkrisen, die Massenmigration, die Krisen von Bildungs­system, Parteien­demokratie und Weltfrieden – um nur einiges zu nennen. Dazu die gigantischen Materialschlachten jenes „Weltkriegs“, den die moderne Gesellschaft, allerdings verschleiert und weitgehend aus unserem Alltagsbewusstsein verdrängt, führt. Dieser Krieg hat keinen militärischen Gegner, sondern wird durch die Ideologie des ständigen Wachstums, des stetigen Mehr von allem, des Kaufens und Wegwerfens – letztlich durch die Gier – befeuert. Geführt zu Wasser, zu Lande und in der Luft wirkt dieser Krieg wie ein permanenter Angriff auf die Fauna und Flora unserer Erde, gleichzeitig aber unweigerlich auch auf die Psyche und die Würde des Menschen. Selbst wenn wir uns nur in bescheidenem Umfang mit dem Weltgeschehen beschäftigen, kommen wir kaum umhin, eine Zunahme von Frustration, Aggression und Destruktion in erschreckenden Ausmaßen zu erkennen. Es sind dies die Symp­ tome vielschichtiger Krisen institutioneller und persönlicher Identität, wie sie beispielsweise Günther Anders, Friedrich Nietzsche und Leo Tolstoi vorausgesagt hatten. Und es verwundert nicht, wenn sich bei vielen eine Art Endzeitgefühl ausbreitet oder der Eindruck rasenden Stillstands entsteht – und die Hoffnungs­losigkeit gegenüber der Zukunft wächst. Wo blieb der gesunde Menschenverstand? Das hat natürlich auch damit zu tun, dass sich die Problem­ lösungskapazitäten von Politikern und Experten sozusagen als umso begrenzter erweisen, je genauer man hinsieht: Zahlreich entpuppen sich „Lösungen“ als Verschlechterung der Gesamtsituation. Und gerade dann, wenn sich Maßnahmen auf „die Wissenschaft“ stützen, führen sie vielfach zu Dummheiten und Grausamkeiten in monströsen Dimensionen – so, als wäre der gesunde Menschenverstand abhanden gekommen. So, als steckte ein Teufel dahinter. Beispiele dafür gibt es ohne Zahl, im Kleinen ebenso wie im Großen. Denken wir etwa nur an die vor ein, zwei Genera­tionen noch geltende medizinische Lehre, Babys einfach schreien zu lassen, weil das ihre Lungen stärke. Oder an die industrielle Landwirtschaft, die das Zehnfache der Energie verbraucht, die am Ende in der verzehrten Nahrung steckt. Oder an Regierungsbeschlüsse, die unsere Kinder zu Haus­arrest in einem Klima von

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Angst und Schrecken verurteilen, ohne an die Folgeschäden zu denken, und die uns dazu zwingen, sich von sterbenden Angehörigen nicht einmal mehr verabschieden zu dürfen. Wenn der Irrsinn zur Normalität wird, kann das für uns nicht ohne Folgen bleiben. Die Gesellschaft von heute lebt jedenfalls alles andere als entspannt, nämlich sozusagen im Dauerstress, der durch eine geradezu unheimliche Beschleunigung in allen Bereichen nochmals verstärkt wird. Das System verlangt uns immer mehr ab, wird immer hektischer und zerstreuter – und wir mit ihm. Wir sind in ständiger Unruhe, sind permanent getrieben, etwas Neues zu suchen, uns im Außen zu orientieren. Gebannt verfolgen wir unsere „Informanten“: Face­book, Influencer, Medien, Werbung und den Tsunami von Bildern einer „Show-Gesellschaft“. Wir schlucken Drogen und Netflix-Menüs. Getrieben von der Sehnsucht nach einem Moment der Illu­sion von Wohlbefinden. Wir lächeln und amüsieren uns, so oft es nur möglich ist. Zu Tode, wie der Medien­kritiker Neil Postman („Das Fernsehen wurde nicht für Idioten erschaffen, es erzeugt sie“) bereits 1985 anmerkte. Vergangenheit und Zukunft : irrelevant Was dabei zählt, ist lediglich die momentane Gegenwart. Sowohl Vergangenheit als auch Zukunft verlieren ihre Bedeutung, und das ist wohl einmalig in der Zivilisationsgeschichte. Frühere Generationen hingegen, daran erinnert der Historiker Christopher Lasch, betrachteten „die Vergangenheit als politische und psychologische Schatzkammer“, aus der man lernen konnte. Das Gefühl einer geschichtlichen Fortsetzung stiftete Identität und die Einsicht, in einer Ahnenreihe zu stehen, die aus der Vergangenheit kommt und in die Zukunft führt, weshalb das Wohl der kommenden Generationen in allen Kulturen ein ganz selbstverständliches Thema war. Heute hingegen regiert gegenüber zukünftigen Genera­tio­ nen gesellschaftliche Gleichgültigkeit, auf der Ebene des Einzelnen häufen sich sogar Zweifel, ob man überhaupt noch Nachkommen in die Welt setzen sollte. Heute vorherrschend, so Christopher Lasch, sei jedenfalls die Reduzierung der Betrachtung der Zukunft einzig auf den Scheinwerferkegel des persönlichen Erfolgs: „Für sich selbst zu leben ist die vorherrschende Passion.“ Niemand denke darüber nach, was kollektiv verändert werden müsse, stattdessen stünden allein die Selbsterhaltung, das persönliche Überleben und der Kult des „persönlichen Wachstums“ im Fokus – Maßnahmen zur Verlängerung des eigenen Lebens inklusive.


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