ll|[[PA llffisIHlnl Die Geschichte
Dielfuisen DieChancen
E EURoPA Editotial
liele leserinnen unil lese[ Bürokraten? EU-Rat und EU-Parlament - ist das nichtbloß ein Projekt weltferner Eliten?
meint in schwierigen Zeiten. Die
Europa hat keine Aussicht, verwirk-
Dabei muss man sich nur vor
licht zu werden. Man macht kein
Augen führen, wie wenig selbstverständlich 7o fahre ohne großen Itieg
zwischen den einstigen ,,Erbfeinden" Deutschland und Frankreich,
der französische Staatspräsident Charles de Gaulle hat einmal gesagt:
,,Der Traum von einem vereinten
Omelett aus harten Eiern."Tatsächlich wirkt Europa heute mehr denn je, als hätten sich die Haltungen ver-
härtet, als zerfalle der I(ontinent wieder in seine Bestandteile. Das liegt sicher an der aktuellen Iftise, die Millionen verunsichert oder ärmer gemacht hat.Aber viele Politiker hatten in Wahrheit auch nie vor, Souveränität abzugeben. Ob aus Angst um ihre Macht aus Angst um ihre Identität oder aus Angst um ihre Größe und die ihres Landes. Genau das nämlich trieb de Gaulle einst um, als er von einem ,,Europa der Vaterländer" träumte.
Um den Kontinent ist es heute jedoch auch deshalb so schlecht bestellt, weil die Bürger,weil also
wir
gelangweilt, so desinteressiert geworden sind. Brüssel - sind das nicht hoch bezahlte so
desillusioniert,
so
bis rg4S auf unserem I(ontinent
Integration der Demokratien Südosteuropas, der nachhaltige Frieden
der freiwillige Zusammenschluss unabhängiger Völker ohne j ede Ge-
Iand oder Saudi-fuabien Schutz vor
walt - das alles war dem I(omitee in Oslo diese Würdigung wert. Wir sollten uns dessen bewusst sein.Undwenn nötig darüber streiten, was uns ein vereintes EuroPa bedeutet. Dieses Heftwill dazu beitragen, dass wir die Diskussion
Itieg und Elend zu suchen. Auch
möglichst kenntnisreich führen
darum strömen Millionen Touristen aus Asien,Amerika oder Afrika Sommer für Sommer in unsere Städte,
können.
in unsere Museen: Sie sind vom
stern-Chefredakteur
waren. Solchen Wohlstand, solche Freiheit und Freizügigkeit, wie wir heute für gegeben halten, hat Europa nie zuvor erlebt.Auch darum ste-
hen Millionen von Flüchtlingen an den Grenzen der EU, statt in Russ-
Christian Krug
Reichtum Europas fasziniert - dem materiellen ebenso wie dem der vieIen I(ulturen. Europa mag alt und
umständlich sein, aber noch immer ist es ein Erfolgsmodell.
Als die EU vor vier Jahren den Friedensnobelpreis bekam, war das nicht bloß als Aufmunterung ge-
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lmpressum Chefredakleur
Christian Krug Redaktionsleitung Sabine Kartte Creaiive Direclol Frances Uckermann Art Director
Silvia Engelhardt Konzeplion und Redaktion
Hans-Hermann I0are Mitarbeiter und Autoren Ferdinand Dyck, Teja Fiedler, Katja Gloger, Florian Güßgen, Alard von IGttlitz, Peter o
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Meroth,Tilman Müller,
Geslallung Andreas Fischer, Uwe Fischer (fr.),
Ibrahim I(epenek
Bildredaktion Andreas Eucker
lnfografik Bettina Müller, Stephan Hauf(fr.) Dokumenlalion
Hildegard Frilling, Matthias Reisner (fr.) Lekloral Susanne Elsner, Mai Laubis Verlagsgeschäftsf ührer Soheil Dastyari
Publisher
Markeling
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Wibke Dauletiar
Kerstin Füllgraf
Christian Krug
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Öffentlichkeitsarbeit FrankThomsen
vertrieb
Herslellung
Herstellung Heiko Belitz (Ltg.), G+J
Martin Laue Lilhografie Peter Becker GmbH,
Würzburg Druck Neef + Stumme,Wittingen
ste r I-THEMA 1 / 2016, EuroP a
per Post: stern-Versandservice, zooSo Hamburg, per Telefon: o4o/555578 oo, Fax or8o5/861 8o 02 (4 Cent/ Min. aus dem dt. Festnetz); per E-Mail:
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Kapilel t Der I(ontinent ist der Nabel der Welt. Fortschrittlich, reich und nationalistisch. Und damit dem Untergang
geweiht r848bisr9r4imÜberblick
28
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Kapitel 2 Die Zeit derWeltkriege beendet die Überlegenheit Europas und seine Vor-
machtstellung r9r4 bis rg+s im Überblick
54
Kapitel 3 Im I(alten I(rieg zerfällt der I(ontinent in zwei Teile, dominiert von den USA und der Sowjetunion, den Supermächten
ItaillelS:
derEpoche imÜberblick
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rg+s bis rg8g
Kapitel 4 Die EU wird immer größer. Mit der Auflösung des Ostblocks scheint der I(ontinent endlich zusammenzufinden 7o
lulerstandelt affi [[ittEr s. 50
r989biszoo4imÜberblick
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Kapitel 5 Die Iftise derWeltwirtschaft wird zur I(rise der Euro-päischen Union
84
zoo4 bis zo16 im
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Uberblick
Folo-Essay Wir Europäer Gesichter des
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I(ontinents
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98
Kapitel 6 Europa von A bis Z: Wichtiges und Absurdes in Zahlen, I(arten und György I(onräd über die Europa-Feinde im
Fakten
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alten ostblock Manifest: Zwei,,Neon"-Journalisten fordern mehr Einsatz der Jungen für Europa Ein EU-Dolmetscher über den Alltag mit
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$[ Sie leben an den Rändern der EU. Ganz verschieden sind sie. Und doch in ihrer VieF falt vereint Sie alle sind Bürger Europas
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Seit 5ooJahren geht es in Europa immer um dasselbe: die Deutsche Frage. Für den Historiker Brendan Simms aus Cambridge ist sie dasgroße Thema des I(ontinents. Auch jetztin der I(rise der EU. Doch es gibt eine Lösung: die Vereinigten Staaten von Europa, ganznach dem Vorbild auf der anderen Seite des Atlantiks. Simms hält sie für machbar Von Hans-Hermann Klare
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anderes Land der Eurozone. Die haben freiwillig ihren Volkswirtschaften Gewalt angetan, um die I(riterien für eine Aufnahme in die Währungsunion zu erfüllen. Nun wollen sie auch nichtwieder raus, weil sie hoffen, dank Europa dem
IhrerAnsichtja seit
Was meinen Sie damit? Deutschland ist der Dreh- und An-
5oo fahren
die Gemüter erhitzt?
kommt mirbekannt
vor. Die Deutsche Frage stellt sich aber aufeiner ganz anderen Ebene und hat nichts mit dem aktuellen Verhalten der Deutschen zu tun. Deutschland unterdrückt weder Griechenland noch irgendein
22 StE
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rofessor Simms, sind die Deutschen schuld an der Krise Europas? Italiens PremierMatteo Renzi beschwert sich über die deutsche Dominanz. Für Londons Bürgermeister Boris f ohnson ist Finanzminister Schäuble in der Schuldenkrise der,,Mann mit der I(narre". Und Griechenlands ehemaliger FinanzministerVaroufakis hat den Rettungsplan der Deutschen für sein Land ein ,neues Versailles" genannt. Ist das die Neuauflage der Deutschen Frage, die nach
Das Ganze
.
Scheitern ihrer nationalen Politiker in der Vergangenheit auf Dauer zu entkommen. Es scheint so, als gäbe es nur eines, was
schlimmer
ist, als von den Deutschen dominiert zu werden, nämlich nicht von
ihnen dominiert zu werden. Dennoch geht es dabeiwie seit 5oo Jahren eben um die Deutsche Frage.
gelpunkt des gesamten europäischen Staatensystems mindestens seit dem 16. fahrhundert. Seine zentrale geografische Lage machte es zum Führungsstand Europas: ein Gebiet, auf dem fremde Armeen um die Vorherrschaft auf
dem l(ontinent stritten. BevÖlkerungsdichte, Fleiß und Einfallsreichtum seiner Bewohner und die Tapferkeit seiner Soldaten machten Deutschland zum wertvollsten
llassliUur Angela-Merkel mit
Hitler-Bart und Nazi-Uniform. So machten Demonstranten in Athen im vergangenen Jahr Stimmung gegen die Deutschen und deren Sparpolitik
Preis innerhalb des Staatensystems. Über die größte Zeit von 5oo fahren bestand die Angst vor
Deutschland nicht darin, dass dieses Land das europäische Gleichgewicht der Macht stören könnte. Denn sein Staatenbund, das ,,Heilige Römische Reich deutscher Nation'i war tief zerstritten, zwischen I(aiser und den wichtigsten Fürsten, später auch zwischen Katholiken und Protestanten. So entstand im Herzen Europas einVakuum,
Unsicherheit exportierte und die Beutegier der Nachbarn weckte, am katastrophalsten während des Dreißigjährigen I(riegs. Das hat sich aber spätergeändert. Richtig. Und zwar im r9. )ahrhundas
dert mit der Reichsgründung
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Halb lre, halb Deutscher, lehrt Brendan Simms Geschichte an der Universität Cambridge in England. Der
48-Jährige ist zudem Ptäsident des,,Project for Democratic Union", das Europa vereinigen will
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rril ttutrgilann
lntEhlluBr ilenn lB" unter Bismarck. Wir wissen heute nur zu gut, dass später das Entstehen eines vereinigten Machtzentrums im Herzen des I(ontinents nicht bloß das Gleichgewicht der I(räfte in Europa, sondern in der ganzen Welt durcheinanderbrachte. Eine Koalition der stärksten Mächte der Erde war nötig, um sowohl das Deutschland des IGisers wie das Dritte Reich Hitlers zu besiegen. Nach j eder dieser Ausei-
nandersetzungen stellte sich die Deutsche Frage von Neuem: wie das Zentrum Europas ordnen, ohne dem Streben nach VorherrschaftVorschub zu leisten. Der Vertrag von Versailles r9r9 scheiterte darin spektakulär. Die Lösung nach dem ZweitenWeltkrieg war viel erfolgreicher. Deutschland wurde aufgeteilt und änderte sich von Grund auf. Daran scheinen viele in den
Nachbarstaaten wieder zu zwei-
feln, wenn sie den Deutschen Do-
minanzvorwerfen. Deutschland ist nun mal aufgrund seiner Größe und seiner Lage etwas Besonderes. Nehmen Sie die Flüchtlingskrise als Beispiel. Deutschland liegt in der Mitte des Kontinents, ein wohlhabendes Land, das die Flüchtlinge anzieht
und förmlich aufsaugt.Und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die äußeren Grenzen Europas nicht sicher sind. Ob sie wollen oder nicht, alle anderen Länder sind gezwungen, sich zu verhalten. Sie errichten Zäune wie die Ungarn oder lassen die Leute durchwie die Griechen. Und die Deutschen bestimmen, was passiertundwas nicht? So wie die EU organisiert ist,wird der I(ontinent von den Deutschen
dominiert. Ihre Wirtschaftskraft sorgt dafür, dass sie auch bestimmen,was innerhalb der gemeinsamenWährung möglich ist und was
nicht. Das Design des Euro sollte eigentlich sicherstellen, dass Deutschland integriertwird in ein größeres Europa. Es war eine Antwort auf die Geschichte. Denn je stärker die Deutsche Markwurde, umso dringender schien es den anderen, allen voran den Franzosen, die Deutschen einzubinden. Das war schon vor der Wiedervereinigung so. Tatsächlich ist das Gegen-
teil geschehen. Wirtschaftlich ist Deutschland mächtiger denn je.
Aber nicht unbedingt politisch
mächtigen fa. Ob es um
Terrorbekämpfung
geht oder die Bedrohung Europas durch Putins Annexion der I(rim und das Anheizen des Konflikts mit der Ukraine - dort tun die Deutschen bemerkenswert wenig. Weil die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte heute pazifistischer sind dennje und zugleich
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sterr,
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militärische Lösungen für diverseProblemegibt? Das hat nur wenig mit der pazifistischen I(ultur zu tun, die sich entwickelt hat. Spätestens seit sich der grüne Außenminister foschka Fischer für,,humanitäre Interventionen" starkmachte und die Deutschen sich 1999 am I(osovokrieg beteiligten, ist das vorbei. Nach diesem Denken verbot (Auschwitz nicht länger den militärischen Einsatz der Deutschen, ganz im Gegenteil verlangte es ihn. Das Problem liegt ganz woanders: in der Struktur Europas. Die EU ist nämlich organisiert, Mobilisierungenjeglicher Art zu erschweren oder zu verhindern. Noch etwas anderes kommt hinzu. Mit dem Ende des I(alten IGiegs war
Deutschland zum ersten Mal in seiner Geschichte nicht länger Frontstaat, sondern von befreundeten Staaten umgeben. Es befindet sich seither in einer Art von I(okon, fühlt nicht länger den geopolitischen Schmerz, dem andere Staaten etwa im Baltikum oder Polen ausgesetzt sind. es bei der Entstehung Europas nach dem ZweitenWelt-
Aber ging
krieg nichteben darum: Ikieg konnte keine Antwort auf die Probleme der modernenWelt sein? Ein Miteinander in Frieden erschien nötiger denn j e. Selbst Großbritanniens Premier Churchill hat gleich nach I(riegsende die Vereinigten Staaten von Europa ge for dert. Endlich waren die Deutschen bessere Schülerals derRest. Das europäische Projekt verfolgte damals zwei Ziele: einmal einen Itieg innerhalb Europas unmöglich zu machen. Das andere war, Europa vor äußeren Gefahren zu schützen. Das erste Ziel wurde
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erreicht. Aber das zweite Ziel zu erreichen war nicht das Verdienst der Europäischen Union und ihrerVorgänger, sondern das Verdienst der Nato. Injener Zeit hat Europa verpasst, auch eine glaubwürdige militärische Macht zu werden.
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Gilt denn das noch im zr. fahrhundert? Armeen bekämpfen nicht mehr Armeen, sondern es gibt sogenannte as5rmmetrische
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IGiege, in denen derWesten trotz all seiner Militärtechnik nicht
gewinnen kann. Ob in Afghanistan oderwomöglich gegen den IS. Das sind legitime Einwände.Aber wir sehen etwa im Fall von Syrien, dass die Probleme heute größer
und schwerer zu lösen sind als vor ein paar Jahren, hätte man damals eingegriffen. Wie auch immer sie das Eingreifen oder Nichtstun bewerten - mit solchen Problemen werden individuelle Staaten allein nicht fertig. Dazu bedarfes einer paneuropäischen Lösung. Wie soll die aussehen? Solange Europa keine Grenzen hat, die es verteidigen kann - nicht gegen Millionen von Flüchtlingen, jedenfalls im Moment nicht gegen einen militärischen Gegner -, lässt sich auch die innere Freiheit, lässt sich auch Schengen nicht aufrechterhalten. Das mag sich durch eine schlagkräftige Truppe zur Sicherung der Außengrenzen ändern.
Aber es berührt zugleich ein anderes Problem: das der Souveränität und der Repräsentanz. Die demokratische Legitimation
politischer Entscheidungen? fa.Wer darf darüber bestimmen, was wann und wo in Europa erlaubt ist und was nicht, solange es keine gemeinsame Regierung in Europa gibt? Was ftir die Grenzen gilf , gil(. atchfur die ScÄulden(rr'se. Allein ein europäisches Parlament,von den Bürgern der EU gewählt, sollte das Recht haben, über solche Fragen zu entscheiden. Eben diese Form der repräsentativen Demokratie, in der die vom Volk Gewählten auch die Entscheidungsträger sind, haben wir nicht. Was Sie fordern, sind dieVereinigten Staaten von Europa. Und zwar zu einem Zeitpunkt, da alle z8 Mitglieder der EU sich mehr
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ton gehört zu den Männern, welche die Vereinigten Staaten von Amerika erst möglich gemacht haben. Nachdem er und seine Kollegen die Lage Europas und vor allem Deutschlands studiert
hatten, setzten sie sich für eine
schnelle Union ein. Hamilton hat auch an der US-Verfassung
mitgearbeitet
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lErralüu und i[re IilUunU
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Als die USA gegründet wurden, war es 13
nicht so viel anders. Da trafen Staaten aufeinander, die ganz
unterschiedliche Interessen hatten. Was sie zusammenbrachte
1787/88,war kein Gefühl von Gemeinschaft, sondern waren gemeinsame Feinde und gemeinsame Schwierigkeiten: Wenn wir uns nicht zusammenschließen, wird jeder Einzelne von uns besiegt und rekolonisiert werden. Die Schulden der Revolutionskriege waren damals gewaltig und ihre
Tilgung ungeklärt.
Es gab
keine
Einigung über die Frage, ob man eine gemeinsame Armee oder Marine brauchte. Nicht einmal darauf,wer denn der gemeinsame Feind war, konnte man sich verständigen: Waren es die Briten, die in I(anada saßen, oder eher die Franzosen imWesten? Für die Südsfaaten waren es dr'e Spanr'er, dre sich in Florida festgesetzt hatten. Im Innern fürchtete man sich vor den Indianern, an der I(üste vor den Piraten. Es gab Sklavenstaaten und solche, welche die Sklaverei abgeschafft hatten. Man war also zutiefst gespalten. Ist Europa heute in ähnlicher Lage?
Auf Europa übertragen ergeben sich bemerkenswerte Parallelen.
dennje aufihre nationalen Interessen besinnen. Damit meinen sie häufigihre Interessen im
Die Schuldenfrage zum Beispiel. Oder die äußere Bedrohung. Für die Balten und Polen ist es Russland, für die Spanier sind es
Gegensatz zu denen der anderen.
die Immigranten.
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Gespräch
Worin besteht der Unterschied zwischen Gestern und Heute, sodass niemand ernsthaft die Vereinigten Staaten von Europa erwägt, sondern alle eher über weniger Europa nachdenken? Die Gründungsväter der USA hatten eine sehr klare Vorstellung von Geschichte und ihren I(onsequenzen. Und sie orientierten sich damals an Europa. Sie wollten nicht
Und was folgte für die Amerika-
wie Polen werden, das schwach und geteilt war. Sie fanden das Heilige Römische Reich deutscher Nation unattraktiv. Denn dort herrschte - ähnlich wie heute in der EU - eine politische I(ultur, die sich fast bis zur Lähmung mit Rechtmäßigkeit, Regeln und Verfahrensfragen beschäftigte. Zwei der Gründungsväter Amerikas, fames Madison und Alexander Hamilton, haben dieses Leiden vor
nicht denselben Handlungsspiel-
ner daraus? Wir wollen es, wie die Briten und Schotten es damals vorgemacht hatten: eine starke Union. feder europäische Politiker, der heute mehr Europa und weniger
Nationalstaat verlangen würde, müsste damit rechnen, die nächsteWahl zu verlieren. Moderne Politiker haben anscheinend raum wie ihreVorgänger vor 2oo Jahren.
mehr als 2oo Jahren diagnostiziert. Beim Blick aufdas föderale System in Deutschland fanden sie, um zu zitieren,,,einen kraftlosen I(örper, unfähig seine eigenen Glieder zu regulieren, unsicher gegen äußere Gefahren, aufgewühlt durch die
fortwährenden Gärungsprozesse in den eigenen Eingeweiden".
mir nicht so klar zu sein.Wenn man sich Umfragen in verschiedenen Ländern ansieht, die nach einer gemeinsamen Armee oder mehr gemeinsamer Politik fragen, sind klare Mehrheiten dafür. Es gibt eine starke Fraktion von Europa-Skeptikern, die über alle Maßen laut ist.Aber mir scheint, ein gut durchdachtes vereinigtes Europa wäre mehrheitsfähig, zumal ja jeder, der in einem Schengen-Land wohnt und der mit dem Euro zahlt, faktisch längst einen Teil seiner Souveränität aufgegeben hat. Das geschah zu einem Zeitpunkt, als nahezujeder glaubte, ein Das scheint
Das neue
Deutschland. Fußballfans in Berlin während der Wellmeisterschaft 2006. Das Land schien sich neu erfunden zu haben. Es war fröhlich und weltoffen
Europa ohne Grenzen und eine gemeinsame Währung hätten
nurVorteile. Mindestens beimEuro sind die Menschen heute viel skeptischer. Diese Entwicklung abzubrechen oder gar zu nationalen Währungen zurückzukehren, wäre das Ende der europäischen Nachkriegsord-
wäre das Gegenteil von europäischer Politik. Damit stünde Europa radikaler denn je vor der Deutschen Frage, weil Deutschland noch mächtiger wäre als jetzt. Das möchten nicht viele Menschen erleben. Für eineWeile sah es ja auch so nung.
Es
7o Jahren
aus, als würde in Europajeder ein
Gewinner sein. Probleme wurden gelöst, indem man etwa aus dem I(ohäsionsfonds Milliarden zu den ärmeren Staaten verschob. Das ist heute nicht mehr so leicht möglich. Entsprechend gewachsen ist die Skepsis oder gar
Ablehnung. Weil Europa nur eine I(onföderation ist, kein Zusammenschluss unabhängiger Staaten. In einer solchen I(onstruktion hat das größte Land auch den größten Einfluss.Wenn die USA aus unabhängigen Staaten bestünden, wäre es nicht anders. Dann würden die New Yorker sich darüber beklagen, dass sie für Mississippi bezahlen müssen. So aber wird das Geld von der Zentralregierung verteilt. I(ein Geberstaat beschwert sich. Vielleicht, weil die Amerikaner sich alle als Bürger desselben Staates sehen, nicht als Bewoh-
ner eines bestimmten Teilstaats. Diese gemeinsame Identität hat es nicht von Anfang an gegeben. Sie ist das Resultat des Zusammenschlusses vor mehr als 2oo Jahren. Eben dass es eine gemeinsame Repräsentanz gegeben hat, einen I(ongress in Washington, hat diese Identität befördert. Selbst in Europa gibt es ja so etwas wie eine
gemeinsame Identität. Wenn es darum geht, wer dazugehört und wer nicht, fällt mir nur ein Land ein, in dem das anders ist: Großbri-
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sterrt
25
,,llig Eesc[ic[te rEiul, üass !lla[ ntE[rEIE illiUlicltLändern sind die Bürger so viel weniger von ihrer Stärke und der ihrer Institutionen überzeugt, dass sie den gemeinsamen Weg bevorzugen. Dennoch könnte etwa Marine Le Pen dieWahlen in Frankreich zorT gewinnen und ihr Land aus der Eurozone und der EU heraus-
nehmen. Die Gefahr besteht. Mir scheint dennoch, dass diese Perspektive picht sehr realistisch ist. Europa wurde so designt, dass man Deutschland in Schach halten konnte. Niemand wollte das mehr als die Franzosen.Wenn Staaten in Europa tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass sie besser zu einer eigenen Währung zurückkehren und die Europäische Union verlassen, haben sie sicher die Möglichkeit dazu.Aber sie müssen auch die Folgen dieser Entschei-
dungkennen. Tiotzdem sind die Stimmen, die Europa verlassen wollen und um ihre Souveränität färchten, populärer denn je. Weshalb? Es liegt an der I(onstruktion Europas.So wie es gebautworden ist,
trägt es nicht dazu bei, die vorhandene Macht zu mobilisieren, sondern diese Macht zu verteilen. Anders als in den USA oder in Groß-
britannien dient die gesamte politische Architektur nicht dazu, die demografi sche Größe und wirtschaftliche Stärke zu nutzen und zu bündeln. Europa ist ein komplexes Gebilde von Regelwerken und Abhängigkeiten, die entschiedenes Handeln unmöglich machen. Das wäre in einer echten Union anders.
