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Jay Earley & Bonnie Weiss Befreiung vom Inneren Kritiker
Michael Armbrust & Anja Link
Robert Haringsma
Borderline im Thialog
Stärken Sie Ihr Selbstvertrauen!
Der Innere Kritiker ist der Teil von uns, der uns verurteilt, beschämt und dafür sorg, dass wir uns unzulänglich ftihlen. Statt ihn zum Schweigen zu bringen, könnten wir versuchen, ihn als Verbündeten zu gewinnen. Mit dem Ansatz der Systemischen Therapie mit der lnneren Familie (IFS) lernen Sie, wie Sie Ursachen selbstsabotierenden Verhaltens entdecken und ein verbessertes Selbstwertgefühl aufbauen können.
Die Autoren beleuchten Borderline aus allen drei Blickwinkeln: Gemäß des Trialog-Gedankens wird aufgezeigt, wie Betroffene, Angehörige und Fachleute im wechselseitigen Austausch voneinander lernen und profitieren können. Sie beschreiben typische Herausforderungen im Miteinander, bieten Lösungen an und schaffen Verständnis für die Angste und Bedürfnisse des jeweils anderen.
§7ie viel Selbswertrauen ist optimal? §7ann schätzen wir unsere Kompe-
terr,en richtig ein, und wann unter- oder überschätzen wir uns? Robert Haringsma unterscheidet zwei Säulen des Selbstvertrauens: die Überzeugung, als Mensch etwas wert zu sein ('§7ürde), und eine gute Kenntnis der persönlichen'§7'erte (Authentizität). Er stellt
wirkungsvolle Strategien für ein besseres Selbstvertrauen vor.
PRAXIS KOMMUNIKATION Das Magazin für Profis. Und solche, die es werden wollen.
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und möchten gern erfahren, was lhre Kolleglnnen so treiben? sind brennend daran interessiert, was auf dem weiten Feld der Trainings- und Beratungsbranche aktuell geschieht? Sie lieben es, wenn Lektüre Sie inspiriert und unterhält - und gleichermaßen Orientierung gibt über Methoden, Konzepte und Trends? Sie wünschen sich Praxis-Berichte über die Veränderungsarbeit und öffnen sich ebenso gern theoretischen Ansätzen und Forschungserkenntnissen, die verständlich aufbereitet sind? Sie schätzen ein geistiges Umfeld, das sich am humanistischen Menschenbild orientiert?
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I
Liebe Leserin, lieber Leser Louis van Gaal, Fußballtrainer, baut sein Trainingskonzept auf vier Schlüsselsituationen auf: ,'Wir haben den Ball. Wir verlieren den Ball. Der Gegner hat
den Ball. Der Gegner Verliert den Ball." Simple Grundregeln, wie man sich in diesen vier Situationen verhält, sind seiner Meinung nach Erfolgsgaranten
für ein erfolgreiches Fußballspiel. Als Moses mit der Gesetzestafel vom Berg Sinai herunterkam, verkündete er den Wartenden eine gute und eine schlechte Nachricht: ,,Ich habe IHN von 15 auf 10 Gebote herunterhandeln können. Aber leider ist Ehebruch noch dabei." So enttäuschend das vielleicht für manche aus dem Volk Israel gewesen sein mag - die 10 Gebote ersparten ihnen (und ersparen auchunsimmernoch) dieMühe, ständig neu definieren zu müssen, was richtig und was falsch ist' Moses und van Gaal in einem Atemzug zu nennen mag seltsam klingen. Aber beide haben etwas
Heuristiken wie diese (und weitere, die wir rn unserer Titelgeschichte aufSeite 18 vorstellen) werden in unserem Leben immer wichtiger. Denn die
Komplexität des Alltags nimmt ständig zu' Es ist unmöglich, auf jedem Gebiet, das für unser Leben von Bedeutung ist,wirklich Bescheid zuwissen. Wer hat schon die Zeit, Kurse zu besuchen, um die Kamerafunktion seines Smartphones bis ins Letzte zu begreifen? Kann man je wirklich wissen, wie man am besten sein Geld anlegt? Einfache Regeln helfen uns, die Komplexität zu reduzieren, sie schlagen eine Schneise in die Unübersichtlichkeit.
Die Entlastungsfunktion dieser Heuristiken ist enorm. Deshalb sollten wir sie nicht nur intuitiv anwenden, sondern viel bewusster in unseren Alltag integrieren. Sieverhelfen uns zu der Einfachheit, nach der wir uns doch alle sehnen.
gemeinsam: SieverwendenHeuristiken (griech. heur i skein = finden), einfache Faustregeln, um ein komplexes Geschehen (hier das Zusammenleben eines
Volkes, dort ein 90-minütiges Fußballspiel mil22 Akteuren) zuvereinfachen. Heuristikenermöglichen Entscheidungen und effizientes Handeln' selbst dann, wenn man nicht alle Fakten kennt. Gerade unter,,Bedingungen begrenzter Rationalilät" (bounded rationality), wie derPsychologe undNobelpreisnannte, sind einfache Regeln unverzichtbar. Wenn wir zu wenig Zeit haben, es zu viele unüberschaubare Informationen gibt oderwenn uns schlicht das Wissen fehlt, bewahren uns Faustträger Herbert Simon
es
u. n u
ber@ be ltz.d e
regeln vor dem Stillstand.
Eine Faustregel, die wir alle anwenden, ist zum Beispiel die,,Rekognitionsheuristik". Der Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, hat sie in einer interessanten Studie belegt. Er befragte in Deutschland Leute, welche Stadt wohl mehr Einwohner habe - Detroit oder Milwaukee -, und so gut wie alle wussten die richtige Antwort: Detroit. Nicht, dass die Befragten so fit in Erdkunde gewesenwären. Nein, sie wandten nur eine Regel an, die da lautet: ,,Wenn du den Namen einer Stadt, aber nicht den der anderen erkennst, dann schließe daraus, dass
erkannte Stadt mehr Einwohner hat." PSYCHOLOGIE,HEUTE
11l2O15
diewieder-
/il-,rZ, /At/rrübrigens: Falls Sie sich Gedanken machen, wie der Winter wird und ob Sie Ihren Skiurlaub buchen sol-
hilft diese Faustregel aus dem Bauernkalender weiter: ,,Wenn golden und warm der Oktober sich zeigt, der Ianuar zu grimmiger Kälte neigt." Ien,
7 IN DIESEM HEFT
TITEL 18 Den Alltag managen Simple, aber umso wirksamere Regeln für ein einfacheres Leben Von Donald Sull und Kathleen M. Eisenhardt
26 Einfachheit muss hart erarbeitet werden Der Manager Benedikt Weibel erklärt, warum wir ,,Ockhams Rasiermesser" kennen sollten, wenn wir Komplexität abbauen wollen
L2
l
Im Fokus: ,,Alle suchen eine starke Vaterfigur" Die Psychoanalytikerin Gertrud Hardtmann und der Psychologe Ahmad Mansour diskutieren die Gemeinsamkeiten von rechtsradikalen und islamistischen Jugendlichen
2B
Wie früher in der Familie Wer häufig Schwierigkeiten im Job hat, sollte die Beziehung zu Eltern und Geschwistern Revue passieren lassen Von Anne-Ev Ustorf
36 Warum
wir lieben, wie wir lieben
ln der Sexualität ist heute vieles erlaubt, was früher als pervers galt. Doch wie entstehen überhaupt,,besondere" sexuelle Vorlieben? Von Michael Kraske
42 Aus dem Takt Wir haben unseren Rhythmus verloren, leben gegen die innere Uhr Von Barbara Knab
46 Rhythmisch durch den Tag
TITELTHEMA
Den Tagesablauf auf den Biorhythmus
abstellen: Wie geht das? Von Judith Rauch
58 Resilienz: Das missverstandene Konzept lnnere Widerstandskraft wird als Allheilmittel für Krisen jeder Art gefeiert - doch genau diese Haltung verschlimmert alles Von Thomas Gebauer
4
'l 6 IÖ
Die Komplexität unserer Lebenswelt droht uns mehr und mehr zu überfordern. Ständig müssen wir entscheiden, abwägen, Optionen ergreifen. Ein verblüffend mächtiges Hilfsmittel, all dies zu managen, sind: Regeln - simple Regeln! Sie fokussieren uns auf das Wesentliche, sodass wir den unübersicht' lichen Rest ausblenden können PSYCHOLOGIE HEUTE 1]/2O]5
64 Lasst uns einen Bananenbaum umarmen! Wenn Psychotherapeuten Menschen aus anderen Kulturen helfen wollen, müssen sie sich gewaltig umstellen Von Srtsattne Dottner
f 6B
Mit Hungern die Zeit aufhalten Für Experten ist Magersucht noch immer ein Rätsel, doch neue Behandlungsansätze geben Hoffnung
M'.,,i
Von Birgit Schreiber
72 Einfühlung als Waffe
'i'il'u''
Menschen mit emotionaler lntelligenz können sich gut in andere hineinversetzen nicht immer mit hehren Absichtenl
*,
Vorr Yvonrte Vivro
a 6 ZÖ
lmmer wieder Probleme mit dem Chef? Das hat sicher aktuelle Gründe, doch die Wurzeln könnten in die Kindheit reichen. Wiederkehrende Konf likte gehen oft auf das Konto früher Beziehungserfahrungen, etwa mit dem Vater. Sie bilden das Schema für unsere Begegnungen als Erwachsene
RU BRI KEN 16 Therapiestunde Kreative Ekstase und destruktives Chaos Von Rainer Mattlins Hohrr-Hadulla
34 Psychologie nach Zahlen Sex: Wie oft, mit wem, wie? Von Thonta s S aur rt Aldelr off
42
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PSYCHOLOGIE HEUTE'I1,/2OI5
24/7 - das ist die Chiffre für das neue Lebensgefühl: 24 Stunden aktiv, und das sieben Tage die Woche. Wir haben uns daran gewöhnt, spätabends ein' kaufen zu gehen oder nachts im Fitnessstudio zu trainieren. Doch das Leben wider den Biorhythmus hat seinen Preis: Es macht uns unausgeglichen und krank
48 Studien-Platz Die Probleme der Schönen Von Annette Schäfer
78 Pehnts
Alltag
Einladung zum Fest Vort Attnette Pehnt
3 6 52 BO 91 92 93 94 95
Editorial Themen & Trends
Körper& Seele Buch & Kritik
Medien Leserbriefe lmpressum lm nächsten Heft Markt
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TH EM EN&TR EN DS
Manchmal ver-
Freundschaft aufden ersten Blick Manchn-ralstirnr-nt's einfach: Man lernt sich kennen, und es funkt - aber r.richt in der Liebe, sondern in
gleicher Vorlieben und eines ähnlichen Hut-uors; ein gefälliges Wesen - gegenseitige Zuneigung, Güte ur-rd
der Freundschaft. Obwohl man sich eigentlich r-roch fremd ist, fühlt mar-r sich dem anderen nahe. Wodurch entsteht diese starke Syn-rpathie zwischen zwei
AufrichtigkeiU Ahnlichkeit - gen.reinsame Werte und Sehnsüchte ; sowie wechselseitige körperliche Attraktivität - wobei dieser Faktor nicht so relevant zu sein scheint wie die anderen, so die Autorer.r der Studie.
Personen? Welche Faktoren begünstigen das Empfir-rden einer frer"rr.rdschaftlichen Verbindung so kurz
Menschen, die diese Freundschaftschen-rie erlebt
niich der Begegnung? Wissenschaftler der California State University' haben sicl-r jetzt n-rit diesen-r Phänomen beschaftigt. Sie befragten 688 Personen, die diese Chemie nach
haben, sind nacl-r der Analyse eher vertrauensvoll, zuverlässig und aufgeschiossen. Frauen und Jüngere
eigenen Angaben bereits erlebt hatten, unter anderem
ders sozialisiert sind ais Männer, vermuten die For-
zu den individuellen und gemeinsamen Anteilen an
scher, füngere mehr Gelegenheit, Zeit
der Verbindung, zum Beispiel mit Aussagen wie
cen haben, sich auf andere einzulassen, und Weiße weniger vorsichtig vorgehen, weil sie nicht so starken
,,Mein Freund und ich haben die gleichen Interessen". Bei der Beantwortung sollten die Teilnehmer an eine Person denken, mit der sie sich spontan angefreundet hatten. Aus
der.r
Antworten extrahierten die
Forscher fünf Faktoren. An-r wichtigsten für das Entstehen dieses Gefühls sind demnach offenbar: eine Offenheit auf beiden Seiten-dabei geht es ura Kommunikation und Selbst-
offerrbarungen; gemeinsame Interessen
'6
- das Teilen
."^.^:',;?§rL'J
steht man sich einfach sofort! Hinter dem Geheimnis der besonderen Freundschaf tschemie verbergen sich Iaut einer Studie fünf Faktoren
sowie Personen mit einem europäischer-r undweißer.r
Hintergrund erleben sie häufiger
-
weil Frauen an-
rnd Ressour-
Diskriminierungen ausgesetzt sind. Allerdings enthielt die Stichprobe auch deutlich mehr weibliche und zudem junge Teilnehmer, weshalb vor allen.r geschlechtsspezifische Aussagen und jene zun-r Alter mit Vorsicht zu behandeln sind. Kel y Campbel u.a.: Friendship chemlstry An exam nat on of underly ng factors. The Social Science JovAa ,52/2 2015. 239 -247. DOI: lO.lOl6,/j soscij.2Ol5.Ol.OO5
PSYCIOLOGIEHEUTE 1]/2015
Wer ist kompetenter: Ein Meteorologe,
dereineRegenwahrscheinlichkeit von 3O Prozent vorhersagt, oder einer,
1}.
der von 70 Prozent spricht? Die meisten Menschen
würden f,älschlicherweise für Letzteren plädieren. Dabei sagt die angegebene Zahlüber dessen Kompetenz ebenso wenig aus wie über die Genauigkeit seiner Vorhersage. Forscher haben diesen
Die Vorspeise ist der Feind des Hauptgerichts: Schmeckt der erste Gang, beispielsweise
Bruschetta, köstlich, beurteilen Speisende laut einer Studie den zweiten weniger großzügig. lst er dagegen nicht ganz so lecker, schneidet die gleiche nachfolgende Mahlzeit - in der Untersuchung Spaghetti aglio e olio - besser ab. Schuld ist offenbar die gelernte Menüstruktur, nach der wir nach dem Appetizer das eigentlich APPetitliche erwarten. DOI: lO.lOl6,/j.foodqual.2Ol5 O5.OO9
Effekt bei llrteilen zu Gewinnchancen von Basketballteams, Wachstumsentwicklungen von Unternehmen und Aktienbewegungen festgestellt. DOt: tO.t509,i jmr t2.O526
Arbeitslosigkeit verändert die Persönlichkeit
Harte Zeiten h i nterla ssen Spuren: Ohne Job zu sein kann den
Kaum ein Lebensereignis kann die Persönlichkeit
Chara kter
eines Menschen so stark verändern wie der Verlust der Arbeit. Das hat jetzt Christopher Boyce von der britischen University of Stirling anhand von Daten
grundlegend verändern
des deutschen sozio-ökonomischen Panels nachge-
wiesen.
Arbeitslose Männer werden demnach zunächst verträglicher und offener für neue Erfahrungen. Boyce interpretiert dies als Anpassung an die Notwendigkeiten der lobsuche. Doch wenn die Entlassenen keine Stelle fii-rden, geht es mit diesen Charakterzügen abwärts. Wer beispielsweise noch in Arbeit durchschnittlich verträglich war, gehört auf dieser Dimension nun zlllrt unteren Sechstel. Bei Frauen
Ein ähnliches Musterzeigen Frauen beim Merkmal Gewissenhaftigkeit, während Männer in diesem Be-
reich weiter absacken. Möglicherweise kommen sie besser mit der Arbeitslosigkeit klar, wenn sie Pflicht-
erfüllung und Leistungsmotivation nicht mehr
so
beiden Eigenschaften von Anfang an berg-
hochhalten. Tragischerweise wären aber gerade solche
- möglicherweise weil sie oft keine neue Stelle suchen, sondern sich el-rer in Richtung Familie orientieren. Dafür erholt sich die Offer-rheit für Neues bei ihnen im vierten Jahr fast vollständig, während sie bei Männern immer weiter sinkt.
zur Gewissenhaftigkeit zählenden Qualitäten nötig, um wieder eine Stelle zu finden. JocHEN PAULUS
geht
es n-rit
ab
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11
/2015
Christopher Boyce u. a.: Personality change f ollowing unemployment Journal of Applied Psycholosy, 1OO/4,2015' 991-lOll. DO :10.1037/aOa3A647
Abschied schmerzt psychisch und physisch: In einer Onlinebefragung
bezifferten mehr als 43OO Teilnehmer aus 96 Ländern die Intensität ihrer emotionalen
Reaktionen nach einer Trennung auf einer Skala von O (keine) bis 1O (nicht auszuhalten) mit
durchschnittlich fastJ, die physischen stuften sie bei etwa 4 ein. Frauen litten demnach etwas stärker als Männer. Der am häufigsten genannte
S6Prozent der Bewohner von Städten mit mehr als 2OOOO Einwohnern wünschen
sich laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Bildung mehr Vogelgezwitscher in ihrem Ort.
Übersteigt die Einwohnerzahl 43 Prozent. 34 Prozent finden in ihrer Stadt kein Geräusch angenehm; ebenso viele stört der Verkehrslärm. Und 42 Prozent wünschen sich mehr Stille in ihrem Alltag. 5OOOOO, sind es sogar
www.wissenschaftsjahr-zukunf tsstadt.de
Grund für das Lebewohl war bei beiden Geschlechtern ein Mangel an Kommunikation. DOli lO.lO37lebsOO0OO54
t §rZ
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Gefühltes Wissen
'J
Sie sind Experte auf einem bestimmten Ge-
biet? Dann kennen Sie sich ja aus - meinen Sie. Tatsächlich fällt es vielen Menschen schwer, zu unterscheiden, wie weit ihr Wissen tatsächlich reicht. Haben sie gewisse Kenntnisse erlangt, neigen sie dazu, zu denken, dass sie sich auch mit artverwandten Themen auskennen. Teils glauben sie gar, In-
formationen zu kennen, die es gar nicht geben kann, weil findige Studienleiter die zugehörigen Objekte ausgeheckt haben. Die Gefahr eines solchen Overclaiming, überbeanspruchens von Wissen, steigt mit dem Gefühl
Den Mund mal
wieder etwas zu weit aufgerissen? Da sind Sie nicht allein: Wir neigen dazu, unsere Kenntnisse zu überschätzen
der eigenen Expertise, hat kürzlich eine Studie aus den USA ergeben. In einer der dafür durchgeführ-
ten Untersuchungen glaubte beispielsweise ein
vom eigenen Kenntnisstand unsere Vor-
Großteil der Probanden, die sich selbst als versiert aufdem Gebiet privater Finanzen verstanden, auch
stellung davon, ob uns ein Bereich vertraut ist, vermuten die Forscher. Selbstwahrgenommene Experten sollten, bevor sie anderen einen Rat geben, also lieber selbst noch einmal prüfen, ob sie sich wirklich auskennen - oder das Wissen doch nur gefuhlt ist.
etwas über mindestens einen von drei erfundenen Begriffen aus einer Liste von l5 zu wissen. In einem weiteren Versuch warnten die Wissenschaftler vor solchen Quatschtermini. Das führte zwar zu einem
Rückgang des Overclaiming
-
trotzdem meinten
83 Prozent, sich bei mindestens einem der erfun-
denen Wörter auszukennen.
'8
Stav Atlr u.a.: When knowledge knows no bounds: Self-perceived expert se predicts clai ms of im possible knowledge. Psycho og ical Science, 26/8, 2015, I295-1303. DOt 1a.117 7 /0956797615588195
PSYCHOLOGIE HEUTE II,/2OI5
Milgram: Widerstand statt []nterwerfung? Offiziell hatte Stanley Milgram l96l zu einer Gedächtnisstudie an die Yale-Universität eingeladen. Tatsächlich untersuchte der US -Psychoioge, wie weit Versuchsteilnehmer seinen Anweisungen folgten. Sie sollten einen Fremden
t!!!!!re?9q!rer?!r??!r!tEtr tl 'tltrrit,tllrr tt r lt t ll I tl I r t t rt
mit Elektroschocks bestrafen, wenn dieser sich nicht richtig an zuvor gelernte Wortpaare erinnerte. Die Schocks reichten bis zur todlichen Stärke von 450 Volt. Was die Probanden nicht wussten: Der ,,Schüler" war ein Schauspieler, und die Schocks wurden nichtwirklich verabreicht.
Die Ergebnisse des Experiments sind weltbekannt. A1le Studienteilnehmer gingen bis 300 Volt, fast zrvei Drittel bis zum Maximum von 450 Volt' Milgram schlussfolgerte, dass Menschen einen Fremden einfach töten u'ürden, ihnen eine Führungsperson aufträgt' Doch ist das die ganze Wahrheit? Immer wieder haben Forscher die Versuche neu analysiert. Tatsächlich gibt es von dem Experiment mehr als 30 Varianten. Nicht alle brachten der-
wenn
es
art dramatische Befunde hervor. Der Soziologe Mattherv Hollander hat nun sogar in den Original-Tonmitschnitten Zeichen des Widerstands gefunden. Nach seinen Analysen zeigtendie Probanden in knapp der Hälfte der 117 Durchläufe, dass ihnen die Fortsetzung des Experiments widerstrebte. Teils geschah das subtil, indem sie schwiegen und zögerten fortzufahren, teils deutlicher durch Fluchen, Knurren und Seufzen, nachdem der Schüler vermeintlich vor Schmerz aufgeschrien hatte. Nicht wenige Probanden brachen in hysterisches Lachen aus alles Verhaltensweisen, die den Fortlauf des Versuchs verzögerten. Doch auch offensichtlichen Widerstand gab es: Einige Probanden wandten sich direkt an den Schüler, andere konfrontierten den Versuchsleiter mit ihren Bedenken, mehr als die Hälfte versuchte, das Experiment abzu-
<) cleichktäilg
PSYCHoLoGtEüEUTE ttl2o15
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Die Geschichte von Stanley Milgram, dem Mann hinter der umstrittenen Untersuchung, versucht,,Experimenter" zu erzählen. Einen Starttermin für Deutschland gibt es für den Film mit US-Schauspieler Peter Saarsgard in der Hauptrolle noch nicht
brechen. Den Abbruch wirklich durchgesetzt haben in.r-
merhin 53 der
117
Studienteilnehmer' Von bedingungs-
loser Untenverfung also keirre Spur. Der Psvchologe Alexander Haslam aus Australien kam vor rr'enigen Iahren sogar zu dem Schluss: Die Unterwerfuns, rlie Ililgram sie sah, gab es gar nicht. Er stellte bei
fest:,,Die Versuchsteilnehmer har-rdelten eher, rvie ihr-ren gesagt wurde, wer.rn Milgram ihr Verhal-
seir-rer Ar-ralvse
ten als Gervinn für die Wissenschaft deklarierte." Dachten
die Plobar-rden, sie nähmen an einer kommerziellen Un-
telsuchung teil, widerstanden mehr den Anweisungen. Dacl.rten sie, sie seien Teil einer Studie für die Yale-Universität, fblgten sie eher. Die Menschen glaubter.r, etwas Bedeutsames, Gutes zu tun, so Haslam, und verabreichten deshalb die Schocks - nicht aber, weil sie blind gehorchten. JANA HAUSCHlLD
vati.ew M HoLlander: The repertoire of resistance: Non-compliance w th d rec_ I ves t N,]i gram's "obed ence" exper ments Br t sh Journa of Soc al Psychology' 2Cl5 onl ne vor Print. DOI: lO.l11l/blso.12099
Die Sichere 0ption für das Partnerglück!
Wenn bei lhnen bisweilen der (Lauf-)Schuh drückt, haben Sie sich beim Kauf womöglich durch Marke, Design, Dämpfungs- oder
It
andere Funktionsversprechen verwirren lassen. Dabei ist das Kriterium, das wirklich zählt, nach Ansicht von Forschern der University of Calgary das richtige Bauch- beziehungsweise Fuß9efühl: Empfindet ein Läufer ein Modell als komfortabel, folge es seinem individuellen ,,bevorzugten Bewegungspfad" - und das mindere auch das Risiko von Verletzungen.
/
DOI: 1O.1136/bjsports-2O15-O95O54
dubist ich Sich mit anderen zu vergleichen ermöglicht uns,
uns in unserem Umfeld zu verorten. Manchmal schneiden wir dabei gut ab, manchmal nicht. Wenn unserem Selbstwert aber zu großer Schaden droht, steuern wir gegen, indem wir für uns positive Vergleiche anstellen oder das Ergebnis zu unseren Gunsten auslegen. Unter diesen gedanklichen Schutzschirm lassen wir auch andere schlüpfen - wenn wir sie als zu uns gehorig erleben.
Die Psychologie des
In einer Beziehung wird der Partner häufig Teil unseres erweiterten Selbst: Wir identifizieren
Whistleblowings
uns mit ihm, seinen Erfolgen und Misserfolgen undversuchen, auch ihn bei sozialen Vergleichen
Whistleblowing, das Aufdecken von Miss-
möglichst gut aussehen zu lassen. Empfinden
ständen in Organisationen, ist eine Gewissens-
ihn in Relation zu anderen beispielsweise als we-
entscheidung. Hinweisgeber lvie der ehemalige NSA-Mitarbeiter Edward Snowden befinden sich
wenig relevant ab. Menschen, die sich ihrem Part-
im Zwiespalt zwischen der Loyalität zu ihrem Arbeitgeber und ihrem Gerechtigkeitsempfinden - bei Ntlissständen zwei unvereinbare Dinge, wie die Forscher James Dungan, Adam Waytz und Liane Young schreiben. Sie haben in mehreren Studien zu ergründen versucht, was Whistleblowing begünstigt. Bei Whistleblowern, so ihr Fazit, muss das Gerechtigkeitsgeftlhl dominieren; nur wenige Menschen schaffen es im konkreten Fall tatsächlich, die Gruppennorm zu überwinden und einer Autorität gegenüber ,,ungehorsam" zu sein. Der typische Zrfiräger ist länger in der Organisation beschäftigt, wird besser bezahlt, ist besser ausgebildet, in einer höheren Position und männlichen Geschlechts. Zudem nimmt er Ereignisse haufiger als Konsequenz seines Verhaltens wahr, ftihlt sich also stärker verantwortlich. Er ist extravertierter, proaktiver und versucht, seine Umwelt zu beeinflussen. Und er trifft auf Strukturen, die Whistleblowing begünstigen: Mögliche Wege, über unethisches Verhalten zu berichten, sind ebenso bekannt wie Maßnahmen zum Schutz vor Vergeltung. Förderlich wirkt auch, abweichende Meinungen, die das Gruppenwohl fördern, zu belohnen, so die Autoren, und eine Kultur des ,,konstruktiven Dissenses" zu etablieren. Vor allem in kollektivistischen Gesellschaften, wie sie in Asien verbreitet sind, sei das nicht der Fall, das Geftihl der Abhangigkeit von der Gruppe stärker als etwa in den USA. Whistleblowing werde folglich als negativer wahrgenommen; die Wahrscheinlichkeit, unethisches Verhalten zu übersehen - und darüber zu schweigen -, steigt.
wir
niger gutaussehend, werten wir Attraktivität als
ner nicht so verbunden fühlen, tun das nicht, wie eine Studie der Universität von Toronto nahelegt. Die Forscherinnen zeigten auch, dass wir
in ähnlicher Weise vorgehen, wenn wir Attribumit denen eines Vertrauten von Bekannten vergleichen sollen: Ie näher das Verhältnis ist, als desto unwichtiger stufen wir offenbar die Kategorie ein, in der die Person te eines engen Freundes
schlecht abschneidet. Diesen Mechanismus als Argument zu verstehen, sich in der Beziehung irgendwann nicht
mehr anstrengen zu müssen, ist nach Ansicht der Autorinnen aber fahrlässig: Schneidet der Partner in vielen Vergleichen ungünstig ab, spie-
wir die Bedeutung dieser zwar herunter, im Lauf der Zeit aber werden wir trotzdem weniger Ien
zufrieden mit der Partnerschaft sein. Sabrina Thai, Pene ope Lockwood: Comparing you = comparing mer Social comparisons of the expanded self. Personal ty and Social Psycholoqv Bulletin,4ll7, 2Ol 5, 989-loo4. D otla.117 7 / 01 461 67 215588O94
James Dungan u.a.: The psychology of wh stleblowing. Current Opinion in Psychology, 6,2015,129-133 Dol: lO.lOl6/j.copsyc.2Ol5.07 OO5
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PSYCHOLOGIE HEUTE ]]/2O15
7#, a.' i:
IM FOKUS
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,,Alle suchen
eine starkeVaterfiguf' Warum schließen sich junge Männer rechtsradikalen Gruppen an? Was fasziniert junge Muslime an den Thesen von islamistischen Hasspredigern? Die Psychoanalytikerin Gertrud Hardtmann und der Psychologe Ahmad Mansour diskutieren die psychologischen Gemeinsamkeiten zwischen zwei gefährdeten Jugendgruppen Frau Hardtmann, Sie haben als Psychoanalytike-
rin viele Jahre im Rahmen eines sozialen Trainings mit rechtsextremen Jugendlichen gearbei-
tet und zu rechtsradikaler Jugendgewalt geforscht. Wie sieht die innere Welt der Jungen und Mädchen aus? Welche Sehnsüchte erfüllen sie sich, indem sie radikalwerden? cERTRUD HARDTMANN Alle Jugendlichen sucher-r nach \brbilclcrn, clie sie idealisieren und denen sie nacheifern körrnen. Das ist ir-rgendtypisch und völlig
nonrtrl.
Sit' urüssen Entu,ürfe
frir ihr Leben
fir-rden
und brauchen dafür gute, r,erL'issliche Eltern
r-rr.rcl
anclcrc Erx,achscne, die ihnen dabei helfen. Sie brau-
'12
chen Mütter r,rncl \1iiter, an denen sie sicl-r abarbeiterr ur.rd rnit denen sie diskutierer-r und streiten kör'rnen. Bei first allen rechten jr,rgendlicher.r Straftritern, die ich kenr.rengelerr.rt habe, l-ratten die Vilter die Farrilie 'nerlassen oder rvaren ir-rntrlich abnesencl r-rr-rd des-
interessiert. Ofi sind die (lrolieltern, r,or allent die Großr,riter
ir.r
se Leerstelle
die Bresche gesprLlnsen r"rnd I.raben clie-
eefüllt.
Sie
haben il.rren Er.rkeln Helden-
gescl-rir:hten aus dem Krieg se Anerkennr-rng
erziihlt und auf diesc Wei-
fi.ir ihre eigener.r unverarbeiteter-r
I(ränkunsen gesucl.rt. Bei den Enkelr.r er.rtlucl
sicl.r
der unterdrtrckte Arser, die \\'ut, d.ts Ilessentimerrt einer GrolSelternsenerirtion, clic nicht einsedar.rr.r
PSYCHOLOGIE
IEUTE
I],/2OI5
Die Debatte beschränkt sich viel zu sehr auf die Extremisten. Wi r vergessen diejenigen, die noch nicht gefährlich slnd, es aber bald werden kÖnnten
hen wollte, dass sie verbrecherischen Zielen gedient hatte. Die Enkel hatten ftir die geschönten Heldengeschichten, in denen die Verbrechen der Wehrmacht verschwiegen wurden, ein offenes Ohr und erfüllten sich ihre Sehnsucht nach heldenhaften Vorbildern.
Herr Mansour, Sie engagieren sich in Projekten und lnitiativen gegen Extremismus und beraten
unter anderem Angehörige von radikalislamischen Jugendlichen. Sehen Sie Parallelen? AHMAD MANsouR Es gibt erstaunlich viele Parallelen. Der Wunsch nach Helden ist auch bei radikalen muslimischen Jugendlichen sehr groß. Auch sie sehnen sich nach großen, mächtigen Figuren. Der fehlende Vater spielt auch in muslimischen Familien eine große Rolle, wenn Kinder sich radikalisieren' Alle suchen eine starke Vaterfigur und finden sie im
Bild des strafenden, patriarchalen Gottes. In vielen Familien war der Vater früher eine Autoritätsperson' er war stark, vielleicht sogar mächtig, aber er ist es nicht mehr, weil er es in Deutschland nicht geschafft hat, die Sprache nicht so gut spricht rvie die Kinder, vielleichtniewirklich heimisch geworden ist und deshalb nicht als Vorbild taugt. Ahnlich wie bei den
rechtsextremen Jugendlichen entlädt sich auch in manchen muslimischen Familien beiden Enkeln die Wut der Großeltern. Viele Migranten der dritten Generation sehen sich unbewusst als Befreier ihrer Eltern und Großeltern, die unter schwierigen Bedingungen nach Deutschland gekommen sind, als Gastarbeiter behandelt wurden und viel einstecken mussten. Auch wenn die Biografien von rechtsextremen deutschen und radikalislamischen lugendlichen na-
türlich
sehr verschieden sind, sprechen
wir doch in
beiden Fällen über die dritte Generation, die sich radikalisiert. Diese lugendlichen können sich hervorragend artikulieren im Gegensatz zu den Großeltern, die entwurzelt wurden, sich nie ganz integriert haben
und über ihre Kränkungen nicht sprechen konnten. HARDTMANN Da brechen Konflikte auf, die seit Generationen nicht verarbeitet wurden. Alle rechtsextremen )ugendlichen, mit denen ich gearbeitet habe, kamen aus Elternhäusern, in denen es keine Diskus-
sionskultur gibt. Konflikte wurden verleugnet, oder sie arteten in Streitereien aus, die mit einem Machtwortendeten. IneinemsolchenKlimalerntman nicht, einen kritischen Geist zu entwickeln und sich sein eigenes Bild zu machen. Meinungen werden ganz schnell zu Tatsachen. Geschichten, die nur zum Teil wahr sind, bekommen, wenn sie immer wieder erzählt und nie hinterfragt werden, einen Realitätscharakter' Die Angst vor einer Niederlage, die sie unbewusst von den Großeltern übernommen haben, brachte sie ofPSYcHoLoGTE
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fensichtlich dazu, Schwächere anzugreifen, um sich überlegen zu fühlen. In der Gruppe fühlen sie sich stark, dort geben sie an und führen das große Wort' Sie suchen die Öffentlichkeit und die Provokation' Immer wenn in den Medien über sie berichtet wird, fühlen sie sich toll. Aber die Kehrseite der Heldenfantasie ist der Minderwertigkeitskomplex.
Kann man auch bei radikalislamischen Jugendlichen von einem Minderwertigkeitskomplex spre'
chen, Herr Mansour? MANsoUR Den narzisstischen Wunsch nach Aufmerksamkeit bedienen nicht nur die Anführer rechtsextremer Gruppierungen, sondern auch die islamistischen Prediger perfekt. Sie sind überzeugt davon, dass sie zu einer Elite gehören und eines Tages die Welt beherrschen werden. Für fugendliche, die ein schwaches Selbstwertgefühl haben, ist das ein verlockendes Versprechen. Viele junge Muslime fühlen sich in Deutschland ungerechtbehandelt, sie nehmen
den Westen als islamfeindlich wahr und fühlen sich als Opfer. Aber sie bekämpfen nicht nur die Mehrheitsgesellschaft, sondern auch sich selbst, ihre Wünsche nach Sexualität, Selbstentfaltung und Rebellion.
Im Dschihad geht es nicht nur darum, Unglaubige zu bekämpfen, sondern auch die sogenannten bösen
Seiten in sich selbst, die nach den Aussagen von radikalen Predigern vom Teufel gesteuert werden. Natürlich spielt auch unterdrückter Neid eine Rolle,
Neid auf die Mehrheitsgesellschaft, die mit Sexualität und Entfaltungswünschen viel freier umgeht. Die gesellschaftliche Debatte in Deutschland beschränkt sich im Momentviel zu sehr auf die Extremisten, die Anschläge planen. Wirvergessen diejenigen, die noch nicht gefahrlich sind, es aber bald werden könnten'
sicher nicht leicht, sich dem Gedankengut rechtsradikaler oder radikalislamischer Jugendlicher zu öffnen. Wie ist lhnen das gelungen? HARDTMANN Anfangs hatte ich sehr viele Fragen, ich habe mir ihre Weltsicht immer wieder erklären Es ist ja
lassen, ich wollte verstehen, wie sie zu ihren verqueren 13
IM FOKUS
Die Salafisten sind erfolgreiche Sozialarbeiter. Sie warten vor den Toren der Haftanstalten und versprechen ein neues Leben Ansichten kommen, und habe dabei sehr viel gelernt. Für diese Jugendlichen sind die Ausländer, die heute auch als Flüchtlinge und Asylbewerber kommen, eine echte Konkurrenz. Viele, die in der rechten Szene landen, sind ungelernteArbeitet die sich um einfache
Iobs oder um Lehrstellen bewerben und schlechte Karten haben. In meinen Kreisen muss ich die Ausländer, die nach Deutschland kommen, nicht fürchten.
