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An Zéro“, eine Doku-Fiktion über Cattenom

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Appetizer

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Es geht im Film nicht nur um die gesundheitlichen Folgen einer möglichen Verstrahlung, sondern auch um gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Auswirkungen.

Countdown

Was wäre, wenn ein schwer wiegender Unfall im Kernkraftwerk Cattenom dazu führen würde, dass Luxemburg von der Landkarte verschwindet? Mit dieser Frage setzt sich die Doku-Fiktion „An Zéro“ auf höchst beängstigende Weise auseinander.

Emma will weg. In Luxemburg sei nichts los. Kein Krieg. Keine Krisen. Nur Skandälchen, die keine Schlagzeilen wert sind. Doch dann taucht in den sozialen Netzwerken ein in Cattenom gedrehtes Video auf, in dem aus einem der Reaktoren schwarzer Rauch aufsteigt, und plötzlich steht die junge Journalistin vor einer schwierigen Entscheidung: entweder das Nötigste in eine Tasche packen und so schnell wie möglich abhauen oder vor Ort bleiben und die Nuklearkatastrophe dokumentieren. Emma (Sophie Mousel) macht sich nicht aus dem Staub und wird schließlich – zusammen mit ihrer Großmutter und der gesamten Bevölkerung des Landes – nach Frankreich evakuiert. Im Nachhinein setzt sie sich für den Whistleblower ein, der vor den Behörden Alarm geschlagen und dadurch wahrscheinlich etliche Menschenleben gerettet hat.

Soviel zur Fiktion von „An Zéro – Comment le Luxembourg a disparu“. Unterbrochen werden die Spielfilmszenen durch Interviews, in denen Experten und Expertinnen aus unterschiedlichen Bereichen erklären, was im Ernstfall tatsächlich passieren wird. Die Einschätzungen reichen von den ernüchternden Aussagen eines CGDISLeiters, dass niemand wissen würde, was im Fall eines Supergaus zu tun sei, bis hin zum nichtssagenden Hinweis von Umweltministerin Carole Dieschbourg, dass es ein Luxemburger Entschädigungsgesetz für Atomkatastrophen gibt. Weitaus erschütternder sind die Feststellungen, dass die Luxemburger mit dem Verlust ihres Staates auch ihre Sprache und ihre Kultur verlieren werden. Alles in allem geht es nicht nur um die gesundheitlichen und psychologischen Folgen einer möglichen Verstrahlung, sondern vor allem um gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Auswirkungen. In welchem Nachbarland würden die zu Flüchtlingen gewordenen Luxemburger aufgenommen werden? Was geschieht mit den verseuchten Wohngebieten? Was bleibt vom Großherzogtum in Erinnerung?

Die Fragen, die Julien Becker und Myriam Tonelotto (die sich von der wissenschaftlich recht fragwürdigen Endfassung, die am 21. April auf arte ausgestrahlt wird, distanziert hat) aufwerfen, sind alle äußerst erschreckend. Und sogar falls die Realität nicht derart verheerend sein würde, wie sie in dieser Anti-Atomkraft-Produktion gezeigt und beschrieben wird, bleiben die grausamen Erfahrungen aus Tschernobyl und Fukushima. Die Sterblichkeitsrate wird vermutlich steigen. Ebenso die Zahl an Krebserkrankungen und genetischen Mutationen. Der Kameramann, der in „An Zéro – Comment le Luxembourg a disparu“ immer wieder in die für viele tausend Jahre unbewohnbare Sperrzone zurückkehrt, muss sein journalistisches Engagement mit dem Tod bezahlen. Emmas Schicksal und das der Familie des Anwalts (Luc Schiltz) bleiben derweil offen. Was indes feststeht: Mit dem Leben in Luxemburg hat das Leben in den Lagern nichts gemein.

Es versteht sich von selbst, dass „An Zéro – Comment le Luxembourg a disparu“ die Zuschauer aufrütteln und die Diskussion, ob der Luxemburger Staat die Schließung Cattenoms vorantreiben und gegebenenfalls sogar mitfinanzieren soll, erneut anfachen will. Was Myriam Tonelottos Ablehnung des umgestalteten und ihrer Meinung nach ideologisch gegen Luxemburg gerichteten Films betrifft, wird ihre „objektivere“ Version des Projekts unmittelbar nach der Erstausstrahlung online veröffentlicht. Obwohl es auch mich gestört hat, dass von Luxemburg ein sehr negatives Bild gezeichnet wird und man mitunter sogar das Gefühl hat, in einem komplett uninteressanten und unwichtigen Land Europas zu leben, ist mir die Botschaft des Films wichtiger als jeglicher Patriotismus. Der Countdown läuft. Und solange wir unsere Aufmerksamkeit lieber auf die nächste Ziehung der Lottozahlen richten als darüber nachzudenken, dass wir jederzeit Opfer einer nuklearen Katastrophe werden könnten, werden die Reaktoren in Cattenom weiter qualmen. Voraussichtlich noch ein halbes Jahrhundert lang.

Text: Gabrielle Seil  Fotos: arte

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