Aber die eurosl«eptischen Politiker in Europa sehen die Lösung sogar in noch weniger Europa,
nichtinmehrEuropa. Die Geschichte zeigt, dass man mehrere Möglichkeiten hat: sich zusammenzuschließen wie die amerikanischen Bundesstaaten oder England und Schottland. Oder ein schwaches Gebilde zu bleiben. Wer diesen Weg geht, wird mit Sicherheit nicht bekommen, was er sich erhofft hat.
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sichilsmlneltrrsE[liEßen oder ein sclrwau[Es Eelilde zu ileilen.
tltlerilasUwiril nichl lelommen, llllas Er Er[offl ha[" AIs die Mauer in Berlin fiel, hat der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama vom,Ende der Geschichte" gesprochen. Der französische
Philosoph Andr6 Glucksmann hat ihm entgegengehalten: Nein, das Ende des IGlten Iftiegs sei die RückkehrEuropas in die Geschichte. Die Zeitvon rg45 bis 1989 war demnach eine Ausnahme und eine Auszeit. Stimmen
Siedemzu? Da ist etwas Wahres dran. Als ich mein Buch über den IGmpf um die Vorherrschaft in Europa veröffentIicht habe, musste ich mir von vieIen anhören, Geschichte als einen ständigen I(ampf um Macht und Vorherrschaft zu beschreiben sei unzureichend. Das europäische Projekt bestehe darin, genau diese Zeiten überwunden zu haben. Das war, bevorWladimir Putin die Krim annektierte. Und bevor der
mächtigwurde,wie er es im Augenblick ist. Nun haben wir diese I(rise. Aber das bedeutet nicht, dass alle nun aufwachen. In Deutschland ist die Skepsis IS so
gegenüber militärischen Lösungen besonders groß. Haben Sie den Eindruck, dass die Deutschen besonders tief schlafen? Es scheint so. Dabei müssten sie sich nur ihre eigene Geschichte ansehen. Als das osmanische Reich im r5. und 16. Jahrhundert Europa bedrohte, hielten die Deutschen das lange für ein Problem,
das sie nichts anging. Bis die Türken schließlich vorWien standen. Dasselbe gilt heute für Syrien. Wir haben die Probleme so lange ignoriert, bis die Syrer vor unserer Tür standen. Ebenso Putin.
Besteht das moderne Dilemma dass man einen Ikieg zwar anfangen, aber nicht unbedingt gewinnen kann? Und wenn man sieht, dass selbst in S5rrien die Nato-Mitglieder Türkei und USA inzwischen Russland gegenüberstehen, muss man doch eine Eskalation fürchten, gegen die alle bisherigen I(onflikte harmlos erscheinen. Dass wir uns überhaupt in dieser
nichtvielmehr darin,
Lage befinden, hat
mit unserer
Schwäche in derVergangenheit zu tun. Putin wäre nie in Syrien engagiert und würde die Türkei nicht provozieren, wäre er nicht zu dem Schluss gekommen, dass Europa
ein Papiertiger ist. Haben die Politiker Europas vergessen, ihren Wählern zu erzählen,was gutan Europa ist?
fanden es anscheinend zum eigenenVorteil, wenn sie fär alle Fehler und Probleme Europa zum Schuldigen machen konnten, statt sich ihrer eigenen UnzuSie
länglichkeit zu stellen. Solch ein Verhalten ist vermutlich unvermeidlich und gibt es auch in einer Union wie den USA.Aber man identifiziert sichwohl nur mit einem politischen System, wenn es eine Frage von Leben oder Tod
ist.Wenn das gesamteWohl-
ergehen davon abhängt. So gesehen befördert Putin mit seiner Politik womöglich die europäische Integration. Eben weil er all die fürchterlichen Dinge tut, zwingt er die Europäer dazu, sich darüber Gedanken zu machen,wie sie sich
ihren I(ontinent in der Zukunft vorstellen. Sie müssen nur noch die Schlussfolgerungen ziehen. Weshalb geschieht das nicht? Die Union von Briten und Schotfr ten oder die Union der Amerikaner ry waren Ereignisse. Die Union der E Europäer ist ein Prozess.Und darin ; F liegtäas Problem. Es braucht einen
X
ganz intensiven Augenblick, in dem der Entschluss fällt.Alles andere ergibt sich danach. DerWeg
In der,,Geschichte desWestens" des deutschen Historikers Heinrich August Winlder sind das Entscheidende die gemeinsamen Werte.2ooo Jahre I(ampfum die Tiennungvon Iürche und Staat
Dem kann ich nur zustimmen. Zwei Dinge würde ich aber gern hinzufügen. Werte allein reichen nicht. Denn dieWendung der Deutschen nach Westen, die Akzeptanz der westlichen Werte, hat
nicht gelöst. hat es nur erträglicher gemacht. Es geht eben nicht bloß um deutsches Verhalten, es geht um die
sequenzen, wäre ich dafür. Es wäre gewissermaßen der PIan B,wenn der Plan A einer europäischen Union scheiterte.
Größe und Lage des Landes und seine wirtschaftliche Macht oder Ohnmacht an dieser Stelle.Werte reichen auch aus anderem Grunde nicht. Sie mögen Europa attraktiv machen. Aber was den Westen wirklich stark gemacht hat, war
Hätten Deutschlands Nachbarn dann nicht Angst vor einer Neuauflage von I(aiserreich oder
rohe militärische Gewalt. Hitler ist nicht von den Werten besiegt worden, sondern von Armeen. GIei-
meinsamen Staat, in den DeutschIand eingebettet wäre, nicht länger
Es
gie zu entwickeln.
heutigenTag.
Gespröch
das deutsche Problem
zur europäischen Union ist genau umgekehrt. Ein ewiges Hin und Her, das nicht in einer Ehe enden wird, sondern in Tränen. So ist die politische Union gescheitert. Eben darum erscheint sie zugleich realistischer. Denn sie ist die I(onsequenz aus dem Euro und aus dem Zwang, eine gemeinsame europäische Verteidigungsstrate-
etwa, die Entwicklung eines politischen Systems der Checks und Balances, Menschenrechte. Diese Werte verbinden uns und sind Ausdruck der Stärke bis aufden
tunoPl
ches Es
gilt für den Ersten Weltkrieg.
war vor allem angloamerikani-
sches
Ein zerschossenes Aufo am Flughafen in Donezk. Der Krieg in
der Ukraine haj Europa wieder bewusst gemachl, dass Frieden in Europa nicht selbslverständlich ist
Militär,
das diesen Sieg
mög-
Iich gemacht hat, gedeckt durch starke Parlamente. Anders ausgedrückt: Winkler unterschätzt die Gewaltbereitschaft des Westens, wenn er etwas bekommen will. Was würde geschehen, wenn Europa zerbräche? Zwei Dinge würden passieren: Deutschland wäre mächtiger denn je. Und Russland wäre wieder mächtiger. Würde Deutschland in einer solchen Situation die Rolle als Supermacht auf dem I(ontinent übernehmen mit allen entsprechenden, auch militärischen I(on-
gar Drittem Reich? Darin besteht die Gefahr. Aber dann hätte es Europa auch nicht anders verdient, weil es den ge-
wollte. Selbst womöglich legitime Ansprüche der Deutschen, Führung zu übernehmen, würden sicher harsche Reaktionen nach sich ziehen. Es wäre, wie gesagt, nur der Plan B. Ich mache mir weniger Sorgen darüber,wie die anderen reagieren. Ich fürchte eher, dass die Deutschen nicht bereit wären, die Rolle zu spielen.Ich sehe weder den Ehrgeiz dazu noch die politische I(ultur, eine entsprechende Strategie zu entwickeln. Womöglich würden sich die Deutschen
nur tiefer und tiefer in ihr zentraleuropäisches Loch eingraben. Was - im Gegensatzzu Ihrem Plan B - muss geschehen, damit Europas Staaten sichwieder mehr auf ihre gemeinsamen
Interessen besinnen statt auf
ihrenationalen? Historisch betrachtet wurden Unionen nur angesichts äußerer Gefahren geschaffen. Diese Gefahren gibt es in Europa. Mehr als zuvor. Es geht nur noch darum, die
richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. X
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Brendan Simms:,,Kampf um Vorherr' schaft Eine deutsche Geschichle Eulopas", Deutsche Verla gs-Anstalt, 896 Seiten,3499 Euro
Brendan Simms/Beniamin Zeeb: ,,Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa", Verlag C. H. Beck,144 Seiten,1295 Euro
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1818 r9r4
ihrer Herrschaft auf den Meeren als Pioniere einer neuen Zeit, des
An einem sonnigen SeptemberSonntag des Jahres r84z brachte der
preußische I(önig Friedrich Wilhelm IV. mit einer silbernen Maurer-
Jahrhunderts der rauchenden Schlo-
kelle und goldenenWorten denWeiterbau des I(ölner Doms, der seit dem
Eisenbahnen und Fabrikhallen. Und
te und lodernden Hochöfen, der die Deutschen? Sie mussten sich einstweilen eher im metaphysi-
Mittelalter halb fertig dastand, auf den Weg: ,,Das große Werk verkün-
schen Raum bewegen: ,,Wir sind das Volk, das nach Gott und den göttlichen Dingen fragt, das die höchsten
von einem durch die Einigkeit seiner Fürsten undVölker großen, mächtide den späteren Geschlechtern
gen, ja den Frieden der Welt
idealistischen Aufgaben der Welt und Geschichte zu lösen berufen ist'i predigte der Dichter Ernst Moritz Arndt vor Bonner Studenten. Denn was den Deutschen fehlte,
unblu-
tig erzwingenden Deutschland." Zwanzigtausend Menschen jubel-
ten, dreihundert geladene Ehren-
gäste aus Adel und gehobenem Bürgertum klatschten wohlgefällig Beifall ob der hehren Worte. Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Weltl Da hatte
war ein ,,einig Vaterland". Seit fahr-
hunderten waren Frankreich und
der Dichter Hoffmann von Fallers-
leben sein vaterländisches Credo schon ein fahr zuvor abgelegt.
Der glühende, fast sakrale Glaube an Macht und Größe des eigenen
Vaterlands war keine deutsche Ma-
rotte. Alle europäischen Nationen waren im r9. fahrhundert von die-
tief durchdrungen. ihr Iünder des Vater-
sem Glauben ,,Vorwärts,
lands!'l befeuerte die Marseillaise seit r79z die Franzosen, ,,heilige Liebe zum Vaterland, stärke uns den Arm zur Rache."Und auch die Briten, imAlltageher für nüchternen Pragmatismus bekannt, beschworen mit Inbrunst die Größe ihrer Heimat, ein Geschenk von ganz oben: ,,Als Britannien aufdes Himmels Geheißder blauen See entstieg, sangen Schutzengel: Herrsche, Britannien, Britannien, herrsche auf den Wogenl Niemals werden Briten Sklaven sein." Auserwählt fühlten sie sich alle. Die Franzosen sahen sich seit ihrer Revolution Ende des r8. |ahrhunderts als Bollwerk der Aufklärung und Zivilisation schlechthin. Hatten sie doch Europa ,,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" und die Idee eines Staates geschenkt in dem das Volk sein Schicksal selbst in die Hand nahm und es nicht länger aus den parfümierten Händen absolutistischer Herrscher huldvoll emp-
fing. Die handfesten Engländer verstanden sich
30
sterrt
rHEMA
-
abgesehen von
e ilationalheld
Victor Hugo gilt vielen Landsleuten noch heute als größter Autor Frankreichs.1802 geboren, machten ihn seine sozialkritischen Romane berühmt. Hugo träumle schon im 19. Jahrhundert von einem Europa der Vaterländer, vereint und sich dabei seiner Vielfalt bewusst
England, aber auch Spanien oder Portugal relativ homogene Territorialstaaten. Dagegen gab es kein deutsches Reich (so wenig übrigens wie ein geeintes Italien). DeutschIand war seit dem Ende der NapoIeon-Zeit ein Flickenteppich aus 39 Gebilden aller Größen, vom I(önigreich Preußen und dem kaiserlichen Österreich bis zu Mini-Fürstentümern wie Waldeck oder Schaumburg-Lippe, nur lose verknüpft im schwächlichen,,Deutschen Bund".
Und so war das primäre Ziel des deutschen Bürgertums, ein vereintes, souveränes Deutschland überhaupt erst einmal zu schaffen,während die Bourgeoisie in Frankreich oder England ihr Augenmerk darauf richten konnte, den schon vorhandenen Nationalstaat liberaler und
demokratischer zu gestalten. Das wollte das bürgerliche Deutschland zwar auch und errang im Lauf der ersten f ahrhunderthälfte Teilerfolge: Abbau der Binnenzölle, mehr oder weniger liberale Staatsverfassungen, unabhängige f ustiz, Presse-
freiheit halbwegs. Doch mit der bürgerlichen Revolution r8+8/+g scheiterte das Projekt eines demokratischen Vaterlands amWiderstand der deutschen Fürsten. Derselbe Preußenkönig, der sieben Jahre zuvor in I(öln,,die Einig-
keit eines großen, mächtigen
Deutschlands" beschworen hatte, lehnte als,,legitimer I(önig von Gottes Gnaden" eine ihm vom Volk angetragene,,aus Dreckund Letten >
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Erfindergeist Das Modell der ersten Dampfmaschine, von dem Briten Thomas Newcomen entwickelt, um Wasser aus Bergwerken abzupumpen. lhre Weiterentwicklung - etwa für die Textilindustrie - steht am Anfang der großen Modernisierung der britischen Wirtschaft
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gebackene" deutsche I(aiserkrone ab. Wenn überhaupt Einheit, dann aus der Hand der deutschen Fürsten.
Die Frankfurter Nationalver-
I(önnten die europäischen Völker
Republikaner. Oder die über zwei
nur ungestört ihre Eigenheiten aus-
Millionen Polen in Preußens vor al-
Ieben, so meinten optimistische Geister, hätten sie weder Anlass
lem polnisch sprechender Provinz
sammlung löste sich auf. Preußische und österreichische Truppen schlugen die Rebellion für ein demokratisches Reich blutig nieder. In den folgenden fahren nahm die wach-
noch Lust, sich zu bekriegen. Robert Blum, einer der I(öpfe des
,yon oben'lwie ihnvor allem Preutßens Ministerpräsident Otto von Bismarck verfolgen sollte, mehr und
hin, sich im Inneren ruhig und
sende bürgerliche Mittelschicht diesen Weg zur deutschen Einheit
fortschrittlichen im Sommer 1848 Europa auf dem
Mächten Europas.
nen des I(ontinents, ohne die beson-
deutscheVaterland an der Nachbarnation im Westen. Das deutsche Bürgertum berief sich zwar auf die
vom revolutionären Frankreich
deren Eigenheiten Eurer ruhmreiedem Volk seinen Staat, nach eigenen Gesetzen und Traditionen maßgeschneidert, das schien nach den Erfahrungen
chen Individualität einzubüßen,
rer Napoleon, der zeitweise halb
Euch engzu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große europäische Bruderschaft be-
der Eroberungsfeldzüge von
gründen werdet."
Deutschland besetzt hatte, das Bild vom Nachbarn am Rhein. Den ,,Welschen" oder ,,Franzmännern" war alles zuzutrauen. Hatten sie nicht schon im r7. fahrhundert Straßburg und das Elsass dem deutschen Vateriand entrissen? Dann der schreckliche Napoleon.Und 1840, hatten sie da nicht mit dem,,Rhein als Frankreichs natürlicher Grenze" gedroht und einen I(rieg vorbereitet?
stand der ,,Volkscharakter" ent-
Die reine Lehre vom brüderlichen Europa der Vaterländer kollidierte
schnell mit der Wirklichkeit. Im Herbst 1848 wurde Robert Blum in Wien als Volksaufhetzer und Barri-
gegen. Der Charakter des deutschen Volkes etwa war - laut einer popu-
kadenkämpfer standrechtlich er-
lären Enzyklopädie aus dem Jahr
befürchtete, sein Vielvölkerreich
-
,,gemütlicher Ernst, Tiefe des
Gefühls, Gründlichkeit, Langsamkeit, Treue, Ausdauer". Ganz anders
der Franzose:,,Leichte Beweglichkeit, schnell aufl odernder Enthusiasmus, Fröhlichkeit, Humor, persön-
liche Tapferkeit, Galanterie." Düster sah es allerdings um den ,jetzigen Griechen" aus, der gerade seine Unabhängigkeit vom Osmanischen
schossen. Der österreichische I(aiser
zerbrechen. So ließ er auch denAuf-
stand seiner Untertanen in Ungarn und der Lombardei niederwalzen. Doch auch dieVerfechter des Nationalstaats stießen rasch an ihre Grenzen. Wie weit reichte eigentlich das deutsche Vaterland? ,,So weit die deutsche Zunge klingt'i hatte Ernst
Moritz Arndt gefordert. Doch war man dann nicht mit dem Königreich
Antike:,,Hinterlistig, geneigt zum
Schleswig und Holstein gehörten?
All-
Man war. Es brauchte schließlich
gemeinen moralisch entartet." fede Nation habe ihre spezielle Natur, lehrte der führende deutsche Historiker Leopold von Ranke, und ihre Aufgabe sei, diese Natur,,auf die von Gott geforderte Weise selbst-
zwei I(riege, 1848 und 1864, um die
Betrug, unzuverlässig, kurz im
ständig auszubilden. Eine Vermischung allerwürde das Wesen einer jeden vernichten. Aus Sonderung
und reiner Ausbildung wird die wahre Harmonie hervorgehen." sterrt
rHEMA
lhülulafion
Damals war durch das politisch noch immer ungeeinte Deutschland eine Welle patriotischer Empörung gegangen.,,Sie sollen ihn nicht ha-
otto-von Bis-
ben,/Den freien deutschen Rhein./
marck mit dem
Ob sie wie gier'ge Raben/Sich heiser
französischen König Napoleon lll. am Morgen nach der Schlacht von Sedan am
danach schrei'n", so sprach das
könne am Nationalstaatsgedanken
Reich erkämpft hatte, aber ein ganz anderer war als der edle Hellene der
32
einem anderen Volksstamm, einer anderen Nationalität gegenüberl' Am heftigsten aber rieb sich das
übernommene Idee derVolkssouveränität. Doch weit mehr prägte der Befreiungskampf gegen den Erobe-
Napoleon die zeitgemäße Lösung. Den Europäer gab es nach allgemeiner Überzeugung nicht. Er war auch nicht wünschenswert.Ihm
1855
ler Einigung mit einem Unrecht
besten Weg zum ewigen Frieden: ,,Das Streben der Völker geht nicht mehr aufEroberungen, es geht da-
auf Augenhöhe mit den anderen
staat. Hauptsache, ein Deutschland
besitzer kommentierte das r87r im deutschen Reichstag bitter: ,,Sie beginnen Ihr gerechtes Werk nationa-
Bürgertums, sah
selbstständig zu entwickeln." Der DichterVictor Hugo war noch kühner: ,,Ein Tag wird kommen, wo Ihr, Frankreich, Russland, Ihr, Italien, England, Deutschland, all Ihr Natio-
mehr hin. Hauptsache, National-
Posen? Sie wurden zwangseingemeindet. Ein polnischer Ritterguts-
Dänemark über Iteuz,
zu
dem
beiden dänischen Provinzen mitGewalt deutsch werden zu lassen. Für die kleinen Völker hatten die großen Nationen nur ein Achselzucken übrig. Sie standen dem eigenen Idealstaat imWege. Etwa die Tsche-
chen in Böhmen, gefährlich, ,,ein I(eil, eingetrieben in die deutsche Eiche, um sie zu spalten". So Moritz Hartmann, ein durchaus liberaler
2. September 1870.
Der König hat sich ergeben, seine Truppen sind geschlagen. Es war die Vorentscheidung im deutsch-
französischen Krieg
,,Rheinlied" des Geilenkirchener Ge-
richtsschreibers Nikolaus Becker dem Volksempfinden aus der Seele.
Ernst Moritz Arndt rief die Deutschen sogar auf, es den Franzosen mal so richtig zu zeigen: ,,Sie wollen's. So reiße denn, deutsche Geduldl/Wir fordern die lange gestundete Schuld -/Auf Welsche, und
rühret die Beine!/Wir wollen im Spiele der Schwerter und Lanzen/ Den wilden, den blutigen Tanz mit euch tanzen." Für den Augenblick lenkten die Franzmänner ein. Arndt starb 186o, und so erlebte er den blutigen Tanz nicht mehr, der die Vision eines Europa der befrie-
deten Vaterländer beenden sollte. Der Mann, der den Takt vorgab, war
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Otto von Bismarck. An einem geeinten Deutschland als Erfüllung
wollendes Hoch durch die Luft1 so
nationaler Sehnsüchte lag dem
Staatsstreich r85z zum I(aiser gekrönte Neffe von Napoleon Bonaparte, wegen des Streits um den Kandidaten für den vakanten spanischen Thron direkt aneinander.
Der Iftieg um die verletzte Ehre endete im Februar 1871 mit einem Sieg der deutschen Truppen. Vergebens hatte der alteVictor Hugo, 1848 noch Visionär einer,,großen europäischen Bruderschaft'i von seinen FranzosenWiderstand bis zum Letzten gefordert: ,,Nehmt die Steine unserer heiligen Erde, steinigt die Eindringlinge mit den Gebeinen unserer Mutter Frankeich!" Napoleon III. wurde bei Sedan geschlagen, gefangen genommen und dankte ab. Frankreich war wieder Republik. Die Republik musste ohnmächtig
Der Ton wurde zusehends schroffer,
mit
beiderseits. Doch hätte man sich wieder vertragen können. Wäre da nicht die Ehre gewesen. Ehre war für die bessere Gesellschaft des r9. ]ahrhunderts das wertvollste Gut. Wessen Ehre befleckt war, der konnte sie nur im Duell mit Blut reinwaschen oder sich selbst eine Kugel durch den Kopfjagen.
Fürsten ausgerechnet in Versailles,
ein Pressebericht.
konservativen Realpolitiker wenig. Er wollte lediglich Preußens Macht vergrößern. Dafür schaltete er im Iftieg von 1866 den Konkurrenten
Österreich aus, das über fahrhunderte deutsche I(aiser gestellt hatte. r87o gerieten dann Preußen und
Napoleon III., der nach einem
Wer zurückzuckte, war ein Feigling. Was für Individuen galt, galt umso mehr für das große Ganze, die Na-
tion. Man durfte sich nichts bieten lassen. Koste es, was es wolle. Frankreich fühlte sich tödlich beleidigl sah das Auftreten Preußens als ,,Faustschlag für die französische
Ehre1 I(rieg
-
den man natürlich - war unver-
nicht gewollt habe
meidlich, so Ministerpräsident
Emile Ollivier, denn,,in Frankreich ist die Ehre das erste aller Güter'iVon der anderen Seite des Rheins tönte es
ähnlich.