Mir ist klargeworden,
dass ich
in einer sehr pri-
lst es nicht auc.h menschlich, an Grenzen zu kommen und zu sagen, Schluss jetzt, das kann und will ich mir nicht anhören? HARDTMANN Ich habe den rechtsradikalen JugendIichen immer offen gesagt, wie ich sie erlebe, und dabei konsequent von mir gesprochen. Ich habe ih-
nen nie den Mund verboten, sie aber mit meinen eigenen Erfahrungen konfrontiert und ihnen von meinem Hunger und meiner Angst in Bombennächten erzählt und erklärt, warum ich Hitler schrecklich fand. Dashatsieneugieriggemacht. Dadurchwurden Gespräche möglich. Ich habe auch über meine Enttäuschungen gesprochen. Das gab ihnen die Möglichkeit, von ihrem Geftlhl, im Stich gelassen zu werden, zu reden. Von ihrer Sehnsucht nach Vätern, die ansprechbar sind, sich um sie sorgen und ihnen helfen, einen Arbeitsplatz zu finden. Aber natürlich bin ich auch immer wieder an Grenzen gekommen. Es ist viel von tatsächlich oder mental abwesenden Vätern die Rede, die nicht erreichbar sind
und keinen Halt und keine Orientierung bieten.
vilegierten beruflichen Situation bin und wie schnell man aus seiner eigenen Lebensrealität heraus verurteilt, ohne die andere Seite zuverstehen.Ichhabe mich wirklich für sie interessiert, und das konnte ich nur, weil ich sie als fremd erlebt habe und das Fremde mich
MANsouR Diese offene, neugierige Haltung ist sehr wichtig, um in Kontakt zu kommen. Leider gibt es
Was ist mit den Müttern? MANSOUR Es sind die Mütter, die sich Sorgen machen und in der Beratungsstelle anrufen, wenn die Söhne der Tante plotzlich nicht mehr die Hand geben oder die Cousinen ignorieren, weil es in radikalen Kreisen als Sünde gilt, Frauen auch zur anzuschauen. Gleichzeitig sind es aber auch die Mütter, die die
in unseren Schulen heute kaum Räume, wo fugend-
patriarchalen Strukturen unterstützen, indem
liche offen über ihre Einstellungen sprechen können. Viele Lehrer halten es nicht aus, wenn Schüler radi-
mitmachen. 70 Prozent der radikalen fugendlichen kommen aus patriarchalen Familien. Wenn die Schwester etwas tut, was die Werte der Familie gefahrdet, wenn sie einen Freund hat oder Sex vor der Ehe oder von zu Hause weggeht, dann wird der Bruder verantwortlich gemacht. Dann heißt es, er war
auf eine gesunde Weise auch neugierig macht.
kale Positionen vertreten. Wenn es im Unterricht um Frauenrechte geht, kommt es durchaus vor, dass Schüler sagen: ,,Wenn meine Schwester Sex vor der Ehe hat, bringe ich sie um." Es ist gut, wenn sie sich offen äußern, auch wenn der Inhalt schwer zu ertragen ist, denn nur dann kann man mit ihnen ins Gespräch kommen. Zuhören und nachfragen bedeutet nicht gutheißen und einverstanden sein. Ich plädiere für eine Anerkennungs- und Verunsicherungspädagogik. Aber viele Lehrer sind damit überfordert. Kurz nach den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris rief mich eine Lehrerin an. Sie hatte das Thema im Unterricht behandelt. In ihrer Klasse waren einige Schüler, die sagten: ,,Das geschieht den Karikaturisten recht, denn sie haben den Propheten beleidigt." Die Lehrerin war so verunsichert, dass sie die Polizei gerufen hat. Diese Schüler 'werden ihre Gedanken in Zukunft im Klassenzimmer nicht mehr laut aussprechen. Und das ist gefähr-
lich. Denn nur solange sie in öffentlichen Räumen darüber reden, sind sie noch erreichbar.
sie
nicht in der Lage, auf sie aufzupassen. Seine Männlichkeit wird infrage gestellt. An dieser Abwertung beteiligen sich auch die Mütter. Gertrud Härdtmann, Fachärztin für Neurologie und Psychologie, Psychoanalytikerin, war Professorin für Sozialpädagogik und Sozialtherapie an der Technischen Unlversität Berlin und hat zu rechtsradikaler
Jugendgewalt und Fremdenhass gefo rscht.
HARDTMANN Bei den rechtsextremen |ugendlichen spielen die Mütter natürlich auch eine Schlüsselrolle. Sie haben ja wiederum ihre Väter und damit au-
toritäre Strukturen verinnerlicht und behandeln ihre Söhne, als seien sie Paschas. Es sind nicht die Väter allein, sondern auch die Mütter, die dieses verquere System unterstützen und ihren Söhnen eine Rolle überstülpen, der sie in keiner Weise gewachsen sind. Und
es
gibt auch das andere Extrem, dass Müt-
ter nicht loslassen können, ihre Söhne an der Nabelschnur halten und jeden Schritt zu Selbständigkeit
unterbinden. Das erzeugt eine ungeheure Wut und gleichzeitig Abhangigkeit. Kinder können sich nicht selbst die Nabelschnur durchschneiden, das müssen PSYCHOLOGIE HEUTE 11l2O15
die Eltern tun; wenn das nicht gelingt, sind pathologische Entwicklungen program m iert. Kann man sagen, dass die sich radikalasierenden Jugendlichen in den jeweiligen Gruppierungen so etwas wie ein besseres Elternhaus f inden? MANSoUR Im radikalen Isiam suchen lugendliche nach einer anderen Welt, einem paradiesischen Zustand, in dem sie ohne Schmerzen und Zurtickwei-
Die Balance zwischen online und
offiine
sungen, ohne Angste und Depressionen leben können. Diese Welt, die salafistische Prediger ihnen versprechen, ist für sie kein Fantasiegebilde, sondern Realität.
sind davon überzeugt, dass es dieses Paradies gibt, wenn sie das tun, was die Prediger von ihnen verlangen, und dass auch Attentäter nach einer kurzen Zeit in der Hölle doch ins Paradies kommen, mit einer Sie
speziellen Kennzeichnung auf der Stirn. Deutsche Pä-
rsaberwirLemse
OnlineSUCht E n Rat8eber fur
dagogen und Psychologen werden oft abgelehnt, weil
Elteri.
Betroffene und hr UmieLd
sie den Eindruck erwecken, dass sie die Welt junger
Muslime nicht verstehen. Deshalb sind die Salafisten im Moment die erfolgreicheren Sozialarbeiter. Sie warten vor den Toren der Haftanstalten, wenn die Straftäter entlassen werden, und versprechen ihnen ein neues Leben und eine zweite Geburt. Das klingt attraktiver, als eine Psychotherapie zu machen. Denn bei einer Therapie muss ich irgendwann Verantwortung übernehmen und begreifen, dass es in mir Verletzungen gibt, um die ich mich kümmern muss. Bei den Islamisten kann ich die Verantwortung abgeben und muss nicht aushalten, dass in mir etwas nicht in Ordnung ist. HARDTMANN In der Gemeinschaft verschu,immt man im Wir. Das Gefahriiche ist, dass Glaubensgemeir.rschaften eine eigene Wirklichkeit schaffen, die
Ahmad Mansour, arabischer lsraeli, Diplompsychologe, lebt seit zehn Jahren in Deutschland. ist w i ssen sc haftl i c he r
N4itarbeiter des Zent-
rums f ür Demokratische Kultur in Berlin und unterstützt Prolekte und lnitiativen gegen Extremismus. Über den Verein Hayat berät er Angehörige von Menschen, die sich radikalisiert haben.'
zur sozialen Realitat wird, auch wenn sie auf Fantasien und Illusionen beruht. Welche Sprengkraft das hat und wie gefährlich das für unser gesellschaftliches Klima ist, haben wir ir-r Deutschland noch nicht begriffen. MANSoUR Wir unterschätzen die Gefahr. Ich bin aber überzeugt, dass wir achtzig Prozent der jungen
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Leute mit einer Disposition zur Radikalität ansprechen könnten, bevor sie gewalttätig werden. Das ge-
lingt aber nur, wenn alle Muslime und Nichtmuslime, Politiker und die Zivilgesellschaft sich für demokratische Werte einsetzen und mit den lugendlichen konstruktiv arbeiten. Und wir müssen Vorbilder schaffen: Jugendliche, die vielleicht religiös sind, aber
klar und deutlich sagen, dass ihre Religion es niemals rechtfertigt, die Schwester zu unterdrücken, andere Menschen abzuwerten oder gewalttätig zu werden.
PSYCIOLOGIE HEUTE 1]/2O]5
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KREATIVE EKSTASE UND DESTRUKTIVES CHAOS Ein
junger Mann entdeckt nach einer psychotischen Episode seine schöpferischen Kräfte VON RAINER MATTHIAS HOLM.HADULLA
erthold, ein fünfundzwanzigj ähriger Musikstudent, ist nach einer
Gespräche helfen,,,nicht überzukochen".
rauschenden Partynacht,,richtig
tuell und in der Alltagsgestaltung langsam
ausgeklinkt". Er musste rund ftinf Monate in einer psychiatrischen Klinik behan-
wieder zu sich kommt. Nachdem er sich durch die unterstüt-
delt werden. Einen solchen ,,Horrortrip" möchte er nie wieder erleben. Unter den
zenden Gespräche und die bewusste Le-
Er bemerkt, dass er emotional, intellek-
oft ,,einfach weggebeamt". Jetzt wird ihm zunehmend klar, dass er intellektuell und künstlerisch nur arbeiten kann, wenn er ,,absolut nüchtern" ist.
Friedrich Nietzsche sagte einmal: ,,Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären." Aber
Weil er beklagt, dass ,,alles auseinan-
bensführung stabilisiert hat, treten seine kreativen Interessen in den Vordergrund. Lange Zeit meinte er, dass man ,,ein bisschen daneben" sein müsse, um künstlerisch arbeiten zu können. Dabei erfuhr er
derfällt", versuchen wir zunächst, seinen Lebensstil zu stabilisieren. Daneben be-
schon in seiner frühsten |ugend, dass er durch Haschisch antriebslos wurde. Den-
sprechen wir eingehend seine Wahrnehmungen und Empfindungen. Nach wenigen Stunden meint er, dass die verhaltens-
noch konsumierte erlange Zeit diese Dro-
gewicht zwischen Ordnung, ohne die er nicht arbeiten kann, und Chaos, ohne das ihm nichts einfallt, zu gestalten. Nach 25 Sitzungen fühlt er sich jedoch
ge, weil er sich dadurch ,,anders" fühlte. Er wollte den ,,engen Grenzen des Alltags"
weiterhin labil und durch dieMedikamente beeinträchtigt. Er möchte eine Reduk-
orientierten Ratschläge und klärenden
entfliehen. Auch mit Alkohol hat er sich
tion der Neuroleptika aber nur im Schutz
Medikamenten fühlte er sich ,,benebelt", und die Diagnose ,,Schizophrenie" erschreckte ihn.
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wie viel Chaos ist schöpferisch, und wann
schlagt es in unproduktive Verwirrung um? Berthold lernt, bewusster das Gleich-
PSYCHOLOG]E HEUTE
1112O15
It-
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einer weiteren, eher psychoanalytisch ak-
lerische Arbeit zu transformieren. Er spielt
zentuierten Therapie riskieren. Auch sei-
wieder regelmäßig Klavier. Sein Selbstvertrauen wächst.
ne Beziehungsprobleme
will
er
verbessern.
Denn Beziehungen, besonders mit Frauen, bringen ihn durcheinander. Er sehnt sich nach einer Liebesbeziehung und fürchtet
gleichzeitig die Nähe. Wenn es leidenschaftlich wird, stellt sich die Angst ein, Er kann nicht verstehen, warum er zuweilen seine Freundinnen, auch wenn er
hang berichtet Berthold seine häufige Se-
ArroganzundZy-
Kreativ ist auch, das Brauchbare auszuwählen und geduldig auszu'
arbeiten Durch seine Träume kommt Berthold mit wichtigen Empfindungen und abgespaltenen Erlebnissen in Berührung. Er findet darin einen Ausdruck für viele Erfahrungen und kommt zu Einsichten, die ihm sonst verborgen blieben. Zum Beispiel träumt er: ,,Ich bin in einem Einkaufszentrum. Eine schillernde Frau taucht aufund bietet mir eine Droge an. Ich bin fasziniert und erregt. Dann gerate ich in einen Irrgarten. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin, und verliere den Verstand. Beim Aufwachen denke ich, wie banal doch alles ist." Berthold fallt zu dem Traum ein, dass er seinenAlltag oft als langweilig erlebt. Wir entdecken, dass er durch schillernde Fantasien seine Grenzen überschreiten kann. Dadurch ist er jedoch gefahrdet, die Kontrolle über seine Gefühle und Einfälle zu verlieren. Kreativ ist, nicht nur Neues und Faszinierendes zu entdecken, sondern auch das Brauchbare auszuwählen und geduldig auszuarbeiten.
Nach sechsmonatiger Behandlung kann Berthold ohne Einschränkungen für sein Studium arbeiten. Er kann die vor9 u
geschlagenen klaren Arbeitsstrukturen akzeptieren und spürt, dass er diesen Halt
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braucht. Die hochpotenten neurolepti-
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schen Medikamente setzt er
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ganzab.Trotz
dieser Erfolge ist die psychotherapeutische
Alltagsarbeit anstrengend. Es ist mühevoll, in kleinen Schritten Bertholds narzisstische Größenideen in konkrete künstPSYCHOLOGIE HEUTE 11l20I5
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die Kontrolle zu verlieren.
nismus verletzt. Schon bei kleinen Unstimmigkeiten fühlt er sich gekränkt.
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gelingt ihm leicht, Kontakt zu finden, doch er verliert rasch das' Interesse, insbesondere, wenn es zu einem problematisch.
sexuellen Kontakt gekommen ist. Er hat das Gefühl, sich zu verlieren und sich nicht
sich verliebt hat, durch
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Seine Frauenbeziehungen bleiben aber
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richtig zu spüren. In diesem Zusammenxualfantasie, in der er gemeinsam mit einem Freund ,,prickelnden Sel' mit einer Frau hat. Bei mir stellt sich das Bild ein, dass Berthold nach einem männlichen Begleiter sucht, der ihn gegen das Verschlungenwerden durch weibliche Wesen schützt. Möglicherweise steht hinter der Angst vor weiblichen Wesen auch die Be-
fürchtung, in erregenden Situationen seine innere Ordnung und Struktur zuverlieren. Sein Freund beziehungsweise sein Therapeut wären dann schützende Begleiter, die ihm helfen, sich in verwirrenden Leidenschaften zu behaupten. Nach etwas mehr als zwei Jahren müssen
wir wegen seiner Anstellung
als Do-
zent in einem entfernten Ort die Therapie
l\/\Irrlrltr -
beenden. Den anonymisierten Behand-
will er vor seiner Einverständniserklärung lesen. Er fuhlt sich gut verstanden und bringt kleine Korrekturen an. Besonders wichtig ist ihm, dass er ohne die engmaschige Psychotherapie weilungsbericht
terhin richtungslos,,umhertaumeln" würde und sein Studium sowie den Berufs-
eintritt nicht geschafft hätte.
DAs Rflru [,rÜctr
Welch ein Glück ist es, wenn die Liebe bis zum Tod währt. Selig ist, wem das ein Eheleben lang geling. So schmerzhaft es aber sein mag, wir müssen uns vom Ewigkeitsanspruch an eine Partnerschaft lösen. Die Zweitehe ist, auch wenn konservative Kirchenfunktionäre sie verdammen, kein Ehebruch.
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Wiederverheiratete stehen vor großen Herausforderungen: Ist die alte Ehe aufgearbeitet? Bedeutet die neue Liebe wirklich eine Kurskorrektur? Sind die alten Beziehungsfallen auch die neuen?
Wie vertragen sich die Kinder der nunmehrigen Patchworkfamilie? 107 Frauen und Männer berichteten dem Autor fesselnd über das - gelungene - Wagnis ihrer Zweitehe. Sie machen uns Mut. f,{r: Der Autor, selbst im reifen Glück seiner zweiten Liebe, kann das nur bestätigen.
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Prof. Dr. Rainer M. Holm-Hadulla ist
Psychoanalytiker und Facharzt für Psychiatrie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er lehrt an der Universität Heidelberg sowie an verschiedenen psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten und leitet die psychosoziale Beratungsstelle des Studentenwerks. Daneben ist er als Therapeut, Supervisor und Lehranalytiker tätig. Dieser (gekürzte) Fall stammt aus seinem aktuellen Buch lntegrative Psychothe' raple, das bei Klett-Cotta (Stuttgart 2O'15) erschienen ist.
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ISBN 978-3-89189 -21s-2 150 Seiten - 16,80 €
www.emu-verlag.de Dr. phil. Mathias ]ung arbeitet und Philosoph am Gesundheitszentrum als Gestalttherapeut
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Dr.-Max-Otto-Bruker-Haus in Lahnstein. Er ist Autor zahlreicher Bücher. emu-Verlags- und Vertriebs-GmbH Dr-Mu-Ofto-Bruker-Straße 3 / 561 12 Lahn§tein Telefon: 0 26 2l / 91 70 10 / ww.emu-verlag.de
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rITEL
Komplexität ist ein enormes Problem, mit dem wir tä9lich kämpfen. wie können wir die Vielfalt der Faktoren, die auf uns einwirken und uns zu erdrücken drohen, reduzieren?
Benediktiner, ein im lahr 529 gegründeter Mönchsorden, waren eiie
nem schriftlich abgefassten Regel-
werk mit 73 Kapiteln verpflichtet.
Diese wiederum bestanden aus Hunderten Regeln, die bis ins Kleinste geradezr alles diktierten - von der Aufstellung der Betten in den Schlafsälen bis hin zur Anzahl der warmen Abendessen. Sie bestimmten die genauen Zeiten für Gebete,
Arbeiten, Mahlzeiten, Nachtruhe sowie auch sonst
alles, was den Orden auszeichnete. So gut wie nichts
blieb dem Zufall überlassen. Die frühen Jesuiten dagegen kannten nur wenige Regeln, die ihrem Handeln als grobe Richtschnur
'20
für ihren Dienst am Glauben dienten und einen werten Spielraum gaben, um neue Wege zu gehen. Im Unterschied zum umfangreichen Verhaltenskodex anderer Ordensgemeinschaften boten die wenigen einfachen Regeln den Jesuiten eine größtmogliche persönliche Flexibilität, indem sie dem Einzelnen die Freiheit gaben, Entscheidungen nach eigenem Ermessen zu treffen. Zum Beispiel entband eine Regel die Jesuiten vom täglichen gemeinsamen Chorgebet zu einer Zeit, da sich Ordensbrüder anderer Gemeinschaften sechs bis acht Mal amTagversammeln mussten, um gemeinsam zu beten. Indem die Jesuiten von der Verpflichtung des gemeinsamen Gebets befreit
waren, konnten sie jederzeit ihren Tätigkeiten und PSYCHOLOGIE HEUTE 1]/2O]5
TITEL
Missionen nachgehen und sich auch längereZeitav ßerhalb des Klosters aufhalten. Dadurch waren die Jesuiten sehr viel besser als traditionelle Orden in der Lage, sich an neue Veränderungen anzupassen. Wie das Beispiel des Jesuitenordens zeigt, bieten einfache Regeln eine mächtige Waffe im Kampf gegen die Komplexität, also gegen die Vielfalt an Faktoren, die aufuns einwirken und uns zu erdrücken drohen. Komplexität selbst ist nicht neu - hat aber in den vergangenen sechs Iahrzehnten enorm zugenommen. Eine Suche nach dem Wort ,,Komplexität" in fiinf Millionen Büchern, die seit dem Jahr 1800 erschienen sind, zeigt, dass der Begriffanfangs eher selten war, im Laufe von 150 Jahren langsam präsenter wurde und sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu explosionsartig ausbreitete. Für die meisten von uns ist Komplexität ein enormes Problem, mit dem wir tagtäglich zu kämpfen haben. Wie können wir sie reduzieren? Unsere Antwort darauf gründet auf praxisnahen Forschungsergebnissen und lautet: Um Komplexität zu handhaben, brauchen wir Regeln - einfache Regeln. Sie ermöglichen es, schnelle und treffsichere Entscheidungen zu fällen. Einfache Regeln funktionieren, weil sie auf
Abgrenzungsregeln Sie bieten Lösungen für die Frage, was zu tun ist (und was nicht). Sie helfen uns, zwischen sich gegenseitig ausschließenden Alternativen zu entscheiden,
und sie zeigen, welche Möglichkeiten weiter verfolgt und welche verworfen werden können. Im Rahmen einer unlängst durchgeführten Studie traten Wissenschaftler mit einer ungewöhnlichen Bitte an Hausbesitzer in Neufundland (Kanada) he-
ran. Die Forscher baten um die Erlaubnis, spontan und unangekündigt Fotos von ihrem Anwesen machen zu dürfen. Die Bilder würden sie anschließend verurteilten Einbrechern im örtlichen Gefängnis zeigen, die dann ermittelnwürden,welche derAnwesen
Einbrecher nutzen einfache Regeln: Häuser mit einem Auto davor sind tabu
die wesentlichen Aspekte einer Entscheidung abstel-
Indem Aufgawir einfache Regeln nutzen, können wir eine be erfüllen, ohne sie ständig unterbrechen zu müssen, um jeden einzelnen Schritt immer wieder aufs Neue Ien und Randbetrachtungen außen vor lassen.
zu überdenken.
Einfache Regeln, man könnte auch sagen Faustregeln, werden häufig als Methode zweiter Klasse angesehen, um zu einem wohlüberlegteren Urteil zu gelangen. Der Begriff Faustregel oder Daumenregel, bezeichnet in der Tat einen ungefähren, einfach anzuwendenden Ansatz, der nicht sonderlich genau und auch nicht in jeder Situation zuverlässig ist. Woher der Begriffkommt, ist ungeklärt, doch geht man da-
von aus, dass er sich aufeine gängige Praktik unter Schreinern bezieht, die gerne den Daumen benutzen,
als Einbruchziele infrage kämen. Überraschenderweise willigte eine große Anzahl der Hausbesitzer ein und machte bei dieser Studie mit. Die Einbrecher
ließen viele Faktoren völlig unberücksichtigt, wie zum Beispiel installierte Sicherheitsanlagen am Haus, günstige Örtlichkeiten frir die perfekte Deckung oder Sicherheitsschlösser an Türen und Fenstern. Stattdessen gingen sie nach einfachen Regelnvor, um fest-
zustellen, ob die Bewohner anwesend waren oder nicht, Iießen alle anderen Aspekte außer Acht und erzielten eine unerwartet hohe Trefferquote. In zwei Drittel der Falle wendeten sie eine einzige Regel an, um ihr Zielobjekt auszuwählen; ,,Häuser mit einem Auto vor der Tür sind tabu." Das Beispiel veranschaulicht einen wichtigen Vor-
ten sich an die Regel ,,Den Ball weg vom Hindernis aufteen", um den Ball um ein Hindernis herum (einen Creek etwa) auf das Fairway zu schlagen, während der Leitsatz vieler Eltern lautet: ,,Niemals nachgeben, wenn mein zweijähriges Kind einen Tobsuchtsanfall bekommt." Vor allem wenn die Zeit drängt oder Informatio-
teil der Abgrenzungsregeln - sie kreisen die Alternativen ein, die es angesichts einer Fülle von Möglichkeiten weiter zu verfolgen lohnt. Für professionelle Einbrecher gibt es Hunderttausende mögliche Zielobjekte, doch wer hat schon die Zeit, sie allesamt haarklein unter die Lupe zu nehmen? Abgrenzungsregeln gestatten in einer Art Schnellverfahren einen raschen Überblick über die aussichtsreichsten Zielobjekte, und zwar basierend aufleicht zugänglichen Informationen (,,Steht ein Auto vor der Tür?"), die
nen nur spärlich vorhanden sind, können Faustregeln
ihrerseits Aufschluss über die Attraktivität eines mög-
wie die folgenden die Lage retten.
lichen Ziels geben.
um eine Länge grob abzuschätzen, anstatt das Metermaß zu nehmen, um exakt nachzumessen. Faustregeln kommen überall vor. Golfer zum Beispiel hal-
PSYCHOLOGIE HEUTE 1Il2O15
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TITEL
t
Eine 15OO Jahre alte Faustregel: Stets teile ein Mensch sein Geld in drei Teile ein Drittel in G ru nd besitz, ein Drittel in Waren und ein Drittel in seiner Hand
Stoppregeln Wann immer sich Alternativen der Reihe nach prä-
-
sentieren, erhebt sich die Frage, wann man die Suche beenden und seine Wahl treffen soll. Man denke nur
einmal an einen Arbeitgeber, der Bewerbungsgespräche mit mehreren Kandidaten hintereinander führt, oder an ein junges Mädchen, das Schuhe kaufen will und von einem Laden zum anderen geht. Zu wissen, wann man aufhören sollte zu suchen, ist ein echtes Problem. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Herbert A. Simon sagte, dass es Einzelpersonen an Information, Zeit und Intellekt mangelt,
sich zu entscheiden, wenn sie mit einer Reihe von
Alternativen konfrontiert sind. Deshalb sollten
Auswahlregeln
nach einem Partner), wenn sie er-
Diese Regelkategorie hilft, mehrere Alternativen zu bewerten. Be-
trachten wir folgende
Alternative gefunden haben. Diese Regel bezeichnet Simon als satisficing, eine Wort-
ne ausreichend gute
Frage:
Wie lege ich eine Rangfolge fest, wenn ich Investitionen
bei-
auf verschiedene Anlagefor-
kombination
men wie Inlandsaktien, internationale Wertpapiere, Immobilien und Rentenpa-
den englischen Wörtern
nügen).
mehr als 60 Iahrenveröffentlichte ein junger US-amerikanischer Ökonom namens Harry Markowitz einen Artikel im Fachblatt Journal of Finance, in dem er möglichen Anlegern einen Weg aufzeigte, wie sie bei jeder gegebenen Risikolage ihre Renditechancen an den Finanzmärkten maximieren können. Für seine bahnbrechende Arbeit wurde Markowitz
mit dem
Nobelpreis ausgezeichnet, und sein Portfoliomodell hat bis heute großen Einfluss. Doch bei aller theoretischen Eleganz und weitverbreiteten Nutzung in der Praxis
übertrifft
das
aus den
satisfying (= befriedigend) und sffice (= ge-
piere aufteilen will? Vor
Markowitz-Modell mit kei-
nem Satz eine einfache Faustregel, die dem BabylonischenTalmud entstammt, der vor 1500 ]ahren geschrieben wurde: ,,Stets teile ein Mensch sein Geld in drei Teile: ein Drittel in Grundbesitz, ein Drittel in Waren und ein Drittel in seiner Hand." Eine einfachere Investitionsregel gibt es wohl kaum! Und sie funktioniert. Diese Faustregel erzielt in jedem Test
Stoppregeln können auchhelfen, an die Stellevon
Verhalten ohne Sinn und Verstand ein bewussteres Handeln treten zu lassen. Beispiel Überernährung: |ahrelang haben Forscher sich den Kopf zerbrochen über das sogenannte französische Paradox. Damit wird das Phänomen beschrieben, dass Franzosenerstaunlich seltenvon Herz-Kreislauf- Erkrankungen und Fettleibigkeit betroffen sind, obwohl
die französische Küche doch das reinste Butterbad ist. Bei all den Eclairs, Cr6pes und Croissants kann der Franzosewohl kaum als kulinarischer Puritaner bezeichnet werden. Entwicklungsplaner in Chicago gaben ihrer Stadt 1909 den Beinamen ,,Paris der Prärie", doch bei einem heutigen Spaziergang durch die Straßen dieser größten Stadt im mittleren Westen der USA fällt schnell auf: Die Bürger in diesem amerikanischen Paris sind etwa doppelt so häufig übergewichtig wie die Franzosen im echten Paris. Woran
eine positive Rendite, während die komplizierteren Modelle der Investoren in mehr als der Hälfte der
liegt das?
Fälle den Investoren Verluste eintrugen. Ein über-
cago mit demografisch vergleichbaren Einwohnern
raschender Anhänger dieser Faustregel ist Markowitz
aus Paris. Die Probanden beider Gruppen nutzten
verteilt sein Geld einfach gleichmäßig über verschiedene Töpfe, und fertig.
Stoppregeln, um zu entscheiden, wann sie aufhören zu essen, die Regeln selbst allerdings unterschieden
selbst, wie er zugab. Auch er
'22
sie
nach einer einfachen Faustregel verfahren und die Suche beenden (zum Beispiel
Ein Forscherteamverglich 145 Einwohner aus Chi-
PSYCHOLOGIE HEUTE 11l2OI5
sich sehr stark voneinander. Die Pariser gebrauchten Regeln wie,,Ich höre auf zu essen, wenn ich anfange,
mich satt zu fühlen", und sie verknüpften ihre Entscheidung mit einem inneren Signalreiz der Sättigung. Die Chicagoer hingegen folgten tendenziell äußeren Faktoren wie ,,Ich höre auf zu essen, wenn ich nichts mehr zu trinken habe" oder ,,Ich höre auf zu essen, wenn der Fernsehfilm zu Ende ist". Stoppregeln, die aufinnere Signalreize bauen - wenn der
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&
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Appetit nachlässt oder man sich satt ftihlt -, verringern die Chance, dass man mehr isst, als der Körper braucht odel aufnehmen will.
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-
Wie-Regeln Die Regeln dieser Kategorie geben vor, wie die Dinge zu erledigen sind, ohne dabei jedes Detail vorzuschreiben. Zum Beispiel arbeitete der Technologiegigant Google von Anfang an mit Wie-Regeln bei
Natürliche Hilfe, starke Wlrkung
der Personalsuche. Es gab einen knappen Leitfaden mit einfachen Priorisierungsanweisungen:,,nach Exzentrikern suchen", denn Exzentrik geht oft Hand
SchIncr"zcn
im ltiickcn
in Hand mit Kreativität; ,,auf Empfehlungen von
Ursachen und Lösungen
Google-Mitarbeitern setzen", denn Spitzenkräfte wollen mit anderen Spitzenkräften zusammenarbeiten und suchen sich immer ihresgleichen; und ,,Bewerber mit einer noch so kleinen Unstimmigkeit oder Lücke im Lebenslaufhaben keine Chance", denn der
Höchstanspruch an die Mitarbeiter sollte gewahrt bleiben. Google nutzte diese Regeln und noch ein paar andere, um echte Talente zu finden. Ein anderes Beispiel: In den Anfängen der Radio-
übertragungen hatten die Sportkommentatoren kaum ein Konzept, ,,redeten einfach drauflos und hofften das Beste", wie sich einer der frühen Kommentatoren erinnert. In dieses Vakuum hinein trat Seymour )oly de Lotbiniöre, ein Pionier in Sachen Live-Sportübertragungen im Radio und später auch im Fernsehen. De Lotbiniöre schliff bei der BBC das
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Was Sie bei Unverträg I ichkeit
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Rhythmusfrnden zwisrhen(haosundTakt
deutlich a mateurha fte Kommentatorenwesen zu einer g1änzenden Kunstform, die unter Sportreportern rund um den Globus zahllose Nachahmer fand. Er schrieb ein Konzept, in dem er seine Erkenntnisse in sechs Wie-Regeln zusammenfasste. Ein guter Kommentator, so erklärte er, sollte:
-
den Rahmen abstecken die Handlung beschreiben
Punkte oder Ergebnisse regelmäßig, kurz und prägnant durchgeben Zuschauerreaktionen im Stadiurn kommentieren, ohne von-r Spielverlauf abzulenken
Lesen Sie weiter auf Seite 25 PSYCHOLOGIE HEUTE I'Il2O]5
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TITEL
TAG FUR TAG KIeine Regeln, die den Alltag erleichtern Wort,,weil" benutzen. Wie Ellen Langer, Professorin für Psychologie Das
an der Harvard-Universität, herausfand, erhöht das Wort,,weil" in einer Bitte oder Forderung die Wahrscheinlichkeit, dass Sie erreichen, was Sie wollen. Dabei muss das,,weil" keine sinnvolle Begründung sein. So sagten in einer Studie Probanden, die schneller an einen Kopierer wollten: ,,Lassen Sie mich bitte vor, weil ich kopieren rfiuss" - und sie erreichten mit dieser Nonsensbegründung ihr Ziel. Wenn Sie also eine Anfrage erfolgreich ablehnen, einen Tag Urlaub nehmen oder erreichen wollen, dass Sie mehr Zeit für ein Projekt bekommen, verknüpfen Sie lhr Anliegen mit einem ,,weil" - mag es noch so unsinnig sein. Früher anfangen. Machen Sie es sich zur Regel, eine Aufgabe ein paar Tage früher anzufangen als notwendig. Oft ist es hilfreich, sich zum Beispiel in Form einer Mindmap damit vertraut zu machen. Dann überlassen Sie das Ganze eine Zeitlang lhrem Unterbewussten. Wenn Sie dann mit der Arbeit beginnen, werden Sie erstaunt sein, wie lhre Gedanken und ldeen f
ließen.
Lächeln. Ein Lächeln reduziert Stress, senkt den Blutdruck und setzt Endorphine frei. Es stimuliert das Gehirn, und zudem halten die Leute Sie dann für kompetenter. Und sie erinnern sich besser an Sie, wenn Sie lächeln. Wie viel auch immer Sie zu tun haben, lächeln Sie! Ein Meeting versäumen, Konferenzen sind eine Hauptquelle von Stress. Die amerikanischen Psychologen Michael Doyle und David Straus sprechen vom meeting recovery syndrome'. Man braucht viel Zeit, um sich nach einer Zusammenkunft mit Kollegen wieder konzentriert der eigenen Arbeit widmen zu können. Deshalb: Machen Sie es sich zur Regel, nicht an jedem Meeting teilzunehmen. Suchen Sie sich regelmäßig einen Termin in der Woche aus, den Sie ausfallen lassen können.
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Erst rechnen, dann entscheiden. Wenn Sie gefragt werden, ob Sie eine Arbeit übernehmen können, sollten Sie so vorgehen: Überlegen Sie zunächst, wie viel freie Zeit Sie für diese Aufgabe haben, und halbieren Sie diese dann. Also zum Beispiel: Ein ganzer Tag wäre frei, bleibt also ein halber. Dann überlegen Sie, wie viel Zeit Sie für die neue Aufgabe aufwenden müssen - zum Beispiel zwei Tage -, und verdoppeln Sie auch diese Schätzung. Nun können Sie besser entscheiden, ob Sie wirklich die Aufgabe übernehmen wollen. Einmal die Woche bewusst nein sagen. Diese Regel ist eine wichtige Abgrenzungsübung. Sagen Sie auf eine Forderung, die Sie normalerweise mit ja beantworten würden, ganz bewusst nein - auch wenn es schwerfällt. So lernen Sie schnell, sich gegen Zumutungen zu wehren. Das Eigene hat Vorrang. Beginnen Sie den Tag mit dem, was auf lhrer
(inneren) Prioritätenliste an erster Stelle steht. Lassen Sie sich nicht von den Wünschen anderer oder unwichtigen Dingen ablenken. Lesen Sie beispielsweise nicht erst alle eingegangenen E-Mails, sondern beschäftigen Sie sich sofort mit der Aufgabe, die
den Prioritäten anderer Menschen den Vorrang vor lhren eigenen. Nur Echtes essen. Michael Pollans Ernährungsregeln hängen an vielen Kühlschränken: ,,Essen Sie gut." ,,Essen Sie nicht zu viel." ,,Essen Sie hauptsächlich pflanzliche Nahrung." Mit ,,Essen" meint der Ernährungswissenschaftler echte Nahrung - Gemüse, Obst, Nüsse,Vol lkornprodukte, Fleisch, Fisch -, nicht industriell verarbeitete Lebensmittel, die im Supermarkt im Sonderangebot sind. Alle 90 Minuten eine Pause. Unser Biorhythmus folgt einem klaren Muster: Spätestens nach 90 Minuten sind wir nicht mehr auf der Höhe unserer Konzentrationsfähigkeit. Wir können diese Grenze überschreiten, indem wir uns mit Kaffee oder Süßigkeiten pushen, doch dann ignorieren wir unser Bedürfnis des Körpers nach einer Pause. Das geht nur eine Weile gut. Deshalb machen Sie sich regelmäßige Unterbrechungen zur Regel. Jeden Tag 30 Minuten allein sein. Sorgen Sie für regelmäßige Alleinzeit. Die beste Zeit ist der frühe Morgen: Schon zehn Minuten einfache Meditation nach dem Aufstehen reichen aus. Andere Möglichkeiten: Gehen Sie eine halbe Stunde früher ins Büro oder verbringen Sie die Mittagspause allein
im Park. Eigenzeit buchen. Reservieren Sie eine bestimmte Zeit in der Woche für lhre Interessen. Blocken Sie diesen Tag schon Monate im Voraus im Kalender. Beispiel: ,,Freitag ist Kinotag." Newsletter löschen. Einmal in der Woche den Newslettereingang kritisch prüfen und alle löschen, die Sie nicht interessieren und die nicht wirklich notwendig sind. OUELLEN
wichtig ist. Wenn Sie diese Regel be-
Tony Crabbe: How to thrive in a world of too much.
folgen, unterscheiden Sie zwischen dringend und wichtig. Wenn Sie immer erst das erledigen, was dringend
Grand Central Publishing, New York 20l5
ist, und das zurückstellen, was lhnen
wichtig ist, bedeutet das: Sie geben
Jocelyn K. Glei: Manage your day-to-day. Amazon
publishing
2O13
Donald Sull, Kathleen M. Eisenhardt: Simple Rules. Einfache Regeln für komplexe Situationen. Econ, Berlin 2O15 PSYCHOLOGIE HEUTE 1112OI5
TITEL
-
Hintergrundinformationen zu historischen Fakten oder persönlichen Eckdaten der Spieler geben
die Bedeutung des Ereignisses sowie Schlüsselmomente herausstellen. Diese Regeln bieten Kommentatoren seither eine zu-
-
verlässige Richtschnur, egal wo auf der Welt sie von
einem Sportereignis berichten. Wie-Regeln sind besonders hilfreich, wenn extremer Zeitdruck herrscht
und
es
ein
enges
können wir kurzfristigen Versprechen widerstehen, um langfristi ge Ziele zu erreichen. Regeln können zu besseren Entscheidungen verhelfen, vor allem dann, wenn Informationen nur begrenzt vorhanden sind. Künstler entfalten ihre Kreativität, indem sie ein paar Regeln folgen. Und auch wir, als Mitarbeiter von Unternehmen, Mitglieder sozialer Gemeinschaften und der Gesellschaft als solcher, können unsere
Aktivitäten aufdemWeg zu persönlichen Zielen mithilfe einfacher Regeln koordinieren. Das Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr zum Beispiel, eine einfache
Zeitraster gibt.
Timing-Regeln
Regel, stellt sicher, dassjedersein Ziel erreichen
Ein Drittel aller Erwachsenen ist von Schlafstörungen betroffen, ein Zustand, der die Lebensqualität erheblich beeinträchtigt. Forscher vom Sleep Medicine Institute an der University of Pittsburgh haben
während sie das Unfallrisiko gleichzeitig minimiert.
nachweisen können, dass vier einfache Regeln helfen, den Schlaf wieder erholsam zu machen (siehe auch
der wir uns so sehr sehnen, und komplizierten Lösungen, die so überaus notwendig erscheinen. Für diewichtigsten Handlungen und Entscheidungen in unserem Leben sind einfache Regeln sowohl erstre-
10/2015: Schlafen Sie gut!): ,,Stehen Sie jeden Morgen immer zur gleichen Zeit auf" - was, wie sich gezeigt hat, für den Aufbau eines
Heft
gesunden Schlafmusterswichtiger ist, als sich immer
zur gleichenZeit hinzulegen. ,,Gehen
wenn Sie wirklich müde sind"
-
Sie
nur zu Bett,
selbst wenn dies
kann,
In vielen Bereichen unseres Lebens - im Beruflichen wie im Privaten - stehen wir offenbar immer wieder vor der leidigen Wahl zwischen der Einfachheit, nach
benswerter als auch effektiver als komplizierte Lösungen. Wer einfache Regeln für sich zu nutzen weiß, kann es jederzeit aufnehmen mit der Komplexität der heutigen Zeit.
bedeutet, länger durchzumachen, als Ihnen vielleicht
lieb ist. ,,Benutzen Sie Ihr Bett nur zum Schlafen, ansonsten nicht." ,,Minimieren Sie die Zeit, die Sie künftig nicht mehr
Donäld Sull lst Professor am Massachusetts lnstitute of Technology (Sloan School of Management) und war zuvor Professor an der London Buslness Schoo/ und an der Universität Harvard.
stundenlang im Bett wälzen, nur um wenigstens ein bisschen Schlaf zu ergattern.
