Revue 2022/22

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POLITIK & WIRTSCHAFT

Auf schmalem Grat Die Demokratie gerät weltweit unter Druck. Hierzulande stand sie am 6. Juni 1937 beim Referendum über das „Maulkorbgesetz“ auf der Kippe. Die Nachricht ist alarmierend. Dem Bertelsmann Transformationsindex (BTI) war im Februar zu entnehmen, dass es erstmals seit 2004 wieder mehr autokratische als demokratische Staaten gibt. Von 137 untersuchten Ländern waren nur noch 67 Demokratien. Die Zahl der Autokratien stieg auf 70. Die Untersuchung hatte außerdem ergeben, dass einige demokratische Staaten zunehmend autoritäre Tendenzen aufweisen. Die Europäische Union ist nicht nur von autoritären Staaten umgeben, wie etwa Russland, Belarus oder Türkei, auch innerhalb der EU haben einige Staaten wie etwa Polen oder Ungarn die Rechtsstaatlichkeit sowie die Presseund Meinungsfreiheit eingeschränkt. Nicht auszudenken wäre es gewesen, wenn etwa im April die rechtspopulistische bis rechtsextreme EU-Gegnerin Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewonnen hätte. Dass derweil Luxemburg nach Angaben der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zu den zwölf stabilsten Demokratien der Welt gehört, wird gerne als selbstverständlich betrachtet. Doch nicht erst im Zweiten Weltkrieg, sondern 1937 hing das Schicksal der luxemburgischen Demokratie an einem seidenen Faden. Damals vor 85 Jahren hätte das „Gesetz zum Schutz der politischen und sozialen Ordnung“, das sogenannte „Maulkorbgesetz “, fast die kritischen Stimmen im Land mundtot gemacht. Wäre es in Kraft getreten, hätten nicht genehme Parteien verboten werden können. „Es hätte den autoritären Staat eingeläutet“, schreibt die Historikerin Renée Wagener in einer kürzlich in der woxx erschienenen Artikelserie. Die knappe Ablehnung des Maulkorbgesetzes in dem Referendum vom 6. Juni 1937 gilt daher als Erfolg der Demokratie. Die Luxemburger hatten bis dahin nur einmal mit einem Referendum Erfahrung gemacht: 1919 hatten sie sich für die

Beibehaltung der Monarchie als Staatsform und für eine wirtschaftliche Union mit Frankreich ausgesprochen (allerdings wurde dies von den Franzosen abgelehnt, sodass es 1922 zu einer belgisch-luxemburgischen Wirtschaftsunion kam). Das Instrument des Plebiszits war in mehreren Ländern Europas zunehmend populär geworden. „Das Referendum war“, schreibt Wagener, „noch stärker vielleicht als das allgemeine Wahlrecht, der Ausdruck einer Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger an der politischen Lösungsfindung, beide waren sie Symbole für den Bruch mit dem alten System, das die kleinen Leute ausgeschlossen hatte, und für die nun angebrochene demokratische Ära, die unter dem Zeichen der ‚Volkssouveränität‘ stand.“ Demnach modernisierte und demokratisierte sich die luxemburgische Gesellschaft, doch das nächste Referendum sollte erst 1937 abgehalten werden. Ein Gesetz zur Durchführung von Referenden blieb aus, der Entwurf dazu landete in den Schubladen des Parlaments. Vor allem die Arbeiter-Partei (AP), Vorläufer der LSAP, setzte sich für die Stärkung der direkten Demokratie ein. Im Jahr 1930 verlangte der AP-Abgeordnete Pierre Krier von der Regierung eine Reform, damit ein Plebiszit nicht nur per Gesetz, sondern auch mit den Stimmen eines Drittels der Abgeordneten herbeigeführt werden könne. Daraufhin wurde ein Gutachten zur Verbesserung des Referendumssystems ausgearbeitet. Mehr geschah nicht. Die 1921 entstandene Kommunistische Partei Luxemburgs (KPL) wurde von der regierenden Rechtspartei (RP) zunehmend als Gefahr betrachtet. Innerhalb der CSV-Vorläuferpartei regten sich zu jener Zeit allgemein mehr und mehr antidemokratische Tendenzen. In einer Artikelserie im Luxemburger Wort etwa tauchten im Herbst 1933 Forderungen auf, die sich am österreichischen

„Austrofaschismus“ orientierten Modell des Ständestaates orientierten: Stärkung der Regierungsbefugnisse „auf einer christlichen Grundlage, Stärkung der Berufskammern, Einschränkung der Befugnisse des Parlaments bezüglich der Gesetzgebung – und die Ausschaltung aller Parteien „mit unchristlichen und darum staatsfeindlichen Programmen“. Am 9. November 1933 forderte der damalige Premierminister Joseph Bech (RP), die KPL zu verbieten. Bech legte im Jahr darauf einen Gesetzentwurf vor, mit dem er die Praxis der damals gängigen Anwendung von Regierungsvollmachten auf die „Verteidigung der politischen und sozialen Ordnung“ ausweiten wollte. „Gemeint war damit das Verbot von Parteien und Gruppierungen, die nach Ansicht der Regierung die


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