Bismarck selbst war kein Nationalist. Er wollte nur seinen I(önig zum
4
deutschen I(aiser machen. Doch er nutzte die aufschäumende nationale Entrüstung geschickt für seine Realpolitik. Ganz Deutschland stellte sich hinter ihn und die Preußen. In Kassel etwabegrüßte die Bürgerschaft kurz vor Kriegsbeginn den preußischen I(önig Wilhelm I.: ,Wenn die eisernenWürfel fallen, so wissen wir, dass es die Ehre so er-
forderte und dass dafür kein Opfer zu groß ist." Daraufhin,,brauste ein
tausendstimmiges,
nicht
enden
Irolliiliertg sGInEll mil der ttllirlliclrlei[ [sterreic]rs lhiser Ilirclrtete rln sginen Uielulillerslnal
ansehen, wie die deutschen
dem Symbol französischer Herrlichkeit, das neue Deutsche Reich mit dem Preußenkönig als I(aiser aus-
riefen. Endlich konnte das liberale deutsche Bürgertum,,Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland" feiern - wenn auch von
H Ieudutionär Robert elum war der Anführer
der demokratischen Linken, er
kämpfte für die Staatsform einer Republik. Die Revolution scheitert. Als Volksaufhetzer wird Blum in der Nähe von Wien im Herbst 1848 hingerichtet
Preußens Gnaden. Das neue Reich holte sich Elsass-Lothringen zurück, nach französischer Auffassung raubte es zwei französische Provinzen. Die allegorische Straßburg-Statue aufder Pariser Place de la Concorde wurde fortan von einem Trauerflor umhüllt, irttahnung für alle Franzosen, den ,,schwarzen Fleck"auf dem nationalen Ehrenschild zu tilgen. Nach der Niederlage Frankreichs und der Gründung des Deutschen Reichs blickten die Engländer besorgt hinüber aufden I(ontinent. Solange sich die Staaten des Festlands gegenseitigneutralisiert hatten,sah
Straßenhändler Ein Schuhmacher und sein junger Helfer in einer Straße in Neapel 1890. Die meisten Menschen in Europa leben in Armut - selbst dann, wenn sie eine Arbeit haben
London kaum Grund, sich einzumischen. Es kümmerte sich eherdarum, seine Herrschaftauf denWeltmeeren zu festigen und zielstrebig seinen Handel und seine I(olonien rund um den Globus auszubauen. Doch nun gab es ein starkes und selbstbewusstes Deutsches Reich. War damit die ,,balance of power" gefährdet? Wuchs da sogar I(onkurrenz
für die eigene Größe heran? Bisherwar England die unbestrittene erste Industriemacht Europas gewesen.
Hierhatte
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zeite]ter schon Ende des 18.fahr-
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hunderts begonnen. Von hier aus
knatterten selbstfahrende I(ut-
hatten Erfindungenwie die Dampf-
schen, sogenannte Automobile, über
maschine, die Eisenbahn oder der
die Chausseen, unterhielt.man sich per Fernsprechervon Stadt zu Stadt. Auf der Pariser Weltausstellung im fahr rgoo zeigten alle Nationen stolz ihre Errungenschaften vor. Als größ-
mechanische Webstuhl nicht nur die Arbeitswelt, sondern die Welt insgesamt umgekrempelt. England war um r85o die führende Exportnation für Stahl, für Maschinen und
tes Wunder der Technik galt die Elektrizität. Ganz im Stil der Zeit
Textilien. Handel undWandel machten das Land reicher, die Bevölkerungszahl stieg steil und stetig. Der zunehmende Reichtum kam nicht allen zugute. Heimarbeit und
Handwerk konnten mit der industriellen Massenproduktion nicht mithalten.Viele Menschen verloren ihre traditionellefubeit, verarmteD und strömten in die Fabriken, in die Städte, um dort Beschäftigung zu finden. Innerhalb von 50 fahren wuchs etwa Leeds in Mittelengland
von 30ooo auftooooo Einwohner an. Das Leben der Fabrikarbeiterwar
oft erbärmlich. Hungerlöhne für Arbeitstage von mehr als zwölf Stunden. I(inder, die so hart schuften mussten, dass ,,ihre Eltern sie abends kniend vor dem Bett fanden,
wo sie während des Gebets eingeschlafen waren".
Erst
mit deutlicher Verspätung
importierte
das
kontinentale Euro-
pa die englischen Verhältnisse.
Noch
tß6o .'»aren etuä \m \(önigreit\ Bayer» bej ej»ev Bevö)ker»»g vo» vier Millionen ganze 30ooo Menschen in Fabriken beschäftigt. Doch die ,,Nachzügler-Staateil', und da vor allem Deutschland, setzten alles daran, gegen England aufzuholen. Gutzo )ahre nach seiner Gründung ließ das Deutsche Reich Großbritannien 1893 in der Stahlproduktion
erstmals hinter sich. In den Zukunftssparten Chemie und Elektrotechnik hängte es mit Unternehmen wie BASF, Siemens oder AEG gegen Ende des Jahrhunderts das Vereinigte I(cinigreichweitab.Auch in Frank-
reich, Spanien und Belgien nahm die l z
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1914
Industrialisierung Fahrt auf. Eine neue Zeitbrach über Europa herein, auch wenn man sich noch immer mit Vorderladerpistolen duellierte und Rathäuser gotischen
IGthedralen nachempfand. Zur fahrhundertwende verband ein dichtes Eisenbahnnetz ganz Europa,
lflassenlampl Der deutsche Philosoph Karl Marx
Vielen Zeitgenossen schien dieser
schen Bade die Elemente nach seinem Willen zu Hass und Liebe zwin-
übertrugen dessen biologische Lehre vom,,Survival of the Fittest'i dem
auf die revolutionäre Evolutionstheorie von Charles Darwin und
gen oder als bescheidener Ifuecht
Überleben deram besten angepa»»-
die Maschinen in Bewegung halten."
ten Spezies, auf die menschliche
überall brachte die neue Ara aber
Gesellschaft. Das führte einerseits zu einer pseudowissenschaftlichen Lehre von höheren und minderwertigeren Rassen. Dazu gehörte auch ein Antisemitismus, der dem tradi-
hervor: den Arbeiter. Zweifach
vereinigf euchl"
,,Platz an der Sonne'lbegann.
Wettlauf nicht nur notwendig, sondern Naturgesetz. Sie beriefen sich
1848 mit dem Unternehmersohn Friedrich Engels das ,,Kommunistische Manifest" -
Worten: ,,Proletarier aller Länder,
um I(olonien, um den berühmten
stellungskatalog den,,Strom| diese neue, unsichtbare Iftaft: ,,Als strahIenden Gott sehenwir ihn Lichtund Glanz verbreiten, im elektrolyti-
auch ein neues Schreckgespenst
bestehende Ordnung mit den
nialmächte Frankreich und England zusätzlich an. Eine gnadenlose I(onkurrenz der europäischen Staaten
feierte ein Professor Rössler im Aus-
veröffentlicht
ein Aufruf zum Kampf gegen die
weg'i so der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Der Aufstieg Deutschlands zur Großmacht im Zentrum Europas spornte die traditionellen Hegemo-
schauerlich aus der Sicht von Adel
und Bürgertum, was die beiden deutschen Gesellschaftstheoretiker IGrl Marx und Friedrich Engels im
,,I(ommunistischen Manifest" 1848 gefordert hatten: erstens den IGmpf der Habenichtse gegen die jetzige
Ordnung. Und zweitens einen Schulterschluss dieser rußigen, besitzlosen Subjekte mit ihren,,Brüdern" überall auf der Welt:,,Proletarier aller Länder, vereinigt euchl"Wo b\ieb (a (as ge\iebte\ater\arrdl
tionellen Feindbild vom Wucherer und Gotteslästerer den rassisch unterlegenen fuden hinzufügte. Andererseits sah man Darwins Theorie vom Überlebenskampf im Verhältnis der Staaten untereinander als gegeben an. Der Stärkere werde sich aufl(osten des Schwächeren durchsetzen. In letzter I(onsequenz musste das
Kriegbe(euter'. Ein\Nettrüsterrbega » ». E u t opa s
ie Angst erwies sich als übertrieben. In fast allen Ländern Europas setzten sich in den neu entstande-
nen Arbeiterparteien und Gewerkschaften die Pragmatiker durch. Sie forderten nicht die Weltrevolution, sondern konkrete Verbesserungen für die Arbeiterschaft aufnationaler Ebene, und erreichten sie im Laufder fahrzehnte auch Schritt für Schritt: höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten,Verbot der Kinderarbeit, soziale Absicherung. Gestiegene Wirtschaftskraft und technische Modernisierung ließen in den meisten europäischen Nationen das Gefühl von Stärke und Größe wachsen. Selbst die Arbeiter waren
nicht selten stolz auf ihr Vaterland, half ihnen dieser Nationalstolz doch als,,I(ompensationsmittel über die Widrigkeiten des Alltagslebens hin-
G»ßt» ä tb t e st otk t e» die Wehretats aufund berauschten
sich an den Segnungen moderner fentechnik: Maschinengewehre, Panzerschiffe, I(rupp-I(anonen. Der schneidige Offizier mit Monokel, schnarrender Stimme und Handkuss für die Damen wurde zur
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gesellschaftlichen Leitfi gur.
Zunächst scheute Europa noch zurück. Den Wettkampf um Vormacht und Weltgeltung trug man in der Ferne aufl(osten Dritter aus, in den I(olonien. Wenn es im Europa des ausgehenden r9. Jahrhunderts einen gemein-
samen Nenner gab, dann die Überzeugung von der absoluten Überlegenheit der weißen Rasse gegenüber allen anderen. Daraus leitete man das Recht ab, über alle anderen zu herrschen. In England etwa sprach man ganz unverblümt von der,,angelsächsischen Rasse, >
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$[ommen. §ie IrälllnlEr uom l(rieu als fllheilmirul
der es unfehlbar bestimmt ist, die herrschende Rasse in der zukünftigen Geschichte und Zivilisation der Welt zu sein iDie Rechte der Einheimischen wurden beiseitegewischt. Sie sollten froh sein, an den Segnungen der weißen Zivilisation teilhaben zu können. Falls sie sich gegen die I(olonialisierung wehrten, ging manbrutalvor. Die Deutschen etwa trieben r9o4 in,,Deutsch Südwest" die aufsässigen Hereros in die Wüs-
um Deutschland eingekreist.
te,wo sie zu Zehntausenden verhun-
Friedrich von Bernhardi in seinem Bestseller ,,Deutschland und der
Unterstützung seines einzigen verIässlichen Verbündeten österreichUngarn und versprach dem Viel-
völkerstaat
ten schien die Zeit der großen Abrechnung gekommen. 79:^2 forderte der preußische General
nächste I(rieg":,,Da die französische Feindschaft auf friedlichem Weg ein für alle Mal nicht zu beseitigen ist,
Theorie, der eigenen Indus-
trie billige Rohstoffe liefern, neue Absatzmärkte schaffen und Siedlungsgebiete für die daheim
muss es eben durch Waffengewalt geschehen."Auf der Seite des,,Erb-
ständig wachsende Bevölkerung erschließen. In der Praxis waren fast
großer auswärtiger Iftieg, der die Energienvon Neuem stählen könnte und den Bürgern die humanitären Plattheiten verleiden würde." In einer verqueren Mischung aus Fatalismus und Säbelrasseln schlidderten Europas Staaten diesem großen Iftieg entgegen. Nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. funi r9r4 wurde überall die
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feindes" wusste der linke Philosoph Georges Sorel das Heilmittel: ,,Ein
alle I(olonien ein Verlustgeschäft. Selbst das riesige alte Kulturland Indien war wirtschaftlich für England ,,ein
Mühlstein an unserem Hals'i
Obwohl man bald herausfand,
in die I(olonien mehr hineinstecken musste, als man dass man
herausholen konnte, blieb der imperialistische Wettlauf ungebrochen. Mitzuhalten im kolonialen Rennen war man der nationalen Ehre und Größe schuldig. 1899 verkündete Wilhelm II., seit elf Jahren deutscher IGiser mit for-
aus Heidelberg macht 1909 den Rüs-
schen Sprüchen und einer Vorliebe für schmucke Uniformen: ,,Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser." Ein Programm zum Aufbau einer gewaltigen I(riegs-
tungswettlauf des Deutschen Reichs
flotte lief an. Großbritannien, die
mit Großbritannien um die größte Kriegsf lotte zum Titelthema
mächtigste Seemacht der Welt, war endgültig aufgeschreckt. Deutschland war wirtschaftlich stark, besaß I(olonien und hatte schon das unbestritten beste Landheer Europas. Englandverbündete sich r9o4 mit Frankreich, das die deutsche
Militär-
macht fürchtete, den Gedanken an die Rückgewinnung Elsass-Lothrin-
gens aber nie aufgegeben hatte. Diesem Zweierbund trat 1907 das zaristische Russland bei, über Deutschlands Stärke ebenfalls beunruhigt. Durch diese sogenannte Triple Entente fühlte sich wieder-
38 StET"
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zeittypischem
den Tod. Den Nationalisten auf beiden Sei-
ie I(olonien sollten, so die
lru ot..Dno!alFSIiOcr.
mit
Pathos ,,Nibelungentreue" bis in
gerten und verdursteten.
Todessehnsucht Die Satire-Zeitsch rift
Das
Kaiserreich versicherte sich der
I(riegsmaschinerie angeworfen.
Nur die,,Proletarier aller betroffenen Länder'i so eine gemeinsame
Resolution, traten noch öffentlich für Frieden in Europa ein. In Berlin skandierten im ]uli Zehntausende Arbeiter: ,,Nieder mit dem I(rieg!"
UIEIt[8rrs[[Er Nie-war das britische lmperium größer und mächtiger als in der Zeit von Königin Victoria. Bis zu ihrem Tod 1901 sitzt sie 64 Jahre auf dem Thron und gibt einem
ganzen Zeitalter ihren Namen
Gegendemonstranten stimmten das nationale IGmpflied ,,Die Wacht am Rheiil' an. In Frankreich ermordete einen Tag vor I(riegsbeginn ein junger Nationalist am 3r. |uli r9r4 Jean
faur6s
mit einem
I(opfschuss in
einem Pariser Caf6. Der französische
Sozialistenführer hatte am lautesten die Stimme für Frieden im Europa erhoben. Doch als der Krieg dann
dawarund
überall patriotischer Iubel ausbrach, eilten auch die Proletarier aller Länder zu den Fahnen, zu ihren Fahnen. Im Jahrhundert der Nationalstaaten
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waren selbst die ,yaterlandslosen
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Gesellen" in erster Linie Deutsche, Franzosen, Engländer. Das große gegenseitige Morden begann. I
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Bereil zum großen Schlachten Zwei Allianzen stehen sich gegenüber: Frankreich und England, nach einigem Hin und Her im Verbund mit dem Reich des russischen Zaren, und das Deutsche Reich mit Österreich, einem Vielvölkerstaat, und den Türken
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1854
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Gescheilerf e Revolution Ob Deutschland, Frankreich, Österreich oder Italien, überall fordern die Bürger ein Mitspracherecht in den Parlamenten meist vergebens
Erste Glühbirne Die Erfindung wird das Leben grundlegend verändern. Thomas Alva Edison entwickelt das Prinzip weiter und erwirbt später das Patent
Gründung des
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Unruhen gehen in Berlin die Menschen auf die Barrikaden
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Rofen Kreuzes Dem Schweizer
t[[[ Baubeginn des Suezkanals Es ist das größte
Geschäftsmann Henri Dunant gelingt es, eine Gesellschaft zur Verwundetenpflege zu schaffen
Bauprojekt der Zeit: Binnen zehn Jahren entsteht der 162 Kilometer lange Kanal, der Schiffen die Fahrt um Afrikas Süd-
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1801
Schlacht bei Königgrätz
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Baubeginn des
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ln Berlin legen die europäischen Mächte ihre Einflusszonen in Afrika fest. Nahezu der gesamte Kontinent ist Kolonie geworden
Benannt nach seinem Erbauer
bestimmt Preußen, wie Deutsch-
rilz
land zukünftig aussehen soll
Bau der
Eiffelturms
Gustave Eiffel,
fertig - zum 100. Jahrestag der Französischen
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ln der Schweiz be-
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verbindet
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Automobil
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1818
Generatot zur Stromerzeugung
Sozialislengesetze
Aus dem zehn Jahre zuvor von Werner Siemens
Bismarck verbie-
entwickelten Doppel-T-Anker ist die erste leistungsfähige Dynamomaschine entstanden
tet sozialistische und sozialdemokratische Organisationen. Zugleich schafft er Krankenund Rentenversicherung
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Carl Benz meldet einen dreirädri-
gen Motorwagen zum Patent. Es isl die Geburtsstunde des modernen Massenverkehrs
Erslel Nobelpreis Mit dem nach dem lndustriellen Alfred Nobel benannten Preis werden Leistungen in Physik, Chemie, Medizin, Literatur und Bemühungen um den Frieden ausgezeichnet
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Eiffelturm und,,Globe C6leste", der Himmelsglobus, sind die größten Attraktionen der gigantischen Show
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ltlleltausslgllrltu Paris
Leislungsschau des Konlinents Die dem ,,Fortschritt in Technik, Wissenschaft und Kunsf" gewidmete Ausstellung im Jahr 1900 lockf fast 50 Millionen Menschen an.
40 Staaten präsentieren ihre Errungenschaften. 76 112 Aussteller zeigen ihre Produkte. Herzstück ist die
Elektrotechnik. Tausende von Glühbirnen erleuchten den Eiffelturm. Die Besucher begeistern sich zudem an den Generatoren, die ihnen - nach dem Getöse der Dampfmaschinen - geradezu geräuschlos vorkommen. lm Dynamo erkennt man zugleich auch eine neue ästhefische Qualität.,,Andächtig habe ich vor der Maschine gestanden und in ihr inbrünstig die vollkommene Verkörperung moderner Schönheit bewundert", so ein zeitgenössischer belgischer Designer. Das in der GeneratorenTechnik führende Deutsche Reich sonnt sich im Gefühl, die Pioniernation einer neuen Zeit zu sein. Am 19. Juli eröffnet die Mdtro von Paris - das Vorzeigeprojekt einer modernen Stadt schlechthin.
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Proklamation
Chanel-Boutique in Deauville
des Reichs Frankreich ist besiegt. Am 18. Januar wird in Versailles die Gründung des Deutschen Reichs verkündet
Gabrielle Chanel, Coco genannt, eröffnet ihr erstes Geschäft außerhalb von Paris in dem mondänen Badeort in der Normandie
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wird der gut 300 Meter hohe Turm zwei Jahre später
Gotlhardbahn ginnen Arbeiter mit der ersten Eisen bah nstrecke über die Alpen, die ltalien und die Schweiz
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Eine Rolltreppe, ein Tunnel unter der Seine, der erste Cinematograf - auch davon schwärmen die Besucher
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X eunopl 1914
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schen Armee auf t268696 Soldaten - Tote,Verwundete, Vermisste. Auch im Deutschen Reich sind am Ende
,,Die vorrückenden Truppen boten ein Bild von gewaltigerWirkung. Am
Himmel einArmeekorps von Sternen,wie man es kaumje imAbendlande sieht, und von dem fast hell-
dieses schicksalhaften |ahres alle Träume von einem schnellen Sieg ausgeträumt.,,Gedenket der Iftieger
blauen Nachthimmel hob sich die Silhouette der kriegerischen Figuren und ihrer Gewehre und Säbel düster und bedrohlich ab." So be-
in
den kalten Schützengräben'i mahnen Plakate zu Silvester.,,Das überlaute Zuprosten ist nicht gestattet."
schreibt Egon Erwin I(isch den
Das Töten
Marsch an die Front mit seinem Prager Heimatkorps. I(isch ist 29 Jahre alt, er hat sich als kritischer Reporter einen Namen gemacht. Er schildert den I(rieg von den ersten Tagen an mit all seinen Absurditäten und Schrecken. Es ist der tr. August r9r4. Noch wissen die Soldaten nicht, dass sich
der Feldzug der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gegen Serbien zum Weltkrieg auswachsen wird.An der Drina, dem Grenzfluss, machen sie halt.,IMir lagen da, von Mücken belästigt. Manchmal surrten große Fliegen laut vorbei. Es dauerte einige Minuten, bis wir erkannten, dass es keine Fliegen seien, die das Surren verursachten, sondern Gewehrkugeln.,Pzing, das war eine', lachten die Leute,,und wieder eine.'Und der Gefreite Hevera, der, durch die Zähne pfeifend, den Schall der I(ugeln täuschend nachzumachen wusste, hatte großen Lacherfolg." Ein Hauptmann des Generalstabs, notiert I(isch,,,sprang mit dem theatralischen Ruf ,Für IGiser und Vaterland' als Erster ins Wasser, um hinüberzuschwimmen'i Vier Tage später endet der erste Vorstoß nach Serbien in grauenhaftem Gemetzel. Iüsch ist z ur FIü gelde cku n g e in gete ilt.,,Zahl-
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Nase, Soldaten, die sich den
bluten-
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den I(opf mit ihrem Verbandzeug selbst verbinden wollten, und solche, deren Arm nur an einem I(nochen und an Hautfetzen hing."
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Bis Ende r9r4 summieren sich die
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loseVerletzte wurden an uns vorbeigetragen, auf Tragbahren, auf dem Rücken oder bloß aufHänden, Stöhnende, Wimmernde, Schreiende, Zugedeckte, Blutende, Verbundene und Unverbundene, Leute, denen die Wange weggerissen war oder die
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Verluste der österreichisch-ungari-
wird mit
aufden Schlachtfeldern
Maschinengewehren,
Handgranaten, Giftgas, Flammenwerfern und ersten Panzern indus-
trialisiert. Bis zum Waffenstillstand am
11.