Kathleen Eisenhardt ist Professorin für Wirtschaft, Strategie und Organisationstheorie an der Stanford University'
im Bett verbringen." Nächtliche Unruhegeister, die diese Regeln befolgen,werden sich
Regeln machen frei Regeln
sind für uns gleichbedeutend mit Restrikti-
onen, die unsere Möglichkeiten begrenzen und uns einschränken. Gleichwohl aber eröffnen sie uns viele Dinge erst. Indem wir einfachen Regeln folgen,
Dieser Text ist ein Auszug aus dem soeben im Econ-Verlag erschienenen Buch von Donald
Eisenhardt Simple Rules. Einfache Regeln für komplexe Situationen. Sull und Kathleen M.
Aus dem Englischen von Regina Schneider.
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Einfachheit muss hart erarbeitet werden Der Manager und Autor Benedikt Weibel erklärt, warum wlr ,,Ockhams Rasiermesser" kennen sollten, wenn wir Komplexes vereinfachen wollen Herr Weibel, Sie haben einen bewegten Lebens-
konzent rieren.
lauf. Sie sind diplomierter Bergf ührer, Sie waren Chef der Schweizerischen Bundesbahnen, saßen unter anderem im Verwaltungsrat der französischen Stäatsbahn und vieles mehr. Das ist eine sehr komplexe Berufskarriere. Nun veröffentlichten Sie ein Buch über Vereinfachung: Simplicity - die Kunst, die Komplexität zu reduzieren. Haben Sie diese Kunst auf den diversen Stationen lhrer
auf clic rvirklich bedeutenden Dinge nicht nur in det
r.r.rit seinen'r
mcin (leclrichtnis einbrannte: "Jnst one cogr.titive abi
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L)r,rrcl-rschnitt: Nluster zu erkennen, das
glolie Cianze inr Blick zn behalten". Dr. rer.pol. Benedikt
Weibel ist lonorar professor an der Un
engt sich der lllick, und alles konzentriert sicl.r auf die rvenigen Faktorer.r, die ftir den sicheren Abstieg entscl.reidend sir.rcl. Spüter bin ich Bahncl.ref .qe\\()rde r-r. D ie Scl-ru,e i ze r i sc he n IJu ncle sba h n en befir n c'lc I.t sich in einer tief-en Krise. Aucl.r l.rier galt es, sich r.nit aller I(onseqr-renz anf die lrenisen, aber ftir clie Zr-r-
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Al-rr.rlicl-r argunrentiert auch der Ps1,cl'rolclge feronre S. Brr"rner. Er nrcir-rt: ,,\\'enn zn ei Nlenscher-r den gleicl'ren IQ haben,
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Unser Clcl.rirn, so der Hirr.rfirrscher Eric I(andel, ist PSYCHOLOGIE HEUTE II,/2O]5
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TITEL
eine Kreativitätsmaschine, die aus einemverwirrenden Durcheinander Muster herausfiltert. Es kann diese Aufgabe nur wahrnehmen, wenn es das Rele-
vante vom Irrelevanten trennt. Neurowissenschaftler sind zu dem Schluss gekommen, dass das Vergesdiewichtigste Funktion des Gehirns ist. Nurwenn Unwichtiges vergessen wird, kann Typisches wahrsen
genommen werden. Damit hat die Neurowissenschaft
,,Ockhams Rasiermesser" eine späte wissenschaftliche Begründung gegeben. Bereits vor 700 Jahren hat
\\'ilhelm von Ockham, ein englischer Theologe und Philosoph, eine glasklare Handlungsanweisung formuliert: Suche den Kern des Problems. Konzentriere dich darauf. Schneide alles andere mit dem Rasiermesser ab . O ckham's razor ist im angelsächsischen Sprachbereich ein stehender Begriff geblieben. Das heißt, um Komplexität zu reduzieren, müssen wir Einzelheiten weglassen? Können Sie an einem
Beispiel verdeutlichen, wie,,Ockhams Rasier' messer" arbeitet? Nehmen wir eines aus meiner Zeit als Bergführer. \\rerner Munter, ein junger Bergführer, untersuchte Hunderte Lawinenunfälle und stellte fest, dass das Risiko einer Lawine durch wenige Variablen, zum Beispiel Hangneigung und -exposition, bestimmt rvird. Seine Reduktionsmethode ist heute weltweiter Standard, und ihre Anwendung hat zu einer Halbierung der Unfälle geführt. Die Lawine ist ein Phänomen von unendlicher Komplexität. Das Risiko wird durch die Beschränkung aufwenige Schltisselfaktoren zwar nicht eliminiert, aber aufeinen akzeptablen \\'ert reduziert.
Kann ,,Ockhams Rasiermesser" auch soziale Systeme von Ballast befreien? Der Psychologe fohn Gottman, ein bekannter amerikanischer Paarforscher, hat Paare über kontroverse Themen diskutieren lassen und die Gespräche gefilmt. Er kam zu dem Schluss, dass jede der analysierten Paarbeziehungen ein unverwechselbares Muster, eine Art Ehe-DNA aufweist. Die erstaunliche Erkenntnis ist, dass es hauptsächlich vier Verhaltensrveisen sind, die für die Qualität einer Beziehung re-
levant sind: Verteidigungshaltung, Blockade, Kritik und Verachtung. Gottman spricht von den ,yier apo-
kaiyptischen Reitern". Vor allem wenn ,,Verachtung" vorkommt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Beziehung scheitert, signifikant hoch. Das Prinzip von Ockhams Rasiermesser greift also selbst in einer so komplexen Frage wie der Qualität einer Paarbeziehung. Wenn es gelingt, das rele\-ante Muster zu extrahieren, sind die Hebel zur Veränderung. einer Situation gegeben. :SYCHOLOGIE HEUTE 1112015
Fluch des Wissens: Je mehr man weiß, desto schwerer fällt es, sich auf wenige
wesentliche Punkte zu konzentrieren
Einfachheit zu erkennen, sagen Sie, ist nicht ein-. fach. Den meisten Menschen fällt es nicht so leicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das ist richtig: Einfachheit ist nicht einfach, sie muss
hart.erarbeitet werden. Apple-Begründer Steve Jobs hat das mit seinem Satz,,Einfachheitheißt, sich durch die Tiefen der Komplexität hindurchzuarbeiten" verdeutlicht. Was macht denn das Einfache so kompliziert? Ein Hinderni s ist der Fluch des Wissens. Je mehr wir wissen, desto schwerer fallt es, sich auf die wenigen wirklich wesentlichen Punkte zu konzentrieren. Ein weiteres Hindernis ist Fokusangsr. Viele Menschen denken bei allem, was sie tun, an all das andere, das sie stattdessen tun könnten oder sollten. Durch die permanente Erreichbarkeit werden wir andauernd abgelenkt. Informationsflut und Hektik stören uns nicht nur in der Konzentration, sie verhindern auch, dass wir die notwendige Zeit für die Reflexion finden. Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zur Ein-
fachheit ist ein Statusproblem.In der akademischen Ausbildunglernt man eine Sprache, die Kompliziertheit zum Ritual erhebt. Die so verstandene wissenschaftliche Sprache gehört zum Imponiergehabe. Dass man nicht verstanden wird, unterstreicht die Exklusivität des Sprechenden oder Schreibenden.
Der Untertitel lhres Buches lautet: Die Kunst, die Komplexität zu reduzleren. Kann man diese Kunst !ernen? ist schon viel erreicht, wenn Sie sich eine Haltung des ,,Weniger ist mehr" aneignen. Das wichtigste Instrument ist die gute alte To-doListe. Mindestens für eine Woche sollten Sie Ihre Prioritäten aufschreiben. Dabei sollten Sie Folgendes beachten: Beschränken Sie sich aufwenige Punkte' Platzieren Sie die Liste so, dass sie Ihnen immer wieEs
der ins Auge fallt. Organisieren Sie sich so, dass Sie die Prioritäten Ende der Woche erfüllt haben. Sie werden entdecken, dass dadurch das Wochenende
viel entspannter wird. Oder ein anderes Beispiel: Wenn Sie einen Text schreiben, kopieren Sie ihn ins Textfeld von www. blablameter.de. Sie erhalten umgehend eine Bewertung mit dem Bullshit-Index, einem Wert zwischen null (gut) und eins (schlecht). Sollten Sie über 0.40 liegen, betätigen Sie die Taste ,,Entfernen" und beginnen von vorne. Und schließlich: Seien Sie mutig. Wie Mary Barra. Sie ist die erste Frau, die eine Automobilfirma führt. Die CEO von General Motors hat, als sie noch Personalchefin war, einen l5-seitigen Dresscode auf zwei Worte reduziert: angemessene Kleidung. PH 27
Wie früher in der Hamilie lmmer wieder Probleme mit dem Chef? Ständig Stress mit den Kollegen? Wer häufig Schwierigkeiten im Job hat, sollte die Beziehung zu Eltern und Geschwistern Revue passieren lassen VON ANNE-EV USTORF
nna Regner hatte sich vorgenommen,
diesmal anders laufen würde. Sie schwor sich: Heute heulst du nicht. Doch als die junge Arztin das dass es
Gespräch mit ihrem Chefarzt beendete, kamen ihr schon wieder die Tränen. Seit einem
halben )ahr war Regner Assistenzärztin in der Chirurgie eines großen Berliner Krankenhauses und seitdem überzeugt, fürden fob nichtgeeignetzu sein.
Denn der Chefarzt - eine Koryphäe der Gefäßchirurgie-hatte immer etwas auszusetzen, mal an ihren Arztbriefen, mal an ihrem Umgang mit den Patienten.,,Ichwarkurzdavor, alleshinzuwerfen", erinnert sich die 28-lährige,,,mein Selbstwertgeftihl war bei null." Erst während eines Abendessens mit anderen Assistenzärzten erfuhr die junge Chirurgin, dass der Chefarzt ihren Kollegen gegenüber genauso streng war - die seine Kritik aber viel besser wegstecken konnten. Regner wurde klar: Die Ursache ihrer Unzulänglichkeitsgefuhle lag ganz woanders. Ihr Vater war Richter am Oberlandesgericht gewesen und damit eine echte Autoritätsperson, von ihm hatte Anna Regner nur wenig Anerkennung erhalten. Denn seine ,,Kleine" war ihm stets zu verträumt gewesen. Die Kritik des Chefarztes erinnerte die junge Chir-
urgin an die Außerungen des Vaters - und weckte in ihr das alte Gefühl, wieder einmal nicht gut genug zu sein.
Kindheitserfahrungen noch in unser Erwachsenenleben hineinwirken, ist den meisten Menschen bew.usst. Immer wieder werden wir von Gefühlszuständen überrascht, die mehr mit der KindDass die
28
heit als mit dem Hier und Jetztzu tun haben. Gerade in Partnerschaften spüren wir diese Prägungen häufig: Wiederkehrende Konflikte gehen oft auf das Konto früher Beziehungserfahrungen, wir inszenieren in unseren Partnerschaften die Beziehungsmuster unserer Eltern oder projizieren elterliches Verhalten auf die Partner. Eigentlich kein Wunder, denn unsere ersten Lebensjahre sind überaus prägend: Unsere Herkunftsfamilien sind ein - positives oder negatives- Lernmodell dafür, wie man Beziehungen führt, Konflikte Iöst und ein Gefuhl fur den eigenen Wert entwickelt. Das Gelernte exportieren wir in die verschiedensten Bereiche unseres Lebens. Die Transaktionsanalyse hat dafür den Begriff des ,,Skripts" geprägt: Wir leben nach einem unbewussten Drehbuch, das in unseren ersten fahren verfasst wurde. Auch am Arbeitsplatzwerden diese frühen Erfahrungen lebendig. Vor allem Autoritäts- und Loyalitätskonflikte mit den Eltern sowie Geschwisterrivalitäten schlagen sich dort häufig nieder. Oft merken wir das - so wie Anna Regner - aber erst spät, es dauert, bis wir einen Zusammenhang zwischen unseren beruflichen Konflikten und unseren Kindheitserfahrungen herstellen können. Dabei bietet gerade die Arbeitswelt einen idealen Boden, um in frühere Verhaltensmuster zurückzufallen, zu regredieren: Die meisten Unternehmen weisen mit ihrer Hierarchie und der Bildung von Teams familienähnliche Strukturen auf und bringen uns damit unbewusst in die Nähe der Kindheit. Denn wie in der Familie müssen wir uns am Arbeitsplatz in Gruppen behaup-
ten und mit rivalisierenden Kollegen vertragen; wie PSYCHOLOGIE HEUTE 11l2015
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Erinnert eine Beziehung am Arbeitsplatz entfernt an die Kindheit, steigt die Gefahr, dass man ins ,,Kind-Ich" rutscht
Das kann zu Konflikten führen, es kann sich aber auch eine konstruktive Dynamik entwickeln, wenn beide Kollegen wertschätzend miteinander umgehen.
Ganz anders in der triangulären Übertragung: Hier steht der Mitarbeiter außerhalb des Geschehens und reagiert auf das Beziehungsmuster zweier Kollegen, weil es ihn unbewusst an Konflikte seinerHerkunftsfamilie erinnert - etwa indem ein Mitarbeiter sich abmüht, den Streitzweier Kollegen zu schlichten,
weil er als Kind stets im Streit der Eltern vermitteln musste.
in der Familie gilt es auch hier, Autoritäten anzuerkennen; wie in der Familie sind wir auch als Arbeitnehmer abhängig; wie in der Familie entwickeln wir eine Bindung an das Unternehmen. ,,Wer in einem
Unternehmen arbeitet, unterliegt großem Anpassungsdruck und regrediert tendenziell", sagt der Münchner Psychoanalytiker Thomas Giernalczyk, der als Organisationsberater und Coach in vielen Unternehmen tätig ist. ,,Die Gefahr, dass wir uns Kollegen oderVorgesetzten gegenüber als Kind fühlen, ist nicht zu unterschätzen. Gerade von den Führungskräften erleben wir Botschaften dann schnell so, als kämen sie vom strengen Eltern-Ich. Sie werden
oft
als autoritärer empfunden, als sie eigentlich ge-
meint sind." Wer also wie Anna Regner vom Vater wenig Anerkennung erhielt, neigt schnell dazu, den
Vorgesetzten zum ablehnenden und bestrafenden Vater zu machen.
Oft sind die Übertragungswege alter Beziehungsmuster aufdie Berufswelt allerdings schwer zu durchschauen, schließlich gilt der Iob als Gegenstück des Privatlebens. Die amerikanischen Familientherapeu-
ten Richard Weinberg und Larry Mauksch konnten in einer Untersuchung über Familiendynamik am
Arbeitsplatz zeigen, dass unsere familiären Prägungen im fob ganz unterschiedliche Formen annehmen können. Die Forscher unterscheiden zwischen linearen, zirkulären, triangulären und strukturellen Übertragungswegen.
In der linearen Übertragung, so Weinberg und Mauksch, werden Beziehungsmuster aus der Kindheit quasi ,,eins zu eins" übertragen: Ein Arbeitnehmer rivalisiert dann mit seinem Kollegen um die Anerkennung des Chefs, genau wie er damals mit seinen Geschwistern um die Liebe undAnerkennung der Eltern buhlte. In der zirkulären Übertragung hingegen kollidieren die Kindheitserfahrungen zweier Kollegen miteinander - etwa wenn ein Mitarbeiter aufgrund seiner Biografie eher konfliktvermeidend an eine Situ. ation herangeht und der andere eher konfrontativ. 30
In der strukturellen Übertragung hingegen ist es die Unternehmensdynamik, die einen Arbeitnehmer in seine Kindheit zurückversetzt. So kann eine äußerst hierarchische Firmenstruktur einen Mitarbeiter unbewusst an seine autoritäre Erziehung erinnern.
Der Sog, die in der Kindheit erlernte Rolle einzunehmen oder dagegen aufzubegehren, ist dann besonders groß.
Beziehungskonflikte im Iob sind keine Seltenheit: Laut einer neuen Studie des Marktforschungsinstituts YouGov ist jeder zweite Deutsche unglücklich am Arbeitsplatz, neben schlechter Bezahlung und Langeweile nennen die Befragten besonders haufig mangelndeAnerkennung und Streit mit Kollegen als Gründe ftir die berufliche Unzufriedenheit. Nicht selten dürften dabei alte Beziehungserfahrungen im Hintergrund mitschwingen. Rückfälle in alte Muster ereignen sich besonders dann, wennwichtige Grundkonflikte noch nicht vollständig bewaltigt wurden, also die belastende Beziehung zum Vater nicht bearbeitet oder die Konkurren zbeziehungatr Schwester noch ungeklärt ist. Erinnert eine Beziehungskonstellation entfernt an die Kindheit, steigt damit die Gefahr, dass sie ausagiertwird-etwa indem der Chef in die ,Vaterrolle" gesteckt und abgewertet wird. Psychoanalytiker Giernalczyk erlebte jüngst solch einen Fall im Coaching. Ein Geschäftsführer schickte seinen Projektleiterzum Gespräch mit dem Coach, weil erdas Gefühlhatte, mit seinem Mitarbeiter nicht klarzukommen. Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass der Projektleiter Schwierigkeiten hatte, sich von seinem Chef führen zu lassen. Er machte sich wiederholt lustig über das große Auto seines
Chefs und kaufte sich selbst demonstrativ einen Kleinwagen. ,,Ich kenne das ganze Brimborium, das
kann ich nicht ernst nehmen", erklärte er. Auch sein Vater war Geschäftsführer und später Leiter einer internationalen Forschungseinrichtung gewesen, die Beziehung zwischen Vater und Sohn war immer noch angespannt. Ganz klassisch kampfte er also stellvertretend gegen seinen Vater. ,,Er entwertete seinen PSYCHOLOGIE HEUTE 11l2O15
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Chel ohne es selbst zu merken, und schoss sich
zu, sein Vorgehen neu zu überdenken und im
dadurch ins Aus", sagt Psychoanalytiker Gier-
bestimmter aufzutreten. ,,Er nahm sich als Formel mit: Der Kollege ist nicht mein Vater", sagt Giernalczyk. Bisweilen werden die frühen Erfahrungen ganz ungefiltert weitergegeben, wie Giernalczyk berichtet. Eine Personalsachbearbeiterin, die als Kind vom Vater wiederholt als dumm bezeichnet wurde, schikanierte später ihre Auszubildenden. Erst im Coaching ging ihr der Zusammenhang zwischen der eigenen Entwertung und der Entwertung ihrer Azubis auf: Sie tat anderen an, was ihr selbst geschehen war. Auch beim Verharren in unbefriedigenden Arbeitsverhältnissen spielt der Mangel an Anerkennung in der Kindheit häufig eine Rolle. Wer wenig Anerkennung erhielt, hat auch als Erwachsener haufig kein gutes Selbstwertgefühl.
nalczyk.
Eine schwierige Vaterbeziehung kann also
zur Foige haben, dass Arbeitnehmer stellvertretend in Konkurrenz zu ihrem Chef treten oder ihm die Anerkennung verweigern. Doch auch der gegenteilige Weg ist denkbar: die vollständige Unterordnung, um unbewusst die Konkurrenz mit dem Vater zu vermeiden. Auch hierzu kann Thomas Giernalczyk ein Beispiel aus seiner Beratungspraxis geben. Sein Klient, ein 40-jähriger Bereichsleiter, war in Sorge, weil ein Kollege sich einen Teil seines Arbeitsbereichs
abzwacken wollte. Statt seinen Arger oder sei-
ne Befürchtung zu äußern, erklärte der Bereichsleiter lediglich, dass dieser Schritt zwar gut für die Geschäftsentwicklung sei, in seiner Abteilung aber für eine gewisse Unruhe sorgen rvürde. Dass ihm dadurch ein Teil seiner Kompetenz verlorenginge, schien den Bereichsleiter
nicht zu beschäftigen. Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass er als Kind oft Angst vor seinem psychotisch erkrankten und unberechenbaren Vater gehabt hatte. ,,Er hatte es verlernt, Arger auf den Vater zu entwickeln", erklärt Giernalczyk, ,,und konnte deshalb nun auch keinen Arger auf seinen Kollegen erleben." Diese Erkenntnis brachte den Bereichsleiter da:SVC!OLOGIEHEUTE
1]/2O15
Job
Wer früher wenig Anerken nu ng erhielt, kann sich oft nur schwer aus Arbeitsver-
hältnissen lösen, in denen es ihm
schlecht geht
Das Bewusstsein, etwas Besseres zu verdienen,
ist dann oft nicht vorhanden. Das kann es Arbeitnehmern schwermachen, sich aus Arbeitsverhältnissen zu lösen, in denen sie schlecht behandelt werden.
Hinderlich für ein erfüllendes Berufsleben sind aber nicht nur negative Botschaften der Eltern in der Kindheit, sondern auch extreme Verwöhnung. Nehmen Eltern ihrem Kind alles ab und bestätigen es stets darin, großartig zu sein, womöglich noch besser als alle anderen, 31
Hoch ist das Risiko allerdings, im späteren Berufsleben nicht klarzukommen, wenn Menschen aufgrund traumatisierender Erfahrungen im Kindesalter nicht gelernt haben, sich in andere hineinzuversetzen und deren Gefühle zu lesen. ,,Mentalisieren" nennen die britischen Psychoanalytiker Peter Fonagy und Mary Target diese wichtige Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren. Die Fähigkeit zur Mentalisierung wird in der Kindheit erlernt, eine Voraussetzung dafür ist die sichere Bindungsbeziehung zu den Bezugspersonen: Das Kind braucht feinfühlige und empathische Eltern, die sich auf die innere Welt ihres Kindes einlassen und ihm helfen, seine inneren Vorgänge zu verstehen. Können Kinder mentalisieren, sind auch sie in der Lage, zufriedenstellende Beziehungen zu führen. Sie
Frühe Verwöhnung kann eine
Karrierebremse sein: Wer im Job erlebt, dass er nicht der Größte
ist, wirft oft zu schnell das
Handtuch
kann daraus eine narzisstische Störung entstehen, die unter Umständen ax gdnzlichen Arbeitsunfähigkeit des Kindes frihrt. Die 28-jährige lulia Finke ist so ein Fall: Zwei Iahre nach Abschluss ihres Studiums der Sozialpädagogik ist sie noch immer arbeitslos, nach drei erfolglosen Bewerbungen gab sie es einfach auf, sich zubewerben. Finanziellen Druck hat sie nicht, schließlich zahlen die Eltern noch immer die Miete, genau wie sie ihrer Tochter früher die Hausaufgaben erledigten und ihr sogar die Bachelorarbeit schrieben. Die Folge: Noch heute schwankt Julia Finke zwischen dem Gefühl, eigentlich nichts zu können und andererseits großartig zu sein. Ein stabiles Selbstwertgefühl ist also nicht vorhanden, in einer Psychotherapie übt sie nun, Rückschläge auch aushalten zu können. ,,Verwöhnung führt meist zu nachfolgenden Traumatisierungen", erklärt Giernalczyk. ,,Für einen Menschen, der nicht gelernt hat, dass er ganz
normal ist, bricht im Job schnell dieWelt
zusammen, wenn er nicht sofort der Größte ist. Immer wenn sein Größenselbst infrage gestellt wird,
neigt er dann dazu, alles wieder hinzuwerfen. Dann kann er nämlich sagen: ,Es lag nicht an mir! Das war nicht das Richtige für mich!'Er muss nicht sagen: ,So gut bin ich nun doch nicht."' Auch wenn sich viele berufliche Konflikte vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen entwickeln, gilt nicht immer die Formel: schwere Kindheit gleich berufliche Probleme. Denn jedes Kind verarbeitet Belastungen und Hilfsangebote unterschiedlich. Genetik, Persönlichkeit, Begabungen und Bindungen an andere wichtige Bezugspersonen wie Großeltern oder Lehrer sind dabei wichtige Variablen. 32
verstehen nach und nach, dass andere Menschen anders denken als sie und Beziehungen nur funktionieren können, wenn sie auf gemeinsamen Kompromissen und respektvoller Rücksichtnahme beruhen.
Auch mit Aggressionen und Konflikten können sie deshalbbesserumgehen: MentalisierendeMenschen beziehen nicht gleich jeden persönlichen Angriff auf sich, sondern sind in der Lage, die dahinterliegenden Motive ihres Gegenübers zu erkennen. Wer nicht mentalisieren kann, läuft also permanent Gefahr, sich in Konflikte mit seinen Mitmenschen zu verwickeln und deshalb beruflich zu scheitern. Denn unser Arbeitserfolg beruht nun mal auf guter Zusammenarbeit.,,Dafür ist Perspektivwechsel unheimlich wichtig", findet auch Thomas Giernalczyk. ,,Wenn ich Schwierigkeiten habe, mich in den anderen einzufühlen, ftille ich diese Lücke mit stereotypen eigenen Annahmen. Dann liege ich oft falsch, und es kommt zu Konflikten und Missverständnissen."
Wie können Arbeitgeber sicherstellen, dass der Regressionsdruck im Iob nicht für Störungen sorgt? Eine wichtige Rolle spielt die Unternehmenskultur, die möglichst durch Wertschätzung, einen gewissen
Grad an Transparenz und haltgebende Strukturen gekennzeichnetsein sollte. Führungskräftenkommt hier eine besondere Verantwortung zu, schließlich sind sie klassische Übertragungsfiguren: Auch wenn sie nicht so agieren, werden sie von ihren Mitarbeitern unbewusst doch wie Eltern wahrgenommen. PH LITERATUR
Thomas Giernalczyk, Mathias Lohmer (Hg.): Das Unbewusste in Unternehmen: Psychodynamik von Führun9, Beratung und Change l"lanagement. Schäffer-Poeschel, Stuttgart 2Ol2
PSYCHOLOGIE HEUTE 11l2O15
Warumwirlieberr wiewirlieben ln der Sexualität ist heute vieles erlaubt, was früher tabu war oder sogar als ,,pervers" galt. Als therapiebedürftig gilt vielen Experten nur noch, was Leidensdruck erzeugt oder anderen schadet. Doch wie entstehen überhaupt ,,besondere" sexuelle Vorlieben? Und wie veränderbar sind sie? VON MICHAEL KRASKE
ahrelang hatte die Frau, die wir Miriam
nichtsvon ihren Fantasien erzählt. Nichts von den Schlägen, die sie sich vorstellte. Nichts von der Lust, die sie bei der Vorstellung empfand, vergewaltigt zu werden. Die sie erregte, aber noch mehrverstörte und für die sie sich schrecklich schämte. Was ihr im Kopf herumgeisterte, passte nicht dazu, wie sich die starke Geschäftsfrau selbst sah. Schon als Kind hatte sie sich ausgemalt, geschlagen zu werden und gehorchen zu müssen. Als sie sich ihrem Mann schließlich anvertraut, zerbricht dessen romantische Idealvorstellung. Er fragt sich: Habe ich eine Perverse geheiratet? Nach langen quälenden Gesprächen kommen die beiden überein: Miriam darf ihre Sehnsucht nach Unterwerfung mit anderen ausleben. Einzige Bedingung: kein Geschlechtsverkehr. Ein erfahrenes SM-
nicht allein verantwortlich", sagt Peer Briken, Direktor am Institut für Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Vielmehr gebe
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Bondage
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des
BDSM
6 Discipline, Dominance (y Submission,
Sadism & Masochism
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ftir die Entwicklung un-
serer individuellen Sexualität, aber sie sind sicher
Paarbringtihrbei, nach den festen Regeln
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,,Gene spielen eine Rolle
Kempe nennen wollen, ihrem Mann
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zu gehorchen. Miriam lernt
es eine
komplexe Verschränkung zwischen geneti-
schen Faktoren, hormonellen Prozessen im Mutter-
leib, die auf den Embryo einwirken, Stressoren und
kindlichen Lernerfahrungen. In der Pubertät verfestigten sich diese Einflüsse und trügen zu unserer sexuellen Orientierung bei. ,,Auf diese Basis wirken spätere sexuelle Erfahrungen ein, fußen aber auch darauf", sagt Briken. ,,Je älter wir werden, umso stärkere Erfahrungen braucht es, um unsere louemap umzuschreiben oder at ergänzen." Als wissenschaftlich überholt gelten alle Modelle, die unsere Sexualpräferenz einseitig entweder aus der Sozialisation oder der Biologie heraus erklären wollen. Zwillingsstudien deuten daraufhin, dass der genetische Einfluss für die sexuelle Orientierung bei etwa30bis40 Prozentliegt,so Briken. Indermensch-
Symbole und Rituale. Nach der ersten Sitzung denkt
lichen Sexualität gibt
sie: ,,Genau das hat mir gefehlt!" Sie hat den Sex ge-
Prinzip.
funden, nach dem sie sich gesehnt und den sie lange verdrängt hatte. Woher kommt Miriams Lust an der Unterwerfung? Warum liebt es der eine hart und die andere zart? Wie entsteht das, was der Sexualwissenschaftler |ohn Money alslovemap bezeichnet hat, nämlich
Die Ausprägung der Sexualpräferenz lasse sich weder an einem Chromosomenabschnitt noch an einem Hirnareal oder Blutparameter festmachen, bestätigt der klinische Sexualpsychologe Christoph J. Ahlers, der in Berlin die Praxis für Paarberatung und Sexualtherapie am Institut für Sexualpsychologie leitet. Gescheitert sind aufder anderen Seite auch Lernmodelle, die allein aus prägenden Erfahrungen in
jene individuelle Ausstattung, die steuert, wie und
.mit wem wir Sex haben wollen? Ist sie im Erbgut festgeschrieben? PSYCHOLOGIE HEUTE']']/2O15
es
kein Ursache-Wirkung-
37
der Kindheit die spätere Ausfor-
muss lauten: Niemandhat sich seine Sexu alpräferenz
mung sexueller Präferenzen ableiten wollen. Die Sexualpräfe-
ausgesucht. Du bist nicht schuld an deinen sexuellen Vorstellungen. Aber du bist verantwortlich für dein sexuelles Verhalten! Werde kein Täter!" Ahlers bietet pädophilen Männern im Rahmen des,,Präventionsprojekts Dunkelfeld" therapeutische Hilfe an, um sie darin zu unterstützen, Verhaltenskontrolle zu erlernen. Im Maßregelvollzug herrsche hingegen immer noch die historische Fehlvorstellung vor, Sexualstraftäter von ihrer ,,Krankheit" heilen zu können, so Ahlers. Langjährige Maßregelpatienten geständen im Rahmen von Prognosebegutachtungen jedoch unter Tränen, immer noch sexuelle Fantasien mit Kindern zu haben. ,,Die Hypothese, wonach man eine Sexualpräferenz therapeutisch hei-
renz entwickelt und entfaltet sich laut Ahlers als Bestandteil
der Persönlichkeit im Zusammenwirken aus biologischen Anlagen und sozialisatorischen
- wie alle psychologischen Persönlichkeitsmerkmale. ,,Bis heute kann die Sexualwissenschaft nicht beantworPrägungen
ten, warum Paul heterosexuell, Gerd pädosexuell oder Petra homosexuell wird", sagt Ahlers.
len, also löschen oder umpolen kann, ist falsch", sagt Eine offene Frage der Sexualwissenschaft: Warum wird ein Mensch heterosexuell, ein
anderer homosexuell und wieder ein anderer pädosexuell?
Eine Liebeskarte mit drei Achsen Zu welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlt, ist aber nur eine der Koordinaten, die auf der persönlichen lovemap abgebildet werden. Ahlers stellt
Ahlers. ,,Therapeutisch möglich ist es, den Umgang mit einer gegebenen Präferenz zu flexibilisieren, also Verhaltensspielräume zu erweitern und dabei zu helfen, verantwortliche Kontrolle über das eigene
die sexuelle Präferenz auf drei Achsen dar:
Sexualverhalten zu erlangen."
1.
die sexuelle
Orientierungauf das männliche und/
oder weiblich e Geschlecht
2. die sexuelle Ausrichtung auf ein präferiertes
Andreas Hill, Arzt für Psychiatrie und Psychothera-
Körperbild begehrter Sexualpartner (Kinder,
pie und Sexualwissenschaftler in Hamburg, hält
fugendliche, Erwachsene) 3. die sexuelle Neigung zu einem präferierlen Typus
gleichwohl eine,,einseitige therapeutische Fixierung
eines Sexualpartners und einer bestimmten Art und Weise (Modus) der sexuellen Betätigung. Jeder Mensch, so Ahlers, verfügt über ein individuelles Muster der Sexualpräferenz auf allen drei Ach-
in den ersten beiden Lebensjahrzehnten in einem biopsychosozialen Prozess geformt und bleibe auf dem späteren Lebensweg relativ stabil. sen. Dieses werde
ähnlich wie bei der Intelligenz: Ebenso wie die intellektuelle Leistungsfahigkeit eines Menschen könne die Sexualpräferenz durch entsprechende Lernerfahrungen modifiziert, nicht aber grundlegend verändert werden. In Bezug auf die sexuelle Orientierung herrscht Das sei so
unter Experten Konsens. Zwar gebe es vereinzelt immer noch therapeutische Angebote, die darauf abzielten, Homosexualität wegzutherapieren, so Sexualforscher Briken. ,,Das ist aber unethisch und nicht vertretbar. Ich kritisiere das auf das Schärfste." Doch wie ist das mit der Pädophilie? Soll und kann man das Begehren nach Minderjährigen,,behandeln"? Ahlers plädiert dafür, beim Verhalten, aber nicht bei der sexuellen Ausrichtung anzusetzen. ,,Nicht der
Umstand, dass jemand auf Kinder steht, ist das Prodass kein sexueller Missbrauch begangen wird. Die Botschaft an Betroffäne
' blem, sondern wichtig ist,
38
Selbst für Pädophile gibt es Alternativen
auf Kontrolle ftir bedenklich". Dass Pädophilie wie andere Präferenzen vor der Adoleszenz festgelegt werde und danach nicht mehr veränderbar sei, sei
empirisch nicht belegt. ,,Dagegen bin ich der Meinung, dass man in einer Psychotherapie andere sexuelle Anteile ausbauen kann, sodass die pädosexuellen Neigungen in den Hintergrund tretenkönnen." Denn, so der Psychiater: ,,Die meisten Menschen sind nicht aufeine sexuelle Spielart oder Präferenz fixiert, sondern können neben der speziellen Neigung auch durch viele andere Praktiken sexuell erregt werden." Das führt zurück zu der Frage, wie und wann sich spezielle sexuelle Neigungen wie die Pädophilie oder
Masochismus und Voyeurismus entwickeln. Auf Fortbildungen erzählt Andreas Hill gern die Geschichte von dem Tanzlehrer, der als Kind von seiner manisch-depressiven Mutter geschlagen worden war und sich stets voller Angst unter das Bett verkrochen hatte, wo er nur die Füße seiner aufund ab gehenden Mutter sehen konnte. Später habe er eine masochistische Lust dafür entwickelt, dominiert zu werden - in Verbindung mit einem Fußfetischismus. ,,Die Reinszenierung seiner traumatischen Erfahrung konnte er auf diese Weise als lustvoll erleben", erklärt
Hill. Doch nichtimmerfindetsich selszene
eine solche Schlüs-
in der Vergangenheit.,Jerletzungen, KränPSYCHOLOGIE HEUTE 1']/2O15
Verletzungen, Kränkungen und Ohnmachtserfahrungen in der Kindheit können bei der Entstehung von
kungen, Demütigungen und Ohnmachtserfahrungen
in der Kindheit spielen zwar bei vielen Paraphilien eine Rolle, sind aber keine notwendige Vorausset-
nrng."
Um eine Vorliebe für eine Paraphilie, also eine ungewöhnliche Sexualpraktik, zu entwickeln, brauche es nicht unbedingt eine Traumatisierung oder
ungewöhnl ichen Sexualpraktiken eine Rolle spielen
andere pathologische Bedingungen, meint Hill. Viel-
mehr durchlaufe - nach der psychoanalytischen The-
orie
-
jeder Mensch die orale, anale und genitale
Phase. Kontrolle über die Ausscheidungen spiele etwa in jeder kindlichen Entwicklung eine Rolle, ge-
nauso wie Macht und Unterwerfung Bestandteile jeder partnerschaftlichen Sexualität seien. ,,Ein In-
für sadomasochistische Dominanzspiele kann sich also aus jeder sexuellen Entwicklung ergeben", meint Hill. Je enger allerdings die Präferenz angelegt
teresse
sei, umso stärker sei der Betreffende in seiner Sexu-
fahrzehnte verdoppelte sich der Anteil von Frauen, die Sex-Toys und Dildos ausprobiert haben. Etwa die Hälfte der jüngeren Frauen hat heutzutage mit solchen Spielzeugen experimentiert. Die Bereitschaft,
densdruck.
sich sexuell auszuprobieren, nimmt zu. Der weltweite Bestseller Fifty Shades of Grey der Schriftstellerin E. L. fames veranschaulicht, wie me-
Das Ende der Perversion
dial befeuerte Moden geradezu einen sexuellen Boom
Sexualwissenschaftler und Psychotherapeuten arbeiten weiter daran, endgültig mit dem Begriffder ,,Perversion" zu brechen, der von der Norm abweichende Sexualpraktiken als krankhaft stigmatisierte. Dage-
auslösen können. ,,Der Erfolg hat Fesselspiele und Hinternversohlen aus der Schmuddelecke geholt und
alität eingeschränkt, und desto eher entstehe Lei-
gen unterscheidet das Diagnosewerk DSM-5 nunmehr differenziert zwischen sexuellem Sadismus und einer sexuell-sadistischen Störung, zwischen Pädo-
philie und derpädophilen Störung. ZurStörungwird die jeweilige Neigung demnach erst dann, wenn jemand unter seiner Sexualität leidet, in seiner sozialen Funktionsfahigkeit eingeschränkt ist oder durch seinVerhalten sichoderanderen schadet. Ungewöhnliches oder abweichendes Sexualverhalten soll also nicht mehr per se pathologisiert werden. Ein Fetischist sucht heutzutage in aller Regel nicht die Hilfe eines Therapeuten, sondern einen Partner im Inter-
populär gemacht", sagt Ahlers. Genüsslich berichteten Medien von der gesteigerten Nachfrage nach Kabelbindern in Baumärkten. ,,Meist wird durch Anregungen gleichwohl nichts genuin Neues freigesetzt",
erklärt Sexualforscher Briken. ,,Neue sexuelle Verhaltensweisen bauen vielmehr auf unseren vorhandenen Erfahrungen auf." Nachahmer sprechen graduell höchst unterschiedlich auf den Stimulus an, so Briken. Wer in seiner lovemap keine entsprechende Blaupause für Machtspiele oder Schmerz angelegt hat, wird es wohl beim einmaligen Experiment belassen. Andere nutzen Fesselspiele fortan als eine Spielart
lang dazu
ihn zum Beispiel Domi-
dass
schaftliche Blick darauf unterliegen Trends, Moden
wird diese Neigung entspre-
und Veränderungen. Was gestern noch als krankhaft galt, ist heute in westlichen Gesellschaften bisweilen
chend ausbauen. ,,Was unser Sexualverhalten angeht, kön nen
Teil eines bunten und breit akzeptierten Spektrums ausgelebter Sexualität. Der Sexualmediziner Volkmar
wir ein Leben lang dazulernen
Sigusch bezeichnet diese Auffächerung der Spielar-
erweitern", sagt Briken. NachdemFifty Shades of Grey dasanrüchige Thema Sadomasochismus in populäre Strandlektüre
PSYCHOLOGIE HEUTE IIl2OI5
angeht, lernen wir ein Leben
unter vielen. Wer aber entdeckt,
net, der die Vorliebe für seinen Fetisch teilt. Sowohl das Sexualverhalten als auch der gesell-
ten als ,,Neosexualitäten". ,,Kulturelle Faktoren beeinflussen das Sexualverhalten sehr", betont auch Briken. Die sexuelle Revolution hat seit den späten l960er Jahren die Art zu lieben tatsächlich nachhaltig verändert. So sank das Alter beim ersten Geschlechtsverkehr seither deutlich. Innerhalb weniger
Shades of Grey: Was das Sexualverhalten
nanz im Liebesspiel stark erregt,
und unser Repertoire deutlich
verwandelt hat, können Neugierige jedenfalls sehr viel unbefangenef zu ihrer Neigung stehen.
