B E Z I E HU N G
FAS T VERLIEBT Was ist das richtige Ausmaß an Verletzlichkeit?
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ie nette, gutgekleidete Kollegin, die keinen Geburtstag vergisst, sich nie krankmeldet, immer ihren Schreibtisch aufräumt – datet seit Jahren, findet keinen Partner. Der lus tige Nachbar, ziemlich groß, charmante Lachgrübchen, interessanter Job – datet seit Jahren, findet keine Partnerin. Die schöne Karrierefrau, der aufmerksame Künstler, die menschlich so angenehme Aktivistin: In meinem Umfeld wimmelt es nur so von Dauersingles und Serienmonogamisten, die sich eigentlich etwas anderes wünschen. Und zwar, ganz plump und unindividualistisch: Liebe. Für immer. Kennen Sie auch dieses seltsame Phänomen? Dass Sie Leute im Bekanntenkreis haben, die Sie richtig toll finden und die jahrelang nach einem Partner suchen, aber einfach keinen finden? Ich frage mich ja, was die für Leichen im Keller haben. Für meine engeren Freunde unter den Dauersingles kann ich diese Frage sogar beantworten: keine. Zumindest haben sie keine gröberen Macken als Britney Spears, und die lebt ja auch ständig in Beziehung. Woran liegt es also, wenn man völlig normal ist, vielleicht sogar ein ziemlich toller Mensch – aber den richtigen Partner findet man einfach nicht? Schaue ich auf meine eigene Dating-Biografie zurück, hatte das Gelingen oder Nichtgelingen von Beziehungen und Beziehungsversuchen immer etwas mit meiner eigenen Verletzlichkeit zu tun. War ich verletzlich genug, um mich ehrlich zu zeigen, wie ich war – auch auf die Gefahr hin, dabei verwundet zu werden? Und war ich, das ist genauso wichtig, nicht zu verletzlich und unsicher, um mich wegen jeder Kleinigkeit, die das Gegenüber sagt, verrückt zu machen? Einer meiner Freunde ist schon so lange Single, dass ihn jede Frau nach dem ersten Date latent nervt. Eigentlich will er, dass alles so bleibt, wie es ist. Schon der leiseste Hauch von Veränderung – der jeden Menschen umweht, den wir in unser Leben lassen – treibt ihn in die Flucht. Im Prinzip würde er am liebsten seinen Kapuzenpullover daten, aber das geht ja nun auch wieder nicht. Am anderen Extrempunkt steht eine Freundin von mir, die nach jedem Treffen mit einem neuen Mann so irritiert ist, dass sie eine Extrastunde bei ihrem Psychologen buchen muss, um jede seiner Äußerungen auf die Goldwaage zu legen. Der eine macht sich gar nicht verletzlich, die andere ist zu verletzlich: Beides macht das Liebe-Finden schwer. „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren“, wusste Adorno. Ich glaube, es gehört zu jeder intimen Beziehung, dass beide sich verletzlich zeigen – und genauso muss man darauf vertrauen, dass der andere einen deswegen nicht unterbuttert. ■ Diese Kolumne aus Claudia Schumachers Serie „Fast verliebt“ ist zuerst in der Weltwoche erschienen. 74
R EL AX Magazin 2022
➝ Fortsetzung von Seite 71 Analytikern und Coaches, die dem nach sich selbst suchenden Selbst den Weg aus dem Irrgarten unbewusster Blockaden und Hemmungen weisen sollen. Das Karussell narzisstischer Selbstbespiegelung dreht sich immer schneller und schneller. Ursache des jeweiligen Unwohlseins ist nicht etwa die eigene infantile Persönlichkeitsstruktur, die das selbstmitleidige Ich in eine Infantilisierungsspirale treibt, sondern – wahlweise – die Eltern, die Schule, der Partner oder die Gesellschaft. Infolge dieses zum Scheitern verurteilten Befreiungsversuches sind inzwischen auch die letzten Restbestände alteuropäischer Kultur nahezu abgeräumt und desavouiert. Doch der Mensch ist noch immer nicht bei sich. Die Rebellion im Namen von Emanzipation und Selbstsein greift nicht mehr. Letztlich zerschellt die Überwindung des umfassenden Entfremdungsgefühls an seinen eigenen Widersprüchen. Denn je heterogener eine Gesellschaft wird und je schneller soziale Beziehungen, Institutionen und Präferenzen sich wandeln, desto kleiner wird die Basis an gemeinsamen Überzeugungen, Ritualen und Regeln und umso schneller schwindet damit die Gewissheit von Stabilität und Orientierung. In dem Versuch, die dadurch entstehende Verunsicherung zu kompensieren, organisiert sich die Gesellschaft in immer neuen Strukturen. Der Komplexitätsgrad nimmt zu. Die damit einhergehende Un übersichtlichkeit und Regelungsdichte droht den Einzelnen zu anonymisieren und ohnmächtiger zu machen. Am Ende steht der verlorene Mensch, der seine Verlorenheit nicht einmal mehr bemerkt. Das falsche Bewusstsein wird zum wahren Bewusstsein. Ideologie geht in Wirklichkeit auf. Dass die Entfremdungskritik seit Jahrzehnten aus der Mode gekommen ist, kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Denn Entfremdungskritik setzt ein Bewusstsein für Entfremdung voraus, also etwas, das in den hochtechnisierten Emanzipationsgesellschaften westlicher Prägung nur noch unterschwellig vorhanden ist. Allenfalls im Konsumverhalten deutet sich bezeichnenderweise die Sehnsucht nach Authentizität an. Denn auch das Ursprüngliche und Unverfälschte wird konsumierbar. Jeder Bioladen, jedes handgeschmiedete Küchenmesser und jedes das herrliche Landleben beschwörende Hochglanzmagazin ist ein Zeugnis dieses Bedürfnisses nach dem Echten. Der an den Segnungen der Zivilisation zweifelnde Wohlstandsbürger bekämpft seine unterschwellig empfundene Entfremdung mit Ökoprodukten, handgenähten Arbeiterstiefeln und Craft Beer. Die Vorstellung, man könne mit Hilfe von Selbstverwirklichungsstrategien, Selbstoptimierungskonzepten, Eskapismus oder einfach dem richtigen Lifestyle sich selbst finden, ist lächerlich und die Sehnsucht nach dem Authentischen naiv. Alle ideologischen, politischen oder konsumistischen Versuche, die Entfremdung zu überwinden, scheitern zwangsläufig. Das Ergebnis ist der endgültige und umfassende Autonomieverlust, der sich selbst nicht mehr wahrnimmt, da er sich als selbstbestimmt begreift. So schraubt sich der Mensch der Moderne in eine Spirale der Selbstentfremdung hinein, in der die Methoden zur Selbstbefreiung ihn immer weiter in ein Netz gesellschaftlicher und ideologischer Abhängigkeiten treiben. Die allgegenwärtige Selbstverwirklichungspropaganda wird zum Kerker. ■ Alexander Grau ist Philosoph und Publizist, der Text eine gekürzte Fassung der Einleitung seines neusten Buchs: „Entfremdet. Zwischen Realitätsverlust und Identitätsfalle“. Zu Klampen Ver lag, 14 Euro.