November r9l8 müssen ins-
gesamt neun Millionen Soldaten
Le feüt Joprqal
und über sechs Millionen Zivilisten denWahn von nationaler Ehre und imperialer Größe mit ihrem Leben bezahlen. Doch nicht nur wegen der neuen Qualität des Grauens, sondern mehr nochwegen seiner furchtbaren Folgen gilt der ErstenWeltkrieg als ,,Ur-
[nUrill Frankreich, England, Serbien, Russland und
Belgien rücken gegen das deutsch-österreichische Monster vor. Das zeigt die Titelseite der französischen Zeitung ,,Petit Journal" am 20. September 1914
katastrophe des zo. fahrhunderts'i ,,Ohne den Ersten Weltkrieg kein Faschismus in Italien, kein Aufstieg Hitlers und erst recht nicht die hohe taktische Erfahrung deutscher Generäle, ohne die Hitler seinen
Itieg
können.Auch keine bolschewistische Machtübernahme in Petrograd und Moskau und kein Leninismus, kein Stalinismus, kein Zweiter Weltkrieg, kein geteiltes Europa'i sagt der Berliner Ordinarius Herfried Münkler.,,Der Erste Weltkrieg hatte nun mal die Direktionsgewalt über den Verlauf des zo. |ahrhunderts." Heute sind seine Folgen beim I(onflikt mit Russland und bei den IGmpfen in derUkraine wiederbedrohlich spürbar. Im Streit um den Rechtsruck in Ungarn und Polen oder um Griechenlands Schulden brechen alte Gräben auf. In der Flüchtlingspolitik zeigt sich Europa gar nicht hätte führen
zerrissen wie einst. Es sei an der Zeit, die richtigen Lehren aus der I(atastrophe zu ziehen, fordern Historiker hundert )ahre nach Beginn des Ers-
tenWeltkriegs. ,,Wir müssen endlich die Hauptschuldthese beerdigen, um zu be-
greifen, wie Friedensprozesse
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reich zurückgekehrt und hätte als Erstes Franz Conrad von Hötzendorf seines Amtes enthoben, den Chef des Generalstabs von Österreich-
und Itiegsausbrüche laufen'i sagt
Münkler. Die Protagonisten von r9r4 seien,,Schlafwandler" gewesen, schreibt der Australier Christopher
Clark, der
in
Cambridge lehrt,
Ungarn und einen der aggressivsten Militärführer des damaligen Euro-
,,wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die ReaIität der Gräuel zu erkennen, die sie in I(ürze in die Welt setzen sollteili IGin einziges Ziel, für das sie in der I(rise vor dem Iftieg stritten, sei die
pai sagt Christopher Clark. Der Thronfolger war ein Mann der Reform. Nach dem Modell der USA plante er die Vereinigten Staaten von Österreich. Auch die Donaumonarchie profitiert damals endlich von der industriellen Revolution. In nur 3o |ahren hatte Österreich-Ungarn sein Eisen-
darauffolgende I(atastrophe wert gewesen.
alt das Attentatvon Sarajevo vielen Historikern lange Zeit bloß als Vorwand, ein ohnehin anstehendes imperiales I(räftemessen zu
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provozieren,
wird
heute
royalen Cousins mangelte
sich seit r87r vervierfacht, seine
Deutschlands IGiser Wilhelm II., Russlands Zar Nikolaus II. und
Industrieproduktion versechsfacht. ,,Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs hatte es keinen Grund gegeben, die Geschichte Europas im Großen und Ganzen nicht als einen
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Nic§
samen (im Falle Nic§s angeheirateten) Großmutter Queen Victoria hetzten sie ihre Armeen aufeinander. An dem r9-jährigen Gavrilo Princip, der die tödlichen Schüsse auf
den
österreichisch-ungarischen
Thronfolger Franz Ferdinand abfeuerte,und an seinen I(omplizen können Terrorexperten studieren, wie eine Mischung aus Minderwertig-
keitsgefühlen und Demütigungen in Elternhaus oder Schule ein paar unreife Jungen anfällig macht für großmäulige Parolen.Wie sie in den Händen skrupelloser Hintermänner zu Mördern werden. Was schlampi-
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ge Grenzkontrollen und dumme Zufälle beitragen, dass solche Anschläge gelingen. Und die USA hätten sehen können,wie leichtVersuche,
Deutschland legte ein besonderes Tempo vor: Seine Ausfuhren hatten
die
und
Georgie nannten.Trotz der gemein-
und Sängerin Josephine Baker in Paris wie in Berlin auf. Dorf haben Truppen im März 1920 beim Kapp.Putsch ein Biwak mitten in der Stadt errichtet. Dies ist der erste von diversen Versuchen rechter Militärs und Politiker, die Weimarer Republik und die verhasste Demokratie wieder zu beenden
Deutschland und Frankreich. Selbst aus Russland meldete ein Experte der Pariser Börse ,,wirklich Fantas-
tisches" und prognostizierte ein Wirtschaftswunder wie in Amerika.
Großbritanniens I(önig Georg
lurbulenten Zwanziger Nahezu nackt tritt die amerikanische Tänzerin
mehr Grundschulen als Italien,
deutlich, dassj ede Stufe der I(ettenreaktion hätte genutzt werden können, die Eskalation zu stoppen. Eine Einsicht, an der es r9r4 nicht nur den
sich gegenseitig Willy,
Die
bahnnetz vervierfacht, es hatte
extremistische Gewalttaten mit
Iftieg zu beantworten, ins Desaster führen. ,,Wenn die Schüsse am 28. )uni r9r4 nicht gefallen wären, dann wäre Franz Ferdinand heil nach Öster-
lhIiUlation ln einem Eisenbahnwaggon im Wald bei CompiÖgne unter-
zeichnen deutsche, französische
und britische Gesandte den Waffenstillstand. Der Erste Weltkrieg ist damit an diesem 11. November 1918 faktisch beendet
dauernden Aufstieg von Geist, Macht und Ruhm aufzufassen. Hatten nicht Technik und Wissenschaft unerhörte Erfolge feiern können?'i schreibt der Historiker Hagen Schulze. Hatten nicht Europäer die letzten Winkel der Welt entdeckt, hatte nicht die I(ultur unerreichte Verfeinerungen erlebt? ,,ln den Bildern des russischen Avantgardisten I(asimir Malewitsch sieht man, dass das alte Russland eine Versuchsstation der Moderne war. Oder denken Sie an die Werke von Franz I(afka oder Arthur Schnitzler: in Europa herrschte eine unglaubliche Zeit'i schwärmt auch Christopher Clark. In der oberbayerischen Idyllevon Sindelsdorf verabreden sich die MaIer Franz Marc und Wassily I(andinsky, mit Traditionen zu brechen, den I(unstbegriff zu befreien, auch naive I(unst oder afrikanische Plastiken nicht länger als minderwertig zu betrachten. Ihre Bilder werden Ikonen des Expressionismus. Ihrem Bund ,,Der Blaue Reiter" schließen sich
X EUnoPA 1914
unter anderen auch Paul I(lee, Ga-
Dafür stehen wir mit unserem
und Frankreich die Beute und schaf-
briele Münter und August Macke an. Doch es sind wohl gerade diese Auf- und Umbrüche, der Verlust des Vertrauten und die Angst vor dem Neuen, die viele nach Halt suchen
Namen und unserer Ehre!"Es unterschreiben 93 Literaten, I(ünstler und
fen einen neuen I(onfliktherd, der bis heute Iftiege und Flüchtlingsströme produziert. Ihre I(olonialreiche aber zeigen bereits Risse. Von Agypten bis Indien, überall entste-
unter ihnen Gerhart Hauptmann, Max Planck, Wilhelm Forscher,
Röntgen. Ein paar Tage darauf formuliert
lassen, nach Geborgenheit und
schaft. Mit deren Wandel durch neue Wirtschaftsformen weitet sich der
soziale Horizont. Die fäger und
Sammler fühlten sich im Clan zu Hause, die Bauern im Dorf, die Handwerker in den Städten. Für die Entwicklung der Manufakturen musste der Wirtschaftsraum schon
ein kleines I(önigreich umfassen. Die Industrie braucht schließlich größere Märkte, ohne Zölle, mit einheitlichem Recht. Und fordert den modernen Nationalstaat. Für die Bürger bedeutet er Freiheit von Fürstenwillkür, für die IGpitalisten ist er Schutzmacht und Garant einer
funktionierenden Infrastruktur, Philosophen sehen in ihm die Vollendung der Geschichte, Dichter besingen seine göttliche Natur, und die Iörchen stimmen begeistert ein.
Der Nationalismus ist kein Be-
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triebsunfall der Geschichte, sondern die Begleitmusik der zwangsläufigen Entwicklung von der Agrargesellschaft zur industriellen Massenzivilisation. Zum Unglück wird er in seiner ausgrenzenden, aggressiven und expansiven Form.
Im Schicksalsjahr r9r4 schwillt der Teutonen-Schwulst noch
einmal
mächtig an.I(urz nach dem Überfall aufdas neutrale Belgien, nachdem
deutsche Soldaten die berühmte
Bibliothek der Universitätsstadt Leuven niedergebrannt und wiederholt belgische Zivilisten bei ,,Strafaktionen" ermordet haben, erscheint ein Manifest zur Rechtfertigung des Itieges, das in den Schwur mündet: ,,Glaubt uns! Glaubt, dass
wir diesen IGmpf zu Ende kämpfen ts
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werden als ein I(ulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines I(ant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.
hen Unabhängigkeitsbewegungen.
ein Arzt der Berliner Charit6 ein
einem höheren Sinn. Identitätund Gemeinschaft - jeder Mensch findet sie zunächst in der Familie, dann in der Gesell-
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Der.junge Autor Franz Kafka verkörpert die neue Literatur wie kaum ein anderer: ein Jude aus Prag, der mit seinem Buch ,,Der Prozess" über die Verhaf-
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tung und Hinrichtung des Josef K. - einen Roman über die sinnlose wie brutale Moderne verfasst
Gegenmanifest.,,Der heute toben-
ie Deutschen nutzen die
de IGmpf wird kaum einen Sieger, sondern wahrscheinlich nur Besiegte zurücklassen'i mahnt der Text. ,,DieWelt ist durch die Technikkleiner gewordeili die Staaten Europas seien zusammengerückt. Es sei bit-
ter nötig, aus Europa eine organi-
Sprengkraft der Nationalstaatsidee an der Ostfront. Um die IGmpfe dort zu beenden und alle I(räfte im Westen gegen Frankreich und England bündeln zu können, beginnen sie, ,,die im Zarenreich Ie-
sche Einheit zu schaffen,,,um seinen
benden Nationen zum Seitenwech-
Boden, seine Bewohner und seine I(ultur zu schützen". Doch außer dem Verfasser unterzeichnen nur drei weitere Wissenschaftler, unter
sel zu ködern'l so Münkler: Die
ihnenAlbert Einstein.
,,konzentrierte sich zunächst auf
Viele Dichter sehen
es
wie Ernst
fünger in seinen ,,Stahlgewittern'i In den I(rieg zu ziehen ,,schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schüt-
zengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen. I(ein schönrer Tod auf dieserWelt."
Oberste Heeresleitung setzte auf ,,eine Strategie der nationalisti-
schen Revolutionierung". Diese das
Baltikum, richtete sich danach
auf Polen, das im November 1916 von den Deutschen wieder als eigenständiger Staat ausgerufen wurde". Später folgen die Ukraine und der I(aukasus. Und noch eine weitere revolutio-
Auch die Maler Franz Marc und August Macke, die Frankreich von
näre Idee machen sich die Deutschen zunutze. Eine, die den Natio-
mehreren Studienaufenthalten
nalstaat schon wieder zu überwindenverspricht - den Sozialismus. ,,Am 9.April19U bewegt sich ein
kennen und schätzen, melden sich zum I(ampfgegen den sogenannten Erbfeind. Macke fällt rgr+ in der Champagne, Marc 1916 bei Verdun.
Die Vordenker Englands und Frankreichs betreiben die geistige
Aufrüstung mit nicht weniger patriotischem Pathos. So haben aufder einen Seite Russland, das sich als Schutzmacht Serbiens sah, auf der anderen Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich jeweils Verbündete in ihrem Lager, deren Propaganda den bellizistischen Nationa-
lismus anheizt. Jene Ideologie, an der die drei multiethnischen Großreiche schon vor dem Itieg zu zerbrechen drohten. f ene Ideologie, mit
der sich Serbien auf dem Balkan ausgedehnt und schließlich die Gewaltspirale in Gang gesetzt hatte.I(eines der drei großen Imperien sollte den Itieg überdauern. Dort wo im Nahen Osten die Osmanenweichen, teilen sich England
kleiner Trupp schlechtgekleideter, I(offer tragender Leute zum Bahnhofvon Zürich. Es sind keine Reporter erschienen, denn wer kennt in der Schweiz diesen Herrn Ulianow. Um drei Uhr zehn Minuten gibt der Schaffner das Signal. Drei Uhr zehn ' Minuten, und seit dieser Stunde hat die Weltuhr einen andern Gang.
Millionen vernichtender schosse sind
in
Ge-
dem Weltkriege
abgefeuert worden, die wuchtigsten,
die gewaltigsten, die weithintragendsten Projektile. Aber kein Geschoss war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren Geschichte als dieser Zug. Ein Ifteidestrich auf dem Boden begrenzt als neutrale Zone das Hoheitsgebiet der Russen gegen das Abteil der zwei deutschen O ffiziere, welche diesen Transport begleiten. Der Zug rollt ohne Zwischenfall >
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sichüilalssiult Iausen[e den lnternadurch die Nacht." So beschreibt der Schriftsteller Stefan Zweig, wie Lenin von seinem Schweizer Exil in einem abgeschirmten Abteil durch Deutschland reist, um schließlich in Russland die Oktoberrevolution an-
Doch als tatsächlich Schluss ist,
üonalen [rimden
wird in Berlin zwar der I(aiser vom Hofgejagt, die Generale aber bleiben. Die Sozialdemokraten, nun prägende politische Iftaft im Land,
im $mnisc]tgr Hiruer-
lrieU arsciliEIlsr
wollen Parlamentarismus und Re-
zuführen. Die Deutschen fädeln nicht nur den Transport der Verschwörer ein und gewähren ihnen freies Geleit, sie zahlen auch Millionen Reichs-
formen, aber keine Revolution nach russischem Vorbild.,,Damit zeichnete sich früh schon das Dilemma der Weimarer Republik ab'i schreibt
Waffenproduktion anzukurbeln und mit dem dadurch erkauften
Dietrich Schwanitz in seiner,,Ge-
zu blenden.
mark an die Bolschewiki, damit
schichte Europas".,,Um die Radikalen von links abzuwehren, paktierten die Sozis mit dem kaiserlichen Heer und der kaiserlichen Beamtenschaft. Aber die hatten die Demokratie so wenig akzeptiert wie die I(ommunisten. Und als mit der Wirtschaftskrise von t9z9 plötzlich eine rechte Partei von bisher unbekannter Militanz auf der Bühne erschien, waren die Sozialdemokraten
fa, Deutschland war 19z6 in den Völkerbund aufgenommen worden.
unvorbereitet." Adolf Hitler und seine radikalen Anhänger profitieren davon, dass
Eisler und Arnold Schönberg schockierten mit neuer Musik, Hermann Herrigel verfasste ,,Das neue Denken'i,,Alles hatte sich schonvor dem Iftieg geregt,vom Bauhaus bis zum Futurismus, aber erst nach dem Unwetter des Itiegs waren die Flächen freigefegt, auf denen dies alles zur kulturellen Herrschaft gelangen konnte'i schreibt Hagen Schulze.
elenin die Propaganda intensivieren und sich an der Macht halten kann, bis im Dezember r9r7 ein Waffen-
stillstand für die gesamte Ostfront und am 3. Märztgt& schließlich der Friedensvertrag von Brest-Litowsk geschlossen ist. ie neuen Staaten des Ostens
- nach Polen, der Ukraine und dem Baltikum auch Finnland, Weißrussland und Georgien - konnten sich auf das von US-Präsident Woodrow Wilson proklamier-
te,,Selbstbestimmungsrecht der
Völker" berufen. Die Deutschen bleiben nicht als Freiheitsstifter im Gedächtnis. Schon bald werden sie die Länder wieder mit ihrer Wehrmacht überrollen. An derWestfrontkann die Oberste Heeresleitung mit den frei gewordenen I(räften nicht mehr viel aus-
richten. ,,Österreich macht nicht mehr mit, Bulgarien macht nicht mehr mit, Deutschland ist an der Marne geschlagen, ist an der Aisne geschlagen,Amerika setzt hier immerfort neue Truppen ein. Es ist Schluss - warum erklärt man also nicht, dass Schluss ist?'l fragt Egon Erwin I(isch, der im Frühjahr r9r8 von der Maas berichtet: ,,Die I(rieger sprechen von dem,von dem alle
gen hatte die Weimarer Republik
eine Phase wirtschaftlicher und politischer I(onsolidierung erlebt. Und die GoldenTwenties: Eine gro-
ße Ausstellung präsentierte die ,,Neue Sachlichkeit'i Erwin Piscator das neue Theater. B6la Bart6k, Hanns
NewYork dieWeltwirtschaft in den
massiv ein. Der Reichskanzler aber
will
den Haushalt mit brachialer Gewalt sanieren, kürzt nicht nur
Investitionen, sondern auch die Hilfe für das Heer der bald über sechs Millionen Arbeitslosen. Das Volk hungert nach Hoffnung. Und folgt den Rattenfängern mit den primitivsten Parolen. Auch die Sieger des Ersten Weltkriegs sind nicht vorbereitet auf den Sturm, den die Nationalsozialisten entfesseln. Auf Anregung von USPräsident Wilson gründen sie rgzo zwar den Völkerbund, um die Rüstung zu begrenzen, der Welt eine
Friedensordnung zu geben und Institutionen des I(onfl iktmanage-
mehr geschossen; sie erzählen, wie sie sich mit den russischen Soldaten
ohnmächtig etwa gegen |apans Besetzung der Mandschurei. Mit
verbrüderten, Tabak und I(onserven tauschten. Gute I(erle, die Russen. Sind gescheiter als wir. Sie haben die Generale zum Teufel gejagtl'
Einwänden gegen ein Rüstungsabkommen liefert Frankreich auch nochdenVorwand für Hitler,aus der
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rungen bei den Reparationsleistun-
Abgrund reißt. In Deutschland bricht die Industrieproduktion
ments zu schaffen. Aber nach kleinen Anfangserfolgen verkommt der Völkerbund zum zahnlosen Tiger,
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Mit neuerWährung und Erleichte-
Deutschlands Regierung nicht gegensteuert, als ein Börsencrash in
Iftieger zu allen Zeiten sprechen, vom Frieden. Viele deutsche Soldaten kommen von der Ostfront, dort haben sie seit Monaten nicht
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Aufschwung obendrein die Wähler
Weltorganisation auszutreten, die
llision D.,
Pf.k.t.r,
letzten Stummfilm von Fritz Lang. Vorlage für,,Die Frau im Mond" ist ein Scie n ce - F icti o nRoman der Schrlftslel leri n Thea von Harbou
Die Nackttänzerin Anita Berber, von der es hieß, sie nehme Morphin und I(okain zum Cognac, stand r9z5
für Otto Dix Modell. )osephine Ba-
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ker fuhr in der offenen, einachsigen I(utsche durch Berlin, gezogen von einemVogel Strauß, machte abends
mit ihrer
Show am I(urfürstendamm Furore undverdrehte nachts in privaten Salons Männern und Frauen gleichermaßen den I(opf. I(urt Tuchols§ schrieb gegen Un-
terdrückung und Duckmäusertum an, Bertolt Brecht brachte die Dreigroschenoper auf die Bühne. Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Erich-Maria Remarque, Anna Seghers schufen Literatur von Weltrang. Sie alle gehören zu den Dichtern, deren Bücher die Nationalsozialisten aufden Scheiterhaufen werfen. Diese,,Aktion wider den undeutschen Geist" gehört zum Stakkato der Ungeheuerlichkeiten, mit denen
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rg3l die kurze Spanne der Freiheit endet: am 30. Januar die Machtübertragung an Hitler, am 27.
Februar der Reichstagsbrand und
am Tag darauf die Aufhebung der Grundrechte , am 23. März das Ermächtigungsgesetz, am r. April der Boykott jüdischer Geschäfte, am T.April das Beamtengesetz mit dem ,,Arierparagrafen'i am z. Mai die Zerschlagung der Gewerkschaften, am ro. Mai die Bücherverbrennung, am
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-
r4. Juli das Gesetz, das die
partei zur einzigen politischen Partei in Deutschland erklärt und die Arbeit für andere Parteien mit Gefängnis und Zuchthaus bedroht, am 14. Oktober der Austritt aus dem Völkerbund.Am 11. November, dem
fahrestag des Versailler Vertrags, dann die Reichstagswahl, die mit
einem Volksentscheid über den Völkerbund-Austritt kombiniert ist. 92
Prozent stimmen für die Einheits-
liste der NSDAP. 95 Prozent heißen es gut, dass Deutschland derVölkergemeinschaft den Rücken kehrt,was Hitler nutzte, den Militarismus neu zu entfesselt und die Weichen zu stellen für den nächsten Iftieg. Einmal noch wird der Zusammenhaltvon Bürgern Europas eindrücklich sichtbar, als Tausende Franzosen, Deutsche, Italiener, Polen, Briten, Russen, Belgier, Jugoslawen, Unga rn, Tschechoslowaken, Österreicher, Hunderte Schweizer, Niederländer, Schweden, Bulgaren, Iren, Esten und Griechen der spanischen Republik im Bürgerkrieg beistehen und sich den Internationalen Brigaden anschließen. Doch auch Franco bekommt Hilfe von außen. Mussolini setzt Soldaten in Marsch, Hitler entsendet die Legion Condor, die das
baskische Guernica 7937 iD Schutt und Asche legt. Mit einem großen Gemälde klagt
Pablo Picasso
die Barbarei
des
I(rieges an. Das nach der Stadt benannte Werk, das er kurz nach den Luftangriffen auf der Pariser Weltausstellung präsentiert und danach aufTournee schickt. Eine Station ist London.,,Nie wieder I(riegl'iheißt es auch
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Fallschirmjäger Dörfer nieder, im italienischen SantAnna di Stazze-
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gekommen, wie im Zweiten Weltkrieg fallen sollten. Eine Generation geopfert in sinnlosen Schlachten. Nun müsse die Welt vor weiteren Itiegen bewahrt werden. Premier Neville Chamberlain will die Fehler, die in den Ersten Welt-
ma warfen SS-Panzergrenadiere
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Handgranaten in Gruppen zusam-
mengetriebener Einwohner. Menschen, die dem Terror der
Nationalsozialisten entkommen wollten - Juden, I(ommunisten, Homosexuelle -, suchten verzwei-
krieg führten, nicht wiederholen.
feltAufnahme im Ausland. Im Sommer 1938 tagten auf Initiative von US-Präsident Franklin D. Roosevelt
Statt auf Säbelrasseln setzt er auf Zugeständnisse. Im Münchner Abkommen stimmt er sogar der Annektion des Sudetenlandes durch
ment-Politik kann den Frieden nicht retten. Bald marschieren deutscheTruppen in Prag ein. Nach dem Angriff auf Polen erklärt Chamber-
lain Hitler den Itieg. sailler Vertrag als entscheidender Grund für das Scheitern derWeimarer Republik und den Marsch in die nächste I(atastrophe. Tatsächlich hatte Amerika seine europäischen Verbündeten r9r8 gemahnl dieVerlierer nicht zu erniedrigen. Immer-
war
der,,IGiegsschuldparagraf i der ihr BIut in Wallung brachte. m Ende des ZweitenWelt-
kriegs aber ist Deutsch-
lands
Verantwortung
nicht zu leugnen. Eher kommen Zweifel auf, ob
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sich die Heimat von Goethe und Beethoven noch eine I(ulturnation nennen darf. Ein ins monströse gesteigerter Nationalismus paarte sich mit mörderischem Rassenwahn. 6o Millionen Menschen starben in dem Itieg, Millionen verloren ihre Heimat, sechs Millionen Juden wurden ermordet. Überall in Europa sind Massaker der SS und derWehrmacht in Erinnerung,vom polnischen )6zef6w, in dem Hamburger Polizisten 15oo Frauen, ICnder und ältere Männer
erschossen, über das französische
Oradour, wo die SS bis auf sechs Einwohner das ganze Dorf ermordete.Auf Ifteta brannten deutsche
der Sowjetunion
Auf der italienischen Gefängnisinsel Ventotene entwickeln die AntifaEigeninteressen zu überwinden.
schisten Altiero Spinelli und Ernesto Rossi 1941 das Manifest von
hin milderten die Alliierten später Es
schlossen de facto die Grenzen.