39
Jugendliche sehen Pornos, ehe sie ihre ersten Sexualkontakte haben. Was passiert, wenn sie mit den gelernten Bildern im Kopf dann reale Seziehungen eingehen?
Selbstbefriedigung. Ihr demonstratives Interesse an
(
Häufig ist eine radikale Veränderung des Sexualverhaltens jedoch gar nicht Ausdruck von Experimentierfreude. Vielmehr können Übergangsphasen und kritische Lebensereignisse wie Krankheit oder Verlust des Partners dazu führen, auch das Sexualleben zu ändern. Wenn etwa der Ehemann stirbt und Trauer und Einsamkeit vormalige Gewissheiten erschüttern. ,,Für die Witwe fallt dann die reale Bindung zum Partner weg. Zugleich ist sie nun frei, nach ihren ureigensten Gefühlen zu leben", sagt Ahlers. ,,Das kann dazu führen, dass sie sich nun Frauen zuwendet, zu denen sie sich in ihren Fantasien schon
immer hingezogen geftihlt hat." Gleiches gilt fur die Übergangsphase, wenn die
Endlich Fantasien ausleben: Kritische Lebensereig n isse
Kinder etwa zum Studium in eine WG ziehen: ,,Die Kinder sind aus dem Haus, der bürgerliche Lebensentwurf war erfolgreich. Die Notwendigkeit, Normkonformität nach außen zu demonstrieren, nimmt
und Übergangs-
rapide ab. In dem Moment öffnet sich eine Tür, sich
phasen können das Sexualleben zum Positiven verändern
der eigenen Neigung entsprechend zuverhalten." Die
persönliche lovemap macht also offenbar sehr viel mehr möglich, als aktuell ausgelebt wird. ,,Mit wem und wie wir Sex haben, ist abhängig von unserer Persönlichkeit, der Partnerschaft und äußeren Lebensumständen", sagt Ahlers. Daserklärt auch, warum inhaftierte Männer bisweilen Sex mit anderen Häftlingen haben,
obwohl sie nicht schwul sind.
Pornos sind nur noch einen
Klick entfernt Auf das Sexualverhalten junger Menschen wirkt derzeit nichts so stark ein wie das
Internet. Ge-
nauer gesagt: die frei zugängliche Internet-Pornografie. Laut
40
einer Studie der Hamburger Sexualwissenschaftler Silja Matthiesen und Arne Dekker haben 92Prozent der männlichen und immerhin 76 Prozent der weiblichen 16- bis l9-fährigen schon Pornos gesehen. Allerdings nutzen und bewerten junge Frauen und Männer diese den Autoren zufolge grundlegend verschieden. Zwar kennen und tolerieren die meisten jungen Frauen Pornos, doch sie sind ihnen nicht wichtig. Im Gegenteil stabilisieren sie durch Desinteresse daran ihrweibliches Selbstbild. Junge Männer hingegen nutzen die Filme vor allem als Vorlage zrr Pornografie verstärkt die Ausbildung ihrer männlichen heterosexuellen Identität. Wie sich diese jederzeit abrufbare pornografische Bilderflut auswirkt, ist noch heftig umstritten. ,,Wir finden laut Studien unseres Instituts keine Hinweise aufsexuelle Verwahrlosung", sagt Briken, der das Hamburger Institut für Sexualforschung leitet. ,,Die meisten Heranwachsenden können zwischen dem, was sie sehen, und dem, was sie machen möchten, gut unterscheiden." Diese Einschätzung teilt auch der Psychiater Hill. Allerdings könne Pornokonsum zu Gewöhnungseffekten führen und vorhandene Präferenzen verstärken. Zudem gebe es Risikogruppen, bei denen früher und starker Pornokonsum zu einem sexsüchtigen, eventuell auch gewalttatigen oder übergriffigen Verhalten führen könne: ,Viele meiner Patienten zeigen eine Sexsuchtsymptomatik, bei der das Internet die entscheidende Rolle spielt." Problematisch werde es,
wenn eine hohe persönliche Anfälligkeit auf schier unbegrenzte Reize treffe. Der Psychiater vergleicht die Gefahrdung mit der eines Alkoholikers, der jederueit freien Zugang zu einer reich bestückten Bar hat. Besorgniserregend sei, dass einige Pornokonsumenten zu immer härteren Inhalten bis hin zu Gewaltdarstellungen griffen - sich also mitunter ein Steigerungseffekt beobachten lasse. Dennoch glaubt Hill: ,,Die allermeisten werden lernen, damit umzugehen, dass Pornos leicht, jederzeit und haufig kostenlos zugänglich sind." Dagegen warnt der klinische Sexualpsychologe Ahlers eindringlich davor, voreilig Entwarnung zu geben. Da Pornofilme im Internet erst seit etwa zehn |ahren über DSL und Breitbandverbindungen abrufbar sind, lägen noch keine Langzeitstudien über Auswirkungen aufdie sexuelle Entwicklung von Kindern und fugendlichen vor. Ahlers beurteilt die unbeschränkt zugängliche Internetpornografie als einen der wichtigsten Einflussfaktoren für eine Veränderung des Sexualverhaltens |ugendlicher. PSYCHOLOGIE HEUTE ]]/2O]5
,,Niemand vermag abzusehen, welche Auswirkungen ex-
plizit pornografische Darstellungen tatsächlich auf die Gehirne von Kindern und )ugend-
lichen haben werden", sagt Ahlers. ,,Ich sage nicht, dass die frei verfügbare Pornografie die
Sexualpräferenz von Heranwachsenden determiniert, aber sie prägt mutmaßlich mit problematischen Konzepten deren
sexuelle Skripte. Sie werden durch Pornos sozialisiert, bevor sie erste eigene Sexualkontakte
hatten." In den Beratungsstellen Grundsätzlich gilt: Die persönliche lovemap macht viel mehr möglich, als aktuell ausgelebt wird. Das erklärt, warum lnhaftierte bisweilen Sex mit anderen Häftlingen haben, obwohl sie nicht schwul sind
melden sich zunehmend fugendliche, die mit den erlernten pornografischen Mustern in realen Beziehungen Probleme bekommen. Da fugendliche heute üblicherweise ab der Pubertät aufPornos stoßen, rät Sexualforscher Briken dazu, altersangemessen und kontinuierlich aufzuklären.
Wichtig sei, dabei gelassen und rational zu bleiben, ohne Pornos zu tabuisieren oder zu stigmatisieren. Entscheidend ftir die Entwicklung eines lustvollen, unproblematischen Sexualverhaltens sei für junge Menschen eine dialektische Erfahrung: ,,Zu lernen, Sex als lustvoll genießen zu können, aber auch die eigenen Grenzen zu erspüren und sie setzen zu können." Sichere familiäre Bindungen, in denen Sexweder tabuisiert noch übermäßig thematisiert wird, könnten die Entwicklung einer unproblematischen Sexualität ebenso befördern wie die Abwesenheit von Missbrauchserfahrungen. Auch wenn die Sexualwissenschaft nicht genau nachvollziehen kann, was d ie lovem apbeinflusst, hält Briken es doch für hochst unwahrscheinlich, dass in einer positiven sozialen Entwicklung destruktive Sexualität entsteht. Eltern und Erzieher können demnach viel zur Fähigkeit von Heranwachsenden beitragen, später genussvoll und sorgenfrei lieben zu
können.
PH
LITERATUR
Christoph Joseph Ahlers, Michael Lissek: Himmel auf Erden und Hölle im Kopf, Was Sexualität für uns bedeutet. Goldmann, München 2015 Peer Briken, Michael Berner (Hg.): Praxisbuch Sexuelle Störungen. Sexuelle Gesundheit, Sexualmedizin und Psychotherapie sexueller Störungen. Thieme, Stuttgart 2013
'
Andreäs Hill, Peer Briken, Wolfgang Berner (Hg.): Lust-voller Schmerz, Sadomasochistische Perspektiven. Psychosozial, Gießen 2OOB
PSYCHOLOGIE HEUTE I1l2OI5
AusdemThkt Wir gehen abends um elf im Supermarkt einkaufen und kontaktieren mitten in der Nacht die Servicehotline - und uns wird eingeredet, dies als Segnung von Fortschritt und Freiheit zu preisen. Doch unser ach so zwangloses Nonstopleben rund um die Uhr hat einen hohen Preis: Wir haben unseren Rhythmus verloren. Das macht uns müde, reizbar und krank VON BARBARA KNAB
iemlichwütend muss er geworden sein, der junge Münchner Benjamin Weiß. Am Ende eines überlangen Arbeitstages wollte er auf dem Heimweg noch etwas zu essen einkaufen. Zu spät. Anders als in Berlin schließen Geschäfte in München um 20 Uhr. Diesmal stellte Weiß seinen Arger als
Onlinepetition ins Netz. Einer Großstadt unwürdig sei das, der Ladenschluss sei ,,weder flexibel noch Iiberal", sondern,,völlig weltfremd",,,eine Schande", Bayern solle bitte schön ,,endlich im 21. fahrhundert ankommen". In den folgenden drei Monaten unterschrieben gut l2 000 Bayern die Petition. Es hat eine Kehrseite, wenn Leute wie Herr Weiß ,,frei und flexibel" rund um die Uhr einkaufen können: Irgendjemand muss ihnen dieWarenverkaufen. Auch nachts. Das störte die Petenten kaum, einer
fen, Pizza bestellen, trainieren im Fitnessstudio, U-
geht alles auch nachts. Doch die 24l7-Freiheit der einen ist die Fron der anderen: Ie mehr nachts aktiv sind, umso mehr Nachtdienste fallen an, von Dienstleistern bis zur Unfallrettung. Und das wiederum hat Folgen für alle: Viel Aktivitat
Bahn fahren
-
macht die Umgebung zwangslaufig heller und lauter. Wo ist es noch dunkel ohne Rollläden, wo halbwegs
ruhig ohne Schallschutzfenster? Was also, wen n der 24 I 7 -Spaß ernsthafte Folgen hat?
Womöglich nicht nur für die Nacht-
arbeiter, sondern auch für viele ande-
re? Es sind Schlafforscher und
Chronobiologen, die solche Fragen überprüfen. Sie interessieren sich
für
fragte sogar offen: Warum soll es dem Verkaufspersonal besser gehen als dem Rest der Welt im 21. Jahr-
die zeitlichen As-
pekte
biologischer Funk-
tionen. Die
hundert? Klar, Nachtarbeit ist kein Vergnügen. Scha-
sind fast alle rhyth-
det nichts, so der Tenor, die2417-Gesellschaft ist un-
Schlafen und Wa-
chen, siewieder-
ser gutes Recht.
holen sich in fes-
ten Perioden. Der
24 Stunden aktiv, und das sieben Tage pro Woche.
Psychiater Dieter ner Charit6 hat die Onlinepetition von Benjamin Weiß nicht unterschrieben. Im Gegenteil: Er weiß nämlich, wie
Natürlich nicht ständig auf Achse, doch eben dann, wenn's einem gefällt, und sei es mitten in der Nacht. Shoppen und ausgehen, Partyfeiern, Hotlines anru-
ungesund das 24-stunden-Lebensmodell (siehe Interview Seite 44). Das hat mit Schlaf zu tun und mit dem Licht.
Party von Mitternacht bis morgens 2417, das ist die Chiffre
'42
für
das neue Lebensgefühl:
Schlafforscher und Kunz von der Berli-
ist t!-. dem 4 tZ -
PSYCHOLOGIE HEUTE 11l2O15
:
-t
-
4 rI'
!
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I -
ander Borbdly und der Niederländer Serge Daan erst-
mals 1982 formulierten. Die eine balanciert Schlafen und Wachen zeitlich aus: Je länger jemand wach war, umso zwangsläufiger schlaft er ein, sobald es die äußeren Umstände zulassen. Das ist der,,Schlafdruck", der nach 16 bis 18 Stunden Wachsein ziemlich stark
wird. Die Konzentration ist nach 23 Stunden Wachsein
-
etwa im Notaufnahmedienst
!
-
auf demselben
Niveau wie mit einem Promille Alkohol im Blut. Die zweite Komponente des erholsamen Schlafes
betrifft
-
den Rhythmus. Wachen und Schlafen wech-
seln sich regelmäßig ab, nicht ganz so streng wie das Pumpen des Herzmuskels, aber genauso unerlässlich. Die Periodenlänge des Schlaf-WachRhythmus beträgt etwa einen Tag und heißt des-
halb,,zirkadian'. Bei den meisten Gesunden steht die Rhythmuskomponente zwischen 22 und 23 Uhr auf Einschlafen, bei Morgentypen etwas früher, bei Abendtypen etwas später. Es klappt gut, wenn dann der Schlafdruck hoch ist. Und es klappt trotzdem schlecht, wenn es zu dieser Zeit latli. ist, ob wegen Nachbars Stereoanlage oder der Nachtfltige auf der Startbahn. einfach mit dem Schlaf. Gewinnt nicht, wer kürzer schläft, viele Stunden? Damit kann man doch viel mehr machen aus seinem Leben - oder wie Rainer Werner Fassbinder sagte: ,,Schlafen kann ich noch, wenn ich tot bin." Die Party dauert von Mit-
Auf den ersten Blick scheint
es so
Chaos im inneren Uhrwerk Nichtnur Schlafen undWachen sind zirkadian, auch die Aktivität innerer Organe, etwa des Darms. Viele
Hormonewerden im zirkadianen Rhythmus aus-
geschüttet. Nicht zuletzt schwingt die Körperkerntemperatur zirkadian um mehr als ein halbes Grad Celsius. Sie ist nachmittags am höchsten, in der zwei-
ten Nachthälfte am tiefsten.
cher, dass ein unrhythmisches
Verantwortlich fur die Rhythmen sind innere Uhren, und die sitzen in jeder Zelle.Da sie aber nicht präzise im 24-Stunden-Rhythmus schwingen, son-
Leben ein ungutes ist. Erst gu-
dern nur ungefähr, könnte
ter Schlaf halt uns emotional
Das Chaos verhindern ZeitgebetZeitgeber sind äu-
im Gleichgewicht, geistig auf der Höhe und langfristig ge-
ßere Ereignisse. Sie synchronisieren die verschiede-
Und tatsächlich bestätigt die Schlafforschung immer deutli-
sund. ,,Gut schlafen" heißt vor allem: regelmäßig und lange genug. Wie lange? Das ist individuell, es reicht von fünfbis zehn Stunden. o o I
ts @
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i
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I
es
leicht chaotisch werden.
nen zirkadianen Rhythmen untereinander und mit der Zeit auf der Erde. Wirken sie gut, dann schwingen alle zirkadianen Rhythmen synchron, genau
im
trifft auf den jugendlichen
24-stunden-Rhythmus. Nur dann arbeiten die inneren Organe ungestört, und der Schlaf ist gut. Doch wenn sie desynchronisiert sind, also jede Körperuhr ihre eigene Zeit anzeigt, herrscht Chaos. Und das hat
Nachtaktiven ebenso zu wie auf den
Folgen : Leistungsabfall, schlechte Laune, Schlafstö -
hochbezahlten,,Leistungst räger". Dabei ist der Schlaf komplexer, als es zu Beginn der Schlafforschung schien. Zwei Komponentenkommenzusammen, die der Schweizer Alex-
rungen und chronische Krankheiten.
Doch wer täglich müde ist, schläft zu wenig, das
PSYCHOLOGIE HEUTE 1Il2O15
Als Zeitgeber kann jedes Ereignis dienen, das täglich zur gleichen Zeit eintritt, vor allem feste Zeiten
für Arbeit, Pausen oder Essen. Der wirkungsvollste Zeitgeber aber ist das Licht, insbesondere Tageslicht.
Registriert der,,suprachiasmatische Kern" (SCN),
43
reagieren aber genau daraufund melden dem SCN,
ein spezialisierter Nervenknoten hinter der Nasen-
ges
wurzel, über spezielle Lichtsensoren im Auge tagsüber Helligkeit und abends Dunkelwerden, dann synchro-
es sei alles
nisiert er die zirkadianen Rhythmen zuverlässig. Wird es abends immer dunkler, sorgt er dafür, dass die
fristig das Einschlafen. Langfristig kann es die zirkadianen Rhythmen desynchronisieren. Vor allem
Zirbeldrüse im Zwischenhirn Melatonin produziert.
Jugendliche entwickeln dann oft chronische Schlafstörungen. Eigentlich müsste man den Blauanteil der
Das signalisiert dem ganzen Organismus: Demnächst
wird geschlafen. Im typischen Großraumbüro erhält man 400 Lux Lichtstärke. Das reicht nicht als Zeitgeber; es ist Welten entfernt von strahlender Sonne mit 100 000 Lux und ziemlich weit von einem trüben Tag mit immer-
wie zuvor
-
also noch Tag. Deshalb ordert
der kein Melatonin. Das wiederum verhindert kurz-
Hintergrundbeleuchtung von Smartphones & Co herunterfahren. Einfacher, so Kunz, und besser: ,,Schlicht und ergreifend weglegen ! "
Das Ende der Dunkelheit
10 000 Lux. Noch schlimmer: Die Beleuchtung bleibt auch noch ständig gleich. Damit bekommt der
Nicht nur nächtliches Bildschirmlicht bringt die
SCN keine Information, dass es allmählich Abend
leuchtet sich nachts flächendeckend, Wohnungen und
Melato-
Straßen, Geschäfte und Denkmäler. Es wird sogar immer heller, schließlich brauchen die Leuchten immer weniger Strom, und trotzdem fließt in DeutschIand seit fahren fast jede sechste Kilowattstunde in
hin
wird. In der Folge bilden die Leute
nin,
so wenig
dass sie zwar irgendwie müde sind, aber nicht
müder als zuvor. Bildschirme am Abend verschärfen die Lage. Sie werden meist von LEDs beleuchtet, und deren Lichtspektrum enthält weit mehr kurzwellige Impulse als das Sonnenlicht. Die Helligkeitszellen des Au-
Rhythmen durcheinander.
D ie 24 I 7 -G
esellschaft be-
Beleuchtung. Fast wirkt es, als erfüllten wir uns damit einen archaischen Menschheitstraum, das Ende der Dunkelheit. Alte Mythen sprechen davon, die
,,DER MENSCH tST NICHT FÜR SCHICHTARBEIT GEBAUT* Schlafmediziner Dieter Kunz über die Folgen unseres Lebens rund um die Uhr Was ist eigentlich schlimm an Schichtarbeit?
Wir sind nicht dafür gebaut. Der Mensch hat sich in seinen vier Millionen Jahren auf diesem Planeten an die äußeren Umgebungen angepasst.
35 auch der lndustrie empfehlen? Absolut. Die Frage ist, ob es umsetzbar ist.
Warum fallen Jüngeren Nachtdienste leichter? Weil das zirkadiane System noch
zu nehmen, dass sie da ist. Der Mensch ist ein tagaktives Wesen, kein nachtaktives. Nachts sollte er sich mucksmäuschenstill verhalten. Haben Sie in lhrer Klinik
stark ist und gut funktioniert. Da lässt sich eine einzelne Nacht relativ einfach wegstecken. Darauf beruht auch die wichtigste Gegenmaßnahme: Vor einer Nachtschicht muss ich gut ausgeschlafen und getaktet sein. Wann ist das zirkadiane System denn stark? Wenn die 24-Stunden-Rhythmik gut ausgeprägt ist. Wir haben früher gedacht, es gibt eine einzige biologi-
denn keine Nachtdienste? Als ich vor zehn Jahren Chefarzt in der Psychiatrie wurde, war eine meiner ersten Maßnahmen, dass kein Assistent über 35 noch eine Nacht'schlcht machen musste. Würden Sie Nachtdienste nur unter
sche Uhr in unserem Körper. Heute wissen wir, dass jede einzelne Zelle ihren eigenen 24-Stunden-Rhythmus hat. Diese Rhythmen müssen alle miteinander synchronisiert werden. Dann macht jedes Organ im Verlauf der 24 Stunden zu einer bestimniten Tages-
Am dramatischsten war wahrscheinlich der 24-Stunden-Wechsel von Hell und Dunkel, in dem auch die Außentemperatur schwankt. Ob wir diese Rhythmik heute noch brauchen, spielt keine Rolle. Wir haben zur Kenntnis
44
zeit genau das, was es dann am besten tun sollte. Wenn das nicht zusammenpasst und jedes so sein Ding macht, dann ist das Chaos wie bei den Berliner Philharmonikern beim Einspielen.
lnzwischen heißen Diskos,,Nacht-
schicht", und es gehört zum guten Ton, nachts durchzumachen. Was sagen Sie den Leuten, die das für
modern halten? Eine einzelne Nacht spielt keine Rolle, aber dauerhaft verkürzter Schlaf: Wer für acht Stunden Schlaf gebaut ist und nur sechs Stunden bekommt, wird eines Tages dafür bezahlen. INTERVIEW: BARBARA KNAB
Dr. Dieter Kunz ist Chefarzt der Kli-
nik für Schlaf- und Chronomedizin im St.-Hedwig-Krankenhaus Berlin
und Leiter der Arbeitsgruppe Schlafforschung und Klinische Chronobiologie an der Charite - Universitätsmedizin Berlin. PSYCHOLOGIE HEUTE'I]/2OI5
meisten Religionen und inzwischen sogar die UNESCO. Sie hat das Iahr2015 zum,,Jahr des Lichts" ausgerufen, genauer: zu dem der ,,lichtbasierten Tech-
nologien'. Doch Dunkelheit ist keineswegs böse. Astronomen und Zoologen nennen unsere Nachtbeleuchtung inzwischenLichtverschmutzung. Dieeinenklagen, dass sie die Sterne überstrahlt, die anderen, dass sie alle
nachtaktiven Tiere stört. Schon darfsich der Naturpark Havelland mit dem Titel,,Sternenpark" schmücken, weil es dort nachts dunkel bleibt. Sogar New York reduzierte seine Beleuchtung, um die Orientierung der Zrtgvögelweniger zu stören. Nicht nur die Tiere leiden. Richard Stevens, USEpidemiologe, hat weltweit Krankheitsstatistiken mit der nächtlichen Lichtintensität verglichen. Sein Ergebnis: |e heller eine Region nachts beleuchtet ist, umso mehr Krebsfälle lassen sich nachweisen, Krebs der Brust, des Dickdarms und der Prostatavor allem.
Doch auch die großen Volkskrankheiten von Fettsucht über Diabetes bis zur Depression fand Stevens systematisch häufiger dort, wo nachts mehr beleuchtet wird. Dagegen könnten Menschen, die nachts arbeiten müssen, profitieren: Sie könnten bei hellem kaltem
Licht möglicherweise besser wachbleiben und weniger Fehler machen als bei konventioneller Beleuchtung. Nicht nur auf Autobahnen gibt es die meisten tödlichen Unfälle nachts, auch Fabrikarbeiter verursachen nachts mehr Unfälle. Nicht zuletzt, weil sie gelegentlich
kurz einschlafen.
Dennoch warnt Kunz davor, Nachtarbeitsplätze umstandslos sehr hell und mit mehr Blaulicht zu beleuchten: ,,Licht bringt das zirkadiane System durcheinander." Ist es durcheinander, lässt sich verlorener Schlaf nicht einmal mehr in der folgenden Nacht gut nachholen. Tagsüber geht es ohnehin nur teilweise, weil der Organismus dann nicht auf Schlaf eingestellt ist. Tatsächlich schlaft der überwiegende Teil der Nachtarbeiter zu wenig und zudem schlecht.
Jede einzelne Zelle hat ihren eigene n 24-StundenRhythmus. Und diese Rhythmen müssen alle miteinander synchronisiert werden
erfrei sind. Selbst das Steuerrecht hält also Nachtar-
beit nicht für normal. Trotzdem leisten sie immer mehrMenschen in Deutschland.2013 waren es schon etwa vier Millionen, Männer haufiger als Frauen, knapp einer von zehn Berufstätigen. Ein wesentlicher Teil dieser Arbeit ist alles andere als unerlässlich.
Im |ahr
2011 berichteten 517 ,,Topentscheider" dem Allensbach-Institut über ihren Schlaf. Nur jeder
Dritte schlief normal, zwei von dreien brachten es auf maximal sechs, einige nur auf vier Stunden. Im Mittel glaubten sie, eigentlich eine knappe Stunde mehr Schlaf zu benötigen. Das ist systematischer Schlafmangel, und der ist ungefähr so leistungsfördernd, wie sich ausschließlich v on Zucker zu ernähren. Übrigens: Fassbinder starb mit37. Eine Literaturliste zu
diesem Beitrag finden Sie im lnternet unter www. psycholog ieheute.d e/l iteratu r
Wie vie! Nachtdienst brauchen wir? Nun sind manche Tätigkeiten gesellschaftlich erlässlich, dass sie 24 Stunden angeboten
so
un-
werden müssen. Dazu gehört etwa die Arbeit in Krankenhäusern, bei der Polizei oder
in großtechnischen Anlagen. Die in Geschäften eindeutig nicht. Wissenschaftlich
gilt als Nachtarbeit jeder Zwei-StundenZeitraumzwischen 19 Uhr abends und 7 Uhr morgens. Im Steuerrecht zählen alle Zeiten von 20 bis 6
Uhr dazu, das ist nötig, weil Nachtzuschläge steuPSYCHOLOGIEHEUTE II/2015
45
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3
\.-.:,
eitgeber halten uns im Takt. Sie gleichen die Uhren unseres Körpers dem Rhythmus von Tagund
Nacht an. Wenn sie nicht wären, würden Nachteulen - Menschen, die erst abends
richtig munterwerden-erst nach
25
Stun-
den einen neuen Tag einläuten, und Früh-
aufsteher würden schon nach 23 Stunden das Kalenderblatt abreißen.
Der wichtigste Zeitgeber ist das Sonnenlicht. Gerade für Morgenmuffel ist es also sinnvoll, bald nach dem Aufstehen an die frische Luft zu gehen. Denn dort ist es selbst im Winter deutlich heller als drinnen im Zimmer. Auch Essenszeiten sind Zeitgeber. Deswegen raten nicht nur Ernährungswissenschaftler, sondern auch Chronobiologen zu einem vernünftigen Frühstück. Für Frühaufsteher kann es die Hauptmahlzeit des Tages sein, aber auch Schtiler und Erwachsene mit morgendlichen
Anlaufschwierigkeiten sollten irgendwann am Vormittag etwas essen. Das Ge-
hirn braucht Treibstoff, zum Beispiel Kohlehydrate in Form von Marmeladenbrot, Croissant oder Müsli mit Obst. Soziologen um Michael Macy von der ,Cor
nell University haben Miliionen Twitternachrichten gesammelt und einer Text-
46
Rhythmisch durchdenThg Eine innere Uhr gibt uns den Takt vor. Doch wir sollten auch auf sie hören und unseren Tagesablauf auf den Biorhythmus abstimmen. Und umgekehrt. Wie geht das? VON JUDITH RAUCH
analyse unterzogen. Ihr Ziel rvar, festzustellen, wie die Stimn.rur-rg der Menschen
und gibt, ob es da klar erkenr-rbare Rhvthn-ren die ftlr alle Kulturen gelter-r. Die gibt es. Ein Ergebnis: Zur Frr.ihstückszeit ist der Mensch recht gut gelaunt- eir.r erstes Stimmungshoch zeichnet sich ab. Bis zum Abend sinkt die Stimmung danr-r allmählich, um gegen l8 Uhr wieder scharf zu steigen (http://timeu.se). Auch die Aufsich abhängigvon der Tageszeit är.rdert
merksamkeit ist über den Tag nicht immer gleich. Sie ,,steigt kurz nach den-r Aufwa-
senschaftsautor Peter Spork
in
seinen.t
Buch Das Ulrwerk der Natur.,,Das Kurzzeitgedächtn is furr ktioniert lnorgens anl
besten und lässt im Tagesverlauf stetig nach." Ftir produktive Arbeiten, die logisches Handeln und das Lösen komplexer Problemstellur-rger.r erfordern, so Spork,
biete sich der späte Vorn-rittag an, denn dann sind Sprach- und Denkfähigkeit am höchsten. Diese Stunden gilt es zu nutzen.
Alle 90 Minuten eine Pause
sogar noch ieicht ansteigender-r Niveau bis
Doch was heißt da Stunden? Drei oder vier Stunden durchzuarbeiter-r bis zur Mittagspause dürfte auch den-r eifrigsten Bü-
in den frühen Abend", schreibt der Wis-
roarbeiter nicht gelingen. Meist ist nach
chen rasch an und hält sich aufdem hohen,
PS\ CHOLOGIE
cl=U-L
ll,/2O15
v Aus chronobiologischer Sicht ist
es
empfehlenswert, das Mittagessen nicht in einer düsteren Kantine, sondern draußen einzunehmen. Mittagsistdas Sonnenlicht am intensivsten und bringt schlaff gewor-
dene innere Uhren auf Trab. Dennoch folgt am frühen Nachmittag ein leichter Durchhänger-gegen den seit einiger Zeit ein zwanzigminütiger Schlal der ,,Powernap" in Mode ist. Spork berichtet von Firmen und sogar Behörden, die Ruheräu-
me für ihre Mitarbeiter einrichten und den kurzen Büroschlaf propagieren. Bei manchen Menschen steigert er erwiesenermaßen die Leistungsfähigkeit. Doch nicht bei jedem wirkt er erfrischend.
Ein Hoch gen Abend Nachmittags erklimmen wir allmählich ein zweites Leistungshoch. Für Abendtypen ist es das höhere, dann sind sie produktiver und kreativer als am Vormittag. Statistiker haben außerdem festgestellt, dass bei den meisten Menschen spätnachmittags und abends die Nerven
Im Lauf
90 Minuten eine kleine Pause angesagt, ein längerer Blick aus dem Fenster, ein Gang zum Kaffeeautomaten. Wer einen Chef hat, der jetztkomisch schaut, sollte
ihm etwas von ,,ultradianen Rhythmen"
des
gleich wach und sozial gestimmt, hat
einTag. Die gibt eswirklich. Ausgerechnet
Matthew Edlu ndvom Center for Circadian
ein Schlafforscher, Nathaniel Kleitman (1895-1999), hat sie postuliert, denn er
Medicine inFlorida festgestellt. Das Timing
hatte bei seinen Versuchspersonen i m ers-
Jäger-und-Sammler-Tagen, als sich in der Abenddämmerung die Menschen ums Lagerfeuer versammelten. Da passt es gut,
- Rhythmen,
ten Schlaflabor der Welt nächtliche Schwankungen der Schlaftiefe von unge-
ist vielleicht ein Überbleibsel aus unseren
fähr anderthalb Stunden beobachtet.
dass unsere Leber
Kleitman fand
auf Hochtouren arbeitet, sodass wir alko-
es
logisch, dass sich diese
Schwankungen auch am Tag fortsetzen
-
als Aktivitat-Ruhe-Zyklen von etwa 90 Minuten. Und genau diese wurden 2013 in EEG-Untersuchungen gefunden - von
David Kaiser, einem amerikanischen Biopsychologen.
Mindestens drei Stunden sollten zwischen Abendessen und Zu-Bett-Gehen liegen, empfehlen Mediziner, die sich mit inneren Uhren auskennen. Denn Essen erhoht die Körpertemperatur - das macht
Mahlzeit!
a e
Unseren Magensäftenkommt
@
gegen, wenn
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9 F d F
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):
es
schläfrig.
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Rhythmus, der allen Menschen gemeinsam ist und der sich deshalb in unser Sozialleben eingegrabenhat: Fast die gesam-
te Menschheit schwört auf drei bis vier Mahlzeiten u- Tug.
Beratung Soziale Arbeit Therapie Coaching Mediation Supervision Achtsamkeit Systemisch
lösungsorientierte Therapie- und Beratungskonzepte
@@ durch Psychotherapeutenkammer und Landesärztekammer Bäden-Württemberg akkreditierte Fortbildun gsveranstaltungen
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lch bin Mitglied
imVFPweil ich eine professionelle Begleitung in zentralen Rechtsfragen erhalte ich immer top informiert werde ich den Verband unterctütze, der wich-
tige Arbeit für die Akzeptanz von Heilpraktikern für Psychotherapie leistet ich es mit Menschen zu tun habe, die für mich engagieren
sich
es einfach sinnvoll ist!
sehr ent-
wir alle vier Stunden etwas essen. Das ist ein anderer ultradianer
PSYCHOLOGIE HEUTE I1l2OI5
um diese Zeit ebenfalls
holische Getränke besser vertragen.
wach statt o o
Qualifizierung Fortbildung Training
besonders schnell feuern. Die meisten Menschen sind dann zu-
die kürzer sind als
erzählen
fortbildungl.de
LITERATUR
lnformationen über den
Peter Spork: Wake upl Aufbruch in eine ausge-
Verband Freier Psychothera peuten,
schlafene Gesellschaft. Hanser 2O14
HeilpraktikerfürPsychotherapi.
Jürgen zulley, Barbara Knab: Unsere lnnere Uhr.
und Psychologischer Berater e.V. Lister Str. 7, 30163 Hannover
Mabuse 2014
Peter Spork: Das Uhrwerk der Natur. Chronobiologie - Leben mit der zeit.-Rowohlt 2OO4
hier:
A ,4\\ //$r\\
Till Roenneberg: Wie wir ticken. Die Bedeutung der Chronobiologie für unser Leben. Dumont 2012
VFP erhalten Sie
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VFP 47
STUDIEN-PLATZ
DIE PROBLEME DER SCHONEN I ! I
n vielerlei Hinsicht werden gutaussenende tvtenschen von anderen positiver beurteilt als weniger attraktive Zeitgenossen. Man hält sie für bessere Gesprächspartner, spricht ihnen mehr Humor, Liebenswürdigkeit, Leistungsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen zu, wie Studien belegen. Der Vorteil zeigt sich schon in jungen Jahren. So gelten hübsche
Kinder als intelligenter, aufmerksamer,
Viele Menschen glauben, wer schön ist, hat es leichter im Leben. Die Forschung zeigt: Diese Vermutung ist nicht ganz falsch - aber auch nicht ganz richtig
reifer, verträglicher und besser angepasst als optisch
durchschnittliche Spielkame-
raden. Mehr noch: Anmutige Menschen, egal objung oder alt, werden von anderen auch besser behandelt.
sene stehen eher
Attraktive Erwach-
im Zentrum der Auf-
merksamkeit, werden häufiger für Beforderungenvorgeschlagen und erzielen höhere Gehälter. Schön anzuschauende Mädchen und Jungen bekommen bessere Noten, werden seltener bestraft und häu-
figer als Spielpartner eingeladent. Nicht nur im Westen, auch in Kulturen wie Hongkong, Pakistan und Saudi-Ara-
'4g
VoN ANNETTE SCHAFER
bien lässt sich dieser ,,Was schön ist, ist gut"-Effekt beobachten z's. Und er hat weitreichende Folgen. So fanden zwei Forscher von der Universität Wisconsin heraus, dass Unternehmen mit attraktiven Chefs an der Börse höhere Renditen erzielen. Die Wissenschaftler analysierten die Gesichter vo n 67 7 Y or slandsvorsitzen-
den amerikanischer Firmen und bestimmten deren Symmetrie, einwichtiges Merkmal von Schönheit. Das Ergebnis: fe regelmäßiger und harmonischer das Gesicht eines Chefs oder einer Chefin, desto positiver hatten die Aktienkurse auf die Nominierung sowie aufAuftritte der schö nen Firmenchefs im Fernsehen reagierta. Bei genauerem Hinschauen allerdings ist Schönheit weniger vorteilhaft, als es auf den ersten Blick erscheint. Beispiel Jobbewerbungen: Optisch attraktive Kandidaten werden durchaus positiver eingeschätzt als weniger gut aussehende Bewer-
aber nur wenn der Bewerter dem anderen Geschlecht angehört. Trifft da-
ber
-
PSYCHOLOGIE HEUTE'I'I/2O15
von einem Gescl-rlechtsgenossen bewertet,
nen als Leute n-rit durchschnittlich ansehnlichen Gesichtern e. Könnte darin ein Körnchen Wahrheit liegen? Es sieht fast
kann Schönheit ein Handicap sein.
so aus. lsraelische Forscher
gegen eine Aspirantir.r auf eine Persor.ral-
chefin oderwird ein männlicher Bewerber L.r
zwei
fanden heraus,
gen begutachteten rund 3000 studentische
dass attraktive Frauen Ichorientierten Werten wie Macht, Leistung und Genuss
Probander-r Bewertungsunterlagen vor.t fiktiven lob-Aspiranten. Wenn Bewerter
einen höheren Stellenwert einräumen als Toleranz und Akzeptanz gegenüber an-
und Bewerber dem gleichen Geschlecht
deren e.
deutsch-amerikar-rischen Untersuchun-
angehörten, wurden gutaussehende Kan-
Wenn sich schöne Leute egoistisch ver-
didaten trotz gleicher Qualifikation seltener ftir Jobs in Betracht gezogen. Der Grund ftir die negative Reaktion: Schöne
haltelr, folgt die Bestrafung prompt. So wird ihr.ren unfaires Verhalten übler genommen als rveniger attraktiven Zeitge-
Bewerber des gleichen Geschlechts, ver-
nossen, wie eine chinesische Studie zeigt.
muten die Wissenschaftler, bedrohen das
Teilnehr.r-rer beobachteten
s,6.
Selbstwertgefühl der Bewerter Dass Vorbehalte gegenüber schönen Geschlechtsgenossen verbreitet sind, bestätigt eine weitere deutsche Studie. Münchner Wisser.rschaftler legten Probanden die Geschichte eines (fiktiven) männlichen beziehungsweise weiblicl-ren Erfolgsmenschen vor: exzellenter MBAAbschluss, Anerkennung in der erster-r
ein fiktives
,,Diktatorspiel", bei dem Spieler einen Geldbetrag zugen,iesen bekamen und ihn nach Belieber.r mit einern anderen Spieler teilen oder aber ganz für sich allein behalter-r konr.rten. Die Probanden waren
Was tun, u,enn einen die Natur mit ei-
weniger gutaussehenden Menschen.
nem schönen Gesicht ausgestattet hat und
man deshalb unter Konkurrenzgetül-r1en
folg von attraktiven Erfolgsfrauen vornehmlich Glück und weniger deren Fä-
und Angster-r rveniger attraktiver Men-
higkeiten zu, eine herabwürdigende Einschätzung, die sie bei unattraktiven Frauen nicht äußerten. Ein entsprechendes Muster zeigte sich bei der Beurteilung des
chen, sich ,,unters
haft sein, spekulieren die Wissenschaftler,
um sich irn Kampf
Paarungspartner nicht durch attraktive Konkurrenten einun-r
geschtichtert zu fi.ihlenz.
Ausgesprochen schönen Menschen traut man zudem weniger Hilfibereitschaft zu als Leuten, die nur rnittelmäßig attraktiv sind. In einer amerikanischen Experimentalstudie zeigten sich die Teilnehmer überzeugt: Wer großartig aussieht, spendet weniger und engagiert sich seltener in gemeinnützigen OrganisatioPSYCHOLOGIE NEUTE 11/2A15
Mathildo Kistritz MEINE INOFFIZIELLE SELBSTHILFEGRUPPE 6o5 Verlag, z6 Seiten ISBN 9783-oo o44584 z Taschenbuch: tz,gg€ (D)
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lli[in,l'1"'ä,,"
die ,,Bestrater" lo.
den Er-
schlechtsgenossen schlechtzumachen, könnte evolutionspsychologisch vorteil-
den Spiegel haben.
dies u,iederum nur, \\.enn der ,,Diktator"
zeigten entrveder eir.ren sehr schör-ren oder
fiktiven Erfolgsmannes durch mär.rnliche Teilnehmer. Die Tendenz, schöne Ge-
für
als einen unattraktiven. Allerdings galt
derl gleichen Gescl-rlecht angehörte wie
Teih-rehr.r-rer sch rieber.r
Die Themen in diesem Debüt sind wie geschaffen
selbstreflektierte Leser, die keine Angst vorm Blick in
eher beleit, einen gutaussehenden ,,Diktator" zu bestrafen, der sich unfair verhielt,
Managen-rentposition, beiiebtes Mitglied im Sportverein. Die beiliegenden Fotos
Weibliche
Mathilda ist ständig auf der Suche nach Patentrezepten
für ein unbeschwertes Leben. Kurzerhand gründet die findige 59Jährige ihre ganz persönliche Selbsthilfegruppe und tarnt sie als Courmetzirkel. - Mathilda redet Klartext mit selbstironischem Augenzwinkern.
schen zu leiden hat? Xlan könnte versu-
\blk mischen". Nach einer kalifornischen Studie erscheinen Menschen
ir.r
einer Gruppe tendenziell at-
traktir,er als allein. Die Erklärung für diesen,,Cheerleader-Effekt": Das visuelle S1'stem nimmt eine Gruppe von Gesichterr.r nicht als Einzelstücke, sondern als Ensen-rble rvahr und bildet eine Art Durchschnittsgesicht. Herausstechende Merkmale wie eine schiefe Nase oder engstehende Augen fallen dann nicht mehr so ins Gewicht tr. Weniger attraktive Mitglieder profitieren also davon, mit den Besseraussehenden zusammen gesehen zu
und reagieren ihnen gegenüber vielleicht milder. werden
*''
'r-,
i3ös
-
FUR INTERESSIERTE
Die im Text aufgeführten Zahlen l-ll verweisen auf die jeweiligen Studien. Diese finden Sie im lnternet unter www.psychologie-heute.de/literatur
Marlene leitet eine lntensivstation am Uniklinikum der Stadt. Das war jedenfalls das Letzte, woran sie rich erinnern konnte. Als sie im Heim aufwacht, ist sie siebenundachtzig und ans Bett gefesselt ... Marlene Sandmann
EINGELIEFERT Wie ich dem Pflegeheim von der Schippe gesprungen bin
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REDAKTI ON:
IHOIVAS SAUM-ALDEHOFF
F-:tir)
Über die
Im Winter ist Gelb anders gelb Der Winter ist mal wieder in Sicht. Die Farben des Sommers sind dahingeschwunden, alles wird immer blasser und gräulicher. Wie kommt es eigentlich, dass wir über die Jahreszeiten hinweg Grün immer als grün, Gelb als gelb, Blau als blau und Rot als rot sehen - obwohl sich doch sowohl die Lichtverhältnisse als
auch die Farbzusammensetzung der Umgebung
drastisch ändern? Müsste uns da nicht ein Gegenstand, den wir im Sommer zum Beispiel als gelb wahrnehmen, im Winter in einem ziemlich anderen Farbton erscheinen? Solche Gedanken können einem schon mal in den Sinn kommen, wenn man im regnerischen England lebt und forscht, und so sind Lauren Welbourne und
ihre Kollegen an der University of York dem Rätsel der Farbkonstanz nun in einem Halbjahresexperiment nachgegangen. Die Wissenschaftler baten 67 Frauen und Männer im Januar und im Juni ins Labor. Dort saßen sie in einem verdunkelten Raum, warteten, bis ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten undwendeten sich dann einer Maschine namens ,,Coliometer" zu. Mit dieser konnten sie eine Markierung über einen Balken bewegen, der das 52
Jah
resze ite n
hinweg iustieren wir den Eichstrich
Farbspektrum von violett bis tiefrot darstellte. Die Probanden hatten die Aufgabe, die Markierung exakt an der Stelle des Spektrums zu platzieren, wo nach ihrer Anschauung ein reines, unvermischtes Gelb zu
wahrnehmung immer wieder
sehen war.
neu
unserer Farb-
Wie sich herausstellte, war der Farbton, den die Teilnehmer im Winter als originäres Gelb wahrnahmen, gegenüber jenem Punkt, der das Originalgelb
im Spektrum ein wenig verschoben. Welbourne schließt daraus, dass sich unser Sehapparat an die sich jahreszeitlich des Sommers markierte, tatsächlich
wandelnde visuelle Umgebung anpasst und die Farben .jeweils etwas anders justiert. Das sei ein sehr
sinnvoller Mechanismus, meint sie: ,,In York haben wirtypischerweise graue, trübe Winter, und im Sommer grünt es dann überall. Unser Sehsinn kompensiert diese Veränderungen, und das verändert überraschenderweise unseren Eindruck davon, wie,Gelb' aussieht. Es ist ein bisschen so, als würde man an der Farbbalance seines Fernsehers drehen."
DO
lO lOl6/i.cub.2015 o6.o3o
PSYCHOLOGIE HEUTE ]]/2OI5
Im Bereitschaftsdienst muss man zwar erst mal nicht am Arbeitsplatz erscheinen, steht daheim aber aufAbruf. Das stresst selbst
dann, wenn man nicht geruten
wird, wie niederländische Forscher beobachteten. Techniker, die in
Bereitschaft waren, aber nicht angefordert wurden, waren danach erschöpfter als solche, die
einfach dienstfrei hatten. DOI: 10.1O8O,/OOl4Ol39.2Ol5.lO46498
,,ln der Psychiatrie fließen immer
mehr Mittel in die neurowissenschaftliche Grundlagenforschung. Das spiegelt die Erwartung, wenn wir die Funktionsweise des Gehirns erst enträtselt hätten, würden wir auch die Psyche und die Ursachen psychischer Krankheiten endgültig verstehen. Selbst wenn diese Annahme richtig wäre - viele halten sie für reduktionistisch und simplifizierend -, wird ein so ambitioniertes Unterfangen wie die Entschlüsselung des Gehirns sicher viele Jahre in Anspruch nehmen. Wer das bezweifelt, sollte sich der ,Dekade des Gehirns' erinnern, die vor 15 Jahren endete, ohne irgendeinen bedeutsamen Anhaltspunkt zum Verständnis psychischer Störungen erbracht zu haben." Richard A. Friedman, Professor am Weill Cornell Medical College, nennt sich selbst in seinem neurokritischen Gastkommentar für die lnterndtional New York Times (18./19.7 2015) einen,,Psychiater und Pharmakologen, der die Neurowissenschaft liebt".
Mogelnde Selbstvermesser t.;
ffi.+,
Self-Tracking,das Rund-um-die-Uhr-Vermessen der eigenen körperlichen und seelischen Befindlichkeit, ist angeblich der letzte Schrei. Auf dem Markt werden allerlei Smartphone-Apps, aber auch spezi-
ryi B\-
elle ,,Wearables" wie Uhren, Brillen und Armbänder feilgeboten, um Körperfunktionen und Stressindikatoren wie Blutdruck, Hautwiderstand oder Flexibilität des Herzrhythmus zu erfassen. Doch wie verbreitet sind diese ,,Tools" tatsächlich? In einer explorativen Studie hat Stefanie Duttweiler von der Universität Frankfurt 63 Sportstudentinnen und -studenten befragt. 60 Prozent vermaßen sich selbst - doch die meisten von diesen nutzten lediglich Puls-, Stopp- und Armbanduhren, manche sogar bloß Stift und Papier. Nur 25 Prozent verwendeten eine App. Als Gründe wurden genannt: Verbesserung, Überprüfung und Vergleich der eigenen Leis-
tung sowie bloßes Interesse an den Daten. Im UnijournalForschungFrank' furtberichten Duttweiler und ihr Kollege Robert Gugutzer auch über andere Befunde, die den Hype ums Tracking relativieren: So hat die Halfte der Amerikaner, die sich einen ,,Fitness- und Activity-Tracker" zugelegt hat, das Hightechgerät schon wieder ausrangiert. Und laut einer französischen Studie wählen die Self-Tracker bewusst aus, was sie messen wollen undwas nicht: ,,Man suspendiert, was zu deprimierend ist, man misst nur das Positive, man mogelt." www.forschung-frankfurt.uni-f
PSYCHOLOGIE HEUTE 1Il2015
rankf urt.de
53
Koordinierter Körper, fitter Geist Übungen, bei denen es auf Bewegung und bewusste Körperhaltung ankommt, haben eine verblüffende Nebenwirkung: Nicht
nur der Leib, sondern auch der Geist profitiert. Forscher der University of Northern Floridastellten fest, dass bereits ein zweistündiges Training der Körperkoordination eine Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses um 50 Prozent bewirkte. Die Probanim Alter zwischen 18 und 59 Iahren hatten unter anderem
{en
die Aufgabe, auf einem 75 Zentimeter breiten Balken vorwärts
und rückwärts zu laufen und zu kriechen. Andere Übungen bestanden darin, barfuß zu rennen und mit gebeugten Knien auf den Fußballen aufzukommen, die Schultern mitsamt dem Brustkorb zusammenzuziehen und dann wieder herauszudrücken odermit gestreckterWirbelsäule ein Gewicht zu stemmen. Bei alldem kam es daraufan, aufdie Position und Lage des Körpers und seiner Teile zu achten, also die ,,Propriozeption" zu schulen. Am Anfang und am Schluss testeten die Teilnehmer ihr Arbeitsgedächtnis, indem sie versuchten, eine vorgespielte Zahlenfolge rückwärts zu wiederholen. Nach den Übungen gelang ihnen das erheblich besser als vorher. Probanden, die stattdessen zwei Stunden lang Theorieunterricht hatten, aber auch solche, die Yogaübungen machten, verbesserten ihr Arbeitsgedächtnis hingegen nicht. Um diesen Prozessor des Denkens zu trainieren, reicht es also nicht aus, die Körperhaltung zu schulen, sondern man muss sich dabei auch fortlaufend bewegen, meint Studienleiter Ross Alloway. D O I|
-1O.2466
/ 22.PM
S.'12 Ov'l
8xl
Maßhalten - auch mit den Gesundheitstipps Es
mangelt nicht an Empfehlungen, wie man seine
körperliche und psychische Gesundheit erhalten oder verbessern kann. Allerdings wird vieles nicht umgesetzt. Amerikanische, spanische und türkische Gesundheitspsychologen um Kristina Wilson von der Pennsylvania University haben jetzt nach den
Gründen gesucht. Sie werteten 150 Studien aus, die sich mit Gesundheitsempfehlungen bezüglich Suchtverhalten (Rauchen), gesunder Ernährung und Bewegung befassten, und stellten fest: ,,Zwei bis drei Empfehlungen haben die größte Wirkung." Eine einzige oder aber mehr als vier Empfehlungen wurden hingegen kaum umgesetzt, weil sich die Patienten unter- oder überfordert fuhlten. Die Autoren meinen, dass zwei bis drei Empfehlungen deshalb das richtige Maß sind, weil dieses Pensum den Adressaten plausibel und machbar erscheint. Es war außerdem effektiver, ein Gesamtpaket vorzuschlagen, also mehrere Elemente des Lebensstils gesundheitsorientiert auszurichten, als Einzelmaßnahmen anzuprelsen.
MARION SONNENMOSER
DOI: lO.lO37aOO38295
Dieser kariöse Backenzahn ist ein ganz besonderer kariöser Backenzahn. Er wurde in einer Felshöhle
in Norditalien gefunden, ist alt und: Das Loch im Zahn wurde mit einem steinernen Werkzeug behandelt. Somit ist die Zahnmedizin 5OOO Jahre älter, als bislang gedacht. 14OOO Jahre
DOI: 1O.1038,/srep1215O
54
PSYCHOLOGIE HEUTE I1l2015
Die Zeitung als
Gewichtswahrsager Es
gibt eineverbltiffend einfache Methode, den ktinf-
tigen Verlauf der nationalen Gewichtskurve vorherzusagen: Man nehme eine der großen Tageszeitungen (soweit sie ihren Betrieb noch nicht eingestellt hat)
und zähle in den Meldungen, Kommentaren und Reportagen die Anzahl der Wörter, die Lebensmittel bezeichnen. Man notiere ferner, von welcher Sorte Nahrung da jeweils die Rede ist. Ein Forschungsteam um Brennan Davis von der California State (Jniversity hat das ietzt am Beispiel der New York Times'ond der London Times dtrchex-
erziert. Sie werteten die vergangenen 50 fahrgänge aus, berechneten für jedes Jahr Summenwerte der einzelnen Nahrungskategorien und verglichen diese Summen jeweils mit dem durchschnittlichen BodyMass-Index in dem betreffenden Land, also den USA beziehungsweise Großbritannien. Wie sich zeigte, gab
es
tatsächlich eine Verbindung zwischen Wörtern
und Übergewicht. Allerdings trat der Effekt nicht unmittelbar, sondern verzögert ein, nämlich drei fahre später: Je mehr Süßigkeiten in den Texten erwähnt wurden und je weniger Früchte und Gemüse darinvorkamen, desto dickerwurde dieBevölkerung in den folgenden drei Iahren. Auch der Umkehrschluss traf zu: |e weniger über Leckereien und je mehr über Grünfutter geschrieben wurde, desto deutlicher war der Durchschnittsamerikaner oder -brite
im drittnächsten Iahr erschlankt.
,,Zeitungen sind buchstäblich Kristallkugeln für Fettleibigkeit", kommentiert Koautor Brian Wansi nk von der Cornell Unitersity. Er frihrt die Wirkung der Artikel darauf zurück, dass selbst gutgemeinte Rat-
,,Zeitung, Zeitung in der Hand, wie fett werden wir sein in diesem Land?"
schläge wie ,,Essen Sie nicht so viele Kekse" erfahrungsgemäß nach hinten losgehen: Allein die Erwähnung der Nascherei macht Appetit. Besser funktionieren laut Wansink positive Botschaften: ,,Essen Sie mehr Gemüse, und Ihre \\iaagelvird es Ihnen danken."
DO r'lO.ll86,/s12889-015-1981-1
Kreativität als Quelle f ür inneres Wachstum Schreiben ist nicht nur ein wirkungsvolles Mittel, um Lebenssituationen zu verarbeiten und hinter sich zu lassen' schreibend lässt sich auch das Neue aktiv gestalten Die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Dozentin Liane Dirks zelgt, wie Sie sich in der Arbeit mit Worten selbst entf alten, tnnerlich wachsen und so vom beschriebenen Blatt zum Schöpfer der eigenen Geschichte werden können,
Sich
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ins Leben schreiben
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Ein Stresshormon gegen die Heroinsucht Kortisol ist kein besonders angenehmes Hormon, es signalisiert Stress. Gleichzeitig hemmt es das Gedächtnis, doch dies wiederum hat seine guten Sei-
denn
Erfolgreich gealtert,
aberbetrunken Gesund, aktiv, gesellig, gebildet, wohlsituiert: Diese Vorzeigeattribute gelten in der Forschung als Garan-
ten: Kortisol lindert zum Beispiel Angstsymptome, indem es ängstigende Assoziationen blockiert. Und wie sich nun herausstellt, dämmt das Hormon auch das Suchtgedächtnis - und damit das unbändige Verlangen nach dem Suchtstoff. Forscher der Universität Basel gaben 29 Heroinsüchtigen eine Tablette, die entweder Kortisol oder keinerlei Wirkstoff enthielt. Kortisol reduzierte das Suchtverlangen um 25 Prozent stärker als das Placebo. Nun will das Team um Marc Walter überprüfen, ob Kortisol den Patienten auch im Alltag hilft, ihren Heroinkonsum zu reduzieren. Ferner möchten die Baseler Forscher testen, ob das Hormon bei Nikotin-, Alkohol- oder Spielsucht ebenfalls wirkt. DOI: 1O.1038,/TP.2O15.lO1
ten ,,gesunden Alterns". Nun stellt sich heraus: Gerade ältere Frauen und Männer mit diesen Eigenschaften sind besonders alkoholgefährdet. Zu diesem
überraschenden Ergebnis kamen englische Alternsforscher in einer Datenanalyse von 9000 Teilnehmern der Langzeitstudie ELSA im Alter über 50 Jahre. Ge-
rade gute Gesundheit und hohe Bildung, bei den Frauen auch hohes Einkommen, wurden als Risiko-
faktoren für zu hohen Alkoholkonsum in diesem Alter identifiziert. Besonders gefährdet ist also die gehobene Mittelschicht, konstatieren die Forscher. Ob die Betreffenden arbeitsloswaren odernicht, hat-
keinen durchschlagenden Einfluss. Auch Einsamkeit oder Depressionen waren statistisch nicht te hingegen
mit riskantem Trinken verknüpft. Allerdings wirkte der Kummer der Einsamkeit bei den Frauen verzögert und erhöhte das Risiko, zwei lahre später zutief ins Glas zu schauen. Und bei den Männern waren
2770OO
dieAlleinlebenden gefährdet, auchwenn sie sichnicht einsam fUhlten. Eine gesunde Ernährung, bei Frauen auch Pflegeverantwortung für andere, minderte hingegen die Alkoholgefährdung. Bei den Frauen nahm die Trinkgefahr mit fortschreitendem Alter stetig ab, bei den Männern erreichte sie mit 60 einen Gipfel und sank erst danach allmählich.
Veteranen aus dem Vietnamkrieg leiden heute noch unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Rund ein Drittel der Kriegsteilnehmer zeigt das Vollbild einer Depression, so jüngste Daten aus der Vietnam Veterans Longitudinal Study.
DOI: 10.1i36,/bmjopen-2O15-OÖ7684
DOI: lO.1OO1/jämapsychiatry.2Ol5.O8O3
56
PSYCHOLOGIE HEUTE III2O15
Resilienz: Das missyerstandene Kon zePt Alle Welt spricht von Resilienz' Sie wird gefeiert wie ein Allheilmittel für jegliches Problem, dem Menschen in der heutigen welt ausgesetzt sind. Das soll uns für Krisen stärken - und bewirkt doch das Gegenteil VON THOMAS GEBAUER
er
dasWort,,Resilienz" googelt,
stößtaufmehrals 500 000 Einträge. Ursprünglich stammt der Begriffaus der PhYsikund beschreibt die Fähigkeit eines Werkstoffs, auf Störungen, die von außen auf ihn einwirken, unbeschadet reagieren zu können' Resilire, lateinisch, meint wörtlich übersetzt abprallen, zurückfedern. Heute verbirgt sich hinter dem Namen ein Konzept, das wie ein neuer Stern nicht nur am Himmel von Pädagogik und Psychologie aufgegangen zu sein scheint.
Menschen sollen Krisen standhalten, indem man ihre Widerstandskräfte stärkt - in der Erziehungsberatung ist diese einfach klingende Idee genauso ein Thema wie in der Traumabehandlung, es taucht in den einschlägigen Ratgeberspalten der Boulevardpresse auf, wird aber auch in der Frage des Aufbaus
von Gesundheitsdiensten in Westafrika behandelt' in Trainingskursen für Führungskräfte und beim Schutz vor Klimawandel sowie kriegerischer Gewalt' Fast scheint es, als wäre damit ein Allheilmittel ge-
funden gegen all die Probleme, denen Menschen in der heutigen Welt ausgesetzt sind. Dabei ist das aktuelle Verständnis von Resilienz durchaus kritisch zu betrachten. Zunehmend scheint sich das Konzept als Teil jener neoliberalen Hegemonie zu entpupPen, zu deren Wesen es auch zählt' gesellschaftliche Verantwortung in die Sphäre des Privaten abzudrängen'
Eingeleitet wurde der Prozess der Aushöhlung solidarisch verfasster Gesellschaftlichkeit in den 1980er
58
Iahren
mit
Margaret Thatchers Ausspruch ,'There
is no such thing as society"' Möglich war dies letzt-
lich nur auf der Grundlage einer Ideologie, die sich tief ins Bewusstsein der Menschen eingegraben hat, auch in die Überzeugungen jeneS die darunter am meisten zu leiden haben: der Ideologie einer neoliberal gewendeten Idee von Eigenverantwortung' In der Privatisierung gesellschaftlicher Verant-
wortung liegt kein Widerspruch zum Verantwortungsdiskurs der Regierenden. Die Betonung einer gewachsenen sicherheitspolitischen Verantwortung Deutschlands korrespondiert durchaus mit einer zunehmenden Verantwortungslosigkeit im Sozialen' Beides ist Ausdruck einer Politik, die sich ganz der herrschenden kapitalistischen Ökonomie ausgeliefert hat. Verpflichtet fühlen sich neoliberale Politikerin-
nen und Politiker bestenfalls noch gegenüber den Vorgaben der Ökonomie.
ist dieses System sozialpolitischer Verantwortungslosigkeit, das sich zu seiner Rechtfertigung mehr Es
und mehr der Resilienz bedient. Drei Beispiele zeigen, wie weit sich dieses Konzept bereits unserer Lebensumstände bemächtigt hat. 1. Wer im Internet nach Resilienz sucht, sieht sich mit einem kaum überschaubaren Angebot für entsprechende Trainingsprogramme konfrontiert' Für 25 Euro kann man seine Resilienz im Online-Schnelldurchgang testen lassen oder für 1220Euro das Se-
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minar eines Instituts für Managemententwicklung
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besuchen, das für seine Leistungen mit dem Hinweis ,,Resilienz Ihr persönlicher Schutzschild gegen
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PSYCHOLOGIE HEUTE']']/2015
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Die Motive, die Pädagogik und Psychotherapie rn
den zurückliegenden Jahrzehnten über das Thema Resilienz nachdenken ließen, waren durchaus zu be-
grüßen. Fraglos zielte man darauf ab, die gesunden seelischen Kräfte von Menschen zu stärken. Man kann das mit dem Begriff Resilienz umschreiben, Ziel ist dann die Förderung der Widerstandskraft von Menschen; Psychoanalytiker würden vielleicht von Ich-Stärke sprechen. Das ist nicht falsch. Problematisch wird es erst, wenn in der Praxis der Blick fur die komplexe Interaktion zwischen Mensch und Umwelt verlorengeht und Resilienz auf eine individuelle Bewältigungskompetenz reduziert wird, die als solche im Individuum existieren soll und dort gefördert werden kann. Genau davon aber gehen viele heutige Resilienzkonzeptionen aus. Resilienz wird darin ztt einer ,,Art immunisierender Persönlichkeitseigenschaft (...), die es lediglich zu wecken oder zu trainieren gilt", wie der Pädagogikprofessor Michael Fingerle in seinem 2007 erschienenenAufs atz Der,,riskante" Begriff der Resilienz schreibt. Unter solchen Umständen muss
man nicht mehr auf die Welt, wie sie ist, Einfluss nehmen, um Menschen vor negativen Erfahrungen zu schützen; es reicht, ihre Widerstandskraft zu steigern. Wer in einer
immer unsicherer werdenden Welt lebt, hat das Bedürfnis, sich schützen zu müssen - das macht die Attraktivität des Resilienzkonzeptes aus
Stress und Burnout" wirbt. Resilienz scheint das Geheimnis der sogenannten Stehaufmenschen zu sein,
die selbst aus Niederlagen noch gestärkt hervorgehen.
2. Im April vergangenen fahres lud die Europäische Union zum ersten Resilienz-Forum nach Brüssel ein. Dort lobte die EU-Kommissarin
für huma-
sich auf (Krisen-)Bewältigungsmechanismen beziehe,,,die die Menschen selbst schaffen müssen". Beispielhaft nannte die Kommissarin die Bewohner küstennaher Dörfer in Bangladesch, die - um sich auf Überflutungen vorzubereiten - von Hühner- aufEntenzüchtung umgestellt hätten. 3. Gut eine Million US-Soldaten sollen mit dem Comprehensive Soldier Fitness-Programm gestählt werden. Im Zentrum des 125 Millionen Dollar teuren Trainings, das Psychologen um den Guru der positiven Psychologie, Martin Seligman, entwickelt haben, steht die Vorbereitung auf traumatische Ereignisse. Die Soldaten sollen lernen, selbst extreme Erfahrungen als Herausforderung für persönliche Reifeprozesse anzusehen, als Erlebnisse, die ihnen
nitäre Hilfe das Resilienzkonzept, weil
es
Selbstbewusstsein und Stärke vermitteln. Das Ziel 'sei ,,eine unbezwingbare Armee", so Seligman, die negative Gefühle nicht mehr kennt und an der alles, was die Kampfkraft stören könnte, abprallt.
60
Die Ressourcen wurden dabei auf personale Eigenschaften reduziert, während andere, externe Kraftquellen, die Menschen für eine positive Entwicklung gleichermaßen benötigen, mehr und mehr aus dem Blick gerieten - ein angemessen ausgestattetes Bildungssystem etwa, gesellschaftliche Anerkennung oder soziale Gleichheit. Statt weiter das gesamte Spektrum an Risiken und Schutzfaktoren zu berücksichtigen, konzentrierte man sich immer mehr auf die Frage einer einseitigen Förderung individueller Bewältigungskompetenzen.
Freiheit, Autonomie
-
und mehr und mehr
Eigenverantwortung Natürlich liegt in einer solchen Engführung auch eine große Verführung. Freiheit und Autonomie sind hehre Ziele, undwenn es nichtmehr gesellschaftliche Umstände sein sollen, die über die Lage von Menschen entscheiden, sind letztlich auch der Pädagogik und der Psychotherapie keine Grenzen mehr gesetzt. Selbst die Bekämpfung gesellschaftlich verursachten Leides, die Frage, warum Menschen am Arbeitsplatz zusammenbrechen oder warum sie den Eindruck ha-
nichtmehr gebrauchtzuwerden:Alldaserscheint mit einem Mal allein durch erzieherische beziehungsweise therapeutische Interventionen abwendbar. ben,
PSYCHOLOGIE HEUTE 11l2O15
Resilienz dient als Vorwahd, keinen Einfluss auf die Welt nehmen zu müssen. Die Widerstandskraft des Einzelnen zählt
Die Blüten, die der Diskurs in Pädagogik und in Psychologie getrieben hat, sind heute zum Beispiel in den Auslagen der Buchhandlungen zu bewundern. Ein ganzer Berufszweig scheint sich inzwischen auf Resilienz zu kaprizieren und damit marktförmig auf ein Bedürfnis zu reagieren, das durchaus existiert und vermutlich noch wachsen wird. Die Bücher tragen Namen wie Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. Resilienz aufzustehen.
Mit
-
die Kunst wieder
mehr Selbst zum stabilen ICH!
-
Re-
silienz als Basis der Persönlichkeitsbildung. Resilienz 7 Schlüssel
-
für mehr innere Stärke.
populärwissenschaftlich diese Titel daherkommen mögen, in ihnen steckt viel Wahrheit. Sie verdeutlichen, was die Attraktivität des Konzeptes ausmacht: Es sind vor allem unlustvolle Erfahrungen, auf die es antwortet. Angste vor dem Scheitern, das Geftihl, fremden und eigenen Ansprüchen nicht zu genügen, das Bedürfnis, sich in einer immer unsicherer werdenden Welt schützen zu müssen - mit anderen Worten: ein wachsendes Unbehagen an den Verhältnissen. Dieses Geftihl resultiert aus gesellschaftlichen Umständen, die Heinz Bude 2014 als ,,Gesellschaft der Angst" beschrieben hat: Lebensbedingungen, die keinen Zweifel daran lassen, dass So
die großen Freiheits- und Glückversprechen der Mo-
derne für eine wachsende Zahl von Menschen not-
wendig unerfüllt bleiben. Das Risiko zu scheitern ist gewachsen Tatsächlich haben die zurückliegenden fahrzehnte nicht eine Zunahme an individueller Freiheit gebracht, sondern die voranschreitende Unterwerfung aller, auch der privaten Bereiche des Lebens unter eine von Marktwirtschaft und Verwaltung vorgegebene Zweckrationalität. Jürgen Habermas hat diese Entwicklung 1985 als ,,Kolonisierung der Lebenswelt" beschrieben. Wie weit dieser Prozess bereits vorangeschritten ist, zeigt sichauch in der Ökonomisierung menschlicher Existenz. Längst hat sich der Homo sapiens in einen Homo oeconomicusverwandelt, der seine Interessen, sozialen Beziehungen, sein Verhalten an betriebswirtschaftlichen Überlegungen ausrichtet und dabei selbst vom ökonomischen Kalkül durchdrungen ist. Die Idee eines ,,unternehmerischen Selbst" hat sich durchgesetzt, und mit ihrer Propa-
gierung ist das, worauf sich Menschen stützen können - von Richard Sennett ,,emotionaler Anker" genannt -, abhandengekommen.
Möglichkeit, die strukturellen Vorgaben von Marktwirtschaft und Verwaltungsstaat, innerhalb der sie als
Unternehmer in eigener
Sache
tätigwerden sollen,
wirkungsvoll zu beeinflussen. Damit ist das Risiko
für etwas gewachsen, das im neoliberalen Lebensentwurf eigentlich nicht vorgesehen ist - das Scheitern. Das löst Angst aus, die abgewehrt werden muss beziehungsweise auf Entschädigung drängt. Der rastlose Konsum fetischisierter Waren kann eine solche
illusionäre Entschädigung bieten, aber auch die Suche nach Identitat, ftir die es freilich kaum noch feste Bezugspunkte gibt. Was aus dieser Suche resultiert, ist ein flackerndes Bewusstsein, dessen innerstes Gesetz die Unruhe selbst ist. Und eben diese Unruhe ist hochgradig systemkonform : Auf perfekte Weise korrespondiert das Geftihl einer inneren Getriebenheit mit der Allgegenwart eines Marktes, dessen fltichtige Bilderwelt eine ebenso flüchtige, aber permanente Bewegung erfordert. Unter solchen Umständen kann es nicht verwundern, dass sich Erschöpfung breitmacht und das ,,unternehmerische Selbst" in einem ,,erschöpften Selbst" mündet - in Depression. Was aber passiert mit Menschen in einer Welt, die Ideale propagiert, die ftir die meisten unerreichbar bleiben? Wie reagieren Leute, wenn SelbstverwirkIichung und Teilhabe an realer oder fantasierter Perspektivlosigkeit, am Gefühl des Ausgeschlossenseins und des Nicht- ernst-genommen-Werdens scheitern
?
Wenn dumpfe Verlust- und Versagensängste zu dem
bestimmenden Lebensgefühl werden? Was passiert mit jenen, die zur Aufrechterhaltung ihres Selbstgefühls narzisstische Allmachtfantasien wiederbeleben? Liegt im Ausschalten von Skrupeln und dem Einswerden mit dem gesellschaftlich propagierten
Weder gibt es heute noch jene soziale Sicherheit,
Ideal des Siegertyps nicht jene Idee von Resilienz, auf die die erwähnten Trainingsprogramme zielen? Ist nicht in Soldaten, denen jede menschliche Regung
in die Hand nehmen ließe, noch haben die Einzelnen die
abtrainiert wurde, der Prototyp eines vollends resiIienten Menschen auszumachen, an dem selbst die
aus der heraus sich das eigene Leben angstfrei
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Statt um politische Lösungen geht es um eine individuelle Bewältigung. Die Katastrophe an sich gilt als unvermeidbar extremsten Lebensumstände abprallen und dessen Widerstandskraft total ist? Wilhelm Reich sprach in diesem Zusammenhang von Charakterpanzern,wobei für ihn das therapeutische Ziel im Aufbrechen dieser lag, während es in vielen Resilienzprogrammen offenbar darum geht, ebensolche aufzubauen: aus dünnhäutigen narziss-
tischen Charakteren, die verängstigt und voller Selbstzweifel sind, dickhäutige Narzissten zu machen,
in denen sich alles um den Erhalt eines hochfliegenden Ich-Ideals dreht. Die Vorstellung, man könne traumatischen Erfahrungen über Resilienztrainings präventiv begegnen, hat längst den Weg aus dem militärischen Kontext ins zivile Leben gefunden. Seligman nutzt die im C o mp rehensive S oldier F itnes s -P r ogr amm gewonnenen Erkenntnisse, um sie auch in Schulen anzuwenden; Kinder sollen schon früh lernen, wie sie schwierige Lagen überstehen können. Und auch Universitäten bieten heute Workshops zur Frage an, wie
man in einer von Karrieredruck, Konkurrenz und Zurückweisung geprägten Welt ein resilienter Forscher werden kann. Ziel solcher Programme ist nicht mehr die Gestaltung menschenwürdiger Lebensumstände, sondern dieAnpassung der Menschen an eine mehr und mehr
- durch Selbstoptimierung, den Aufbau von Schutzschilden und individueller Bewältigungskompetenzen. Wer dazu nicht bereit ist, dem
versagende Welt
wird nachgeholfen, zum Beispiel mit Pfl ichtenheften, die längst nicht mehr nur im ,,Fördern und Fordern" der Jobvermittlung auftauchen, sondern auch in der Pädagogik Einzug gehalten haben.
lst lch-Stärke lern- und Iehrbar? Die Idee ist einfach: Wer bereit ist, ein wenig zu trai-
nieren, kann resilient werden. Ich-Stärke ist dann keine biografisch gewachsene, im Zuge der psychischen Entwicklung geformte und so immer auch . konfliktive Eigenschaft mehr, sondern eine Technik, die gelehrt und gelernt werden kann. Klappt die Anpassung nicht, können vielleicht noch Pädagogen
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oder Therapeuten zur Verantwortung gezogen werden, aber im Prinzip geht auch der Misserfolg zulas-
ten der Individuen selbst. Was das heißt, ist in der Boulevardpresse zu studieren: Dort gelten Armut, Bildungsferne, Flucht, aber auch nur Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensumständen mehr und mehr als selbstverschuldet; die Leute haben verabsäumt, ihre Ressourcen zur Geltung zu bringen. Wer so argumentiert, übersieht, dass der Appell zur Eigenverantwortung just in dem Augenblick erging, als die Voraussetzungen für diese systematisch unterhöhlt wurden und die Verwirklichungschancen von Menschen mit den Einschnitten in der Sozial-
und Bildungspolitik nicht größer, sondern kleiner wurden. Gegen mehr Selbstbestimmung ist schon aus emanzipatorischer Sicht nichts einzuwenden. Die Alteren erinnern sich, wie wir früher mit der Forderung nach Autonomie auf die Straße gegangen sind. Nun sieht es danach aus, dass eben diese Forderung mit der neoliberal überhöhten Idee von Eigenverantwortung gegen uns selbst gewandt wird. Aus der Zurückweisung staatlicher Gängelung wurde eine von oben durchgesetzte Freisetzung, eine Form von repressiver Emanzipation, die immer mehr Menschen nichts anderes bringt als Vogelfreiheit. Unter solchen Umständen verwundert es nicht, dass Resilienz at einer Art Schlüsselwort für die heutigen Verhältnisse geworden ist. Weil Politikkaum
noch über ein reaktives Krisenmanagement hinausreicht, gilt Resilienz als zweckmäßigste Waffe gegen
die herrschende Krisendynamik. Ob Klimawandel, die wachsende soziale Ungleichheit, die Bekampfung von Epidemien wie Ebola oder der Schutzvor Finanzkrisen - die Lösung soll Resilienz liefern. Besonders aufschlussreich ist, wie der Begriff inzwischen in der Sicherheitspolitik Fuß gefasst hat. Den Wendepunkt dabei markieren die Terroranschläge auf das World Trade Center.
Grundlage all dieser Überlegungen ist die Überzeugung, dass die heutigen Verhältnisse extrem störanfallig und eigentlich nicht mehr zu kontrollieren sind. Solche Verhältnisse produzieren zwangläufig Krisen, die dank Resilienz als einer Art nachgelagerter Sicherheit dennoch bewältigt werden können. In Israel etwa lernen Schulkinder, von Gewalt nicht mehr
überrascht zu werden. Unter dem Eindruck simulierter Terroranschläge üben sie, wie Angst durch Atemübungen und positive Gedanken bekämpft werden kann. Fragen, wie die Konfliktlage im Nahen Osten politisch zu lösen wäre, sind nicht Teil des Lehrplans. Letztlich offenbaren solche Strategien das PSYCHOLOGIE HEUTE']1/2O]5
furchtbare Eingeständnis, dass Unsicherheit künftig keine Ausnahme mehr sein wird, sondern die Regel.
Die Katastrophe gilt als unvermeidbar Resilienz, so der britische Sozialwissenschaftler Mark
Neocleous, sei vergleichbar mit einem ,,besorgten Blick in die Zukunft". Stadtplaner müssten bei jedenr Vorhaben immer auch das Risiko ktlnftiger Terroranschläge berücksichtigen, Gesundheitsexperten die
Zunahme von Pandemien, Entwickiungspolitiker den Anstieg des Meeresspiegels. So zweckrational solche Überlegungen zu sein scheinen - sie bleiben nicht ohne Konsequenz für das Bewusstsein. Wenn alle davon ausgehen, dass die Katastrophe unvermeidbar ist, bleibt nur, sich immer wieder vorzustellen, wie sie sich schließlich
ereignen kör-rr-rte.
Resilienz
tendiert so zur Kolonisierung der letzten noch verbliebenen Sphären von Freiheit, so Neocleous, der menschlichen Vorstellungskraft, die nun ihrerseits in den Dienst eines üaslness as usual gestellt wird. Bemerkenswert ist auch, wie ir.r diesen-r Diskurs der Bezug auf staatliche Institutionen durch Anru-
Staatsverständr-ris rnit, das sich von der Idee
fentlicher Verantwortung zu realisierender und schützender Menschenrechte i mmer weiter entfernt und so letztlich jer-rer-r Gesöllscl-raftsvertrag aufkündigt, aufden sich n-roderne Staaten gegründet haben.