Doch selbst in den dunkelsten Stunden des Zweiten Weltkriegs, an den finstersten Orten arbeiten Menschen daran, solch nationale
In Deutschland gilt vielen derVer-
Einsicht, Deutschland nicht.
ohne Ergebnis ab, ihre Länder
Regime des Schreckens Angehörige der Wehrmacht vor ei nem,,Soldalenkaffee" in Paris. Die Deutschen hielten die französische Hauptstadt von Mai 1940 bis August 1944 besetzt. Soldaten der US-Armee stehen im April1945 vor einem Anhänger voller Leichen im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Mehr als 250 000 Menschen waren hier inhaftiert,56 000 von ihnen kamen ums Leben, vor allem Bürger
im französischen Ferienort Evian die Vertreter von 32 Nationen, um sich auf ein gemeinsames Flüchtlingsprogramm für fuden aus DeutschIand und Österreich zu einigen.Nach neun Tagen reisten die Teilnehmer
Deutschland zu. Doch die Appease-
die Reparationsaufl agen. Sie zeigten
[E[[ildarl
Ventotene. Einen der wichtigsten frühen Entwürfe europäischer Integration. ,,Unlösbar sind die zahlreichen Probleme geworden, die das interna-
I I llumanist Walter Benjamin, jüdischer Philosoph und
Kulturkritiker aus Berlin. 1933 flieht er vor den Nazis nach Paris. 1940 versucht er, ihnen über die Pyrenäen zu entkommen. Er stirbt im September 1940 im spanischen Portbou,
vermutlich durch Selbstmord
tionale Leben unseres I(ontinents erschweren: das Abstecken von Grenzen in Gebieten mit gemischter Bevölkerung; die Verteidigung sprachlicher Minderheiten; der Zugang zum Meer für die BinnenIänder; u. s.w Die europäische Föderation hingegen könnte dieses Problem ohne weiteres lösen, so wie es früher der Fall fürjene I(einstaaten war, die sich einer weiter gefassten
nationalen Einheit anschlossen." Eine europäische Föderation biete auch die Garantie, die Beziehungen mitden asiatischen und amerikanischen Völkern auf eine Basis fried-
licher Zusammenarbeit zu stellen, ,,bis es so weit sein wird, dass die politische Einheit aller Völker der Welt erreicht werden kann'i Die Zeit, so das Manifest, sei reif, neue Werke zu vollbringen -,,für ein freies und vereintes Europa'i ! rHEMA
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GHRONIK 1914 - 1945 NORWEGEN
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Französische Zone Sow.ietische zone
Sektorenstädte unter vrermachtestatus
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RUMANIEN
FRANKREICH
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Ankara.
ALBANIEN
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Die gespallene Nation Deutschland ist besiegt und von den Alliierten in vier Zonen aufgeteilt. Bald wird die sowjetische Besatzungszone zur DDR, während aus der amerikanischen, britischen und französischen Zone die Bundesrepublik entsteht
las tnile iler Bttru[tisultgr llur[Errsu[afl 1$14 Erster Weltkrieg Auf eine Reichsflagge, die auf einem Haus im Elsass weht, hat ein unbekannter Soldat sein Ziel geschrieben: Frankreichs Hauptstadt
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Waffenstillsland
Hyperinflation in Deutschland
am 11. November ln einem Waggon stimmen die Deutschen den Bedingungen der Alliierten zu. Darunter dem
lm Juni kostet
ein Ei 800 Reichsmark, im Dezember 320 Milliarden Reichsmark. Kinder spielen mit den wertlosen Banknoten
Abtreten von Elsass-Lothringen und der deutschen Gebiete links des Rheins
1$21 Nobelpreis
für
Albert Einstein Marschall Foch trägt unter dem Arm die Mappe mit der deutschen
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Kapitulationsurkunde
Die Auszeichnung gilt seinen Verdiensten um die
Theoretische Physik, nichf der Relativitätstheorie
54
§tern
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1$21 Nonsfop-Flug New York-Paris
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Der Amerikaner Charles Lindbergh schreibl Geschichte mit der ersten
Solo-Überquerung des Atlantiks ohne Halt
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Die Plakale, mit denen diese Suffragetlen 1914 demonstrieren, sind auf Englisch, Französisch und Deutsch
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Schwarzer
Olympische Spiele in Berlin
Nobelpreis für Otto Hahn
Freitag Nach dem Börsencrash in New York lösen
einbrechende Aktienkurse die Weltwirtschafts-
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sollte die perfekte nszenieI
rung des neuen Deutschlands und arischer Über-
legenheit sein: Adolf Hitler im Olympia-Stadion
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preis für Carl von
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Der deutsche
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Schriftsteller und Pazifist wird ausgezeichnet
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Nach dem Überfall auf den Sender Gleiwitz beginnt in den
Morgenstunden 1. September der Zweite Weltkrieg
r$38 Britische -Appeasemenl-
wird für die Entdeckung der Kernspaltung ausgezeichnet. Er
gilt als einer
der Väter der
Atomkraft
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Politik Um einen weiteren
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1$3$ Angriff auf Polen
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Das Radio wird
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Der Chemiker
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großen Krieg zu verhindern, akzeptiert der britische Premier Neville Chamberlain in München die Annexion des
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Sudetenla ndes
Erste Häftlinge
durch Deutschland
in Auschwitz Schon bevor die sogenannte Endlösung der Judenfrage in Berlin
Hitlers Selbstmord und Kapitulation
organisiert worden ist, treffen erste Häftlinge im Konzenfrafionslager ein. Etwa Millionen Menschen werden hier
l$[X:lhmilmda$ llllailrechlIür [rauen Mit der Gründung der,,Women's Social and Political Union durch Emmeline Pankhurst erreicht der Kampf der Frauen, bei Wahlen eine Stimme zu bekommen, einen frühen Höhepunkt. ln den folgenden Jahren machen vor allem die britischen Frauen durch öffenlllche Proteste und Hungerstreiks auf ihr Anliegen aufmerksam. Dennoch sollten noch Jahre vergehen, bevor die Beteiligung der Frauen an Wahlen selbstverständlich wird. Während Finnland, das allerdings zu jener Zeit russisches Großfürstentum war, 1906 als erstes Land Europas bereits Frauen zu Wahlen zulässt, müssen Russinnen bis nach der Revolution 1917 und deutsche Frauen bis zur Gründung der Weimarer Republik 1918 warten. ln Großbritannien dauert es bis 1928, bevor alle Frauen uneingeschränkt wählen dürfen. Das französische Parlament votiert 1936 einstimmig für die Einführung des Frauenwahlrechts. Tatsächlich gehen Frauen aber erst im Frühjahr 1945 zum ersten Mal zu den Urnen.
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Am 30. April nimmt sich der ,,Führer und Reichskanzler" in Berlin das Leben. Acht Tage späler kapituliert das Deutsche Reich
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ermordet, unter ihnen ungefähr eine Million Juden
Ein Plakat aus München 1914. Polizisten verhaften im selben Jahr eine Demonsträntin vor dem Buckingham-Palast
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Eingang zum Lager AuschwitzBirkenau. Hier kommen Züge aus ganz Europa an
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Eigentlich hätte dieser Itieg Euroder I(ontinent in Trümmern: mehr
Schritt muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. Frankreich und Deutschland
SS Millionen Tote, Millionen Flüchtlinge zwischen Ost und West.
übernehmen."
pas Endebedeuten müssen.
t945lag
als
|etzt galt
müssen zusammen die Führung
nicht mehr, den Iftieg zu jetzt musste man den Frieden überleben, irgendwie.
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überleben
-
dazu und ein feines Gespür für die großen Linien der Geschichte, dass da ein Sieger dem Besiegten - schul-
Nur wenige fahrzehnte zuvor hatten die ebenso hoch industriali-
sierten wie hoch militarisierten
dig an Völkermord und Vernich-
Nationalstaaten Europas eine einzigartige Vormachtstellung in der Welt eingenommen. Davon war nichts mehr geblieben. Europa hatte sich selbst zerstört, eine ganze
tungskrieg
Das einst so
wusste: Ohne Aussöhnung zwischen den ,,Erzfeinden" würde es niemals Frieden geben.Sowurde das ,,Projekt Europa'l das der Historiker Andreas Rödder als Prozess der
übermächtige
Deutschland war besiegt - nein, be-
freit und faktisch bereits geteilt.
,,Selbstzivilisierung" nach einem ,,beispiellosen Zivilisationsbruch" bezeichnet, in einem Moment der
Bald würde der ,,Eiserne Vorhang" den I(ontinent endgültig trennen.
Aber auch die imperialen Mächte Großbritannien und Frankreich
Schwäche geboren. Die europäische
Integration war, so Rödder, ,,ein
waren durch den I(rieg und die beginnende Entkolonialisierung
deutsch-französisches Proj ekt zur
Zähmung des deutsch-französi-
massiv geschwächt. Es schien, als werde Europas Zukunft fortan von den USA und von Stalins Sowjet-
schen Verhältnisses'i Doch dieses neue Europa wurde
zunächst vor allem von der massi-
unionbestimmt.
ven Wirtschafts- und Demokratiehilfe der USA erzwungen. Das,,Pro-
Dies zuverhindern, reiste im Sep-
jekt Europa"war zudem ein Projekt
tember 1946 ein alter Mann von London nach Zürich, um an der Universität eine,,Rede an die akademische )ugend"zu richten. Er hatte die
wichtigsten Gedanken auf ein paar Blatt Papier getippt, kurze Zeilen. Sie glichen eher einem Gedicht als einem Redemanuskript. Aber auch das warWinston Leonard Churchill ja: ein begnadeter Schriftsteller, der 1953
mit dem Literaturnobelpreis
ausgezeichnet werden würde. An diesem r9.September1946 for-
derte Churchill die ,Vereinigten Staaten von Europa": ,,Und doch
gibt
ein Mittel, das wie durch einWunder in wenigen |ahren Europa, oder doch dessen größten Teil, so frei und glücklich machte,wie es die Schweiz es
heute isti erläuterte er.,Welches ist dieses vorzügliche Heilmittel? Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten ...Ich sage Ihnen jetzt etwas, das Sie erstaunen wird: Der erste
THEMA
- nur ein fahr nach
I(riegsende denWeg in eine gemeinsame Zukunft wies. Aber Churchill
Zivilisation schien untergegangen.
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gehörte wohl der Pragmatis-
mus eines großes Staatsmannes
testalt Unter den Augen des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer unterschreiben die Mitglieder des Parlamentari-
im Westen des I(ontinents. Weil sich die beiden nuklearen Supermächte
USA und Sowjetunion mitten in Europa direkt gegenüberstanden, wurde der I(alte Itieg dortzum langen Frieden. Den Preis dafür zahlten
jahrzehntelang die Menschen im Osten Europas. Denn sie blieben auf der dunklen Seite des I(ontinents.
och t947 schien Europa
schen Rates am 23. Mai 1949 im Gebäude der
Pädagogischen Akademie in Bonn das Grundgesetz. Die Demokratie hat in der Bundesrepublik ihre Form gefunden
unaufhaltsam auf seinen endgültigen Unterga ng zuzusteuern. Schlimmer als 1918 sei die Lage, urteilte der spätere Bundeskanzler I(onrad Adenauer.,,Millionen Menschen verhungern langsam'i berich-
William Clayton vom US-Außenministerium nach Washington. tete
Man musste kein allzu großerPes-
simist sein, um Europa in Anarchie und Bürgerkriegen, in neuem Fa-
schismus oder stalinistischem I(ommunismus versinken zu se-
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Wirtschaflshilfe Mit diesem Plakat wirbt die Hohe Kommission der Amerikaner 1950 in Deutschland f端r ihr Programm zum Wiederaufbau Marshallplan genannt nach dem US-Finanzminister
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Der Großteil der I(redite ging an Frankreich und Großbritannien, die
de die Bundesrepublik gleichberechtigt in eine westliche Organisa-
spätere Bundesrepublik erhielt nur rund zehn Prozent der Mittel. Doch
tion eingebunden.
ist die Möglichkeit eines wirtschaft-
lichen Zusammenbruchs in West-
vor allem die
hen. In einem ClA-Bericht hieß es damals: ,,Die größte Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten
europa und die sich daraus ergeben-
Frankreich wollte also Sicherheit vor Deutschland durch Sicherheit mit Deutschland erreichen und in einem Europa der souveränen Nationalstaaten zur Führungsmacht
(West-)Deutschen setzten von nun an Stabilität und
de Machtergreifung kommunistischer Elemente." Doch die amerikanischen Sieger hatten eine wichtige Lehre aus den Folgen des Ersten Weltkrieges gezogen, dem katastrophalen Friedensrvertrag von Versailles und den verheerenden Wirtschaftskrisen der zoer |ahre. Dieses Mal sollten die Neuordnung der Weltwirtschaft und Hilfe für Europa Demokratie und I(apitalismus fördern - natürlich zu amerikanischen Bedingungen.
Wohlstand faktisch mit Amerika
duktivitätsmissionen die USA eine erfolgreiche Mischung aus
de Deutschlands Schicksal.
as Währungssystem von
politischem Bildungsprogramm
nicht trotz, sondern wegen seiner
BrettonWoods 1944 war Ba-
gleich:,,Nach 1945 wurden auf westlicher Seite Freiheit, I(apitalismus
und Demokratie als ideologische
aufsteigen.,,Europa'i sagte Charles de Gaulle, der spätere Staatspräsi-
Einheit festgezurrt'i so Andreas
dent, ,,ist das Mittel, mit dessen
Rödder.
Hilfe Frankreich wieder das werden kann, was es seit Waterloo nicht mehrwar: Erster in derWelt."
,,Planung" hieß das Zauberwort der Aufbruchzeit, die mit der Währungsreform in Deutschland ein-
sis
für die Liberalisierung
des
Welthandels: freie Kon-
vertibilitätderWährungen
verständlich war Stalins ,,Njet'i
Bandbreiten, dazu der Abbau von Zöllen. Der US-Dollar wurde zur Weltleitwährung. Allerdings waren
würde Souveränitätszuwachs durch Souveränitätsverzicht erringen, die freiwillige Integration. Europa wur-
Fabrikdirektoren und Gewerkschafter besuchten in sogenannten Pro-
und I(apitalismus-PR. Osteuropäische Staaten nahmen am Marshallplan nicht teil. Unmiss-
innerhalb relativ fester
Die Bundesrepublik wiederum
herging. Tausende Ingenieure,
Das deutsche Dilemma aber blieb: Denn
Selbstverpfl ichtung stieg DeutschIand erneut zur Führungsmacht auf. Immer blieb Deutschland, Staat in der Mitte, zu groß und zu mächtig.
Dieses Nein sollte sich als strategi-
Der r95r in Paris gegründeten
scher Fehler erweisen: Bald waren
,,Europäischen Gemeinschaft für I(ohle und Stahl" gehörten Frankreich, die Bundesrepublik, Italien und die Benelux-Staaten an. Es war
die sowjetischen und die osteuro-
konnte nur geschlossen werden, wenn sich Europa wirtschaftlich erholen würde - und zwar rasch. Am 5. funi 1947 stellte US-Außen-
päischen Planwirtschaften vom Rest der Welt faktisch abgekoppelt. Die Menschen mussten sich auf ein Leben in Mangel einrichten. Es war ein Leben im Defizit - in jeder Hinsicht. InWesteuropa herrschte bald eine Art PaxAmericana. Die Bundesrepu-
minister George
blik sollte eine starke europäische
Ob C-oca-Cola, Seven up oder
USA. 16 europäische Regierungen
Industrie- und Handelsmacht werden. Dies aber schwäche Frankreich massiv, so die Sorge des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman: Frankreich müsse auf deutsche Reparationen verzichten, vor allem auf die I(ohlelieferungen aus dem Ruhrgebiet. Dagegen
erhielten Itedite in Milliardenhö-
wollte Schuman eine gemeinsame
Kaugummi amerikanische Produkte sind in Europa begehrt und Ausdruck des Konsu mzeitalters wie der engen Verbindung von Amerika und Europa
kontrollier-
I(ontrolle über die deutsch-französische Stahl- und I(ohleproduktion setzen. Die ,,Hohe Behörde" einer auch für andere Staaten offenen ,,Montanunion" sollte Investitionen
die europäischen Staaten in den USA hoch verschuldet. Diese,,Dollar-Lücke"
Marshall ein nie da gewesenes Programm vor, Amerikas Angebot an alle Staaten Europas : einen Vierjahresplan zum WieC.
deraufbau, das European Recovery Program, kurz :,,Marshallplan'i Dieser Planwurde einer der größ-
ten außenpolitischen Erfolge der
he, eine eigene Behörde
te die Verwendung. So finanzierten die USA faktisch den Wiederaufbau Westeuropas: Straßen, Eisenbahnen, ganze Städte. Unternehmen wiede-
rum kauften Rohstoffe, Investitionsgüterund Lebensmittel in den USA und wurden so zum I(onjunkturtreiber für die schwächelnde USNachkriegswirtschaft. Europa baute sich wieder auf. Und war bald ein Iukrativer Exportmarkt für die USA.
62
stern
rHEMA
und Preise steuern. Am 9. Mai r95o stellte Schuman seinen Plan vor. Zwar war Bundeskanzler I(onrad Adenauer erst kurz zuvor informiert worden. Doch er
stimmte sofort zu: ,,Das ist unser Durchbruch."Zum ersten Mal wür-
die Geburtsstunde der späteren Europäischen Union.
IrenüseIer
uf eine echte politische Union aber konnten sich die Regierungen nichtverständigen.,,Europa" war Vehikel, nicht Selbstzweck. Mit derAbsage an die Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVG scheiterte bereits 1954 der erste Versuch einer
politischen Integ-
ration. Immerhin vertieften die sechs
Mitglieder der Montanunion
t957 mit der ,,Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft" (EWG) die In-
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tegration ihrer Volkswirtschaften.
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Von Bonn finanziert und von Frank-
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reich gesteuert, wuchs nun ein ge-
meinsamerMarkt.
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man
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erstmals von den,,Europäischen Ge-
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1965 sprach
meinschaften'i Doch noch Ende der 6oer lahre ge-
hörte die Mehrheit der westeuropäischen Länder der EWG nicht an. Die Diktaturen im Süden - Portugal, Spanien und Griechenland - blie-
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lnnerhall rugltiUBr la]tre hatten siclt üie Iealein[ommen UBruiEllflG[I, ben außenvor. Den Beitritt Großbri
Vorstädte aufwuchsen. Dagegen
tanniens und Irlands blockierte
rebellierten vor allem linke Studen-
imi"rr
ten in Frankreich.In ilr'". eine antikapitalistische Revolution
Frankreich bis zum Pariser Gipfel 1972. Erst Mitte der 8oer fahre ver-
suchten sie im Mai r968 den,,Strand
ständigte man sich auf das Ziel einer Europäischen Union. Auch dies blieb mehr Absicht, als es Realität wurde. Damals war zu Ende gegangen,
unter dem Pflaster"von Paris. In Italien mit seinen gewaltigen sozialen Verwerfungen und in der merkwürdig geschichtslosen Bundesrepublik hatte der propagierte
was man später als ,,Wirtschafts-
wunder" und ,,Trente Glorieuses"
regiert." Und sie handelten danach.
Innerhalb weniger Jahre hatten sich die Realeinkommen verviel-
Sozialversicherung für jeden Bürger
uropas große Iftise begann, als die durch den Vietnamkrieg hoch verschuldeten Amerikaner r97t die Wech-
wurden zum Modell einer moder-
selkurs-Anbindung an den
nen, sozial gerechten Ordnung. Der europäische Wohlfahrtsstaat des
Prägnant beschrieb es der damalige
facht, die Regierungen schwammen
in Steuereinnahmen. Bildung und
Goldstandard auf kündigten.
US-Finanzminister f ohn Connally: ,,Der Dollar ist unsere Währung, aber euer Problem." Der nun frei schwankende Dollarkurs hatte dramatische Folgen für die export-
r9.|ahrhunderts schien vollendet. ,,Niemals zuvor und niemals mehr
danach erlebte Europa ein derart
außergewöhnliches Wirtschaftswachstum'i so der Berliner Histori-
Oder als Gastarbeiter in die Bundes-
republikkamen. I(onsum! Es war die Ara von Nylonstrümpfen, Staubsaugern und
Waschmaschinen; der Telefone, Fernsehgeräte und Autos, der Super-
märkte. Alles schien planbar, alles schien machbar. Und bis zur I(ubakrise t96z glaubte man sogar an die Macht des,,friedlichen" Atoms - das Atomium-Gebäude in Brüssel zeugt bis heute davon. In den 6oer lahren änderte sich
das Lebensgefühl der Menschen nichtbloß in Europa.Anfangs schien es nur um,,Flower Power" zu gehen, um den Idealismus und die Selbstverliebtheit der Hippie-Generation. Bald aber beschrieb der Begriff,,Entfremdung" eher den Seelenzustand
junger Menschen, die in
den monströsen Wohnsiedlungen der
rä
Roten Brigaden und der RAF, der Roten Armee Fraktion, propagierten: ,,Nur Gewalt hilft, wo Gewalt
Westeuropa
boomte, die Geburtenraten stiegen, schon bald tuckerte man in der Isetta über die Alpen an die Adria.
ker Hartmut IGelble. Und dieses Wunder war auch den vielen Millionen Migranten zu verdanken, billigen Arbeitskräften, die aus zerfallenden I(olonien nach Großbritannien und Frankreich strömten.
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H'fl'J::15,:";"T::1"ä:'i:'?ä
beschreiben sollte, die ,,drei glorrei-
chen )ahrzehnte".
die [eUierttrugn
abhängigen Industrien Westeuropas und führte in der Folge zur Auflö-
sung des Systems von Bretton
llutht Unter den Augen von Passanten und Schaulustigen seilt sich eine 77 Jahre alte Frau im September 1961 aus einem
Haus in der Bernauer Straße in Berlin ab. Einen Monat nach dem Beginn des Mauerbaus gelangt sie so vom Osten der Stadt in den Westen
Woods. In dieser Zeit entdeckten auch die Länder des Nahen Ostens den Ölpreis als politische Waffe, die beiden Ölpreisschocks führten zu Rezession und Arbeitslosigkeit. Zugleich brachten die Toer und 8oer Jahre einen neuen Demokratisierungsschub in Europa. In vorwie-
gend friedlichen Revolutionen stürzten die Menschen ihre Dikta-
toren in Portugal, Spanien und Griechenland. Und drei soziale Bewegungen sprengten überall auf dem I(ontinent verkrustete Struk-
turen: Frauen erkämpften ihre
Urlaubsanfang Ein Vater und seine beiden Söhne kontrollieren den Ölstand des neuen Autos im August 1966 in einer Neubausiedlung von Baunatal bei Kassel. Die Stadt ist einige Jahre zuvor auf dem Reißbrett durch den Zusammenschluss mehrerer Gemeinden entstanden, nachdem der Volkswagen-Konzern hier 1957 eine Fabrik für den Bau neuer Fahrzeuge angesiedelt hat
Rechte, Umweltschützer zogen als ,,Grüne" in die Parlamente ein. Und
Hunderttausende Friedensbewegte
demonstrierten gegen Aufrüstung und Nato-Doppelbeschluss. Europa und seine Ideen vom Sozialstaat gerieten unter Druck. Amerikas Präsident Ronald Reagan fand in der britischen Premierministerin Margaret Thatcher eine Verbün- >
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Protest und Terror lm Mai 1968 gehen die Studenten überall in Europa auf die Straße. Manche der Demonstrationen sind gewalttätig wie hier in Paris. Auch in der Tschechoslowakei fordern die Menschen Reformen. Der Prager Frühling endet mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen im August 1968. Jahre später ist aus den Proteslen oft Terror geworden. lm April 1977 ermorden Mitglieder der RAF den Generalbundesanwalt Siegfrred Buback und seinen Fahrer
ln den B0er la[ren änderte sich das lelens0EIühl. Anlanus $Ghiglt B$ Ulll [lOrUer Pouuer
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dete, den Neoliberalismus
ber 1984. Da standen zwei Männer zum I{ang der Totenklage vor dem
durchzu-
setzen. Staatsunternehmen sollten privatisiert, Steuern gesenkt werden. Der Staat, so ihreVorstellung, sollte
Gebeinhaus des Friedhofs von Douaumont bei Verdun.Verdun war Symbol für den Horror eines fahrhunderts: Während des ErstenWeltkriegs starben allein hier mehr als 30o ooo Menschen. Es war kaltan diesemTag, die bei-
sich möglichst ganz aus der Wirtschaft heraushalten. Tatsächlich boomten die USA und später auch Großbritannien bald mehr als die al-
ten ökonomien des I(ontinents.
den Männer trugen Wintermäntel. Sie standen nebeneinander, der hü-
Man schien das Wachstumsmodell der Zukunft gefunden zu haben. Und die Bedenkenträger in Brüssel wie in den Hauptstädten des I(ontinents standen dabei der britischen
nenhafte deutsche Bundeskanzler Helmut I(ohl und der zerbrechlich wirkende französische Staatspräsident Franqois Mitterrand. I(aum jemand bemerkte sie zunächst, diese ldeine und doch so große Geste:
Premierministerin nur im Weg. Europa verordnete sich einen Neustart. Das Gefeilsche um Geld aus Brüssel wurde zunehmend unerträglich. Agrarsubventionen, von denen vor allem Frankreich profitel des europäischen Haushaltes aus. Europa glich einem,,institutionali-
Es war eine
sierten Viehmarkt'i Helmut I(ohi
europäischen Reisepass.