Zieht
n.rar.r
deregulierter Ökonomie, neoliberal zugericl-rteter Subjektivitat und einem bourgeoisen Staatsverständnis, das nur noch der-r Rahtnen für die Verteidigung von Besitzsttinden, Privilegien und Chancer.r der Mächtigen zu sichern hat. Psychologisch gesprochen soll Resilienz n-rit Verhältr.rissen versiihnen, die in ihrer kriser.rhaften Entwicklung notwendig auch zu wachsender sozialer Ungleichheit führen. Diese Konzeptior.r r,on tnenschlicher Widerstandskraft ist in
Widerstand, der sich an den \rerhältnissen entzündet, am Ende aber dazu beitriigt, eben diese Verhältnisse zu stabihohem Ma13e problen-ratisch: Es ist
Resilienz schwingt also auch ein komplett
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Thomas Gebauer ist DrDlomosycho1996 Geschäftsrührer o", .. Frankiurt am l.lain ansässtgen Hilf s- und l.4enschenrechtsorganisation medico international. Der 60-Jähriqe isr l'/rtbegründer der ..lnternationalen ^amoagne zum Verbot von Iändminen . die'1997 mit dern Friedensnobel preis ausgezeichnet wu rde. lVehr unter: www.medico.de.
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nen mögen noch für die Sicherung von macht- und wirtschaftspolitischen Interessen zuständig sein, nicht mehr aber für die Gewährleistung sozialer An-
ansprüche mehr richten lassen. In der Betonung vor.t
all das in Betracht, entpuppt sich das
Resilier-rzkonzept als eir.re Art Knotenpunkt zwischen
fungen informeller Gemeinschaften wie Farnilie oder Nachbarschaften ersetzt wird. Staatliche L.rstitutio -
sprüche. Letztere werden an gesellschaftliche Subsysteme delegiert, die Menschen zwar hilfreici.r zttr Seite stehen können, an die sich aber keine Recl-rts-
in öf-
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.
Lasst uns einen Bananen-
baumumarmen! Wenn Psychotherapeuten Menschen aus anderen Gegenden der Welt helfen, brauchen sie viel Einfühlungsvermögen und kulturelle Kenntnis. Was für Einheimische ein hilfreicher Rat ist, kann andernorts brüskieren VON SUSANNE DONNER
ehr als 30 Jahre Krieg, Millionen Menschen traumatisiert und eine der höchsten Suizidraten weltweit. Die Menschen in Afghanistan sind gezeichnet von der Geschichte ihres Landes. Aber wenn sie zum Arzt gehen, gibt es ftir ihr Leiden oft keinen Namen und im besten Fall Schlaftabletten oder Schmerzmittel. Dabei wüssten Psychologen und Psychotherapeuten Hilfe. Sie können Depressionen, Traumata und andere seelische Beschwerden wie Angsterkrankungen erfolgreich behandeln.
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Kann man damit überhaupt Menschen anderer Kulturen helfen, in denen das Befinden oft ein Befinden in der Familie, im Kollektiv ist, in denen man nicht fragt, wie geht es dir, sondern wie geht es euch? Kulturen, in denen die Meinungvielleicht nichtrundheraus geäußert wird und Geftihle anders ausgedrückt werden. Man kann helfen, sagen zumindest die Vertreter der transkulturellen Psychologie. Aber ohne Anpassungen und ohne Sensibilitat ftir die jeweilige Kultur ist
es
nicht möglich.
Verfolgt vom unsichtbaren Hund
,,Doch die Lehre von den psychischen Erkrankungen und auch die Verfahren der Psychotherapie sind
Das fängt schon beim Problemverständnis an. Ein Beispiel: Ein Mann aus dem Nahen Osten erzählt in
im Westen entstanden", sagt Winfried Rief, Psychologe der Universität Marburg. Alle Konzepte stellen das Individuum und dessen Autonomieentwicklung ganzin das Zentrum der Therapie.
dem psychosozialen Beratungs- und Behandlungs-
zentrum ftir politisch Verfolgte der Organisation Xenion in Berlin unter anderem von einem Hund, der ihn vor seinem Wohnheim angefallen habe. Doch PSYCHOLOGIE HEUTE 11l2O]5
Reges lnteresse: Frauen aus der Umgebung sind zu einer Grup-
pensitzung im psychosozialen Zentrum von Bo in Sierra Leone zusam-
mengekommen
im Heim hat das Tier niemand gesehen. Der Mann
will sich das Leben nehmen und leidet schwer. Man könnte ihm Wahnvorstellungen und letztlich eine Psychose unterstellen. ,,Man muss genau zuhören, um überhaupt erst einmal das Problem zuver-
klingt so einfach, ist es aber nicht", sagt Zorica Eteroviö, Psychotherapeutin bei Xenion. Sie erfuhr so, dass der Flüchtling aus dem Nahen Osten nicht nur sein Leben beenden wollte, sondern auch unter starken Herzschmerzen litt. Er war zudem vom |esidentum zum Christentum übergetreten, weil er sich in dieser Religion mehr zu Hause ftihlte und eine christliche Frau heiraten wollte. Deshalb wurde er jedoch in seinem Heimatdorfausgegrenzt. Er ging nach Deutschland. Seine zukünftige Frau sollte ihm folgen, heiratete dann jedoch seinen besten Freund. stehen. Das
,,Das ist absolut tragisch
für ihn. Er hat ein doppeltes
Fast alle traumatisierten Kambodschaner, in einer. Studie waren es 35 von 38, beschreiben einen steifen, schmerzenden Nacken und befürchten, dass ihre Gefaße in dieser Region platzen könnten. Das wird in Kambodscha sogar als eigenständiges Krankheitsbild, als Khyäl-Attacke bezeichnet. Aus Angst, daran zu sterben, wenden sie allerlei spezifische Praktiken
an, um der Krankheit zu entrinnen. Etwa versetzen Kambodschaner ihrem Körper blutige Striemen, indem sie die Haut mit einer Münze aufkratzen. Daneben fühlen sich die Betroffenen aber auch auffallig oft schwindelig - so schwindelig, dass sie
mehrmals in der Woche stürzen. Besonders häufig, so oft wie die Patienten keines anderen Kulturkreises, erleben sie auch eine sogenannte Schlafl ähmung. In bestimmten Schlafphasen
ist bei gesunden Menschen die Muskulatur
des
in seinem Kulturkreis nicht vorkommen darf und er so vor der ganzen Gemeinde bloßsteht. Dem Schrecken dieser Erfahrung konnte er aber nur in Form
Körpers weitgehend gelahmt. So ist sichergestellt, dass die Bewegungen, die man im Traum ausführt, nicht auf den realen Körper übertragen werden und man etwa im Bett um sich schlägt. Bei der Schlaflähmung kann diese Starre jedoch auch nach dem
der Pseudohalluzination eines angreifenden Hundes,
Erwachen für einige Augenblicke andauern, und diese
im Jesidentum, Ausdruck geben",
Bewegungsunfähigkeit bereitet den Betroffenen oft
Verlassenwerden erlebt. Seine Ehre als Mann war so tiefverletzt, weil das Verlassenwerden von einer Frau
Sinnbild
des Bösen
starke Angst.
erklärt Eteroviö. Psychologen und Therapeuten brauchen also ein tiefes kulturelles, mitunter religiöses Verständnis,
um überhaupt die richtige Diagnose zu stellen. Was hierzulande einem krankhaften Zustand gleichkommt, kann in anderen Ländern ganzgewöhnlicher Gefühlsausdruck sein. Rieferlebte bei seinem letzten Besuch in Teheran, wie Menschen laut jammernd und klagend durch die Basare liefen. ,,Hier würden wir so etwas für verrückt halten. Dort ist es ein ganz normales Trauerritual, wenn jemand gestorben ist. Die Passanten drücken dem Wehklagenden gegenüber ihr Mitgeftihl aus und unterstützen ihn." Psychisches Leid wird in anderen Ländern aber nicht nur anders ausgedrückt, sondern auch anders empfunden. Depressionen erleben Asiaten weniger in Form von Niedergeschlagenheit als vielmehr mit Bauchschmerzen und Erschöpfung. Manches Mal sprechen sie auch von einer ,großen Leber". Türkische Patienten berichten, siewürden am ganzen Körper gequetscht oder der Rücken schmerze ihnen sehr.
Striemen gegen den Nackenschmerz Wie kulturspezifisch die Symptome mitunter sein können, zeigt Devon Hinton, Psychiater am Massachusetts General Hospial, besonders eindrucksvoll an kambodschanischen
Flüchtlingen, die er zu Hun-
derten untersucht hat, weil er ihre Sprache beherrscht. PSYCHOLOGIE HEUTE 11l2O15
Dass sich Traumata und Angste
mit solch spezi-
fischen Beschwerden äußern, hat kulturhistorische Wurzeln, glaubt Hinton. So deuten schon Metaphern in der kambodschanischen Sprache auf den Ausdruckvon Gefühlen in Form von Schwindel hin.
Brüllt der Sohn etwa seine Eltern an, so pflegen diese zu sagen: ,,Mein Sohn schüttelt
michwie eine Tablette
in der Flasche." Auch die Angst vor Khyäl-Attacken und damit die Sorge um die Verletzlichkeit des Nackens ist in Kambodscha weit verbreitet. Zur Zeit der Roten Khmer mussten viele Menschen als Zwangsarbeiter beim Bau von Staudämmen helfen, wobei sie schwere Lasten aufden Schultern trugen, die zu Nackenproblemen führten. Tausenden Landsleuten brachen die Rebellen überdies durch Schläge in den Nacken das Genick. Das könnte, so Hinton, die besondere Empfindsamkeit der Körperpartie erklären.,,Auch wenn man selbst solche Gräueltaten nicht erlebt hat, bricht sich offenbar jede Form von Stress in dieser Körperregion Bahn. Es gibt wohl so etwas wie ein Kulturgedächtnis der psychischen Erkrankungen", leitet Hinton daraus ab. VielederPatientenwarenjedoch irrtümlich gegen Migräne oder präventiv gegen eine Khyäl-Attacke mit Blutdruckmedikamenten behandelt worden. Hinton plädiert aufgrund der häufigen Fehldiagno-
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Psychologen brauchen ein tiefes kulturelles, mitunter auch religiöses Verständnis. Was hierzulande als krank gilt, kann in anderen Ländern ein g anz normaler Gefühlsausd ruck sein
Missmahl hat hierzulande eine Ausbildung in der Psychoanalyse nacl-r Carl Gustav Jung absolviert. ,,Wir machen natürlich inAfghanistan keine jungsche Psy-
choanalyse", erklärt Missmahl. Das würde mehr Zeit benötigen und steht den-r Ziel entgeger.r, den oft trau-
matisierten Menschen rasch zu helfen. ,,Unser Ansatz beruht deshalb auf zwei Prinzipien. Zunächst geht es darurn, die Situation genau zu verstehen, einen Zusammenhang zwischen den Symp-
tomen und psychosozialen Stressoren oder Lebensereignissen herzustellen
daftir, das internationale Diagnostikmanual DSM umAnhänge zu erweitern, in denen kultr,rrspezifische Symptome beschrieben werden. Rief unterstützt diesen
gehen. Dazu werden aucl-r jer.re Aktivitaten gestärkt, die dem Patienten wichtig sind und Lebensmut geber-r.
Familie,
Das kann beispielsweise das Musizieren, die
Wenn bewährter Rat fehl am Platz ist
die Spiritualität oder die Natur sein. Mittlerweile haben Missmahl und ihre afghanischen Mitarbeiter rund 300 psychosoziale Berater
aucl-r
die therapeutische Hilfe selbst muss den
kulturellen Kontext des Klienten berücksichtigen. Bei einer Depression zum Beispiel lautet in unseren westlichen Industrienationen der geläufige verhaltenstherapeutische Rat, n-rehr Aktivitäten zu entfalten, also etwa schwimmen zu gehen oder mit Freunden einen Kaffee zu trinken. Für eir.re Frau im Iran können solche Ratschläge je nach Lebensumfeld und
völlig deplatziert
ich
ausgebildet. Diese haben allein im vergangenen )ahr 50000 Sitzungen durchgeführt. Für Frauen gibt es jeweils weibliche Beraterinnen und für Männer einen
n-rännlichen Berater, ein Ansatz, der in einer von der Geschlechtertrennung geprägten Kultur unabdi ngbar ist, wie die Therapeutin bald erkanr-rte. Dzrss schon
fünf bis acht Sitzungen gegen Syrnptome von De-
sie
pression und Angst lvirken können, zeigte Missn-rahl
damit in die soziale Isolation treibe, weil das gesamte Umfeld solche Praktiken missbiliigt, wäre das völlig verar-rtwortungslos", kommentiert Rief. Zugleich aber hätten Frauen im Iran sehr wohl andere, uns fremde Handlungsmöglichkeiten, die es in Erfahrung zu bringer-r und zu stärken gilt.
mit ihrer Kollegir-r, der Psychologin Sarah Ayoughi in einer Studie. Die Symptorne besserten sich, und
Kultur zugeschr-rittene
wollte, weil sie mit einem Manr.r verheiratet worden war, der, wie sie herausfand, eine geistige Behinderung hatte. Sie bekam einen Sohn von ihn-r und war doch zutiefst unglücklich. ,,ln unserem Kulturkreis würde man sagen, dann muss sie sich eben scheiden lassen", sagt Missmahl. Doch in Afghanistan sei es für eine Frau unmöglich, allein zurande zu kommen. Monate später traf die Therapeutin die junge Frau
Leber.rsweise
Dass eine auf die
seir.r. ,,Wenn
Therapie durchaus wirkungsvoll sein kann, verdeutlicht die Arbeit der Konstanzer Psychoanalytikerin Inge Missmal-rl. Zusammen mit ihrem Team hat sie in den vergangenen zehn Jahren in Afghanistan den gesamten psychosozialen Dienst und ein dazugehöriges Ausbildungssystem aufgebaut. Zuvor gab es für die 31 Millionen Menschen nicht einmal ein Dutzend Psychologen und Psycl-riater. Seelische Probleme durch häusliche Gewalt, Armut und Schreckenserfahrungen wurden oft nicht angemessen, wenn überhaupt behandelt. Entsprechend hoch war die Suizidrate, und besonders häufig waren Depressionen. I
66
etwa bei einem Fan-rilien-
sen Vorstoß.
Doch
lnge Missmahl (links) und Sarah Ayoughi haben in Afghanistan einen psychosozialen Dienst aufgebaut
-
vater, der sich selbst nicht wiedererkennt, weil er plotzlich seiner Frau misstraut und seine Kir-rder schlagt, nachdem er einen Anschlag n-riterlebt hat", erläutert Missmahl. Im zweiten Schritt geht es darum, das gegenwärtig drängendste Problem, das die Alltagsbewältigung am meisten einschränkt, anzu-
die Patientinnen berichteten, dass sie nach der Beratung besser rnit Stress umgehen konnten. Manchmal mögen die Lösungen aus den Therapien auf den ersten BIick fremd erscheinen. Einst traf Missmahleine junge Frau, die sich das Leben nehmen
wieder, blühend und zufrieden. Was hatte ihr zu dieser Ausgeglichenheit verholfen?
Missmahl hatte die Afghanin seinerzeit nach ihrern wichtigster.r Lebensziel gefragt. Sie betor.rte, wie wichtig ihr die Familie sei und dass sie eir.re Schule besuchen wollte. In der.r Sitzunger-r habe die Frau erPSYCHOLOGIEHEUTE 1]/2OI5
r rrtra.rr a
Ä) aa I ÄaL L Centcr llrr F.
c0[xrit a,rlact
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lSSeDurelr Serviccs.
kannt, dass sie mit ihrem Kind und dem Mann im Grunde bereits eine Familie habe und dass ihre Auf-
[*u.
gabewohl darin bestehe, das Beste daraus zu machen. Ihre Schwiegermutter erklärte sich bereit, ihr Kind zu betreuen, während sie erstmals eine Schule besuchte. Der Mann begann trotz seiner Einschränkung im Basar zu arbeiten. ,,Man kann das in diesem Rahmen ein gelingendes Leben nennen", so Missmahl.
Ein Totenritual wird entschärft
Im Austausch mit ihren Klienten aus anderen Kulturen müssen hiesige Therapeuten bisweilen bereit sein, eigene Wertvorstellungen ein Stück zur Seite zu schieben. Wie fern uns die in den Therapien gefundenen Lösungen sein können, haben Psychologen auch in Sierra Leone erfahren. Viele Europäer waren geschockt, als sie 2014 in Fernsehberichten sahen, wie Menschen an Ebola Verstorbene umarmten und küssten, anscheinend bar jeder Furcht vor der todbringenden Erkrankung. Die Einheimischen reagierten teils sogar aggressiv, als westliche Helfer die In-
und Gedanken bewusstgemacht, die sie verdrängen, weil sie ihnen unangenehm sind: etwa die Angst vor Tod und Krankheit. Im nachsten Schritt werden Werte und Ziele benannt, die allen wichtig sind. In den le
fizierten in Quarantäne nahmen und dazu auffor-
Gemeinschaften in Sierra Leone ist das oft das Wohlergehen des Dorfes und der Familie, aber beispielsweise auch das Ehren der Toten. Danach werden Lö-
derten, die Leichen zu verbrennen. Aber eine kleine Gruppe von Psychologen um Be-
sungen diskutiert, die helfen, die Werte zu beherzigen, ohne die unangenehmen Empfindungen zu meiden.
ate Ebert aus Aschaffenburg und Hannah Bockarie
Im Prozess eines Workshops taucht die Idee auf,
westafrikanischen Land wunderte das nicht.
das Totenritual stellvertretend an einem Bananen-
Sie
wussten, wie die Geschehnisse auf die Einheimi schen wirkten: Da tauchen plötzlich Fremde in mons-
baum zu zelebrieren, um so die Verstorbenen zu verabschieden, ohne die Angehörigen zu gefährden.,,Das
trösen Schutzanzügen auf, das Gesicht hinter einem kleinen Kunststofffenster verborgen. Sie sprechen
haben die Menschen dort selbst entwickelt. Aufsolch
aus dem
einefremdeSprache, die nurwenigeverstehen-Eng-
lisch. Und sie nehmen angeblich Kranke mit, die dann nie wieder zurückkehren. Sie erzählen etwas von einem Virus und dass man die Toten nicht anrühren dürfe. Aber die Menschen haben das Wort ,,Virus" noch nie gehört. Der Schrecken, den die fremden Helfer verbreiten, geht weit über den Schrecken durch Ebola hinaus, erläutert Ebert. Die Sierra-Leoner fühlen sich zutiefst traurig und schuldig, wenn sie von der Ehrung der Toten abrücken, aber sie wollen auch nicht ihre Familie durch die Krankheit gefährden. Ein klassischer Konflikt zweier Werte. Dieser aber lässt sich in einer spezifischen Verhaltenstherapie auflösen, glaubt Ebert, die seit Januar 2014 ein psychosoziales Zentrum in Bo, der zweitgrößten Stadt des westafrikanischen Landes,
unterstützt. Das Zentrum bietet Beratungen und Workshops auf Basis der sogenannten Akzeptanzund Commitmenttherapie an. Diese Therapie lässt die Patienten selbst Lösungen entwickeln, ohne diese vorzugeben. Betroffene mit ein- und demselben Problem treffen sich dazu. Zunächst werden GefühPSYCHOLOGIE HEUTE
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2013 eröffnete
das psychosoziale Zentrum in Sierra Leone. Der Aschaffenburger Verein ,,commit and act" hat es finanziert
eine Idee kann man von außen gar nicht kommen", sagt Ebert, die im März und April 2015 selbst nach Sierra Leone gereist ist. Das neue Ritual hat sich in dem Distrikt herumgesprochen. Die Zahl der Neuinfektionen sank deut-
lich im Vergleich zu anderen Distrikten. Oft jedenfalls ist der Weg zu Veränderungen lang und beschwerlich. Dem Mann aus dem Nahen Osten, der sich von einem Hund verfolgt fühlte, konnte Zorica Eteroviö in vielen Dutzend Sitzungen ein Stück weit helfen. ,,Wir haben darüber gesprochen, was es bedeutet, verlassen zu werden, ob das erlaubt ist oder nicht. Wir haben über den Umgang mit Wut - dieser Flamme, die in ihm brennt, wie er sagt gesprochen, und ich habe ihm Möglichkeiten gezeigt, seine Wut abzureagieren. Wir haben über Verzeihung und Nächstenliebe gesprochen." Der Mann kommt noch irnmer jede Woche, immer die drohende Abschiebung im Nacken. Aber Eteroviö hat sich beschenkt gefühlt, als er ihr sagte, er habe der Frau, die er einst heiraten wollte, und seinem Freund, der sie heiratete, verziehen. Nur sich selbst zu verzeihen, PH das sei viel schwerer. 67
Mitllungiern die Zeitaufhalten
An Anorexie erkranken vor allem junge Frauen und Mädchen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren. Nur fünf bis zehn Prozent der Patienten sind männlich. Für Experten ist die Magersucht noch immer ein Rätsel, aber neue Behandlungsansätze geben Hoffnung VON BIRGIT SCHREIBER
s
ist fttnf Uhr früh und zehn Grad
mi-
nus, als Lena B. die Balkontür öffnet
und sich in ihren Laufschuhen über die Brüstunggleitenlässt. Leise, damit die Eltern sie nicht hören. Sie joggt los
in den dunklen Park. Sie lauft und lauft, eine halbe Stunde, immer weiter. Etwas in ihr verlangt diese Leistung, sonstkommt dieAngst. DieAngstvordem Essen, vor dem Leben und vor allem vor demZunehmen. Lena B. ist magersüchtig. Mit l3 Jahren machte sie.eine Diät, weil die Religionslehrerin vom Heilfasten schwärmte. In wenigen Monaten hunger-
68
mehr als zehn Kilo vom Leib. Dann konnte sie mit dem Abnehmen nicht mehr aufhören. Hungern, bis nur noch Haut und Knochen übrig sind- das trifftvor allem junge Frauen undMädchen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren, nur fünf bis zehn Prozent der Patienten sind männlich. Mindestens acht von 100000 Menschen erkranken jährlich an Anorexie. Die Patienten werden immer jüngea te sie sich
und die Folgen sind einschneidend. ,,Magersucht ist noch immer eine rätselhafte Krankheit", schreiben Stephan Zipfel, Leiter der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Tübingen, PSYCHOLOGIE NEUTE 11/2015
Die Magersucht ist wie eine gute Freundin. Deshalb fällt es den betroffenen jungen Frauen so schwer, sich von ihr zu lösen
und seine Kollegen in The Lancet, einer renommierten medizinischen Fachzeitschrift. Die ersten Fälle wurden schon im 17. Iahrhundert beobachtet, doch - um nur eine offene Frage zu nennen - Arzte wissen immer noch nicht genau, wieso die Körper von Magersüchtigen selbst evolutionäre Mechanismen außer
Kraft setzen. Während andere vergeblich gegen Pfunde ankämpfen, sind Magersüchtige hochaktiv und ihre Körper verteidigen das gefahrliche Untergewicht
manchmal bis zum Tode. Anorexia nervosa, zu deutsch,,nervenbedingte Appetitlosigkeit", kann Wachstum und Fruchtbarkeit stoppen, die Gehirnentwicklung behindern - mit lebenslangen kognitiven und emotionalen Folgen -, sie kann zu Osteoporose und in schweren Fällen zu Organversagen führen. Für 40 Prozent der Betroffenenbesteht Hoffnung auf einen guten Heilungserfolg,
-
für
25 bis 30
Prozent dagegen sieht die Prognose eher
schlecht aus. Die Todesrate bei jungen Magersüchtigen ist zehnmal höher als bei allen anderen psychischen Störungen: Innerhalb von zehn Jahren sterben
fünf Prozent der Patientinnen. Deutsche Forscher haben jetzt im Rahmen des Forschungsverbundes EDNET (Eating D i sorder s D i agno stic an d Tre atm ent N etwork) neue Behandlungsmethoden getestet, und ihre Ergebnisse lassen hoffen. Zwei neue ambulante Verfahren und ein tagesklinisches se
Projekt wurden untersucht und brachten die-
Ergebnisse: weniger Abbrüche als in anderen Stu-
dien und eine zufriedenstellende Gewichtszunahme. In der ANTOP-Studie (Anorexia Nervosa Treatment of Outpatients) begleiteten Forscher der Universitäten Tübingen und H eidelb erg242 erwachsene Magersüchtige über zwei Iahre. Getestetwurden zwei neue ambulante Verfahren, ein verhaltenstherapeutisches, das am Symptom ansetzt, und ein psychodynamisches, das Beziehungsmuster und Gefühle in den Mittelpunkt stellt. Zum Vergleich ließ man eine
Gruppe von Frauen auf herkömmliche Weise von frei gewählten Therapeuten und Medizinern betreuen. Gewichtszunahme und eine Normalisierung des Essverhaltens waren Kriterien, nach denen die Forscher den Erfolg beurteilten.
Die Leiter dieser weltweit größten ambulanten randomisiert-kontrollierten Studie zur Krankheit Anorexia nervosa, Wolfgang Herzog und Stephan Zipfel,waren bereits von den Ergebnissen der ersten Gruppe überrascht, in der Patientinnen eine optimierte Standardbehandlung bei selbst gewählten Therapeuten bekamen. Diese herkömmliche Behandlungsweise schnitt nur wenig schlechter ab als die neuen Veffahren: Die Heilungsrate war etwas gerinPSYCHOLOGIE HEUTE 1112015
ger als
in den anderen Gruppen, und die Patienten
mussten häufiger und länger stationär aufgenommen
werden. Das zweite Verfahren, eine neue Form der kogni-
tiven Verhaltenstherapie, schnitt in der Studie etwas besser ab. Es war von Chris Fairburn, Leiter des Zentrums für Essstörungen in Oxford, England, entwickelt worden. Bei diesem Ansatz stehen die Symptome der Magersucht im Mittelpunkt. Die Patientinnen führen Essprotokolle und entwickeln ihr persönliches
Störungsmodell der Krankheit. Dazu beantworten sie Fragen wie diese: ,,Was hält meine Magersucht aufrecht, warum hungere ich weiter?", ,,Was spricht für die Magersucht, was spricht dagegen?" Die Antworten entscheiden oft über den Erfolg derTherapie, denn viele Betroffene stehen einer Gewichtszunahme
ambivalent gegenüber.,Viele Patientinnen empfinden die Loslösung von der Magersucht wie den Verlust einer guten Freundin, die sie oft jahrelang zuverlässig begleitet hat. Man darf nicht vergessen, dass eine Essstörung ebenso wie andere psychische Erkrankungen immer auch eine Funktion für den betroffenen Menschen hat. Deshalb fallt es so enorm schwer, sichvon ihrzulösen", sagt )udith Kugelmann, stelivertretende leitende Psychologin der ChristophDornier-Klinik in Münster. Signifikant besser als die Standardbehandlung und auch besser als der verhaltenstherapeutische Ansatz
wirkte
das
dritte Verfahren, das in der ANTOP-
Studie getestet wurde: die fokale psychodynamische Therapie. Der Ansatz hat seine Wurzeln in der Psychoanalyse und war von WolfgangHerzogftir Patienten mit Essstörungen weiterentwickelt worden.
In einem diagnostischen Interview legen Therapeuten und Patientinnen gemeinsam die,,Knackpunkte" fest, um die es in der Therapie gehen soll. Häufig wird die Angst vor Autonomie zum Thema, erklärt Stephan Zipfel: ,,\ziele Magersüchtige wollen die Zert zurickdrehen: Wenn Mädchen viel Gewicht verlieren, stoppt oft ihre sexuelle Entwicklung: Die
69
Die Mär von der grenzverletzenden Mutter: Eltern wird nicht mehr die Hauptschuld an der Magersucht gegeben
Regelblutung setzt aus, und die sekundären Geschlechtsmerkmale bilden sich zurück." In der Therapie haben sie die Chance, ihre Angste vor dem Erwachsenwerden zu überwinden. Außerdem müssen sie oft erst lernen, mit Affekten und Gefühlen angemessen umzugehen. Also eben nicht zu hungern, wenn es darum geht, einen Konflikt zu lösen oder einen Verlust zu verarbeiten. Schon in einer neuseeländischen Studie, in der die interpersonale Therapie mit vergleichbarem Fokus eingesetzt worden war, hatten die Patientinnen
von der Konzentration auf interaktive Muster besonders profitiert. Der Gewichtsgewinn lässt beim fokalen psychodynamischen Vorgehen zwar etwas länger auf sich warten, ist dann aber offensichtlich nachhaltiger. Die Ergebnisse der ANTOP-Studie lassen hoffen. Mehr aber auch nicht. Nach Abschluss der Therapien lag der durchschnittliche Body-Mass-Index (BMI) der Patientinnen noch immer im Bereich des Untergewichts. 25 Prozent von ihnen waren nach zehn Monatennoch immermagersüchtig, nach zwölfMonaten waren es noch 20 Prozent. Das Ergebnis ist besser als in vielen anderen Studien, doch es zeigt: Magersucht endet nicht mit einem vorläufigen Gewichtsgewinn. Sie kann viele Iahre und sogar fahrzehnte dauern.,,Es gibt keinen wirklichen Sieger beim Wettstreit um die Magersucht, das Rennen ist offen", sagt Stephan
Zipfel
Krankheitso schwerheilbar? Und wie muss eine Therapie aussehen, die nicht nur kurzWas macht diese
fristig zu einem höheren Gewicht, sondern langfristig zu einem gesunden Leben verhilft? Zwillings- und
Familienstudien zeigen, dass die Erbanlagen mitbestimmen, ob jemand magersüchtig wird oder nicht. Und auch, dass Depressionen, Zwangs- und Angststörungen häufig in Familien auftreten, in denen ein 70
Kind magersüchtig wird. Auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale kommen bei Magersüchtigen besonders häufig vor: Viele haben ängstliche, perfektionistische und zwanghafte Zige und Schwierigkeiten, eine autonome Persönlichkeit zu entwickeln, sich als fugendliche von den Eltern, vom Kindsein zu lösen. Und haufig leiden Patienten unter Selbstwertproblemen. Zl den biologischen Faktoren, die Magersucht fördern können, gehören die Umbauprozesse des Gehirns, die es in der fugendzeit anfällig ftir Störungen machen. Wenn dann noch ein Auslöser dazukommt - meist ist das eine Diät -, kann der Teufelskreis der Magersucht beginnen. Gesellschaftliche Faktoren scheinen nur noch einen Aspekt im komplexen Entstehen von Essstörungen zu bilden. Experten sehen aber im gängigen Schonheitsideal, wie es etwa in Germany's Next Topmodell propagiert wird, einen möglichen Auslöser für diese Krankheiten. In einer aktuellen Studie des Internationalen Zentralinstituts für das Iugend- und Bildungsfernsehen (IZI) und des Bundesfachverbands Essstörungen sagte ein Drittel der Befragten, dass Sendungen wie Klums Castingshow zu ihrer eigenen Krankheit maßgeblich beigetragen hätten. Laut Studienleiterin Maya Götz kann
es
für das Selbst-
bild von Mädchen fatale Folgen haben, wenn sie auf ihren Körper reduziert und in diesem hochsensiblen Bereich kritisiert werden. Beate Herpertz-Dahlmann, Professorin für
Kin-
der- und Jugendpsychiatrie in Aachen, glaubt, es sei
keinAusdruckdesWillens, kein Machtkampf, wenn Mädchen trotz aller Bemühungen von Behandlern und Eltern immerweiter abnehmen. Zum unerklärIichen Hungern können Körperschemastörungen führen. Sie haben zur Folge, dass manche Magersüchtige sich noch mit einem lebensgefährlichen BMI von 12 zu dick fühlen: Erwachsene gelten als untergewichtig, wenn sie einen BMI von 18,5 haben; bei 17,5 beginnt die Magersucht. Die Aachener Professorin widmet sich besonders den jugendlichen Magersüchtigen und hat im Rahmen von EDNET ein tagesklinisches Verfahren erprobt, das ebenso gut abschneidet wie langwierige Klinikaufenthalte. In der Tagesklinik - nach kurzer stationärer Aufnahme zur Stabilisierung - erleben die Patientinnen einen strukturierten Tag, sie haben Einzel- und Gruppentherapie, sie essen gemeinsam, lernen Prinzipien gesunder Ernährung und können das Gelernte gleich am selben Tag zu Hause ausprobieren. Die Eltern und nahen Angehörigen kommen zu Gesprächen und lernen, die Kinder zu unterstützen. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen ,,grenzüberschreitenden" MütPSYCHOLOGIE HEUTE 1Il2O15
WEITERFÜHRENDE
tern, später auch ,,abwesenden" Vätern die Haupt-
wur-
INFORMATIONEN
schuld an der Magersucht ihrer Töchter gegeben
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Auf klärung bietet lnformationen zu
de. Diese Thesen habe die Amerikanische Gesellschaft für Essstörungen offiziell für überholt erklärt, sagt Herpertz-Dahlmann. Sie sieht in den Eltern
Magersucht, Bulimie und zur Binge-Eating-Störung und hilft bei der Suche nach Beratungsstellen in lhrer Nähe: www.bzga-
essstoerungen.de Die Telefonnummer der
Beratungshotline läutet: 0221/a92O31 Für den Grimme Award nominierter Blog: www.anorexie-heute.de 2O'15
hilfreiche Kotherapeuten, die ihre Kinderbei der Genesung unterstützen können. Fragt man Magersüchtige selbst, was sie fürs Gesundwerden brauchen, so zeigt sich: Sie suchen nach Menschen, die sie verstehen und vor denen sie sich nicht schämen wegen ihres Gewichts oder Aussehens. Manchmal
führt
dieses Bedürfnis aber in fal-
sche Gesellschaft. Getrieben von der Angst, es ohne das Hungern nicht zu schaffen, erklären die Betrof-
fenen die Magersucht zur Komplizin. Dazu verleitet eine wachsende Zahl von Angeboten im Internet. Sie
tragen Bezeichnungen wie,,Pro-Ana",,,Pro-Mia" oder Abwandlungen davon und verharmlosen Essstörungen. Auf Websites, in Foren, Chats, Sozialen Netzwerken, Videoplattformen und Blogs stellen sie die Magersucht als idealen Lifestyle dar. |ugendschutz.net, die Zentralstelle der Länder für den Jugendschutz im Internet, verurteilt die meisten der Angebote als,,jugendgefahrdend" oder,,beeinträch-
tigend" und geht seit 2006 gegen
sie vor.
Auch Stephan Zipfel und Kollegen haben die Wir-
kung der ,,Pro-Ana"- und ,,Pro-Mia"-Angebote auf ihre Patientinnen untersucht und sind besorgt. Fast alle haben sich auf den Seiten und in den Foren schon mal umgesehen. Da die An-
gebote von jungen Leuten gemacht werden und den Nerv der Teenager
treffen, können seriöse Aufklarungsseiten kaum mithalten, glaubt Zipfel. Er und seine Kollegen arbeiten deshalb daran, in der
Behandlung auch Apps und computergestützte Technik einzusetzen. Lena B. geht es mittlerweile gut. Sie
studiert Iournalistik und sagt, sie
sei selbstbewusst unterwegs in
I
ein gesundes Leben. Sie gehtjetzt einen
Weg, den Beate Herpertz-Dahlmann allen ihren magersüchtigen Patientin-
nen wünscht: ,,Wenn sie in die Therapie kommen, spielen sie auf der
Klaviatur
des Lebens
vielleicht eine
halbe Oktave. Ich arbeite mit ihnen
Christoph-Dornier-Kl i nik für PsychotheraPie
daran, dass sielernen, aufallen Ok(0251) 4810 - 140
taven des Lebens zu spielen." PH
www.c-d-k.de Chdstoph-DomiorKlinik
PSYCHOLOGIE HEUTE IIl2OI5
GmBH
I
Tibusstraße 7-11 I 48141, MÜnster
Emotionale Intelligenz : Einfiihlung alsWaffe Menschen mit ,,emotionaler lntelligenz" sind bei Personalchefs gefragt, da sie als kooperative Teamspieler gelten. Doch das muss nicht so sein: Einfühlungsvermögen lässt sich auch gegen andere verwenden VON YVONNE VAVRA
ein, Daniel Goleman ist nicht der ,,Erfinder" der emotionalen Intelligenz. Das waren die Forscher Peter Salovey und John Mayer (siehe Beitrag aufSeite 75). Aber Goleman
erinnert er sich in seinem Blog. Und so kam es auch: Golemans Buch wurde ein weltweiter Bestseller, und mehr als die besagten zwei
genug genommen hatten, wiederholte Grant die Stu-
Personen wissen heute mit dem Konzept etwas anzufangen. Es gilt als studiengestützte Binsenweisheit,
ten bezüglich ihrer emotionalen Intelligenz eine Rol-
dass ein hoher EQ gesünder, erfolgreicher, bezie-
le
Buch EQ - Emotionale Intelligenzher ausbrachte, hat-
te er die Hoffnung, dass sich das Konzept herumsprechen würde. Wenn er eines Tages zufallig eine Unterhaltung zwischen zwei Menschen mitanhören würde, in der der Begriff emotionale Intelligenz fiele, und beide wüssten, was damit gemeint ist, dann könne er sein Unterfangen als Erfolg bezeichnen, so
hungsfähiger und zufriedener macht. Manager und
Mitarbeiter werden in Kursen und Schulungen in emotionaler Intelligenz trainiert. Die UNESCO empfiehlt, sie im Schulunterricht zu fördern. Und auch Personalabteilungen meineninzwischen, denEQvon o
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n
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U
Doch von Anfang an gab
es auch
fachliche
Kritik
an dem Konzept, und Ende vergangenen fahres blies der Organisationspsychologe Adam Grant, Professor an der renommierten Wharton School of Businessin
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Philadelphia, zum Generalangriff. Es sei ein Fehler, Neueinstellungen und Beförderungen vom EQ ab'hangig zu machen, sagte er.
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Bewerbern testen zu müssen.
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)
nate lang die Umsätze der Testpersonen. Dabei stell-
kognitiven Fähigkeiten für die Arbeitsleistung fünfmal so stark ins Gewicht fielen wie die emotionale Intelligenz. Verkäufer mit hohem IQ hatten einen durchschnittlichen jährlichen Umsatz von 195 000 Dollar erwirtschaftet, während jene mit weniger starken kognitiven Fähigkeiten im Durchschnitt nur 109 000 Dollar Erlöse einbrachten. Die Ergebnisse aus den EQ-Tests dagegen hatten keinerlei Einfluss gezeigt. Um auszuschließen, dass die Verkäufer diesen Messungen vielleicht nur nichtwichtig
ist ihr bekanntester Propagandist. Als er 1995 sein
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Grant hatte zunächst die Fähigkeit Hunderter Ver-
käufer getestet, GefUhle korrekt identifizieren zu können. Außerdem maß er ihren Intelligenzquotienten und beobachtete im Anschluss mehrere Mo-
PSYCHOLOGIEHEUTE 11l2OI5
te er fest, dass die
die mit Jobbewerbern, die wussten, dass die Antwor-
für eine mögliche Anstellung spielten. Wieder gab der IQ den größeren Ausschlag ftir die Leistung der
Teilnehmer. Der gute alte IQ sei also im Berufsleben weitaus bedeutsamer als der EQ, schloss Grant: ,,Sogar bei emotional fordernden Aufgaben sind kognitive Fähigkeiten für die Arbeitsleistung immer noch wichtiger als emotionale Intelligenz." Schließlich könne man mit einem hohen IQ emotionale Intelligenz leicht erlernen. Auch beriefer sich aufStudien, die zeigten, dass emotionale Intelligenz in manchen Berufen sogar zu schlechterer Leistung führe. Grants Kritik blieb nicht unwidersprochen, ebenso wenig wie die Testauswahl zur emotionalen In73
vortäuschen oder verbergen. Und wer ein gutes Gespür für die Emotionen anderer hat, kann diese Fä-
higkeit leicht zur Manipulation nutzen. Das bestätigt eine neuere Untersuchung der Universität Kyoto. Die Forscher führten ein Experiment durch, in dem jeweils ein Teilnehmer von zwei anderen ausgeschlossen wurde. Dieser Geächtete hatte im Anschluss die Möglichkeit, es den beiden heimntzahlen, indem er in einem Geldspiel ein faires Angebot ablehnte, was sowohl ftir ihn als auch ftir die beiden anderen einen Verlust bedeutete. In einem weiteren Versuch sollten Studienteilnehmer den zuvor Ausgeschlossenen bei seiner Entscheidung beraten. Außerdem sollten sie ihre eigeneAbsicht zurVergeltung einschätzen. Die Ergebnisse sind zwiespältig. Ein hoher EQ er-
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1i. +P
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jirr-I,,..s
Besonders Narzissten setzen ihre
emotionale lntelligenz auf bösartige weise ein. Damit halten sie ihr grandioses Selbstbild a ufrecht
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telligenz in seiner und anderen Studien. Dort wurde die Fähigkeit der Probanden getestet, Emotionen etwa anhand von Fotos von Gesichtern zu erkennen.
Solche Tests, so EQ-Verfechter Daniel Goleman, könnten zwar bestenfalls zeigen, ob jemand emotionale Intelligenz hat, nicht aber, ob oder wie gut er sie anwenden kann. Von größerer Bedeutung für ihn und andere Grant-Kritiker ist deshalb die Fähigkeit, sein Handeln aktiv an seiner emotionalen und sozialen Kompetenz auszurichten. Doch auch das ist nicht grundsätzlich von Vorteil, zumindest nicht für die Menschen, mit denen der oder die Betreffende in der Firma zusammenarbeitet. So deutet eine Studie
der Texas
der University of Cambridgernd dass Menschen
AüM University daraufhin,
mithohem EQ ihre Fähigkeiten am Arbeitsplatz strategisch zum eigenen Vorteil nutzen - wenn es sein muss auch aufKosten der Kollegen. Sie konzentrieren etwa ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die wichtigen Mitarbeiter oder steuern gezielt den Verlauf ' emotionsgeladener Diskussionen. Wer seine Geftihle gut unter Kontrolle hat, kann sie eben auch gut 74
wies sich als segensreich bei Versuchsteilnehmern, bei denen derVergeltungsdrang schwach ausgeprägt war: Sie empfahlen eher als Teilnehmer mit niedrigerem EQ, auf die Rache zugunsten eines höheren Gewinns zu verzichten. Iene Teilnehmer mit hohem EQ aber, die eine stärkere Motivation zur Rache in sich spürten, spornten den ausgeschlossenen Spieler hingegen sogar besonders häufig zur Revanche an. Die Forscher schlossen daraus, dass emotionale Intelligenz dazu verftihrt, die Gefühle anderer hinsichtlich der eigenen Ziele beeinflussen zu wollen. Diese Art der Manipulation wird offenbar durch bestimmte Persönlichkeitszüge gefördert.,,Emotionale Intelligenz kann mit emotionaler Manipulation assoziiert werden, besonders wenn Narzissten und Psychopathen diese Fähigkeiten anwenden", schreiben österreichische und deutsche Wissenschaftler, die im vergangenen fahr untersucht haben, was passiert, wenn ein hoher EQ mit narzisstischen, machiavellistischen und psychopathischen Persönlichkeitsstrukturen verbunden ist. Sie fanden heraus, dass besonders Narzissten ihre emotionale Intelligenz
für
bösartige Absichten einsetzen. Dies könnte ihren Drang reflektieren, ,,ihr grandioses Selbstbild aufrechtzuerhalten, indem sie sich in Interaktionen mit anderen entsprechend verhalten". Ursa Nagler und ihre Kollegen verweisen darauf, dass emotionale Intelligenz nicht zwangsläufig zur Manipulation benutzt wird. Aber es könne sich bei denen, die mithilfe ihres hohen EQ andere ausnutzen, täuschen oder ihnen schaden, eine ,,dunkle Intelligenz" ausbilden.
Welche Dynamik solch eine dunkle Intelligenz auslöst, wollten Forscher der Universitäten von Cambridge, Heidelberg und St. Gallen herausfinden. Sie untersuchten, wie Chefs mithilfe ihrer emotionalen Fähigkeiten Ziele erreichen.,,Charismatische FühPSYCHOLOGIE HEUTE I1l2OI5
EINE EMOTIONALE DEBATTE Kaum ein Konzept, das die Psychologie in den letzten Jahrzehnten hervorbrachte, hat es in der Öffentlichkeit zu solchem Ruhm gebracht wie die,,emotionale lntelligenz". Und kaum eines ist in der Fachwelt so umstritten
ie Psychologen Peter Saloveyvon
dings erfassen viele Tests der emotionalen
die von den jeweiligen Forschern als emo-
der Yale University und Iohn
Intelligenz auch die klassische Intelligenz oder altbekannte Persönlichkeitseigenschaften wie Neurotizismus. Wird dies berücksichtigt, schrumpft ihre Bedeutung für das Wohlbefinden erheblich. Auch in der Schule und im Studium besitzt die emotionale Intelligenz nicht so viel Macht, wie manchevermuten. Sie soll
tionale Intelligenz verkauft wurden. Alle Kritik konnte dem Siegeszug der emotionalen Intelligenz freilich wenig anhaben. Viele Firmen suchen ihr Personal mit entsprechenden Tests aus oder veran-
Mayer, heute an der University
of
New Hampshire, fihrten den Begriff ,,emotionale Intelligenz" in die wissenschaftliche Psychologie ein - vor genau einem Vierteljahrhundert. So richtig berühmtwurde der Begriffaber erst, als sich
der Psychologe und Journalist Daniel
stalten Schulungen in der sagenumwobenen Fähigkeit. Was dabei herauskommt,
wird meist nicht veröffentlicht. Das zeigte sich, als geschulte Beobach-
Goleman seiner annahm. In seinem 1995 erschienenen Bestseller verkündete er, wer
weise vor Angst bei Prüfungen schützt.
ter Videoaufnahmen vom
lysierten.
die Noten verbessern, indem sie beispiels-
einen hohen EQ habe, sei ,,in jedem Le-
Doch ihr Einfluss ist eher bescheiden. So
bensbereich im Vorteil". Peter Salovey und
schneiden emotional intelligente Medi-
John Mayer gefiel es nicht sonderlich, auf welche Weise ihr Konzept die Öffentlich-
zinstudenten im Examen nicht besser ab. In einer großen belgischen Studie erzielten die angehenden Arzte in den wissenschaftlichen Fächern keine besseren Noten. Im Vorteil waren die Gefühlsmeister allerdingsin Kursen, in denen derUmgang mit Patienten vermittelt wurde. Ahnlich gemischt fallt die Bilanz in der Berufswelt aus. Gerade hier hatten die Propheten der emotionalen Intelligenz
Es ist paradox: Die
Unterricht ana-
emotionale Intelli-
genz wurde populär, weil viele sie als Ge-
genpol zur als kalt empfundenen klassi-
keit erreichte: ,,Die genaue Bedeutung wurde oft verzerrt, und Diskussionen in den populären Medien wurzelten selten in der wissenschaftlichen Literatur zum Thema." Die beiden hatten emotionale Intelligenz tatsächlich als Intelligenz konzipiert, also als Fahigkeit. Doch selbst bei vielen Forscherkollegen sei sie zu einer ,,Gruppe unterschiedlicher Persönlichkeitszüge und Kompetenzen" geraten. Der Hype und die Aufregung haben aber auch ihr Gutes: Viele Forscher untersuchen, was emotionale Intelligenz nun wirklich nutzt. Die Resultate sind gemischt. Laut etlichen Untersuchungen sind emotional Intelligente weniger depressiv, weniger gestresst, trinken weniger
behauptete, sie sei für die Karriere das Wichtigste. Doch sie hilft vor allem Beschäftigten, bei deren Arbeit Gefühle eine große Rolle spielen, etwa Maklern, Verkäuferinnen oder Callcenter-Angestellten. Das fand Dana foseph, heute an der University of Central Florida in Orlando, 2010 in einer großen Analyse einschlägi-
undsindüberhauptzufriedenermitihrem
ger Studien heraus. Bei diesem Vergleich
Leben. Vermutlich lassen sie sich weniger
bewährte sich obendrein weniger die als
von negativen Gefühlen überwältigen, können daher besser mit schwierigen Si-
Fähigkeit verstandene und sauber gemes-
tuationen umgehen und haben so am Ende weniger psychische Probleme. Aller-
Dana Joseph, ,,eine Wundertüte" aller
Carolyn Maccann, Dana L. Joseph, Daniel A. Newman, Richard D. Roberts: Emotionalintelligence is a second-stratum factor of intelligence: Evidence from hierarchical and bifactor models. Emotion,
möglichen Persönlichkeitseigenschaften,
2014.14/2,35a-374
PSYCHOLOGIE HEUTE I]/2OI5
große Versprechungen gemacht. Goleman
sene emotionale Intelligenz, sondern, so
schen Verstandesintelligenz empfanden,
die nur wenigen besonders reichlich gegeben ist. Doch ausgerechnet diese ohne-
hin schon Begünstigten verfügen auch über eine außergewöhnlich hohe emoti onale Intelligenz,wie die Forschung nun zeigt. Ein Team um Richard Roberts von
der Universität Princeton in New fersey, schlug vergangenes fahr vor, sie einfach als weiteren Faktor in die allgemeine Intelligenz aufzunehmen. JocHEN pAULUS
LITERATUR
John D. Mayer, Peter Salovey, David R. Caruso, Lillia Cherkasskiy: Emotional lntelligence. ln: Robert J. Sternberg (Hg.): The Cambridge Handbook of lntelligence. Cambridge University Press, New York,
21o-234
75
Die finstere Seite der
wurden - und vor allem mehr verdienten. Laut Blickle und seinen Kollegen könnte das daran liegen, dass sich Menschen mit starken emotionalen Fähigkeiten erfolgreicher dürch die sozialen Gefüge der Arbeitswelt bewegen und so mehr Aufstiegschancen haben.
emotionalen lntelligenz: Wer ein Gespür für die Emotionen anderer hat, kann diese Fähigkeit leicht zur Manipulatton nutzen
Dabei scheint es letztlich unerheblich zu sein, ob man dieser Gabe ein eigenes Label namens ,,emotionale Intelligenz" verleiht oder sie schlicht ,,Intelligenz" nennt. Eine neurowissenschaftliche Studie aus dem vergangenen fahr spricht dafür, dass Intelligenz eine ganzheitliche Angelegenheit ist, die keiner großen Unterscheidung zwischen kognitiven und emo-
rungskräfte werden von ihren Mitarbeitern bewundert und verehrt. Dadurch entsteht ein Statusunterschied, der einschüchternd wirken kann", sagt |ochen Menges, der mit seinen Forschungen zur finsteren Seite der emotionalen Intelligenz an der Univer sity of
C am-
bridgeb egannund mittlerweile Professor für Führung und Personalmanagement an der WHU - Otto Beis-
heim School of Managemer,
- in Düsseldorf
ist.
Die Hochachtung, die den Charismatikern entgegengebracht werde, könne so weit gehen, dass sie Menschen regelrecht ihrer Vernunft beraube. Menges
nennt das den awestruck effect, einen Zustand, in
dem ein Zthörer eine Führungsperson dermaßen bewundert, dass er quasi vor Ehrfurcht erstarrt: ,,Mitarbeiter können in der Gegenwart von charismatischen Führungskräften unter anderem Schwierigkeiten haben, Vorschläge kritisch zu prüfen", erklärt Menges. Menschen mit der Fähigkeit, emotionsgeladene Reden zu halten, dürfen aufdiesen Effekt bauen, denn offenbar rückt der Inhalt in den Hintergrund, solange nur der Redner bewundernswert ist. Oft erinnerten sich Zuhörer nach charismatischen Reden an das Erlebnis, an die Begeisterung und die Zuversicht, die
sie
während der Rede verspürten, aber
nicht mehr an den konkreten Inhalt. ,,Es sind die Werte einer Person, die darüber Aufschluss geben, wie sie ihre emotionale Intelligenz nutzen wird", sagt EQ-Forscher Menges.
Ob dunkel oder hell: Emotionale Intelligenz ist ein Talent, das sich im Beruf oft auszahlt. Durchaus in Barem. Das haben Gerhard Blickle und sein Team
an der Universität Bonn jetzt herausgefunden.
Sie
forderten Versuchsteilnehmer aus unterschiedlichen Branchen auf, Emotionen zu identifiziercn. Außerdem fragten die Forscher die Höhe ihres Gehalts ab
und holten bei Vorgesetzten und Kollegen Einschätzungen ihres sozialen Verhaltens ein. Es stellte sich heraus, dass diejenigen, die beim Gefühlstest besser abschnitten, meist als eher umgänglich beschrieben 76
tionalen Fähigkeiten bedarf. Das Team um Aron Barbeyvon de r University of lllinois wollteverstehen, in welchem Maß die intellektuellen Fähigkeiten eines
Menschen einen sozialkognitiven Ursprung haben. Bei der Untersuchung von Patienten mit Gehirnverletzungen fanden die Forscher heraus, dass die Ge-
hirnareale, die dabei helfen, sich in sozialen Beziehungen zurechtzufinden, auch eine zentrale Rolle für die allgemeine und emotionale Intelligenz spielen. Sie schlossen daraus, dass sich die Intelligenz eines Menschen aus seinem emotionalen und sozialen Kontext ergibt. ,,Wir sind von Grund auf soziale Lebewesen, und so ist auch die Architektur der Intelligenz in unserem Gehirn von Grund auf sozial", sagt Barbey. ,,Intelligenz ist an die zentrale Rolle gebunden, die Beziehungen in unserem Leben spielen, und fin-
det ihren Ursprung in unseren sozialen und emotionalen Fähigkeiten." LITERATU
R
O'BoyleJr. u.a.:The relation between emotionalintelligence and job performance: A meta-analysis. Journal of Organizational Behavior. 32, 2011, 788-818 E. H.
Martin Kilduff, Dan
S.
Chiaburu, Jochen L Menges: Strategic use
of emotional intelligence an organizational settings: Exploring the dark side. Research in Organizational Behavior, 30, 20lO, 129-152 Yuki Nozaki, Masuo Koyasu: The relationship between trait emo-
tional intelligence and interaction with ostracized others'retaliation. PLOS ONE, 8/lO, 2013, e77579 Ursa K. J. Nagler u.a.: ls there a "dark intelligence"? Emotional intelligence is used by dark personalities to emotionally manipulate others. Personality and lndividual Differences, 65,2014' 47-52 J. l. Menges, M. Kilduff, S. Kern, H. Bruch: The awestruck effect: Transformational leaders inf luence followers' emotional expressiveness. Working Paper, WHU - Otto Beisheim School of Management 2014 Tassilo Momm, Gerhard Blickle u.a,: lt pays to have an eye for emotions: Emotion recognition ability indirectly predicts annual income. Journal of Organ,zational Behavlor, 36/1,2015,147-163
IM NACHSTEN HEFT:
Von der emotionalen lntelligenz zur PersÖnlichkeitsintelligenz - wie John Mayer sein Konzept des Hineindenkens in andere mentale Welten weiterentwickelt hat
PSYCHOLOGIE HEUTE 1112015
FEHNTS ALLTAG
EINLADUNG ZUt.4 FEST aa ./ /,
Es gibt Menschen,
futtern und freundlich von Grüppchen
ftir die sind
zu Grüppchen wandern. Es bedrängt
die einfachen Dinge des Lebens nicht so leicht. Zum Beispiel einen Brief zu schreiben, ein Lied zu singen, ein Fest zu feiern. Ich bin auch so jemand. Dabei liebe ich Briefe, Lieder und Feste. Als Le-
ich einen Sekt intus habe und niemanden kenne. Aber als Gastgeberin sieht die Sache jaanders aus. Schonwenn ichmitdem
serin, Zuhörerin und Gast. Aber wer Briefe bekommen will, muss auch welche schreiben, schärfte mir meine Mutter ein, wenn ich damals gierig in der Post wühl-
Briefschlitz stürzte. Warum schrieb mir denn niemand? Weil ich selbst nie einen Brief abschickte, denn ich musste so lange überlegen, durchstreichen, umschreiben und illustrieren, bis meine Briefe sich erledigt hatten. Und wer gern Lieder hört, möchte auchwelche singen. Ich jedenfalls. Aber te, die jeden Morgen durch unseren
vor Zuhörern wird meine Kehle eng und mein Pulsschlag gewaltig, ein inneres Beben stellt sich ein, das Stimmchen wird metallisch, und dabei auch noch an die Zwerchfellstütze zu denken ist beinahe , unmöglich.
Und dann die Feste. Als Gast kann ich unbekümmert herumstehen, Buffets ab7A
mich
nicht, es beängstigt mich nicht, es vergnügt mich einfach nur, vor allem wenn
Stift in der Hand am Küchentisch sitze Die Schriftstellerin
Annette Pehnt (u.a. Lexikon der Angst, Piper 2OI3) schreibt jeden Monat in
und überlege, wen ich einladen könnte,
klopft ein ungutes Grüppchen alter Bekannter an die Tore: Erwartungsdruck, Perfektionismus, Lampenfieber und andere reizende Lebensbegleiter, die ich zwar
PSYCHOLOGIE HEUTE
schon ewig kenne, aber deswegen nicht
über ihre Alltagsbeobachtungen
weniger fürchte. Ein Fest ist die Probe aufs Exempel für ein riesiges Bündel an Fer-
www.annette-oehnt.de
tigkeiten, wirklich ein wahres Meisterstück. Kaum ein Berui in dem man so viel können muss wie für ein Fest. Erstmal muss man entscheiden: draußen unterblühendem Sommerfl ieder oder drinnen ums Klavier? Im Keller mit dröhnenden Bässen, Kaffeetafel auf der Obstwiese oderWein und Käse? Gulaschsuppe
oder asiatisch? Und dann geht es überhaupt erst richtig los. Initiative ergreifen, PSYCHOLOGIE HEUTE 1Il2O15
planen, Sammelmails schicken, bloß nie-
manden vergessen, kochen, Wettergott spielen, improvisieren, Gläser spülen, backen, schmücken, und das alles, bevor überhaupt ein Mensch auftaucht. Kommen die Gäste, wird es richtig kompliziert. Der erste geht noch, ich kann ihn begrüßen, mit ihm reden, ihm zuhören. Spätestens ab zehn Leuten stellt sich dann das plaudernde Summen ein, das zu jedem Fest gehört. Gespräche surren durch den Raum, Menschen prosten sich zu, Blicke blitzen hin und her, ich kann es nicht mehr überblicken. Dort lacht jemand so laut, dass ich das Geftihl habe, ich verpasse den Spaß der Woche. In der Ecke tuscheln welche, keine
Ahnung, was
sich da anbahnt. Tom, der Kollege von der
Hochschule, kennt doch niemanden, ich
darfihn nicht allein lassen, sonst langweilt er sich womöglich. Warum hat er das fleischfarbene Hemd angezogen, soll ich ihm ein anderes ausleihen? Auch meinem Vater könnte es langweilig sein, weil niemand hier sich mit romanischen Kirchen oder zeitgenössischer Museumsarchitektur auskennt. Ein Kleinkind stolpert über die Weinkisten, wer hebt es auf? Und dort drüben auf dem Sofa sitzt meine alte Freundin Mila ganz allein, wie kann das sein? Hat noch niemand ihre wunderbaren Augen entdeckt, ihre klugen Fragen gehört und ihre feine Art, so lange nachatfragen, bis sie durch die Vorhöfe des Small Talks hindurch zum Wesentlichen gelangt?
lch will 50 glückliche Gäste, nicht mehr und nicht weniger Überhaupt das Wesentliche. Unterhalten sich die Gäste wirklich, oder schlingern sie nur von einer Small-Talk-Insel zur nächsten? Mein Fest soll sie bereichern,
; i Q = ? H I
und wen bereichert aufgeregtes Geplapper? Oder ist Geplapper gerade das, was allen guttut, nach harter Arbeit und in ai. Schwerkraft des Lebens verstrickt? Urra a" arüben, der geheimnisvolle scheue
Nachbar vom anderen Ende der Straße, .in Träumer und Zweifler. Dass er überhurrpt g.kommen ist! Er streunt am Rand herum und schaut genauso flink herum 11/2015
wie ich. Wie kann ich ihn nur beheimaten? Ach was, weit Größeres verlange ich von mir: Glücklich soll er sein, so wie auch alle anderen hier, ich will 50 ghickliche Gäste, nicht mehr und nicht weniger. Ich hocke mich zu Mila aufs Sofa. Sie sieht wedervereinsamt noch verstrickt aus und auf keinen Fall unglücklich. Sie sitzt einfach da, aufrecht wie immer, in der
Hand eine Aprikose, und schaut mit schräggelegtem Kopf in die Menge. ,,Du genießt es nicht", stellt sie fest. Ich
sträube mich. So schnell lasse ich mich
nicht durchschauen. Ich wiegele
ab.
,,Doch, es ist wunderbar", sage ich und überprüfe zugleich schnell, ob der einsame Zweifler inzwischen ins Gespräch und mein Vater einen Kunstkenner gefunden hat, ob das Bauernbrot noch ausreicht und ob das Holz für das Lagerfeuer nachher schon bereitliegt. Mila beobachtet mich eine Weile und nickt geduldig. Sicher will sie mir sagen, dass ich loslassen soll, dass ich nicht verantwortlich für alle bin, dass meine Gäste erwachsen sind und dass ich meine alten Bekannten, den Erwartungsdruck und seine Kumpel, zum Teufel jagen soll, oder hatte ich die etwa auch eingeladen? ,,Willst du nicht", überlege ich, ,,vielleicht gleich mal mit zu meinem Vater, den
Deine Reisen. Deine Erinnerungen.
Dein Buch.
kennst du doch, oder soll ich dir ein Stück
wir tanzen?" jemand Dazieht mich vom Sofa hoch, und ich werfe Mila noch einen besorgten Blick zu, aber nun ist nicht mehr die Zeit der Fürsorge, nun ist die Zeit der Musik. Und endlich, zu guter Letzt, hat sich alles andere erledigt. Ich gehe zu den Musikern, hole meine Geige, wir stimmen, wir schauen uns an und beginnen das erste Stück. Die Melodie läuft durch meine Finger, der Takt fährt mir in den Bogen. Es gibt nichts mehr zu tun außer zu spielen. Und wenn jetzt welche tanzen wollen, sollen sie ruhig. Der scheue Nachbar mit Mila, das Kleinkind mit meinem Vater, der fleischfarbene Tom mit sich selbst, und was meine Bekannten so treiben, die alten QuälKäse holen, oder wollen
geister
-
das habe ich glatt vergessen.
*1:iä1."'iejaauch
Biszum
Für alle Dinge, die nicht ins Smartphone passen. |\/it jeder Menge Sammelfächern und vielem mehr.
Viel-
66 www.remember.de
Das Primat der Unruhe Einst galt Ruhe als Voraussetzung von Gluck. Heute jedoch wird Unruhe belohnt, meint Ralf Konersmann
Nachdem Gott die Welt erschaffen hatte, sah er zufrieden auf sein Werk und ruhte.
Wenn der Mensch etwas geschaffen hat, ärgert er sich, dass es nicht besser gelungen ist, und fängt wieder von vorne an. Er kann die Dinge nicht auf sich beruhen lassen. Unruhe ist eine Grundausrichtung, ein Lebensgefühl, so der Philosoph Ralf Konersmann. Es steckt voller Fantasien, Verheißungen und Pläne. Ruhe ist nur erlaubt, wenn sie dazu dient, Kreativität, Flexibilität und Mobilitat aufrechtzuerhalten. Die Unruhe ist das Lebensgefuhl der happy workaholics.
Das heute völlig selbstverständliche ,,Primat der Unruhe" sei weder eine Naturtatsache, noch plötzlich und unerwartet
mit der Aufklärung oder der Industrialisierung in eine heile Welt hereingebrochen,
sagtderAutor. Es sei ein Kulturphänomen mit einer langen Geschichte. Konersmann nennt es ,,Inquietät" und präsentiert die Erfahrung der Unruhe als eine der ältesten
te der Unruhe beginnt mit der antiken Philosophie. Hier ist Ruhe etwas, das der Mensch durchArbeit an sich selbst erlangen kann, indem er sich mit der Welt in Einklang bringt. In der ersten Geschichte ist Ruhe ein Geschenk, in der zweiten ein Projekt. In beiden ist sie ein erstrebenswertes Ziel. Erst in der Moderne sei das Ideal des kontemplativen Lebens verschwunden, die Ruhe wurde verdächtig. Konersmann belegt mit Beispielen aus Literatur und Malerei von der Bibel über das ,,Stillstandsmärchen" von Hase und Igel bis zur marxschen permanenten Revolution, wie das Pendel zur anderen Seite ausschlägt: Der Mensch akzeptiert, dass es kein Zurück in eine paradiesische Ruhe gibt, beginnt den Stillstand zu fürchten und sich seiner unendlichen Möglichkeiten zu freuen. Selbst das Ich wird zu einem Projekt, das ständig optimiert werden muss.
Unruhe als aufklärerisches Projekt, als
Relativ neu sei hingegen, die Unruhe für normal undwünschenswert zu halten. Mit jedem Stopp auf seiner Reise durch
eine Form der Selbstbesinnung. Und plä-
nersmann, dass die,, Normalisierungsge-
schichte" der Unruhe keinem einzelnen Hauptstrang folgt, sondern zahllosen Neben- und Umwegen. Konersmann zeichnet vor allem zwei von ihnen nach: Am Beginn der einen Geschichte steht die Vertreibung Kains, nachdem dieser seinen Bruder erschlagen hatte: ,,Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein", überlie-
fert die Bibel den allerhöchsten Richtspruch. Ruhe ist in dieser Geschichte eine
eine Zone der
Eintönigkeit und der tödlichen Langeweile?" RALF KONERSMANN
Der Autor versteht seine Geschichte der
der westlichen Kultur.
die abendlandische Geisteswelt zeigt Ko-
,,Ist nicht jedes Paradies
diert für eine kultivierte, klug begrenzte menschliche Unruhe, die das Demütigende der alten Mythen, in denen die Unruhe immer eine Strafe für Verfehlungen war, hinter sich gelassen hat. Eine spannende Lektüre, bei der sogar das Register lohnt: eine l5-seitige Liste mit dem Vokabular der Unruhe von ,,Ablenkung" bis
,,Zweifel"
MANUELA LENZEN
Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S. Fischer,
Frankfurt a.
M. 2015, 461 S.,
€24,99
Vollkommenheit, die wir durch eigene Schuld verloren haben und die allenfalls in einer Gegenwelt wie dem Kloster wiederherzustellen ist. Die andere GeschichPSYCHOLOGIE HEUTE 11l2O'15
81
,G
Von rrkleinen
".
Despoten" und rrAllrounddienernr'
t*' t ; ,j*.,/
Zwei Erziehu n gsexperten, zwei Meinungen: Während Alfie Kohn vor reaktionären Fami lienideologien warnt, fordert David Eberhard mehr elterliche Führungsstärke
Die Frage nach der besterr Erziehung lässt wie kaum ein anderes Then-ra die Ernotionen hochkochen, wenn verfeindete Lager
aufeinandertreffen. Alle Beteiligten rneiner-r, tapfer für d:rs Wo}rl der Kinder und eine bessere Zukur.rft zu kärnpf'er.r. Zrvei radikale Bücher läuten eir.re weitere Runde in dem ewigen Streit ein. In seiner faktenreichen Streitschrift Der Mythos des verwöhntert Kindes setzt sich der amerikanische Erziehungsautor Alfie Kohn eingehend n-rit populären Er-
.J tr-;'-q ,-]
i..
/:
hur.rderte derlei Sorgen äußerter-r. Er
führt
.,,iele Untersuchr"rngen an, denen zufolge
eine Erziehung durch Strafe r.rnd Zwang zu mehr Aggressivität, Ar.rgst ur-rd Übergervicht sowie weniger Mitgeftlhl, Hilfsbeleitschaft und Zufriedenheit führt. Kohr-rs Analysen der Forschur.rgslitera-
tur zeigen die
segensreicher.r Wirkunger-r
ziel-rungsideologien auseinander. In dieser
,,verborgenen Front
ger durch Überfürsorge von
ir-r.r
Kulturkampf" ir-r
die
,,Helikopter-
eltern" als durch deren exzessive Über-
konservative Wehklage über Werteverfall,
rvachung und Einmischur.rg.
Permissivität und tyrannische Kinder mit ein. In Ur-nfragen sprechen sich die n-reis-
Kohn kritisiert die,,unreflektierte Stimmungsmache" für n.rehr Selbstdisziplin. So besitze zwar das Abschneiden in den
ten amerikanischer-r und dei,rtscher.r Eltern
für eine strenge Erziehung trus. 9l Prozer.rt der ameriktrniscl-ren Eltern sind über-
berühn.rter.r Marsh mallow-Tests, in denet.t
zeugt, dass die meisten Elten.r heutzutage
Vorschulkir-rder zwischen eir-rer Stißigkeit jetzt ur.rd zwei Süßigkeiter.r später wählen,
zu nachgiebig seier.r. Kohn erinnert daran,
starke Vorhersagekraft
.dass schor-r viele Denkervergangener
erfoige. Aber die Wartezeiter.r hingen
82
fahr-
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bedingungsloser Elternliebe. Viele nähmen rvarr.nherzige Erziehung als Verwöhnung und Autonornieförderung als Grenzenlosigkeit rvahr. Ohnmachtsgefühle und Unselbständigkeit entstünden r,r,eni-
stimmten auch viele Linksliberale
^tr ff+x
flir
spätere Leber-rs-
kaum von grimmiger Selbstkasteiung und Willenskraft ab. Entscheidender seien die
Ablenkungvon den Sinnesreizen und das Vertrauen darauf, die versprochene Belohnung auch zu erhalten. Zudem weist Kohn darauf hin, dass ein Übermaß an rigider Selbstkontrolle mit mangelnder Spontaneität und Lebensfreude einhergeht.
Schließlich legt er ausführlich dar, wie alle Forn.ren der äußeren Manipulation die inneren Antriebskräfte des Kindes schwächer-r. Anreize und Drohungen, Lob und Tadel, Noten und Wettbewerb mindern oft Lernfreude und erwür.rschte Leistungen. Zuweit geht Kohn jedoch, wenn
völligen Verzicht aufBelohnungen und Strafen fordert. Auch Kinder müssen unliebsame Notwendigkeiten erledigen. Null Bock auf Mathe! Und nun? Ins andere Extrem verfällt der schweer den
dische Psychiater David Eberhard in seiner
polemiscl-ren und verworrenen Streitschrift Kinder an der Mncht. Die schleiPSYCHOLOGIE NEUTE 11/2015
chende Machtübernahme der Kinder in
sein Verweis auf die PlSA-Ergebnisse von
der westlichen Welt werde in einer ,,totaIen Anarchie" enden, in der die ,,kleinen
the, Lesen und den Naturwissenschaften
Fürsten" ihre Eltern zu ,,Sklaven" und ,,Allrounddienern" herabwürdigen, von denen sie,,rund um die Uhr umsorgtwer-
den" und ,,immer alles bekommen". Die moderne Zivilisation sei von ,,außerge-
2012.
SchwedensSchülerschnitteninMa-
unterdurchschnittlich ab. Ostasiatische Länder nehmen in allen Bereichen die ersten vier Plätze ein. Eberhard hält Strenge und Ordnung für entscheidend. Tatsäch-
lich finden die PlSA-Statistiker, dass ein
wöhnlichen Individuen' errichtet worden.
Klima der Disziplin die Ergebnisse positiv
Aber die Hippiegeneration von 1968 habe ,,eine antiautoritäre Welt" geschaffen, in
beeinflusst. Aber sie belegen auch die
wir ,,keinem Kind irgendwelche Gren-
toren. Außerdem zeigen sie, dass den PISA-
zen aufzeigen". Seit wir die Kinderseelen
Resultaten eine ganz erhebliche Bedeutung
der
,,mit süßen kleinen Botschaften über die Gleichwertigkeit der Menschen füllen", gehe es im Westen bergab. Kinder würden als empfindliche Blümlein und brüchige Porzellanpuppen verniedlicht, sodass wir ,,24 Stunden am Tag Samthandschuhe tragen", statt sie,,mit fester Hand auf den richtigen Weg zu bringen". Pippi, Karlsson, Ronja und Michel sind bravund artig im Vergleich zu den Bälgern, die in Eberhards dunklen Fieberträumen außer Rand und Band geraten und Schweden ins Chaos stürzen. Die kleinen,,Des-
poten" bestimmten die Reiseziele, den Tagesablauf, das Essen und den Fernseh-
konsum der Familien allein. Aus Feigheit überließen ihnen die Erwachsenen die Herrschaft in Klassenzimmern, U-Bahnen, Supermärkten und Restaurants. In der guten alten Zeit hätten Kinder Tischmanieren, Geige spielen und Respekt vor Alteren gelernt. Heutzutage brächten wir ihnen bei, ,,dass man zu Kleineren und Schwächeren nicht gemein sein darf". Der Leserkann unmöglich entscheiden, ob Eberhards dramatische Einzelfallge-
Tilman Jens
Du
Wirkmächtigkeit einer Reihe weiterer Fak-
für
das
Wirtschaftswachstum zukommt.
Viele Millionen Bürger ostasiatischer Tigerstaaten konnten mithilfe der erstaun-
dürfrn
lich leistungsstarken und egalitären Bildungssysteme bitterer Armut entrinnen. Diese mögen armen Ländern als Vorbild dienen. Vieles spricht jedoch dafür, dass die PISA-Sieger für Leistungswahn, Lern-
'#{ffii:äriflF-
Autoritarismus mit einer niedrigen Lebenszufriedenheit bezahlen. Wastress und
rum landen etwa fapan, Taiwan und Südkorea in internationalen Glücksstudien hinter nahezu allen westlichen Ländern? Und warum sind Südkoreas Kinder die unglticklichsten in der OECD? Reiche Länder können wohl mehr von den Schulen
in Kanada, den Niederlanden und
der
Schweiz lernen, die ebenfalls hervorragende Leistungen
mit hoher Chancengleich-
heitverbinden. In allen drei Ländern sind mehr als 80 Prozent der Schtiler glticklich
in der Schule. In einem Punkt sind sich beide Autoren
einig: Über die beste Erziehung für den Erfolg, die Starke und das Glück unserer Kinder lohnt es sich zu streiten.
schichten besorgniserregende Trends widerspiegeln. Sehrviel mehr Gewicht besitzt
Tilman Jens fordert einen zeitigen
und konkreten Dialog über den Tod, eine offen und klar vereinbar-
te Regelung der letzten Dinge. Der Wunsch auf ein selbst bestimmtes Ableben muss vom Umfeld des Sterbenden respektiert und eingehalten werden.ln der Debatte um Sterbehilfe gibt der Autor mit diesem Buch differenzierte Denkanstöße und Orientieru ngshilfen.
I.4ICHAEL HOLN4ES
Tilman Jens
DU SOLTST STERBEN DÜRFEN Alfie Kohn: Der f4ythos des verwöhnten Kindes. Erziehungslügen unter die Lupe genommen. Aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl. Beltz, Weinheim 2015, 304 5., € 22,95
6)
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«,rf"i^\ T)io ntonströsatu
David Eberhard: Kinder an
der l.4acht. Die monströsen Auswüchse liberaler Erziehung. Kösel, München 2015, 300 S,, € 17.99
Warum es mit einer Patientenverfügung nicht getan ist t84S.l geb. mit Schutzumschlag €17,99 (D) / c r8,5o (A) / CHF* 24,5o lSBN 978-3-579-07096- 4 Auch als E-Book erhältlich
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PSYCHOLOGIE
HEUTE]]/20]5
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AU FG EBLATTERT
-"Habe ich den richtigen Beruf? Wie gut kenne
dem sie auch durchaus kritische Töne anschlagen.
ich meinen Partner? Sind meine Eltern dement?
Unter dem Stichwort,,lch-Versautheit" diagnostizieren sie eine Verschiebung im Testwesen. ,,Überspitzt kann man sagen, dass die Frage
Wie beweglich bin ich? Trinke ich zu viel? Das Testbuch (Kein & Aber, € 16,9O) stillt alle Bedürfnisse nach Überprüfung und beantwortet diese und mehr als 60 andere Fragen mithilfe ,,wissenschaftlicher" Tests. ,,Tests sind die Orakel der Moderne", schreiben Mikael Krogerus und Roman Tschäppeler in ihrem Prolog, in
,wer bin ich?'abgelöst wurde von der selbstoptimierenden Frage,Bin ich gut genug?'." Und dann
kann man loslegen und klären, wie kreativ, großzügig, narzisstisch, sexistisch und so weiter man ist.
,rJe früher, desto besser", lau-
tet das Motto von Manfred Alberti, wenn es um das Nachdenken über das Alterwerden und das eigene Sterben geht. ,,Wer
Airoganz ist gefährlich. Sie führt zu Größenwahn, Wirtschaftskrisen und Klimakatastrophen, zeigt der Finne Ari Turunen. Kann mir mal bitte jemand das Wasser reichen? (Nagel & Kimche, € 19,9O) lautet der herrliche Titel seiner Kulturgeschichte der Arroganz. Der Leser erfährt, wa-rum Alexander der Große wollte, dass man sich ihm zu Füßen warf, wie das Römische Reich zusammenbrach und wie Napoleon Frankreich und
Trotzki die Sowjetunion verAuch Bush, Berlusconi
aRl TURUNEX spielte.
MtR BrrrE
KANN
und die Leman Brothers bekommen ihr Fett weg. Der Autor wid-
JEIiAND met sich der Frage, weshalb
YASSER hochmütiges Verhalten so weit verbreitet ist und zeigt auch zwei !r (!i?E.Et(" .!.. irr iEroGAr: pro'bate Mittel dagegen: Selbstkritik und Selbstironie.