Im Juni r98g - fünf Monate vor dem Fall der Mauer - verständigten
spontane Geste, nicht Teil des Proto-
kolls. Frankreichs
Staatspräsidenl Frangois Mitterrand reicht dem deutschen Kanzler Helmut Kohl 1984 die Hand bei
einer Gedenkfeier in Verdun - einem der blutigsten Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs
zweier Ideologien mit Weltherr-
diesenMoment. So standen sie vor dem Gebeinhaus von Douaumont, einander haltend. Es war ein Symbol, einVersprechen. Eine Verpfl ichtung.
In Wahrheit war
Westeuropas
Wiederauferstehung aber nicht allein solcher Verbundenheit zweier einst zutiefst verfeindeter Staaten zu verdanken, sondern auch der Spaltung Europas, dem Ost-WestI(onflikt. Westeuropa war, so könn-
te man sagen, ein Gewinner des I(alten I(rieges.
auf das Ziel einer Wirtschafts- und Währungsunion.Auch die sollte vor allem die Bundesrepublik einbinden: ,,Die D-Mark ist Deutschlands Atombombe'l fasste Franqois Mitterrand die Angst vor der wirtschaftlichen
I(urz nach Iftiegsende bereits hatte sich jene neue ,,Ordnung von Jalta" etabliert, die 5o Jahre lang einen
Der Euro wurde das entscheidende politische Projekt, Sinn und Zweck einer unvollkommenen Union. Zum ersten Mal seit Jahrhunder-
kalten Frieden in Europa sichern würde: In )alta auf der Itim hatten sich |osef Stalin, Winston Churchill und Franklin D.Roosevelt im Februar tg45 faktisch auf Einflusszonen in Europa verständigt. Bald verlief
kriegsgeschichte verkörperte das eindringlicher als jener zz. Septem-
Vietnam.
ller Freiheitsrhetorik zum Trotz hatten die USA die sowjetische Einflusssphäre im Osten Europas akzep-
tiert. Sie griffen
weder während der Arbeiteraufstände in Berlin 1953 noch bei den Arbeiterprotesten in Posen t956 ein und auch nicht beim Bau der Berliner Mauer im August 1961.,,Das ist
keine besonders gute Lösung|
Hinrichtungen.
del durchAnnäherung'i 1975 unter-
Bald standen sich zwei nukleare Supermächte mitten in Europa direkt gegenüber. Fest entschlossen,
zeichnete der sowjetische Staatsund Parteichef Leonid Breschnew die,,Helsinki-Schlussakte" der I(onferenz über Sicherheit und Zu- >
Osteuropa wurden sowjetfreundliche Regime etabliert - wenn nötig, mithilfe von Staatsstreichen, Säu-
sein. Allem Anschein nach hatten die Bewohner wirklich gelernt, mit sich und ihren Nachbarn ohne Iftieg auszukommen. IGum ein Augenblick der Nach-
und Afrika Millionen in ,,heißeil' Stellvertreterkriegen - vor allem in
berungen, Schauprozessen und
die Grenze zwischen Ost und West durch das besetzte Deutschland, in
zu
des Friedens geworden
schaftsanspruch. Und während er Ironie der Geschichte - den Menschen Europas einen langen kalten Frieden bescherte, starben in Asien
fohn F. I(ennedy damals, ,,aber eine Mauer ist verdammt noch mal viel besser als ein IGieg." Dann ging er segeln. Auch als sowj etische Panzer 1956 in Budapest und 1968 in Prag auffuhren, blieb es bei Solidaritätsbekundungen. Erst die Ostpolitik des sozialdemokratischen IGnzlers Willy Brandt ermöglichte einen gewissen,,Wan-
ten schien Europa endgültig ein I(ontinent
etunion nicht zurückdrängen, hatte der amerikanische Diplomat George F. I(ennan im Februar 1946 in seinem,,langen Telegramm" aus Moskau die später so oft missverstandene US-Strategie des ,,Containment" skizziert: Es gelte vielmehr, sie einzudämmen. Das war nichts anderes als Realpolitik. Sowj
schrieb Franqois Mitterrand später
der
und der
sich die Regierungschefs schließlich
Übermacht des Nachbarn zusammen.
Allerdings sollten die USA die
Deutsche sie dankbar ergriff. Er habe aus einem Gefühl derVereinsamung heraustreten wollen, be-
des Deutschen ausstreckte
llerlunilenlteit
alter" zu verhindern, zementierten die USA ihre europäische Präsenz mit der Gründung der Nato 1949.
So blieb die Geschichte für die Menschen im Osten Europas buchstäblich stehen. Auch dort herrschten Frieden und Stabilität. Aber ,,es war der Friede eines scharfbewachten Gefängnishofes'i wie der amerikanische Historiker Tony f udt in seiner,,Geschichte Europas" schrieb. Der IGIte Iftieg war ein Clash
als der Franzose seine Hand nach
tierte, machten bisweilen zwei Drit-
wähnte sich gar auf einem ,,Basar'i Mit Direktwahlen zum Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat der Regierungschefs wollte man die,,Eurosklerose" überwinden,und auch die Binnengrenzen sollten fallen. Europa wurde zum,,geistigen Staat" erldärt, erhielt Flagge und Hymne und den roten
1989
das drohende ,,sowjetische Zeit-
sagte US-Präsident
THEMA
stet,
65
E EURoPA rg4s
sammenarbeit in Europa, I(SZE. Die
garantierte zwar die territoriale Integrität der Mitgliedsstaaten und erkannte damit die Ordnung von |alta an. Doch zugleich verpflichteten sich die Unterzeichner auf die Achtung der Menschenrechte und die Prinzipien des ,,dritten I(orbes". Es
waren scheinbar harmlose Flos-
keln über Bürgerrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit. Dieser ,,I(orb III" erwies sich als .Zeitbombe: Denn die bis dahin so ohnmächtigen Menschen im Osten Europas entdeckten ihre Macht,wie es der tschechische Dramatiker VäcIav Havel in seinem verbotenen Essay
über den,Iersuch, in derWahrheit zu
leben'i beschrieb. Mit Zivilcourage,
Hartnäckigkeit und Fantasie praktizierten die friedlichen Revolutionäre Osteuropas fortan die Prinzi-
pien von Helsinki. fahr um |ahr, Protest um Protest, Streik um Streik,
Friedensgebet um Friedensgebet, Verhaftung um Verhaftung: ,,Man muss versuchen, so zu leben, als ob man wirklich frei wäre.''
Dazu gehörten die Solidarno6dI(undgebungen auf der Lenin-Werft in Danzigund die Friedensgebete in Erfurt, Dresden und Leipzig, die Bürgerrechtler der,,Charta 77" in der Tschechoslowakei und die Dissiden-
ten der ,,Helsinki-Gruppe" in der Sowjetunion. Unter ihnen Andrej Sacharow, der Friedensnobelpreisträger. Und Lj udmila Aleksejewa, die
mit ihren beinahe 9o )ahren noch 2015 gegen
Menschenrechtsverlet-
zungen demonstrierte, nunmehr al-
lerdings in Putins Russland.
Is die Greise im sowjetischen Politbüro 1985 den vergleichsweise j ungen Michail Gorbatschow zum Ge-
neralsekretär ernannten, war es im Grunde schon zu spät: Zu Tode gerüstet, stand die im Westen hoch verschuldete Sowjet-
union vor dem I(ollaps. Gorbatschow sprach nur offen aus,was die Menschen schon lange wussten: ,,So
können wir nicht weiterleben." Bis zuletzt glaubte er an die Unter-
stützung für eine nzue, reformierte
66 §tET,,
THEMA
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Sowjetunion. Gewalt als Mittel der Politik, gar der Einsatz seinerfumeen war keine Option für ihn. Der gelern-
sen. Dazu musste er das nukleare Wettrüsten mit den USA beenden. Vor allem aber brauchte er die MilIiardenkredite von I(anzler Helmut I(ohl, diesem Mann mit den ,,großen
te Mähdrescherfahrer-Gehilfe vertratvielmehr die,,allgemein menschlichen Werte'i wie er sagte. Auch in diesem Sinne verstand er sich als
Taschen1 wie US-Präsident Bush damals sagte. Zuletzt, im Herbst 1990,
Europäer. Ob Selbstüberschätzung oder die naive I(ühnheit eines Ro-
musste der Russe regelrecht darum betteln. Ein gutes Jahr späterwar die
mantikers - Gorbatschow träumte von einem,,gemeinsamen europäischen Haus] von der Verschmelzung
Sowjetunion Geschichte. Bald würden sich Nato und EU nach Osten erweitern. Die Menschen in Russland und den postsowjetischen Staaten aber blieben an Europas Peripherie zurück. Sie fühlten sich erneut als Opfer der
der Militärblöcke Nato und Warschauer Pakt in einer gesamteuropäischen Friedensorganisation. ,,Politik'ibehauptete er,,,ist hinund wieder die Suche des Möglichen in der Sphäre des Ungewöhnlichenl' Die Sowj etunion werde Reformen in Osteuropa nicht im Wege stehen, erklärte Gorbatschow im Juli rg8g. Es war der Anfang vom Ende des Warschauer Pakts. Und nur vier Mo-
nate später fiel die Berliner Mauer. ,,I(ein anderes Großreich der dokumentierten Geschichte'! so Tony Judt,,,hat seine Besitzungen j emals so rasch, so
bereitwillig und mit
so
wenig Blutvergießen aufgegeben." Es gehört zurTragödie des Michail Gorbatschow und seines Landes, dass ihn viele Menschen deshalb
Geschichte, unverstanden und gede-
mütigt stimmte
und in gewisser Weise
das
ja auch.
So erging es wohl auch dem
lullleler Die Friedenstaube ist in den frühen 80er Jahren das Symbol für den
Protesf gegen die sogenannte
Nachrüstung
-
-
die Stationierung
amerikanischer M ittelstreckenraketen in Europa
jun-
gen I(GB-Offizier, der den Fall der Mauer 1989 in Dresden erlebt hatte.
Wie hilflos sich Wladimir Putin damals fühlte. Nie wieder, so hoffte er, sollte Russland in eine solche Lage geraten, vom Westen abhängig, gar verraten. Und er selbst schon gar
nicht. Später würde Putin die Ordnung von Jalta, die damals zu Ende ging, preisen. uropas Nachkriegsepoche en-
bald zum ,lerräter" erklärten. In Wahrheit war er nicht allein ein
dete amzr. Novemberrggo
Mann mit gutem Herzen, sondern ein Glücksfall der Geschichte. Deutschland galt als der größte
und
Preis im Ringen um den Sieg im
IGI-
ten I(rieg. Am 31. Mai r99o stimmte Gorbatschow in Washington überraschend jener spitzfindigen Formulierung von US-Präsident George Bush zu, die zwangsläufig auf eine Wiedervereinigung Deutschlands in der Nato hinauslaufen würde: ,,Die Vereinigten Staaten sprechen sich
eindeutig für eine Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in der Nato aus, allerdings werden wir, falls es sich anders entscheiden sollte, die Entscheidung nicht anfechten, son-
dern tolerieren." Vielleicht war es unüberlegt, vielleicht hatte Gorbatschow keine andere Wahl. Die Sowjetunion stand
vor dem Staatsbankrott. Gorbatschow war auf den Westen angewie-
in
Paris.Wie stolz die 34 Staats-
Regierungschefs auf
dem rotenTeppich im Elyse6Palast standen, ganz vorn Michail Gorbatschow. Mit der,,Charta
von Paris" erklärten sie Demokratie und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zur verbindlichen Norm
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eines neuen Europa, das sich vielleicht bald bis Wladiwostok
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erstrecken würde: ,,Nun ist die Zeit
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gekommen, in der sich die jahrzehn-
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telang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirt-
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schaftliche Freiheit und soziale Ge-
rechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder." Der I(alte I(rieg war zu Ende. So schien es an diesem kühlen Pariser Novembertag. X
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Auf der Seile der Verlierer Ein Markt in einer polnischen Stadt 1957. Während der Weslen Jahre des Wirtschaftswunders erlebt, müssen die Bürger Ost-
europas mil dem Mangel klarkommen. Begeistert empfangen die Bürger der Bundeshauptstadt Bonn im Juni 1989 den sowjelischen Staatschef Michail
Gorbatschow und seine Frau Raissa. Er stand nicht nur am Anfang des friedlichen Endes von Sowjetherrschaft und Ostblock. Ohne ihn wäre die deutsche Wiedervereinigung nicht möglich gewesen
Gorlatsr[otl trättlnlg l,0ll EIIEIn,,uGln8lllsaln8r erroltisr[B[ llatls", souar uo[ der
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Geteiller Konfinent Die zwei gewaltigsten Militärblöcke der Welt stehen sich gegenüber. lm Westen die Länder der Nato, im Osten die des Warschauer Pakts. Zugleich bilden sechs Staaten im Westen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, den Kern der heutigen EU
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Truman-Doktrin
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Römische Verträge Feierlich unterzeichnen die Staatsmänner der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs, lfaliens und der Beneluxländer die Gründung der EWG
Antibabypille
Amerikas Präsident Truman verkündet die Unterstützung aller Länder, die nach Freiheit streben, und beendet endgültig die Kooperation mit der Sowjetunion. Der Kalte Krieg hat begonnen
Bei einer Rede in
Zürich fordert der britische Premier die Vereinigten Staaten Europas
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Unter der Führung der USA
t[48 Berlin-Blockade Ab Juni versperrt die UdSSR den Landweg in die geteilte Stadt. Diese wird über eine Luftbrücke durch die Westalliierten versorgt
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schließen sich zwölf Staaten zum Nordatla nti kpa kt zusammen sechs Jahre vor dem Warschauer
zugelassen Die erste sichere
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Ostpolitik
Abkommen
Der Kniefalldes Kanzlers am Mahnmal des Warschauer Ghet-
Europäische Länder verpflich-
tos symbolisiert eine neue Zeit: Deulschland akzeptiert die Oder-Neiße-Linie als Grenze. West
und Ost nähern sich an
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proteste Überall in Europa gehen Studenten auf die Slraße. Sie protestieren
gegen die Stud ienbed ingu n-
gen und den Kapitalismus
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Ein Banner mit dem Schriftzug der Gewerkschaftsbewegung und der weiß-roten Flagge Polens
Erste ölkrise Autofreie Sonntage zum Spritsparen und drastisch höhere Preise. Die arabischen Staaten entdecken das Öl als politische Waffe und lösen damil in Europa und weltweit eine Wirtschaftskrise aus
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t$il Die erslen PCs lm Juni kommt
der Apple ll für 1298 Dollar auf den Markt. Die Digitalisierung für jedermann
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:D l[[r Friedensbewegung Hunderftausende demonstrieren gegen die sogenannte Nachrüstung: die Stationierung amerikanischer Pershing-Ra keten als Antwort auf
ten sich, nach und nach ihre Binnen-
grenzen abzubauen. Zunächst sind das die Beneluxstaaten, Frankreich und die BRD
-
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Mauerfall in Berlin Mit der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 gelangen nicht bloß die ersten DDR-Bürger in
l$8[: tine ßewerlschall Brlänt[ft ilie [ilenile in Polen Alles beginnt im Sommer mit Protesten gegen Preiserhöhungen beim Fleisch. Bald schon protestieren die Menschen im ganzen Land. Die Arbeiter erhalteh Unterstützung von regimekritischen lntellektuellen. Zentrum des Protests ist die Lenin-Werft in Danzig. Junger Anführer ist Lech Walqsa, er wird der erste Vorsitzende der im September gegründeten Solidarno5d. Der Regierung bleibt zunächst nichts anderes, als die neue Gewerkschaftsbewegung zu akzeptieren. Etwa zehn Millionen Polen treten ihr bei. Unter dem Druck aus Moskau verhängt die Regierung in Warschau schließlich im Dezember 1981 das Kriegsrechl und verbietet die Gewerkschaftsbewegung. Doch auch im Verborgenen und unterstützt von der katholischen Kirche wirken die antikommunistischen Kräfte weiter. ln den späfen 80er Jahren sind die Vertreter der Bewegung an der Demokratisierung Polens eng beteiligt. Bald stellen sie nicht nur den Ministerpräsidenten. Lech Walqsa wird 1990 Staatspräsident. Bereits 1983 hat er für seinen Einsatz den Friedensnobelpreis erhalten.
den Westen. Damit löst slch der Ostblock in den
folgenden Monaten ohne Blutvergießen endgültig auf. Und die
Sowjetunion akzeptiert ihren Machtverlust
russische SS-20
Wo einst der anti ka pita I istische
Schutzwall verliel haben Bürger friedlich Besitz ergriffen
Solidarno6i-Mitglieder feiern ihren Chef Lech Walqsa
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Rom und Rotterdam. Nur der spanische Regierungschef Felipe Gonzälez sympathisierte offen mit I(ohls
ist ein denkwürdiges Treffen im Pariser Elys6e-Palast, neun Tage nach dem Fall der Berliner Mauer. Präsident Franqois Mitterrand empfängt die zwölf Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft zu einem Abendessen im Pompadour-Saal - einem Prunksalon, der einst I(aiser Napoleon I. als Schlafgemach gedient hatte und Es
Einheitsdrang. Die Bundesrepublik selbst befin-
det sich damals ganz im Bann der rasanten Umwälzungen des Ostblocks. Bulgariens I(P-Chef Schiwkow ist im November völlig überraschend zurückgetreten, in Rumänien werden der Diktator
dessen Deckenfries erotische Motive aus der griechischen Mythologie
Ceauqescu und seine Frau
anWeih-
nachten 1989 hingerichtet. Niemand weiß, ob sich in der DDR und in Osteuropa die Demokratie durchsetzen
zeigt. Die Stimmung ist heiter und harmonisch. Lange spricht niemand das große Problem an, das die Menschen in aller Welt bewegt: Wird es
oder ob sich die kommunistische Diktatur letzten Endes doch an der Macht halten würde. Unklar ist vor allem, wie es in Moskau weitergeht. Ob Michail Gorbatschow und seine
nun, da der Eiserne Vorhang plötz-
Iich nicht mehr existiert, eine Wiedervereinigung Deutschlands und damit eine politische Neuordnung auf dem europäischen Kontinent
Perestroika Bestand haben.
geben?
Der Unabhängigkeitswille der baltischen Staaten kommt dem
Erst beim Dessert kommt das heikle Thema auf den Tisch. Als
I(P-Generalsekretär damals ebenso ungelegen wie die bevorstehende
Bundeskanzler Helmut I(ohl ein Nato-Dokument aus dem )ahr r97o zitiert, das die deutsche Wiedervereinigung befürwortet, unterbricht ihn schroff die britische Premierministerin Margaret Thatcher mit den Worten, damals habe ,,doch nie-
Nato-Mitgliedschaft von ganz Deutschland - jederzeit kann deshalb die Stimmung in der Sowjetunion kippen, und damit der Reformator Gorbatschow. Europas politische Geografie ist in einen neuen, gefährlichen Schwebe-
mand geglaubt,dass sie jemals stattfi nden würde'i I(ohl erwidert:,,Aber die Deklaration ist noch immer gül-
zustand geraten. ,,Alle Fixpunkte Europas brechen zusammen, die Frontlinie der Nato, der Warschauer Pakt und Gorbatschows Reformhoffnungen'i unkt Thatcher während des Straßburger Gipfels am
tig, die haben wir damals gemeinsam beschlossen. Sie können das deutscheVolk nicht daran hindern, seinem Schicksal zu folgen." Da bekommt Frau Thatcher einen Wutausbruch.,,Seht ihr, seht ihr'iruft sie und stampft mit dem Fuß,,,das ist es, was er will." IGum jemand beim Pariser EGSondergipfel am 18. November 1989
mochte I(ohl auf die Schulter klopfen und sich spontan für Deutschlands Einheit aussprechen. Einhellig war zwar die Freude über das sich abzeichnende Ende des IGlten Ituiegs, eindeutig aber auch die Furcht vor einem wiedervereinigten Großdeutschland. Ein I(oloss mit 8o Millionen Deutschen, der die übri-
gen Völker Europas zu Zwergen macht - diese Vorstellung schreckte nahezujeden Politiker zwischen
Iü-ilanaUer Der Franzose Jacques Delors ist der bis heute wohl
erfolgreichste Chef der EU-Kommission in Brüssel gewesen. Von 1985 bis 1995 im
Amt, hal er wie kein anderer die Vereinigung des Kontinents vorangetrieben
mit dem Ziel, Mitterrand gegen eine mögliche deutsche Wiedervereinigung einzuschwören.8. Dezember
Ohne Rücksicht auf Verluste versucht die Londoner Regierung damals, ihre Linie durchzusetzen. Der britische Handelsminister Sir Nicholas Ridley zieht im;uli 1990 sogar Parallelen zwischen Hitler und Helmut I(ohl, der mit der Macht der Bundesbank den I(ontinent zu beherrschen drohe: ,,Das ist alles eine deutsche Gaunerei,um ganz Europa zu übernehmen. Diese im Eiltempo
durchgeführte Machtübernahme, während derer sich die Franzosen wie Pudel gegenüber den Deutschen benehmen, ist absolut unerträglich."