DAs
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84
REICHEX?
sich als Pflegefall permanent mit ungeklärten Fragen quält und dabei nichts mehr tun und entscheiden kann, der ärgert sich über das Hinausschieben", befindet der Autor. Damit es so weit nicht kommt, hat er das Vorsorgebuch (neukirchener aussaat, € 19,99) verfasst, das sehr umfassende praktische lnformationen, Tipps und
Checklisten liefert. Wie legt man einen Ordner mit wichtigen Dokumenten für die Hinterbliebenen an? Was, wenn das Geld für eine Bestattung
nicht reicht? Was passiert mit dem digitalen Nachlass? Manfred Alberti hat wirklich an alles gedacht: So behandelt er auch die Frage, wer die Wohnung während der Trauerfeier beaufsichtigt, weil sich offenbar einige Diebe darauf spezialisiert haben, Traueranzeigen zu studieren und die dort genannte Adresse zum Zeitpunkt der Trauerfeier auszurauben. PSYCHOLOGIE HEUTE ]i/2O15
Das Gute in uns
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Paul Bloom erklärt, wie das Gewissen entsteht
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Wir N{enschen besitzen die einzigartige Fahigkeit, r;iber unsereigenes Wesen nachzudenker-r. Sind rvirvon Natur aus gut oder
Umwelt über unsere moralische Entlvicklung?
böse? Oder er.rtscheidet die soziale
Der amelikanisch-kanadische Psycho-
logieprofessor Paul Bloon.r liefert n-rit seinem Buch ledes Kind kenrrt Gut und Böse einen entscheider.rder.r Beitrirg zur wissen-
schaftlichen Kontroverse
rr.rr.rd
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fig diskriminieren und beleidigen
=o N r d
sie
Menschen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören.
Biologie des mer-rschlichen Verhaltens. Er verficht die These, dass sich bereits ir.r den
Bloom hofft, dass wir den Kreis des Ivlitgefühls auf Menschen in aller Welt
ersten Lebensmonaten ein evolutionsbedingter Sinn fi.ir N,loral er.rtwickelt. Ge-
ausdehnen können, da die Globalisierung,
meinsam mit Kollegen hat er eine Reihe von Experimenten mit Babys und Kleinkindern durchgeführt, in dener.r diese auf kurze Puppenspiel- oder Fih.nszenen reagieren. So s:rhen sechs und zehn Mona-
iq
Bloom zeigt außerden.r, dass sich Stereot1'pe und Vorurteile schon sehr früh nachweisen lassen. Babys bevorzugen Menschen, die ihren Bezugspersonen ähneln. Kinder nutzen vor allem die Sprache, aber auch viele andere Signale, um zwischen Freund r.rnd Feind zu unterscheiden. Häu-
die Medien und das Reisen den Kontakt zwischen Fremden fördern. Aber er warnt
eindringlich davor, unseren moralischen Intuitionen blind zu folgen, statt sie kri-
lm
Gleichgewicht bleiben
tisch zu diskutieren. ,,Wenn unser Herz rein wäre, bräuchten wir nicht unseren Kopt." Unser sich im Laufe der Evolution
i\o & !t-
Figur stups-
er.rtrvickeltes Systern könne fanatisch, be-
te den Ball hir.rar-ri eine andere schubste ihn hir.rur.rter. Anschließend durften die Kinder zwischen den beiden Figuren wählen. Nahezu alle Kinder griffen nach den-r ,,Helfer". Drei Mor.rate alte Babys zoger.r es meist vor, die ,,gute" Figur zu betracl-r-
schränkt und irrational sein. Moralische Fortschritte führt er auf vernünftige Gesetze, Regeln ur-rd Sitten zurück, die alt-
rN \o@ @m
te alte Kir.rder eir.rer.n Ba][ zu, der mühsan.r eir-ren Hügel
l-rinautiollt.
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ruistisches Handeln zur Gewohnheit werden lassen.
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ten, woraus die Forscher auf eine Prät-erenz
,,Die Evolutior.r brachte unsere Spezies einer Lösung halbwegs entgegen", schreibt
'c r,i .9o 'öo
schließen.
Bloom. Wird sich das Gute in uns schließ-
o-
Eine gute Nachricht? Jein. Schon bei Kleinkindern zeigt sich sehr deutlich, dass
lich durchsetzen? Diese Frage kanr-r selbst dieses kluge Buch nicht beantworten.
das Erkenner.r moralischer Prinzipien nicl-rt ausreicl-rt,
ur.r.r
egoistischen Ir.npulsen
zu widerstehen. Das belegt Bloom anhand
zahlreicher Studien. Zwar helfen, trösten und streicheh.r die r.r-reisten Kleinkinder. Sie sind jedoch in-r Durcl-rschnitt geiziger
und gewaittätiger als tiltere Kinder und Erwachsene. Sie engagierer-r sich auch
ftir
Gerechtigkeit und Fairness - nicht aber, wenn sie selbst von der Ur-rgerechtigkeit
Paul Bloom: ..ledes Kind kennt Gut und Böse. Aus dem Amerikanischen von
i rh
Katrin Krips-Schmidt. Pattloch, München 2O14, 303 S., € 19,99
profitierei-r.
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PSYCHOLOGIE IIEI,ITE 11/2015
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Vergessen ist nützlich Ablenkung und Faulheit werden zu Unrecht verteufelt, wenn es ums Lernen geht, behauptet Benedict Carey
Schlusselfertigkeit Metakognition lhren Kopf Befreien von unnötigem Ballast
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gelassener umzugehen, Probleme schneller und besser zu lösen und lhre persönlichen Potentiale - privat und im Job - effektiver zu nutzen.
I
nformation & Traininqsanqebote:
Schüler und Studierende werden dem amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Benedict Carey dankbar sein. Allen
Lernenden, die nicht so fleißig arbeiten wollen oder können, erteilt er die AbsoIution: jenen, diegern einNickerchen machen, die Nacht zum Tag werden lassen oder die neben dem Studium noch anderen Tätigkeiten nachgehen wie Ausstellungen besuchen und Fußball spielen. Dabei vergessen die Bummelanten zwar einen Teil des gelernten Stoffes, aber das geschieht zu ihrem Besten, sagt Carey. Denn Vergessen sei ein sehr nützlicher Mechanismus des Gehirns. Vergessen fordert Lernprozesse, weil zum einen irrelevante Informationen ausgesondert werden. Zum anderen wäre es auch gar nicht gut, wenn wir Informationen mechanisch abspeichern würden, denn erst durch wiederholtes Durchkauen des Stoffes wird Wissen vertieft. Carey stellt in seinem Buch neue Erkenntnisse der Lernforschungvor, die Experten und guten Pädagogen zwar zum Teil bekannt sein dürften, aber im Alltag der meisten Lernenden wohl noch nicht angekommen sind. Wer kennt zum Bei-
Das Enneagramm unterscheidet neun versch iedene Persönlich keitsmuster,
die die Autoren auf 81 Subtypen erwei-
tert haben. Dies ermöglicht ein besseres Selbstverständnis und ein größeres
Verständnis für das Gegenüber.
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spiel nicht die Empfehlung, am besten immer an demselben Ort zu lernen, der zudem möglichst ruhig sein sollte? Was ist von dem Tipp zu halten, sich an ein bestimmtes Lernritual zu gewöhnen? Braucht es alles nicht, meint der Autor und rät stattdessen, Lern- und Übungsorte zu wechseln, zu verschiedenen Tageszeiten zu lernen und den Lernstoffmit unterschiedlichen Methoden aufzunehmen, durch Lesen und Diskutieren, durch Aufsagen vor dem Spiegel oder durch Schreiben in einen Computer. Denn an-
ziationen erhöht, die mit einem Lernstoff verbunden sind, sodass man sich leichter an das Gelernte erinnert. Einige Lernpsychologen wie die amerikanische Psychologenfamilie Barrick wählten sich gar selbst als Versuchskaninchen. Sie wollte testen, welche Lernintervalle für das Lernen von fremdsprachigen Wörtern am effektivsten sind. Die vier
Familienmitglieder lernten ftinf Jahre lang französische und deutsche Wörter. Die besten Ergebnisse erzielten sie mit der Liste, die sie mit den größten Intervallen und dem längsten zeitlichen Rahmen wiederholt hatten, nämlich einmal alle zwei Monate bei 26 Lerndurchgängen. Damit erinnerten sie immerhin 76 Prozett der einzuprägenden Wörter. Fazit: Lern- und Übungszeiten sollte man auf mehrere Sitzungen aufteilen und keinesfalls versuchen, alles auf einmal zu lernen.
Trotz der umfangreichen Studienberichte liest sich das Buch mit Vergnügen, weil Carey in bester angelsächsischer Tradition sowohl informativ als auch bildreich schreibt und geschickt immerwieder amüsante Geschichten aus seinem Leben einstreut. Ungeduldige Leserkönnen sich
im Anhang einen schnellen Überblick über die besten Lernstrategien verschaffen. Zum Beispiel sollte man sich nach dem Lernen möglichst schnell mithilfe altmodischer Lernkarten selbst testen oder sich von Freunden abfragen lassen. ANGELIKA SYLVIA FRIEDL
--» i=3tr :;1'f §I , trw-' ,Ll 'F---b
NIUES
-
LERNEN
scheinend verbessern Veränderungen des
'r'i
Lernumfelds die Gedachtnisleistungen, weil sich im Gehirn die Anzahl der Asso-
BEI{Tt)ICT
l ',
Benedict Carey: Neues Lernen. Warum Faulheit und Ablenkung dabei helfen. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Rowohlt, Reinbek 2015. 352 S.. €'19.95
CAREY
PSYCHOLOGIE HEUTE 11l2O15
Sagen Sie ma!, Herr Korn:
Wie gelingt der Ausstieg aus der Grübelfalle?
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Viele Menschen versuchen, sich in Gedanken auf
negative Ereignisse in der Zukunft vorzubereiten, um dann besser gewappnet zu sein, wenn der Fall eintritt. Ist das eine sinnvolle Strategie?
Dr. Oliver Korn ist Diplompsychologe und Psycho-
logischer Psychotherapeut an der Klinik f ür Psychiatrie und Psychotherapie der Universität zu Lübeck.
Das Problem ist, dass man oft nicht weiß, auf welche der vielen denkbaren negativen Ereignisse im Leben
man sich vorbereiten soll. Menschen, die sich ausgiebig Sorgen machen, versuchen daher oft, möglichst viele potenzielle Katastrophen durchzuspielen. Dies verursacht Angst, Anspannung und Unwohlsein, die Betroffenen leiden also bereits unter Ereignissen, obwohl diese noch gar nicht geschehen sind. Zudem resultieren aus den Sorgen und der Angst häufig Verhaltensweisen, die neue Probleme schaffen. Wenn ich mich beispielsweise nicht mehr traue, Auto zu fahren, wichtige Termine vermeide oder Alkohol gegen Sorgen und Angst einsetze, entstehen dadurch erst Probleme in meinem Leben. Die Erfahrung zeigt,
befürchteten Ereignisse von ,,Sorgenprofis" überhaupt nicht eintreten. Unterm Strich dass viele der
produziertdiesesVorgehen also mehr Leiden, als dass es
schützt.
Sie setzen die sogenannte metakognative Thera-
u o I
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pie gegen das Grübeln ein. Wiefunktioniert das? Die metakognitive Therapie geht davon aus, dass Menschen grübeln, weil sie bestimmte Überzeugungen über Gedanken und Denk- und Aufmerksamkeitsprozesse in sich tragen, etwa ,,Grübeln ist unkontrollierbar" oder ,,Grübeln hilft mir, herauszufinden, warum es mir so schlecht geht". In einer metakognitiven Therapie werden diese Überzeugungen infrage gestellt und verändert. Die Patienten lernen Techniken kennen, die ihnen helfen, die Kontrolle über das Grübeln zurückzugewinnen. Sie gelangen hier zu der Erkenntnis, dass Grübeln ihre Situation tatsächlich verschlimmert. ,,Wenn das Grübeln nicht bald aufhört, werde ich
noch verrückt!", ist eine häufige Befürchtung. Gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Grübeln und psychischen oder körperlichen Erkrankungen? Tatsachlich liegen Grübel- und Sorgenprozesse bei einer ganzen Reihe von psychischen Störungen vor. PSYCHOLOGIE HEUTE']']/2015
Das Grübeln nimmt etwa eine zentrale Rolle bei Depressionen ein. Gesunden könnte man daher tatsäch-
lich raten, nicht zu haufig und zu ausdauernd zu grübeln, weil Grübeln die Wahrscheinlichkeit, eine Depression zu entwickeln, erhöht. Und übermäßiges Sorgenmachen ist das Leitsymptom der sogenannten generalisierten Angststörung. Zwar gibt es bis heute noch keine Befunde, dass diese psychische Störung mit einem erhöhten Risiko für bestimmte korperliche Erkrankungen assoziiert ist. Allerdings ist die mit dem Sorgenmachen einhergehende Angst etwas, das oft zu unangenehmen körperlichen Beschwerden führt: Verspannungen, Kopfschmerzen, Nervosität, leichte Ermüdbarkeit oder Schlaflosigkeit sind nur eine kleine Auswahl dessen, was häufig Hausärzte verzweifeln lässt, weil sie körperlich absolut keine Ursache finden können. Haben Sie einen konkreten Vorschlag, was man tun kann, um das Grübeln zu stoppen? Eine Möglichkeit ist, die Grübelgedanken wie eine Person zu behandeln, die sich mit uns über etwas Unangenehmes unterhalten möchte, wofür wir aber momentan keine Zeit haben. Mit einer solchen Person würden wir uns für später verabreden und dann noch einmal neu entscheiden, ob wir denn überhaupt mit ihr sprechen wollen. Mit unseren negativen Gedanken können wir genauso umgehen. Wenn man einen Grübelgedanken bemerkt, dann könnte man zu sich sagen: ,,Ah, das sind wieder meine typischen Grübelgedanken. Um die kümmere ich mich später (wenn ich denn will)1" Und dann lässt man diese Gedanken allein, ohne sich weiter um sie zu kümmern, und wendet sich den lohnenswerten Dingen
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C",.n"inau-
rrl
Sebastian Rudolf hat Oliver Korn das Buch Sorgenlos und
grübelfrei. Wie der Ausstieg aus der Grübelfalle gelingt.
selbsthilfe und Thera piebeg leitu ng
mit Metakognitiver Therapie geschrieben, das im September im BeltzVerlag erschienen ist. 2OO S., € 24,95
im Leben zu. INTERVIEW: KATRIN BRENNER.BECKER
87
Wollt ihr die totale Harmonie? -
Die große Liebe ist ,,ein Konstrukt made in Germany", sagt Wolfgang Schmidbauer
leben durch die ,,totale Harmonie"
sentlich jüngere Frau Maya, eine Pastorentochter, praktisch von ihrer Familie weggeheiratet. Ihre Kinder sind inzwischen über 18, als sie depressiv wird.
werden. Doch die erweist sich als brüchig. Zerrüttet wird die Ehe meist durch das
Richard bemerkt ihre Verstimmungen nicht. Während eines Ferienaufenthalts lernt sie einen anderen kennen, doch Richard akzeptiert die Trennung nicht. Ihr Hochzeitsgelöbnis ist für ihn bindend wie
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nach Erhalt der letzten Ausgabe nichts von mir hören, möchte ich die Zeitschrift im Jahresabo beziehen {vier Ausgaben zu je
Geschenk erhalte ich zusätzlich die Ausgabe
"Mobil,
18 €).
Als
fexibel und
gestresst", wenn ich bis zum 15. Dezember 2015 bestelle.
das den ,,Untergang der Erotik" herbeiführt. An diese für sich genommen nicht
sehr originelle Beobachtung knüpft Schmidbauer seine Kernthese: Ist die Symbiose zerstört, so soll sie durch,,rechthaberische Aggressivität" gekittet werden
,,Eine typische Qualität der deutschen Ehe
ist die normativ-belehrende, an Schuld-
studienrat, versucht seine Frau auch nach seinem Idealbild zu belehren und zu for-
gefuhle appellierende, auf Erziehung des
men. Er versucht ihr Schuldgefühle einzureden, die Weiterführung der zerrütteten Ehe ist für ihn alternativlos. Das Verhaltensmuster erscheint nicht untypisch - aber ist es auch typisch deutsch? Wolfgang Schmidbauer sagt: ja. Die Deutschen sind nicht nur FußballChampiontitel: In,,Streitehen" wird nir-
Auseinandersetzung." Im Mikrokosmos der Ehe wiederholen sich die Tragödien des deutschen Selbstgefühls, deren Spuren Schmidbauer bereits in antiken Zeugnissen wiederzufinden meint. Von den Schriften des römischen Historikers Tacitus, der die Sittenstrenge der Germanen gegenüber mediterraner Lasterhaftigkeit betont, schlagt
unerbittlich, gnadenlos und zer-
der Autor einen rasanten Bogen über die
mürbend gezankt wie hierzulande. Diese These vertritt der renommierte Paartherapeut in seinem neuen Buch. Das Thema lag fur ihn nicht auf der Hand. Erst die hartnäckigen Interventionen einer Rundfunkmoderatorin, die etwas über eine
Reformation, die Aufklärung und das wilhelminische Kaiserreich bis hin zur 68er-
sie
haben noch einen weiteren
Partners/der Partnerin zielende Form von
Generation und den heutigen ,,Vornamen-
,,spezifisch deutsche Streitkultur" wissen
Eltern". Ein Kernmotiv ist die Idealisierung des weiblichen Partners in der romantischen Liebe. In den Brautbriefen Heinrich von Kleists, der seine unerfüll-
wollte, brachten ihn ins Grübeln.
te Liebe, die Generalstochter
Ergebnis ist ein Essay, der sich aus zwei Quellen speist, einer praktischen und ei-
Wilhelmine, durch,,Führung und Belehrung" seinem
ner theoretischen. Schmidbauer greift auf seine langjährige Erfahrung als Paarana-
lytiker zurück. Interessante Fallvignetten werden mit Exkursen über Literatur und Geschichte gespiegelt und zu einem viergliedrigen Modell verdichtet. Die traumaDatum;
Untertchrift
tische Erfahrung des Nationalsozialismus, 153OOl
:
an Empathie. Richard, beruflich Ober-
gends so
mit Umbrüchen'(erscheint am 17. Dezember 2015) zum "Umgang Vorteilspreis zu je 14,50 € inkl. Mwst. zu. lch spare gegenüber dem
Dritte, nämlich die Geburt eines Kindes,
eine heilige Pflicht. Es fehlt ihm nicht nur
weltmeister,
E lr, ich bestelle das Kommunikations-Paket:
kuriert
Szene einer Ehe: Richard hat seine we-
des ,,totalen Krieges" soll
88
im Beziehungs-
Wolfgang Schmidbauer
Die beutsctle
Wolfgang Schmidbauer: Die deutsche Ehe. Liebe im Schatten der Geschichte. Orell Füssli, Zürich 2015, 224 5., € 21 ,9s
Ehe Liebe inr Schatten der Gwhichte
(i)
l"."prooe
in der App
PSYCHOLOGIE HEUTE IIl2O15
hehren Ideal anzugleichen versucht, findet
ihre Verdienste hat, aber die Tiefenpsy-
Schmidbauer einen Beleg für seine These: Die große Liebe ist ,,ein Konstrukt made
chologie der skizzierten Paarbeziehungen und die sexuelle Differenz etwas schemen-
soll ein erlebtes oder kul-
haft erscheinen lässt. Fraglich erscheint
turell überliefertes Trauma kompensieren. Mit seiner ambitionierten Analyse legt
auch seine These, wonach Beziehungen im Orier.rt besser gedeihen, weil ,,fürsorgliche Sippen dafür (sorgen), dass die Liebe aufdie richtige Person trifft und dann im Schutz der Großfamilie auch großwerden kann". Die am Ende ausgesprochene ,,Hoffnung, dass sich die spezifischen Probleme der deutschen Ehe schrittweise in einem vereinten Europa auflösen", erin-
in Germany".
Sie
Schmidbauer gewissermaßer-r die deutsche Seele auf die Couch. Obwohl man seiner mäandernden Argumentation nicht in jede Verästelung
hinein folgen kann, gelingt
es ihm, eine gewisse germanische Grundbefindlichkeit einzukreisen. Hier und da läuft es nicht ganz rund. So erscheint et-
wa die bruchlose Ineinanderspiegelung von Leben und Werk bei Kleist literaturpsychoanalytisch problematisch. Darüber
nert ein wenig an eine Predigt. Von diesen Einschränkungen abgesehen ,ist Die deutsche Ehe
eine anregende Lektüre.
hinaus fällt die Einengung auf die sozialpsychologische Perspektive auf, die zwar
ALBTRAUM ADE? Der Mensch träumt im Laufe seines Lebens durchschnittlich mehr als 100 000-mal. Das berichtet die Autorin Angela Wall in ihrem Buch A/IlträLtme von A bis Z. ,Vielleicht überrascht es Sie, rvie rveit verbreitet Ihre Albträume sind und wie leicht sich auch die bizarrster-r Vorstellungen in erklärbare Einzelteile zerlegen lassen", schreibt \\/all. Sie zieht gangige Traummotive heran, etwa den freien Fall in einen Abgrund. \\riederholt betont die Autorin, wie wichtig es sei, die beängstigenden Träume nicht einfach beiseitezuschieben, sondern sich mit ihnen zu befassen. Unter anderen.r in der Form des Niederschreibens. Das Taschenbucl-r beinl-raltet im
Barthes d-.i*-ls
,
letzten Teil leere Seiten, aufdenen der Leser seine Nachtbilder festhalten und reflektieren kann. Die Auseinandersetzung n-rit den furcl-rteinflößenden Träumen sei wichtig, weil Albträume durchirus befreiende und heilende Funktionen hätten, erklärt die Autorin. ,,Furcht, Unsicherheit, Frustration und Angst müssen im Wachzustand oft unterdrückt lverden", schreibt Wall. Im nächtlichen Geschehen werden die Gefühle aufgearbeitet. Während Wall im ersten Teil ihres Buches über die potenziell positive Rolle der Albträume spricht, bietet sie im zweiten eine lexikalische Auflistung derhäufigsten negativen Traummotive. Dieser Buchteii liefert einen har-rdlichen Überblick für jene Leser, die sich für die psychoanalytische Schule und ihre Traumsyn-rbolik interessieren. Lesern, die sich aktuelle und fundierte Erkenntnisse zum Thema Albtraum wünschen, ist das Buch nicht zu ernpfehlen. Es reflektiert die aktuelle Forschungslage nicht, im Gegenteil: Walls Aussagen fußen auf zum Teil überholter.r Theorien.
,
ANNA GIELAS
Angela Wall: Albträume von A bis Z. Was sie auslöst und wie man sie vertreibt. Aus dem Amerikanischen von Stefanie Hutter. Wilhelm Goldmann, München 2015, 3O1 S., € 9,99
PSYCHOLOGIE HEUTE IIl2O15
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AUSSERDEM RAT UND LEBENSH;LFE
Amador - mir fehlt nichts! Ins Gespräch kommen mit psychisch Kranken. Thieme, 32O S., € 19,99
Clemens Bergner Enthüllt! Die Beschneidung von Jungen - nur ein kleiner Schnitt? Tredition, 324 5., € 17,9O
Willi Butollo, Gabriele Pfoh Wenn Zeit allein nicht heilt. Komplizierte Trauer begleiten.
KINDER UND FAMILIE
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Lass mich Heinz Wilhelm Gößling Besser schlafen mit Selbsthypnose. Das Fünf-Wochen-
Programm f ür Aufgeweckte. Carl-Auer,'14] S., € 1295 Kneginja Richter Schlafen Sie gut! lhr Schlafprogramm für aufgeweckte Tage und erholsame Nächte. Trias, 128 S.,
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Jorge Bucay Das Buch der Trauer. Wege aus Schmerz und Verlust. Fischer, 269 S., € 16,99
Jana Hauschild Endlich schlafen. Der Ratgeber für einen erholsamen Schlaf. Stiftung Warentest,'176 S., € 19,90
Martin Reker Umgang mit alkoholabhängiEen Patienten. Psychiatrie,
Konstanze Wortmann Wege in den erholsamen Schlaf. Junfermann, l20 S., € 16,9O
Bernhard Leipold Resilienz im Erwachsenenalter. Reinhardt, 25O S., € 29,99
Helmut Schröder Leben mit Parkinson. Achterbahn f ür Fortgeschrittene.
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ihren Asperger-Mann lieben und verstehen. Trias, ]34 S., € 17,99
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M=DIEN
REDAKTION: ANKE BRUDER
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Von Menschen und Mikroben HINGEHEN
Immer mehr Forschungsbefunde deuten darauf hin, dass die Zusammensetzung unserer Darmflora beträchtlichen Einfluss auf unser Gefühlsleben hat. Darm und Psyche sind eng verbunden - in beide Richtungen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat jetzt die App MenschMikrobeherausgebracht, in der es um unser Zusammenleben mit den Milliarden von Winzlingen geht, die in und auf unserem Körper hausen. Kleine Videos
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kleinen Untermieter näher. Die App ist für iOS und Android erhältlich, allerdings ist sie nur für Tablets und nicht für Smartphones ausgelegt. Auf www.dfg.de gibt es zusätzliche Materialien für den Schulun-
terricht.
Skandal? Nacktszenen im Kino schockieren heute niemanden mehr. Ganz anders sah das noch 1951 aus, als
Hildegard Knef in einer Szene des Films Die Sünderin fi.j.r einen kurzen Moment nackt zu sehen ist. Skandal! Diesen Wandel der Sexualmoral thematisiert die Ausstellung Schamlos, die zurzeit im Haus der Geschichte in Bonn zu sehen ist. Etwa 900 Exponate verdeutlichen, welche Veränderung sich
seit 1945 in unseren Köpfen vollzogen hat, und zeigen die materiellen, rechtlichen, kulturellen und
mentalen Entwicklungen bis in die Gegenwart
- für
West- und Ostdeutschland. Die Ausstellung ist bis zum 14. Februar 2016 im Haus der Geschichte in Bonn zu sehen. www.hdg.de . Sünderin O Stiftung Haus der Geschichte,/Axel Thünker
SEHEN
Die Schmerzensfrau Claire Bennett (Iennifer Aniston) hat Schmerzen. Quälende, chronische Schmerzen. In Cake erzählt Regisseur Daniel Barnz vom Leben dieser Schmerzpatientin, der jede Bewegung unerträgliche Qualen zufügt. Dabeiwar in Claires Leben mal alles gut. Sie hatte einen kleinen Sohn, einen Ehemann, einen interessanten Iob als Anwältin. Dann wurde ihr Kind bei einem Autounfall getötet - und auch Claire erlitt lebensgefährliche Verletzungen. Inzwischen sind die Brüche geheilt, aber die seelischen Verletzungen prägen Claires Leben. Was soll sie noch in einer Welt voller Schmerzen und Verlust, die nichts mehr für sie bereithält? Als Nina, eine junge Mutter aus ihrer Selbsthilfegruppe, sich von einer AutobahnbrüIENNIFER ANISION cke in den Tod stürzt, nimmt Claire Kontakt zu Ninas Witwer Roy und dessen CAKE kleinem Sohn Casey a:of .Zwischen beiden entwickelt sich eine fragile Freundschaft, ,i§ die Claire am Ende hilft, sich ihrer Trauer und ihrem Schmerz zu stellen. Obwohl ,t -ü'..-=. Cake teilweise konstruiert und vorhersagbar daherkommt, ist er doch ein fortschrittlicher Film - denn er plädiert dafür, dem Schmerz die Hand zu reichen und ANNE-EV USTORF ihn anzunehmen, statt ihn zu bekämpfen. Eine Cake. DVD. Warner Home Video,2Ol5 Laufzeit:98 Minuten. € 13,99. www.warnerbros.delhomevideo/cake.html. ausführliche Filmbesprechung von Cake finden Sie in unserem Filmarchiv: www.psychologie-heute.delhome/filmund-kritik/f ilmarchiv,
PSYCHOLOGIE HEUTE 1Il2O'I5
91
L=SERERIEFE
k.brenner@beltz.Oe
I
,,Von etwa zehn Klienten, die zu mir kommen und mit
AD(H)S diagnostiziert wurden, sind neun hochsensibel." Petra
M
oi ra Sc hm i dt,
Diplomsozialwlssenschaftlerin, Lüt.ienburg
Hochsensible können sich ,,im stillen Kämmerlein" bei einer Tatigkeit, die sie gern ausüben, sehr gut und über einen
subtilen Diskriminierungen ausgesetzt
langen Zeitraum konzentrieren, Menschen
eine Nachrichtenmeldung mit dem Satz ,,Unter den Opfern waren auch Frauen und Kinder" nicht als Herabwürdigung der
re Aufmerksamkeit grundsätzlich nicht
männlichen Opfer zu verstehen? Wie sind mit Steuermitteln finanzierte Plakate gegen häusliche Gewalt einzuordnen, auf
mit AD (H) S wechseln von sich aus auch bei optimalem Reizniveau - häufig die Tätigkeiten, das heißt, sie können ih-
Auf merksamkeitsgestört
über eine längere Dauer auf eine Sache richten. Wenn dieser Unterschied bekannter
oder hochsensibel?
wäre, könnten obengenannte Berufsgrup -
(Feinfühlig. Titelthema Heft 9/2O15)
pen durch die einfache Frage ,,Wie verhält
Zunächst einmal herzlichen Dank,
sich Ihr Kind in einer ruhigen Umgebung, wenn es mit einer Sache beschäftigt ist, die ihm Spaß macht?" herausfinden, ob
dass Sie das wichtige Thema ,,Hochsensibilität" aufgegriffen haben! Ich bin sys-
temisch-1ösungsorientierte Therapeutin und arbeite seit 15 Iahren mit Hochsensiblen, Hochbegabten und Menschen mit AD(H)S-Diagnose aus dem gesamten Bundesgebiet. Ein besonders wichtiges
ein AD (H)S-Verdachtbesteht oder es sich
Thema, das mir sehr am Herzen liegt und
wie Lern- und Arbeitsverhalten befindet sich auf meiner Website www.lernbera tung-und-training.de - können weitere Aufschlüsse geben. Petro Moirttschnrith,Dip-
für die Öffentlichkeit von großem Interesse ist, besteht in der Unterscheidas
dung von Hochsensibilitat und AD(H)S:
Von zehn Klienten, die zu mir kommen und mit AD(H)S diagnostiziert wurden, sind neun hochsensibel. Demzufolge
um
Hochsensibilitat handelt. Diverse Tests im Internet - ein Fragebogen zum Thema Sensibilität, Begabu ng, Konzentration so-
lomsozialwissenschaftlerin, u.
a.
Mitglied im lnformations-
und Forschungsverbund Hochsensibilität e.V (IFHS)
wird
eine völlig ,,normale" Eigenschaft eines
Fünftels der Bevölkerung - laut Studien der amerikanischen Professorin Elaine Aron sind etwa20 P rozent aller Menschen betroffen - zu einer Krankheit nach dem Diagnoseschlüssel ICD-10 erklärt, weil Arzte, Lehrer und Therapeuten das Konzept,,Hochsensibilitat" nicht kennen. Neben ähnlichen Symptomen im schulischen oder beruflichen Kontext gibt es
ein klares Unterscheidungsmerkmal: 92
mit höherer Wahrscheinlichkeit
Herabwürdigung von Männern (Annette Schäfer: Vorurteile? lch doch nichtl Neft 9/2015)
Ich kann dem Beitrag nur zustimmen, dass systematische Vorurteile das Wohlbefinden der Betroffenen beeinträchtigen und dass dies mehr Beachtung finden sollte. Im Text wird unterschwellig behauptet, dass
nur Frauen, Schwarze, Homosexu-
elle und andere
Minderheiten- nicht aber
heterosexuelle weiße Männer
-
diesen
seien. Beispiele von,,aversivem Sexismus"
gegen Männer werden nicht erwähnt. Ist
denen geschrieben steht: ,,ManN schlägt nicht"? Auch hier werden männliche Opfer (und Frauen als Täterinnen) ignoriert.
Und wie soll ich als Mann den Satz interpretieren: ,,Wer die menschliche Gesellschaftwill, muss die männliche überwinden"? Dieser Satz steht immerhin im Parteiprogramm der SPD! Die Vorurteile gegen Männer, sie seien gewalttätig, weniger empathisch und für Kinderbetreuung und Haushalt weniger geeignet als Frauen, sind ein (inverses) Analogon zu den im Text erwähnten Vorurteilen gegen Frauen, sie seien mathematisch weniger begabt. Warum werden im Beitrag nicht Beispiele ftir beide Geschlechter aufgeführt? Noch persönlicher und folgenschwerer werden die Vorurteile bei Vätern, die sich intensiv um ihre leiblichen Kinder kümmern wollen. Wie soll ein Vater damit umgehen, dass er im Gegensatz zur Mutter - vor Gericht erst beweisen muss, dass er ein guter Va-
ter ist oder sein wird und dass er keine Gefahr ftir das Wohl des Kindes darstellt? Ieder, derbestreitet, dass es eine Ungleichbehandlung zwischen den Geschlechtern
gibt, suggeriert, dass es (allein) an den Vätern selbst liege, wenn sie keine oder keine intensive Bindung zu ihren Kindern PSYCHOLOGIE HEUTE 1'Il2015
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aufbauen oder erhalten können. Ist die
Die Identität verändert sich im Leben mit
Gedanken: richtig oder falsch
Herabwürdigung und Vorverurteilung von Männern in unserer Gesellschaft so stark verankert, dass sie gar nicht wahr-
einer chronischen Krankheit ganz gewiss,
(Schöner Stress. Titelthema Heft 8/2015. Ursula Nuber: Editorlal)
genommen und thematisiert wird? Dr. Andreas Schmolrl, München, 2. Vorsitzender von Forum Soziale Inklusion eV.,
www.forum-social-inclusion.eu/
doch einen Ersatz braucht niemand. Das Wort ist mir einfach zu pointiert und leicht missverständlich. Egal. Nach meiner fast 20-jährigen Erfahrung mit meiner schweren neurologischen Erkrankung sind mir jedenfalls ein paar Punkte klargeworden: Die Krankheit ist immer da und dabei doch nur ein Teil von mir. Ich bleibe ich und reduziere mich nicht auf meine gesundheitliche Besonderheit. Der achtsame Blick auf das Ietzt ist zentral. Denn nur das ist mir sicher. Mir hilft es, offen für Veränderungen und - auch unangenehme
- Überraschungen
,,
ldentitätsersatz"!?
(Anke Noltet Bewältigen statt heilen, Neft a/2015)
Mit großem Interesse habe ich denArtikel über das Leben mit einer chronischen Krankheit gelesen. Sehr gut, sehr interessant, danke! Im Absatz zu den Strategien
im Umgang mit der chronischen Krankheit fiel der Begriff ,,Identitätsersatz", der mich missbilligend hat schlucken lassen.
zu sein, jeden
Moment.
Glückwunsch zu Ihren einleitenden Worten der Augustausgabe. Ich arbeite viel
Vertrieblern zusammen
-
mit
eine Berufs-
gruppe mit weitreichenden Stresserfahrungen (intern und extern). Sie haben es richtig beschrieben: Die eigenen Gedanken halten uns von der Entwicklung des Kohärenzsinnes ab. Meine Trainingsteilnehmer formulieren oft: ,,klappt sowieso
nicht ...", ,,der Wettbewerb ist besser ...", ,,Kunden haben keine Zeit . . .". Ich bitte dann immer, dass einer der Teilnehmer für mich einen Lottoschein ausftillt. Mit viel prophetischen Zukunftsgedanken muss da ja ein Volltreffer rauskommen. Das ist ein erster Schritt und zeigt: Meine
KIar, dass ich vieles immer neu ausbalan-
so
cieren muss. In aller Demut und Dankbarkeit. Wichtig ist noch, stets mit sich und den anderen gut zu kommunizieren und stets aufs Neue eigene Wahrnehmungen oder Beschränkungen, schwer Kom-
Gedanken können richtigoder falsch sein.
munizierbares, zu,,übersetzen". Sich selbst
und den anderen tut man damit einen großen Gefallen! Und nicht vergessen:
Vielen Dank für Ihre Worte mit einem passenden Zitat:,,Auf Dauer nimmt die Seele die Farbe meiner Gedanken an" (Mark Aurel). Dirk Görner. Hartheim
Auch die,,Gesunden" haben ihre Schwierigkeiten und Klippen zu umschiffen- jeden Tag.
Thonas Sdri, Getspolsheim, Frankreich
IMPRESSUM REDAKTIONSANSCHRIFT Werderstraße 10, 69469 Weinheim Postfach l0 0 I 54, 69441 Weinheim, Telefon 0 62 0l I 60 07 -0 Fd 0 6201/60 07-382 (Redaktion), Fd 0 6201/60 07-310 (Verlag)
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Ursula Nuber
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dere Länder aufAnfrage. Kennenlernabo plus: EU-Läldel Schweiz € 20,-; andere Länder aufAnfrage. Die Berechnung in die Schweiz erfolgt in SFr. zum tagesaktuellen Urnrechnungskurs. Nähere Infos unter http://psychologie-heute-abo.kohlibri.de Psychologie Heute kann im AbonDement oder als Einzelheft beim Buchhandel oder direkt beim Verlag bestellt werden. Zahlungen bitte erst nach Erhalt der Rechnung. Das Abonnement ist nach der Laufzeit von 6 Monaten jederzeit kündbar. Zu viel bezahlte Beträge erhalten Sie zurück. Erfblgt keine Abbestellung, verlängert sich das Abonnement automatisch um ein weiteres Jahr. Psychologie Heute kann aus technischen Gründen nicht in den Urlaub nachgeschickt werden. Der gesamten Atroauflage liegt eine Beilage des Param Verlags in Allerstedt und des PlaD InternatioDal.e.V in Hamburg bei. Der Aboauflage Inland liegt eine Beilage der RSD Reise Service l)eutschland GmbH in Kirchheim und des Spektrums der Wissenschaft in Heidelberg bei. Einem Teil der Aboauflage liegt eiDe Beilage der Trauma Support GbR in Frankfurt bei. Wir bitten unsere Leser um fieundliche Beachtung. BTLDOUELLEN Titel: Silke Weinsheimer S. 3: Gab), Gerster S. 4, 18, 19.20,22.24,2c Oliver weiss. S. 5 oben, 29, 3 1, 32: Linda wölfel. unten, 42, 43,45, 46,47: Christian Barthold. S. 6, 7, 8, 10, 52, 55,
S. 5
56 oben,94r Getty Images. S.9: \@.experimentermovie.com. S.12, 48,82: plainpicture. S. I4: privat. S. t5: @Heike Steinweg. l6: Michel Streich. S. 17: privat. S.26: privat? S.34: Stefan Bachmann. S. 36,38,
39,40,
4I: Karsten Petrat.
S.
S.54,56 unten: Mauritius. S. 64, 67: Ton),
Hoare.
S. 66: IPSS
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