Die haltlosenAußerungen mar-
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1989 2oo4
kieren eine I(ehrtwende, Ridley
kein anderes Land Westeuropas in
muss zurücktreten. Englands
den |ahren davor den europäischen
Außenpolitik aber ist in eine Sackgasse geraten. Im selben fahr verliert MargaretThatcher ihrAmt - wenngleich aus innenpolitischen Gründen. In der Folge nimmt der britische Europakurs flexiblere Züge an. Es ist Frankreich, das in dieser Zeit die Tür zur deutschen und später auch zur europäischen Wiederver-
einigung weit aufstoßen soll. In den
{ahren davor haben I(ohl und Mitterrand immer mehr zueinandergefunden, gemeinsam die deutschfranzösische Freundschaft vertieft.
fetzt setzt das eingespielte Paar alles daran, eine neue europäische Architektur zu entwerfen.
tels ist zujener Zeit, in der zwischen Städten wie Lyon und Leipzig nicht
Einigungsprozess vorangetrieben
einmal Telefongespräche möglich
hat, in den sich nun der,,deutsche Riese" einbetten lassen soll.
waren, durchaus eine kühne Vision. Heute, ein Vierteljahrhundert spä-
Federführend dabei ist Mitterrands Landsmann Jacques Delors, ein glühender Europäer, bereits seit 1985 I(ommissionspräsident in Brüssel. In seiner Amtszeit wird Europa erheblich an Statur gewin-
ter, ist der Euro die gemeinsame Währung für:+o Millionen Menschen in t9 EU-Ländern. ,,Die wirtschaftliche Integration
wird die politische Vereinigung vorantreiben'i so die Devise des I(ommissionschefs. Mit Diplomatie und
nen.Aus der EGwird die EU, die Zahl der Mitgliedsländer steigtvon tz auf
Nachdruck versteht er es, die nationalen Notenbanken und Regierungen in seine Marschroute einzubinden. Besonders zu Frankfurt und Bonn unterhält er beste I(ontakte. ,,Wir können die Deutschen nicht an Bord nehmen und sie immer an ihre Schuld aus längstvergangenen Tagen erinnern'ihat Delors einmal gesagt. ,,Es ist ein großes Volk. Und
rS, die Währungsunion entsteht, und der Binnenmarkt beginnt zu florieren. Die Union, so sagt Delors einmal, habe sich in dieser Periode von ,,einer Tochter des Kalten Iftiegs"
zu einem ,,Motor der politischen Stabilisierung" gewandelt.
rankreichs Staatspräsident offenbart dabei freilich zunächst viel Wankelmut. Noch
wenige Wochen vor dem Mauerfall hat er gegenüber seinem Chefberater facques
Attali erklärt: ,Wer von der deutschen Wiedervereinigung spricht, versteht nichts von der Sache. Die Sowjetunion wird sie niemals akzeptieren.Und die DDR,das ist Preußen, die wollen sicher nicht unter die Fuchtel Bayerns geraten." Nach dem Pariser Gipfel beginnt
Der Sozialist Delors war einst im
Führungsgremium der Banque de France und Mitterrands Finanzminister, bevor er in Brüssel I(arriere macht.lm Gegensatz zu seinenblassen Vorgängern, dem Briten Roy |enkins und dem Luxemburger Gaston Thorn, bekommt der agile Franzose das komplizierte Brüsseler Räderwerk schnell in den Griff. Um gegen die damals grassierende,,Eurosklerose"vorzugehen, müssen Vordenker-Zellen aller Sparten
Mitterrand umzudenken, indes
aufwendige Zukunftsmodelle erstellen. Unter anderem entsteht so
noch immer voller Argwohn. Als es zu Massenkundgebungen in zahl-
die legendäre Studie ,,Kosten eines Nicht-Europa'i deren Resultate die
reichen Städten der DDR kommt, sagt er zu Attali: ,,Hinter alldem steckt Kohl. Mir sagt er, er tue nichts, und hinter meinem Rücken gibt er
Kassenführer in Europas Hauptstädten aufhorchen lässt. Das Sozialprodukt der Unionsländer, heißt es da, werde um fünf Prozent stei-
Gas.
Und er glaubt, ich bekäme das
alles nicht mit."Als I(ohl und Gorbatschow wenig später vereinbaren, dass Deutschland frei entscheiden kann, welcher Allianz es angehören will, sagt Mitterrand: ,,Na bittel Gorbatschow, der uns so bekniet hat, Kohl nichts zuzugestehen, tritt alles an ihn ab, zweifellos fürein paar zusätzliche Mark. Damit können wir
Deutschland besitzt die kräftigste Wirtschaft in Europa. Ich versuche sie davon zu überzeugen, dass ihr Platz in Europa ist." Wie kein anderer französischer Politiker ist Delors zur Stelle, als es um die deutsche Einheit geht. Drei Tage nach demMauerfall erklärtder
gen, und die Verbraucherpreise
wür-
Duzfreund von Helmut I(ohl im deutschen Fernsehen: ,,Die EG ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte Europas.Aufihr ruhen die
Icla$runI
Blicke der Einwohner der DDR,
Hinter clen weißen Schützenpanzern der UN
Polens und Ungarns.Wir dürfen sie
suchen Zivilisten Schutz. Von hier aus können sie sehen, wie Sarajevo durch die
nicht enttäuschen, wir müssen ihnenunsere Hilfe undunsere Zusammenarbeit anbieten." Den Worten folgen Taten. Wäh-
rend Franqois Mitterrand noch zögert und große Pariser Tageszeitungen wie ,,Le Monde" oder ,,Lib6-
den um sechs Prozent sinken, wenn die nationalen Handelshemmnisse
Truppen der bosnischen Serben
ration" sich für den zumindest
fallen und Brüssel eine gezielte Wirtschaftsförderung betreiben
von den Hügeln herab beschossen wird. Zwischen 1992 und 1996 ist die Stadt fast vier Jahre ein-
übergangsweisen Erhalt von zwei deutschen Staaten aussprechen, bereiten Brüsseler Stäbe bereits die Zeit nach der deutschen Wiedervereini-
geschlossen
ten Urlaubsverbot und formulieren unter Hochdruck Gesetzestexte um,
darf.Bald läuft das,,Projekt Binnenmarkt" auf vollen Touren, ein Langzeitprojekt, das die europäische Politik bis ins zr. Jahrhundert be-
schäftigenwird.
gung vor. Leitende EG-Beamte
erhal-
uns der Wiedervereinigung nicht
Delors nächster Coup ist ein Stra-
damit die neuen Bundesländer auf
o
mehr lange widersetzen." Bemerkenswert schnell weiß sich
tegiepapier von 38 Seiten, das heute als Blaupause des Euro gilt. DerTitel: ,,Bericht über die Wirtschaftsund Währungsunion". Der Gedanke eines europaweiten Zahlungsmit-
dem Verwaltungsweg ab dem 3. Oktober europäisiert werden können. Die Integration der DDR ist im
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Eiltempo gelungen. Doch wie
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Mitterrand dann auf die,,neue deutsche Realität" einzustellen. Nicht zuletzt deshalb, weil Frankreich wie 76 süern rHEMA
schwierig sich die Dinge weiterent-
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die [alsmit[lie-
üer im lesc[aulic[en Jrlaastricltl Ia[Br,
[ahnr siclr llffi lfilowickeln, muss Delors erkennen, als er im funi r99r in der Chemiestadt
Bitterfeld einen Robert-SchumanPlatz einweiht und erstmals in seinem Leben eine Rede auf Deutsch hält. ,,Sie sollen erfahren'i ruft der Mann aus Brüssel,,,was praktische Solidarität in unserer, in Ihrer europäischen Gemeinschaft bedeutet." Gerade mal zwei Dutzend Zuhörer
Ratsversammlungen immer wieder aus. Selbst die zuvor gute Zusam-
MEIET UTEIIET 8i!IB
menarbeit zwischen Delors und Mitterrand ist längst, so der deut-
IraUli[ie
HistorikerWilfried Loth,,,einer gereizten Spannung" gewichen. In dieser Situation kommt es am 9. Dezember 1991 zum Gipfel im niederländischen Maastricht. Bei Langusten und Fasanenbrust verhandeln die zwölf ,,Chefs"bis spät in die Nacht, ohne eine wirklich einheitliche Linie für den Ausbau der Gemeinschaft zu finden, die fortan Union (EU) heißen soll. Etwas ,,mehr Europa" kommt am Ende nur des-
lFiru in lurom
sche
stehen herum. Es ist die Zeit der großen Gefühle.
,,Wir sind vom selben I(ontinent'i sagt Mitterrand in Bukarest, ,,wir berufen uns auf dieselbe Zivilisation." Der Prager Intellektuelle und tsche-
Wann der Euro tatsächlich einge-
starke Fraktion der D-Mark-Befürworter gegen sich aufbringen möchte. Die Italiener schlagen ,,bis spätestens am 1. Januar t-999" vor - also acht fahre später. Das akzeptieren alle - und die Briten erhalten eine Ausstiegsklausel.
rückkehren, solange unsere Städte dreckig sind, unsere Telefone nicht
funktionieren, unsere politischen Parteien reaktionär und engstirnig
als ein Jahrzehnt sollte vergehen,
bevor Osteuropa tatsächlich in Europaankommt. Innerhalb der EG folgen quälende Diskussionen, ob vor einer Osterweiterung nicht eine,,Vertiefung" der bestehenden Union erforderlich sei. ErsteVerhandlungen mit Delegationen aus Warschau oder Budapest verirren sich in Streitereien über Fleischimportquoten und die Qualität getrockneter Pilze. Auch in Brüssel lässt der Elan nach. Delors will seine gewichtige Position, die er in den Wirren der Wendejahre erlangt hat, weiter ausbauen
und fordert zugleich ein stärkeres Europa mit mehr I(ompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik. Doch die diversen Staats- und Regierungschefs bremsen ihn bei den
Polr 5! MOcn( lc Roi dc. Bclgc! ver Zrjnr Ule$ril dc (o,,Lns d.r acLsrn
führt werden soll, wird heiß debattiert. Helmut I(ohl will kein festes Datum, weil er zu Hause nicht die
Historiker ferzy |edlicki vor allem auf die großen Unterschiede zwischen West und Ost hin: ,,Wir kehren nach Europa zurück, weil wir erwarten, dass Polen ein Mitglied des Europarats wird. Und doch können wir nicht nach Europa zu-
ein Ziel, ein Traum." Noch weit mehr
Bin netlgr
halb heraus, weil die Währungsunion unumkehrbar beschlossen wird.
choslowakische Staatspräsident Väclav Havel erhält in Aachen den Karlspreis und lobt die übernationalen Strukturen,,,die sich im westeuropäischen Bereich bewährt habeili Dagegen weist der Warschauer
und unsere Mentalitäten sowjetisiert sind. Europa ist ein Maßstab,
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llerwei0srunl 1992 rti.l. Jun-',
men die Dänen so wie hier in
ußenpolitisch bleibt die neue Union schwach. Der ,,Vertrag von Maastricht"
enthält lediglich
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t-.1"-, LA' 'ldi
-^*Tä;*T', ,?/.,*-
den
wachsweichen Passus, dass ein gemeinsames Vorgehen ,,zu gegebener Zeit zu einer ge-
Kopenhagen über den MaastrichtVertrag ab. Eine knappe Mehrheit von 50,7 Prozent ist gegen eine immer engere Union und gegen den Euro. Kurz darauf
meinsamen Verteidigung führen könnte". Allen voran die Briten, für die inzwischen Premier fohn Major am Tisch sitzt, haben sich strikt gegen jede Form militärischer Einsätze unter dem EU-Dach gewandt. Doch schon als die Ratsmitglieder
haben die Franzosen nur mit
hat sich in knapp looo Iülometer Entfernung eine Tragödie angebahnt,wie man sie in Europa nicht
knapper Mehrheil zugestimmt. Der Schock ist groß
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im beschaulichen Maastricht tagen,
mehr erwartet hatte. In Jugoslawien
Jahrhundertvedrag Am
7.
Februar
1992 unterzeichnen die Außen- und Finanzminister der europäischen Staaten den Vertrag von Maastricht. Für die Bundesrepublik Deutschland setzen Hans-Dietrich Genscher und Theo Waigel ihre Namen unter das Dokument. Der Vertrag ist die Grundlage für die schrittweise Einführung einer Gemeinschaftswährung. Und er verpflichtet die Staaten, eine immer engere
Gemeinschaft anzustreben
hat ein Iftieg begonnen, in dem mehr als roo ooo Menschen sterben
werden, in IGmpfen von Haus zu Haus, in Granateinschlägen und Bombenabwürfen, in den schlimmsten Massakern seit dem Zweiten
Weltkrieg. Die Europäer zwi-
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EUROPA t9tj9 2(x)1
Auch in Frankreich protestieren Bürger 1992 gegen den Vertrag von Maastricht. Sie fürchten den Verlust von ldentität in einem europäischen Su perstaat
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talog erarbeiten, um der EU zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und Vollbe-
schen Berlin und Barcelona schauen zu, weitgehend unbeteiligt. Die EU-I(ommission hat damals
schäftigung zu verhelfen.Als er 1995
abtritt und im Zuge der,,Norderweiterung" Finnland, Schweden und Österreich zur EU gestoßen sind, erklärt er im Straßburger Parlament: ,,Nur Mut, der Frühling Europas
kein Mandat, einzugreifen. Dafür betreibt der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher die völkerrechtliche Anerkennung Sloweniens und Iftoatiens.In der Euphorie derWiedervereinigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker? Oder, wie andere vermuten, als machtpolitisches I(alkül, das die katholischen I(roaten gegenüber den orthodoxen Serben bevorzugt? Wäre das auch geschehen, wenn sich die Flamen von Belgien oder die I(ata-
liegt noch vor uns." och bereits seine Nachfolge
gestaltet sich äußerst schwierig. Die inzwischen 15 EU-Oberen wollen keinen starken Mann mehr in
Brüssel,,,keinen zweiten Delors'iwie fohn Major erklärt. Die Wahl fällt schließlich auf den Luxemburger Jacques Santer, der dann keine neuen Akzente setzt und am Ende wegen einer I(orruptionsaffäre der französischen I(ommissarin
Ianen von Spanien losgesagt hätten?
Frankreichs Außenminister bedauert die Schaffung neuer Grenzen aufdem Balkan,wenn auch erst
nachträglich: ,,Wir haben die Ster-
beurkunde fugoslawiens unterschrieben, mit mehr Widerstand unsererseits hätte sich die ganze Situation vielleicht anders entwickelt." Die Belagerung von Sarajevo dauert r4z5 Tage. Eine unendliche Geschichte, die ein gewaltiges Medienecho findet. Relativ wenig Aufsehen dagegen erregt das Nein der Dänen zum,,Ver-
trag von Maastricht" im |uni 1992.
Selbst in Frankreich stimmt nur eine hauchdünne Mehrheit beim Referendum im September dafür.In Deutschlandgibt es eine I(ampagne »gegen das Ende der Mark'i Ein ,,Manifest" von 6o Wirtschaftsexperten warnt vor einer ,,überhasteten Einführung" des Euro, und der CSU-Mann Peter Gauweiler schürt lautstark die Angste vor dem,,Espe-
ranto-Geld". Nach einer zweiten Volksabstimmung treten schließlich auch die Dänen den Vereinbarungen von Maastricht bei.Im 1. Novemberrgg3 trittderVertragin IGaft.
Andere Projekte kommen nun ebenfalls voran. Die Verhandlungen
mit einer
Reihe neuer Beitritts-
kandidaten nehmen Fahrt auf. Das längst auf den Weg gebrachte Abkommen von Schengen, das die
Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb der EU regelt, tritt tatsächlich in I(raft. Und facques Delors Iässt einen neuen Maßnahmenka-
Edith Cresson zurücktreten muss.
politium das sogenannte
Die Verhandlungen um eine
sche Union,
Maastricht II, verkommen zum Streit ums Geld: Frankreichs neuer
H [[eluerIandlcr Oer deutsche
EU-Kommissar Günter Verheugen ist für die
sozialistischer Premier Lionel Jospin beklagt zwar eben das, sichert seinem Land aber schnell ein paar I(redite, aufdie er es von vornherein abgesehen hat.
Bei den Europawahlen bekom-
men die Politiker die Quittung dafür. Die Beteiligung der Bürger ist erschreckend gering. In vielen Ländern Westeuropas sind rechte Populisten erfolgreicher denn je.
In'
Erweiterung der EU zuständig. Unter seiner Führung berät die Gemeinschaft mit den Ländern Ost- und Südost-
österreich erzielt |örg Haider mit seiner Freiheitlichen Partei sensationelle Wahlerfolge. In Frankreich übertrumpft der rechtsextreme fean-Marie Le Pen mit seinem Front National vorallem in den Industriestädten, wo hohe Arbeitslosigkeit
europas die
herrscht, hier und da die Sozialisten.
Bedingungen für ihren Beitritt
In den Niederlanden erringt
der Politiker Pim Fortuyn, der später ermordet wird, bei den I(ommunalwahlen in Rotterdamaus dem Stand 35 Prozent der Stimmen - mit einer IGmpagne gegen die multikulturelle Gesellschaft.
Trotzdem rückt der I(ontinent noch vor der Jahrtausendwende enger zusammen. Justiz, Transportwe-
sen oder Telekommunikation rHEMA
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X EURoPA 1989
2oo4
sind verflochtener dennje. Die Eindes Euro rückt näher, und es ist absehbar, dass die EU mit ihrer Osterweiterung bald aus mehr als
zwischen der französischen und der deutschen Delegation, wieder einmal. Frankreichs Präsident ]acques
zwei Dutzend Staaten bestehen wird. Eine halbe Milliarde Men-
ten wie Polen und Litauen weniger Stimmen im Ministerrat gewähren als alten Mitgliedern wie Spanien und Finnland, obwohl die jeweiligen Bevölkerungszahlen praktisch identisch sind. Dagegen verwehrt sich Schröder mit Erfolg. So verschafft er
führung
Chirac will neuen Beitrittskandida-
schen werden dann innerhalb ihrer Grenzen leben. Es ist der Deutsche Joschka Fischer, der in dieser Situation ein gemeinsames Europa voranzutreiben
sich alsVermittler bei den kleineren Ländern einigen Respekt. Im fanuar zooz führen zwölf EUStaaten den Euro als Währung ein. Ob Lire oder Franc, Pesete, Schilling, Gulden oder D-Mark - sie alle gehören nun der Vergangenheit an.
versucht. Nach den Bundestagswahlen im Herbst 1998 wird er zum
Außenminister einer rot-grünen
in
I(oalition
Berlin. Schon bei Auftritt vor dem
seinem ersten
Europäischen Parlament spricht der
Grüne über eine ,,europäische Verfassung". Wenig später, in einer viel beachteten Rede an der Humboldt-
Universität, fordert er gar
,,den
Übergang vom Staatenverbund der
Union hin zur vollen Parlamenta-
risierung
in einer
Europäischen
Föderation'i mithin von ,,nichts Geringerem als einem europäischen
Parlament und einer ebensolchen Regierung'i
In der Tagespolitik geht
Auch wenn wichtige Länder wie
Iremser Beim Gipfel in Nizza im Dezember 2000 erweist sich Frankreichs
Staatspräsident Jacques Chirac als größles Hin-
dernis. Er willden
Beitrittskandies
wäh-
renddessen um ganz andere Dinge. Fischers Vorgesetzter, Bundeskanzler Gerhard Schröder, hat den Euro
im Wahlkampf in der ,,Bild",,eine kränkelnde Frühgeburt" genannt und muss sich als I(anzler auf neue Realitäten einstellen. In Frankfurt operiert längst die Europäische Zen-
tralbank. Der Euro ist zwar noch nicht eingeführt, fungiert aber be-
daten weniger Stimmen im Ministerrat zubilligen, als sie nach
ihrer Bevölkerungszahl haben müssten. Und
Deutschland soll auf keinen Fall mehr Stimmen erhalten als sein eigenes Land
Großbritannien und Dänemark der Eurozone fernbleiben, scheint der I(ontinent wieder ein Stück zusammenzuwachsen.
och stößt das Gefühl der
Gemeinsamkeit schnell wieder an seine Grenzen. Im Herbst des |ahres überwerfen sich Gerhard Schröder und |acques Chirac mit dem britischen PremierTony Blair. Hintergrund ist
das Vorgehen gegen
den irakischen Diktator Saddam Hussein. Blair istwie Amerikas Präsident George W. Bush offensichtlich
davon überzeugt, Saddam besitze
Massenvernichtungswaffen. So führt er sein Land an der Seite der USA in einen letzten Endes desas-
reits als Buchgeld.
trösen I(rieg. Während Deutsche
Statt weiter über die neue Währung herzuziehen, erklärt der I(anz-
und Franzosen aus ihrerAblehnung des Itieges keinen Hehl machen, schließen sich die Regierungschefs anderer europäischer Länder - darunter Spanien, Polenund Ungarn -
ler nun, eine schwache Gemeinschaftswährung stärke die Chancen
der deutschen Exportwirtschaft. Und es ist Sache seinesAußenministers, den Auftritt des IGnzlers beim
der I(riegskoalition an.
von Nizza vorzubereiten. Hier sol-
Der I(ontinent ist tief gespalten. Zwischen einem ,,alten'und einem ,,neuen" Europa, wie US-Verteidi-
len die Weichen gestellt werden, die
gungsminister Donald Rumsfeld
EU nicht bloß um osteuropäische Staaten zu erweitern, sondern so zu organisieren, dass sie auch in Zukunft handlungsfähig bleiben wird. In der Nacht zum 11. Dezember 2ooo kommt es an der C6te dAzur zu einem offenen Schlagabtausch
aus der Ferne
bevorstehenden Mammutgipfel
höhnt.Vergeblich die
Beschwörungen des damaligen EUI(ommissionspräsidenten Romano
Prodi, die Regierungschefs Europas sollten zu allen Aspekten der Außenbeziehungen,,mit einer Stimme"sprechen und sich,,an ihre
Verpflichtung halten, Europa zu einer Supermacht zu machen'l Im fahr zoo4 finden zehn Staaten vor allem aus Osteuropa Aufnahme in die EU. Unermüdlich hat der deutsche Erweiterungskommissar GünterVerheugen mit den Beitrittskandidaten verhandelt. Über Milchquoten, Binnenmarktregeln oder die Privatisierung maroder Staatsbetriebe. Manchmal stehen alle Vereinbarungen wieder auf der I(ippe, in Polen etwa,weil die Regierung in Warschau sich nicht zu einem I(om-
promiss beim Landerwerb durch Ausländer durchringen kann. Also setzt sich der Brüsseler I(ommissar schnell ins Flugzeug und droht, er werde eine Pressekonferenz einberufen, die Verschiebung des Beitritts um zehnfahre ankündigen undvorrechnen, aufwie viele Milliarden an Subventionen das Land damit verzichte.,,Damitwar die Sache klar'l so Verheugen. Am r. Mai 2oo4 feiern sich die neuen und alten Staatschefs der EU auf Schloss Phoenix nahe Dublin. I(inder aus z5 Nationen, jeweils in Landestracht, singen Ludwig van Beethovens ,,Ode an die Freude" - die Europa-Hymne. Aus der EU-r5 ist die EU-25 geworden. EinXXL-Euronun neben den osteuropäischen Ländern Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien sowieUngarn auch Malta und Zypern gehören.Viele, die an diesem Nachmittag an der Zeremonie in Irland teilnehmen, haben Träpa, zu dem
nen in denAugen. Der Altmeister des irischen Dudelsacks, Liam O'Flynn, spielt ein
von ihm komponiertes Stück mit dem Titel ,,Die Brücke'l der Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney trägt ein für diesen Anlass geschriebenes Gedicht vor. Unter den vielen Männer in ihren grauen Anzügen
zwei Frauen: Irlands Präsidentin Mary McAleese und Lettlands Staatschefi n Vaira Vike-Freiberga.
Die Feier ist eine Sternstunde in der Geschichte Europas. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands
scheint die Wiedervereinigung Europas gelungen. X
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EU am 1. Mai 2004
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Eine neue Weltordnung Das Ende des Ost-West-Konflikts und der Zerfall der Sowjetunion eröffnen auch der Europäischen Union neue Chancen. Bald schon schließt die EU Beitrittsverhandlungen mit zehn Staaten ab und nimmt sie in die Gemeinschaft auf
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Wellraumleleskop Hubble
Karlspreis für
Gipfe! von Maastrichl lm Dezember beschließen die Staatschefs, aus der Europäischen Gemeinschaft eine Europäische Union zu machen
Väclav Havel Einst politischer
Die Europäische
r$g[ Wiedervereinigt Knapp ein Jahr nach Öffnung der Mauer feiern Menschen vor
dem Brandenburger Tor am 3. Oktober das offizielle Ende der Teilung
Raumfahrtbehörde (Esa) und die amerikanische Nasa starten im April ein gemeinsames Projekt
Gefangener, nun
1$$t Schlacht um Vukovar Mit dem Angriff der Serben auf die kroatische Stadt eskaliert der Konflikt auf dem
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Balkan zum
großen Krieg
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Staatspräsident, erhält der Dichter die europäische Auszeichnung
Außenminister Genscher und Kanzler Kohl vertreten Deutschland
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EU-Gipfel Nizza Zum ersten M; sind auch die Beitrittska nd idate n dabei. Es kommt zum Streit über die Stimmrechte der einzelnen
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u0ll srelrenica Das schlimmsle Kriegsverbrechen seit Ende des Zweiten Weltkriegs findet im Juli statt. Unter den Augen niederländischer Blauhelm-Soldaten dringen bosnischserbische Truppen, Paramilitärs und Polizeiverbände in die Enklave ein. Dort haben Tausende Muslime Schulz gefunden vor den Angriffen und ethnischen Säuberungen der Serben. ln der,Direklive 7" hat KaradZii seine Truppen aufgefordert, gegen die Zone vorzugehen, um den dort unter erbärmlichen Umständen lebenden Menschen jede Hoffnung zu nehmen, sie könnten entkommen. Zunächsf werden Frauen und Kinder in Bussen fortgeschafft. Dann sondern Soldaten Männer aus und führen sie an verschiedene Orte. Dort ermorden sie einen um den anderen, mal einzeln, mal in Massenhinrichtungen. Etwa 8000 Bosnier verlieren ihr Leben. Für die Kriegsverbrechen werden Radovan KaradZii und Ratko Mladii später vor dem lnternationalen Gerichtshof in Den Haag angeklagt. Es gelingt ihnen, sich jahrelang im ehemaligen Jugoslawien zu verbergen, bevor sie schließlich überführt werden können.
eine,,Koalition der Willigen" den lrak und stürzt Saddam Hussein. Europa isf
darüber tief gespahen
Blaue Perücken
mit gelben Sternen - Bürger feiern die Erweiterung der EU auf 25 Staaten
2[[4 Größte EU-
Erweiterung Nun sind es 25 Staaten insgesamt, darunter Polen, Ungarn, Tschechien,
die baltischen Länder, Zypern
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Um Mitternacht erbebten die Plätze und Straßen in Athen. Die Griechen feiern. Mit einem Feuerwerk,
mere EU-Mitglieder zwar in eine
mit Autokorsos. Sie liegen sich in den Armen. In der 57. Minute hat Angelos Charisteas getroffen, per I(opf. In Lissabon hat er ein Tor er-
dern schürt, im Gegenteil, tiefes Misstrauen. In den Hauptstädten und im EU-Parlament erstarken die Gegner Europas, Nationalisten und
zielt, das entscheidende r : o.Im EM-
Rechtsextreme.
Finale, Gegen Gastgeber Portugal. Griechenland, der krasse Außensei-
Nichts jedoch wird ein grelleres Lichtaufden Zustand Europas werfen als die Flüchtlingskrise. Nun, da es mehr denn je darum geht, gemeinsam zu handeln, menschlich
schweißt sie nicht zusammen, son-
ter, ist Europameister - und feiert sich und einen Deutschen: Otto Rehagel, den Trainer. Es ist der 4. Iuli 2oo4. Im nächs-
und entschlossen, zeigt sich Europa zerstritten und gelähmt. Die historische Phase des unbedingten Glaubens an Europa gehtin derÄra Merkel zu Ende. Dabei schien es 2oo4 so, als hätten die Idealisten Europas ihr Ziel erreicht. In Brüssel einigen sich die
ten fahrzehnt wird es viele Bilder geben aus Athen. Der SyntagmaPlatz wird dabei zu einer der wich-
tigsten Bühnen des I(ontinents, zur Bühne des Protests, zur Bühne einer
Tragödie. Denn die Schulden Grie-
chenlands werden nicht nur das Land an den Abgrund treiben. Sie werden auch den Euro gefährden und den I(ontinent spalten. Einen
Staats- und Regierungschefs im funi auf eine europäische Verfassung. Die Verhandlungen sind schwierig, wie immer. Und die
Deutschen feiert dann niemand mehr. Die Griechen werden zwar Plakate einer deutschen I(anzlerin
Polen,
wollen mehr Stimmen. Mit ihrer rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit PiS sind die Zwil-
vielen geschätzt, von vielen verachtet. Von keinem geliebt.
Pragmatikerin Merkel
wird
das
europäischeWerk des bisweilen ge-
fühlsduseligen Visionärs Helmut I(ohl fortführen. Sie wird das sogar
-
[remdcnluru[t So wie h'rer bei
einer Kundgebung von Pegida in Leipzig protestieren nicht allein in Deutschland immer mehr gegen Asylsuchende und den Bau von Flüchtlingsheimen
linge Lech und |aroslaw I(aczyflski zwar noch nicht an der Macht.Aber sie sind mächtig in der opposition. Mit martialischen Sprüchen setzen sie die Regierung unter Druck und wettern gegen die Deutschen. Europa ist dann gut, so ihr Credo, wenn es Polen nutzt. Nur dann. Zur Einigung kommt es trotzdem. Die Verfassung ist dick wie ein Telefonbuch. Viele Hundert Seiten. Es
gibt eine Grundrechte-Charta,
eine Hymne
- Beethovens,,Ode
an
die Freude'i eine offizielle Flagge. Es gibt auch einen Leitspruch:,,In Vielfalt geeint'i In der Präambel heißt es, ,,dass die
Völker Europas, stolz auf
ihre nationale Identität und
Ge-
und den
schichte, entschlossen sind, die al-
I(ontinent dann doch kaum zusammenhalten können. Denn während Merkels I(anzlerschaft durchläuft Europa seine vielleicht schwersten I(risen nach dem
ten Gegensätze zu überwinden und
mit Leidenschaft tun
Zweiten Weltkrieg. Die europäische
Schuldenkrise wandelt sich zur Eurokrise. Sie zwingt reiche und är-
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offiziell erst seit ein paarWo-
chen dabei, geben sich sperrig. Sie
in die Höhe recken - nur haben sie ihr Gesicht mit einem Hitlerbärtchen versehen. Denn Deutschland wirdzum Hegemonin Europa: von
Als Griechenland Europameister wird, istAngela Merkel noch Oppositionsführerin im Bundestag, Chefi n der Unionsfraktion. Demnächst feiert sie ihren 5o. Geburtstag. Noch ist nicht absehbar, dass sie schon Ende zoo5 ins I(anzleramt einziehen wird. Noch ist unvorstellbar, dass die Frau aus Ostdeutschland im nächsten fahrzehnt die entscheidende Figur in Europa sein wird. Die kühle
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Haftungsgemeinschaft. Aber sie
immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten'i Vor allem aber erleichtert derVertrag das Entscheiden. Zehn neue Länder sind im Mai beigetreten. Der I(ub der Europäischen Union hat jetzt25 Mitglieder. Für die alten >
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Regeln sind das zu viele. Sie
besondere Taktik. Nur Lech fliegt
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in
die belgische Hauptstadt, )aroslaw bleibt in Warschau. Immer wieder telefonieren die beiden. Bei einer im Fernsehen übertragenen Pressekon-
nieren nicht mehr. Die Verfassung soll Europa wendiger machen.,,Das
war ein historischer Tagi lobt deshalb auch Gerhard Schröder, der
Zäsur für die EU an einem
ferenz verwirft faroslaw polternd ein Angebot der Deutschen. Aber Merkel hält dagegen: Wenn die Polen wirklich nicht mitmachen
an dem so etwas wie
wollen, dann muss es eben ohne sie
deutsche IGnzler. Angela Merkel, die Oppositionsführerin, sagt, die Ver-
fassung markiere eine,,historische
Zeitpunkt, dieWiedervereinigung Europas stattfindet." Die Freude ist verfrüht. Der vermeintlich epochale Vertrag scheitert.
gehen. Für einen Moment sieht Europa die Eiserne Lady, die Merkel auch sein kann.
sen bei einer Volksabstimmung
Um halb fünf am Morgen ist es dann vollbracht. Im Erdgeschoss
,,Noni ein paar Tage später die Niederländer ,,Nee". Der Schock über
des fustus-Lipsius-Gebäudes, des Ratsgebäudes, skizziert Merkel den
Ende Mai zoo5 sagen die Franzo-
diese Abfuhr, ausgerechnet von
$s![$lhille
Gründungsmitgliedern der Union, sitzt tief. So tief, dass Europa sich ernüchtert eine ,,Denkpause" verordnet. Nur unerschütterlich Europhile bleiben auf Kurs.,,Der Aufbau Europas endet nicht mit dem heu-
nm t. l4ai ZOO+ wird der Zaun am Grenzübergang von Bayerisch Eisenstein nach Tschechien zerschnitten. Das Land ist jetzt Mitglied der EU
tigen Tag'i sagt f ean-Claude funcket der luxemburgische Premier. Dass es mit der Integration auch nach der Denkpause weitergeht dafür muss zooT Angela Merkel sorgen. Seit mehr als einem fahr ist sie da I(anzlerin, und in der ersten fah-
reshälfte führen die Deutschen in Brüssel die Geschäfte. Mit allem Ge-
wicht des mächtigen Landes soll Merkel nun einen neuen Vertrag
neuen EU-Vertrag, den späteren Lissabonner Vertrag. Und ganz am
Ende dieser Nacht bekommt die deutsche Kanzlerin dafür auch noch Blumen. Merkel hat ihre erste Mission erfüllt. Europa, bereits totgesagt, atmet wieder. Am 15. September zoo8 bricht die US-Investmentbank Lehman Brothers zusammen - undreißtdas globale Finanzsystem mit sich. Die Schockwelle lässt auch Europa strau-
cheln. In Südeuropa, vor allem in Spanien platzen Immobilienblasen, Banken kollabieren, Staatsschulden explodieren. Es beginnt ein großes, ein gefährliches Spiel, eine ungeheure Wette. Denn große Spekulanten
aushandeln. Das ist nötiger denn j e, denn die EU ist mit Bulgarien und
setzen auf den Bankrott europäi-
Rumänien inzwischen auf 27 Mitglieder angewachsen. Merkel soll von der Verfassung retten, was zu
bar sind jene, die seit )ahren auf
scher Staaten. Besonders vent undPump leben und hohe Schulden haben.
Allen voran Griechenland.
retten ist - und bloß alles weglassen,
Finanzkrise Ein Mann trägt in der Londoner City Büromaterial aus einer Filiale von Lehman Brothers in der Canary Wharf. Die US-Bank ist pleitegegangen
was irgendwie an einen europäischen Staat erinnert. Die IGnzlerin bereitet den entscheidenden Gipfel akribisch vor. Besonders schwermachen es ihrdabei wieder die Kaczyfiskis. Lech ist jetzt Präsident, |aroslaw Minister-
präsident. Wieder geht es um
Stimmgewichte, wieder um Macht. Nach der ersten Beitrittsfreude wird klar, dass sich die Vorstellungen der Osteuropäer bisweilen deutlich von den Ideen der Gründungsmitglieder
unterscheiden.
Bei der Brüsseler Verhandlung verfolgen die Brüder Kaczyriski eine
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en Euro durften die Griechen einführen, weil sie ihre Zahlen geschönt hatten. Dann profitierten sie von niedrigen Zinsen, vom billigen Geld,und gaben es mit beiden Händen aus. Ende zoog hat Griechenland Schulden in Höhe von 13o Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist mehr als das Doppelte des EU-Richtwerts. Die anderen Euroländer müssen einspringen, weil sie über die gemeinsameWährung an Griechenland gekettet sind. fetztwird deutlich, was vor allem Helmut Ituhl und Frangois Mitter-
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rand einst versäumt haben: die gemeinsame Währung an eine europäische Wirtschaftsregierung zu knüpfen, die auch in die Haushalts-
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Währenddessen steigen die Zinfür Staatsanleihen immerweiter. Den Regierungen in Portugal, Spanien und Griechenland fällt es zunehmend schwerer, sich Geld zu borgen. Staatspleiten sind plötzlich
der zahlen
nicht mehr nur Theorie, sondern vielleicht eine Sache von Tagen oder gar Stunden.,,Ich bin sehr besorgt darüber, was derzeit in Europa geschieht'i sagt Barack Obama in Washington. Europamüsse die Spe-
verhandelt. Der grüne und weiße Spargel, zum Steinbutt serviert, und die feine belgische Schokolade zum Dessert können die Stimmung nicht heben. Irgendwann beschwert sich luxemburf ean-Claude f uncker, der
sen
politik der Eurozonenmitglieder eingreifen kann. Die Schuldenkrise
wird zur Iftise des Euro - und damit zur I(rise des I(ontinents. In den nächstenfahren geht es um die immer selben Fragen: Ist der I(ontinent so vereint, dass die Reichen, allen voran Deutschland, die Griechen j etzt rauspauken, obwohl
- und
zwar ohne Gegen-
leistung. Sarkozy sagt, nun schlage die,,Stunde der Wahrheit'i Es geht heiß her an diesem Abend im achten Stock des Ratsgebäudes. Zu zweit,zu dritt, in großer Runde wird
kulanten abschrecken und einen
gische Premiel dass die kleinen Län-
der EU-Vertrag genau das in seiner
Rettungsschirm spannen.,,Act
Nichtbeistands-I(lausel eigentlich ausdrücklich verbietet? Wird Euro-
boldly'i sagt der US-Präsident. Traut
der zumWarten verdammt seien. Um halb eins in derNachtverkün-
euch was!
det Sarkozy eine grundsätzliche,
pa zu einer Haftungsgemeinschaft?
In Brüssel ist in jenen Tagen ein Gipfel angesetzt, fiJ,r einen Freitag. Er mündet in ein Wochenende, das in die Geschichte Europas eingeht
Und was geschieht, wenn die Grie-
chen und die anderen Schuldner nicht rausgepaukt werden? Ist Europa dann am Ende? Und: Wäre das so
schlimm?
Angela Merkel hat auf all diese Fragen eine eindeutige Antwort: Der Euro muss gerettet werden.
Im April zoro gerät die Iftise für einen kurzen Moment inVergessenheit. Am ro. des Monats um 7.27 Uhr startet in Warschau eine Tupolew TU-r54 Richtung Smolensk inWestrussland. An Bord der dreistrahligen
Verkehrsmaschine sind der polnische Präsident Lech IGczyriski, seine Frau Maria, zahlreiche Sejm-Abgeordnete, hohe Offiziere und Geistliche, insgesamt 96 Menschen. Sie sind auf dem Weg zu einer Gedenkfeier für die Opfer des Massakers von I(atyn des ]ahres r94o. In einem Waldstück hatten russische Truppen auf Geheiß Stalins mehr als 4ooo polnische Soldaten ermordet, die meisten von ihnen Offiziere. AIle Mitglieder der Delegation, auch Lech I(aczyriski und seine Frau, kommen ums Leben, als die Tupolew um 10.41 Uhr im Landeanfl ug auf Smolensk abstürzt. Es ist ein Unglück, auf dem sich später ein nationaler Mythos aufuauen wird. Denn auch wenn russische wie polnische Untersuchungskommissionen keine Hinweise für einen Anschlag finden: Vor allem in der I(aczyriski-Partei PiS hält sich die Theorie hartnäckig, dass es sich bei dem Absturz um ein russisches Attentat gehandelt habe.
[ilermruos Oie neste der Tupolew TU 154, mit der Polens Staatspräsidenf Lech
Kaczyiski und seine Delegation am 10. April 2010 in der Nähe von Smolensk abgestürzt sind. Keiner hat das Unglück
als der erste Gipfel, aufdem der Euro
gerettet werden muss. Ob in Washington, in Moskau oder in Peking - von überall aus blicken sie besorgt
überlebt. Kaczynskis Zwillingsbruder glaubt gegen alle
aufdie Europäer und aufdie Frau im Zentrum: Angela Merkel. Der7. Mai beginnt für die IGnzlerin um zehn Uhr vormittags, als der Bundestag in Berlin ein erstes Hilfspaket für Griechenland beschließt: zz,4 Milliarden Euro. Im Laufe des Tages wird klar, wie ernst die Lage
Fakten an
auf den Finanzmärkten ist. Jean-
ein russisches
Claude Trichet, Chef der Europäi-
Attentat
schen Zentralbank, sieht einen Sturm aufziehen. Niemand will noch Staatsanleihen aus der Eurozone kaufen, höchstens deutsche. Auf den Devisenmärkten bricht der I(urs des Euro ein. Am Nachmittag meldet sich Obama bei Merkel. Die Europäer müssten jetzt sehr schnell
sehr allgemeine Einigung. Es gebe etzt eine,,Generalmobilmachung" gegen Spekulanten. Die Details solIen die Finanzminister am Sonntag aushandeln. Die Zeit drängt. Denn Montag früh um zwei Uhr beginnen die Börsen inAsien mit dem Handel. Das weiß auch Jean-Claude Tri-
j
chet, der Chef der Europäischen Zentralbank. Deshalb bricht der EZB-Rat an diesemWochenende ein Tabu. Die Notenbanker beschließen, dass die Bank auch Staatsanleihen
kaufen kann, um Länder in Not zu stützen. Es ist die ,,nukleare Option'i Europa traut sich etwas. ls sich die Finanzminister am Sonntag zur entschei-
denden Sitzung treffen, fehlt wolfgang Schäuble. I(urz nach der Landung in Brüssel hat der deutsche Finanzminister über Atemnot geklagt. Ein Arzt hat ihn in die Universitätsklinik Saint Luc eingewiesen.
eine ,,starke Antwort"geben, sagt er.
Schäuble scheint am Ende seiner
Ein Hilfsmechanismus ist nötig, ein riesiger Fonds, das ist allen klar. Aber wer soll den Fonds mit Geld füllen? Und nach welchem Prinzip? AIle für einen? Nicolas Sarkozy, der
I(räfte. Ausgerechnet jetzt. Als Ersatz schickt Merkel Innenminister
französische Präsident, möchte Eurobonds schaffen, europäische Anleihen. Damit würden die Schulden von allen getragen. Merkel will genau das verhindern. Helfen ja, auch mit I(rediten.Aber dann sollen die Sünder dochbitte ihre Haushalte in Ordnung bringen und sparen. Sonst müssten die Deutschen wie-
Thomas de Maiziäre.
Und tatsächlich gerade noch rechtzeitig zur Öffnung der Börse in Tokio kommt es in Brüssel zu einer Einigung: Die Europäer spannen
einen Rettungsschirm mit einem Volumen von 5oo Milliarden Euro, dazu kommen z5o Milliarden Euro vom Internationalen Währungsfonds (IWF).25o Milliarden. Das ist
eine Zahl, mit der sich Macht
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Peter Ludlow, britischer Histori-
nien'i sagt Cameron. ,,Ich möchte
ker und Chronist der EU-Gipfel,
auch einen besseren Deal für Europa." Darüber will er seine Landsleute abstimmen lassen. Die Rede ist
schreibt das Zustandekommen der Einigung vor allem Angela Merkel zu. Sarkozy habe viel Wind gemacht. Aber:,,Die beherrschende Fi-
gur in dieser Zeit war die deutsche I(anzlerin, Ihre Fähigkeit, Richtung und Geschwindigkeit der Entscheidungen in der EU zu kontrollieren, war bemerkenswert." Ludlow macht dabei auch eine interessante Machtverschiebung aus. Nach der Wiedervereinigung, bis zur
Zeit von I(anzler Schröder,
I I
gewesen war."
Itise zermürbt
Europa.
Der erste Rettungsgipfel 2o1o
ist dramatisch, aber
in Nordafrika
kommt und geht der Arabische FrühIing, die Nato greift in Libyen ein, und der russische PräsidentWladimir Putin besetzt die Iftim und führt I(rieg gegen die Ukraine. In Syrien lässt Präsident Baschar al-Assad die eigene Bevölkerung morden, und im Irak
erwächst eine neue, unheilvolle Iftaft: der sogenannte Islamische
Er erscheint mit Halsabschneider-Videos auf Youtube wie ein Anti-Europa, wie ein unendlich brutaler Gegenentwurf zur westli-
Und vielleicht ist sogar
dort aus dann die Integration an sich oder den Euro zu geißeln. Wie der Brite Nigel Farage, Chef der UI( Independence Party (Ukip), wie Ex-
gemeinsamen I(ontrolle der Haushalte. Doch je länger sich die I(rise hin-
BDI-Chef Hans-Olaf Henkel, der 2014 für die AfD ins Europaparlament gewählt wurde - und natür-
viele sagen: das fahr, das Europas Scheitern am schrillsten vorführt und vieles verändert, vielleicht so-
Iich wie Marine Le Pen, die Chefin des rechtsextremen Front National.
gar alles. Auch für Angela Merkel.
anderen Denken der Osteuropäer
zuzuschreiben, sondern immer
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Nahen Osten und
mehr Europa nötig, um die Iftisen dauerhaft zu bewältigen. Bei der Überwachung der Banken, bei der
nächst schleichende Renaissance des Nationalen, sie istnicht nur dem
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Auch außerhalb Europas dreht sich
die Geschichte immer schneller. Im
Parlament wählen, tingeln brav
Regierungschefs davon ab. Die zu-
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gänglich. Doch das schlechte Image haben die Eurokraten und damitdie EU nie ablegen können. Sie hatten immer etwas Oberlehrerhaftes, ihr Werk war mehr Last als Lust, wie Spinat, den ein I(ind essen muss: Das ist gut für dich, selbst wenn du das gerade nicht verstehst.
gleichsweise transparent und zu-
nochvon einem Gefühl der Gemeinsamkeit getragen.
zieht, umso weiter rücken viele
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Griechen aus dem Euro, sondern auch von einem Brexit, dem Ausstieg der Briten aus der Union. Die Gemeinschaft bröckelt. Und auch im Südosten bricht
rechts-konservativen Fidesz-Partei, mit einer Zweidrittelmehrheit nach und nach den Staat umgebaut. Jetzt rüttelt er am zentralen Wert der Union: der Idee der freiheitlichen, der Iiberalen Demokratie. Im Sommer 2014, bei einer Rede in Rumänien, sagt Orbän, sein Ziel sei die Einführung der,,illiberalen Demokratie". Verstecken müssen sich Europas Gegner ohnehin schon lange nicht mehr. Oft lassen sie sich mit üppigen Diäten sogar ins Europäische
Ludlow, ,,wurde Deutschland zum mächtigsten Mitgliedsstaat in der Europäischen Union - auf eine Art, wie die alte Bundesrepublik es nie
ie
Wahrheit
etwas weg. In Ungarn hat Minister-
Deutschland der kranke Mann Europas gewesen.,,UnterMerkel| schreibt
üppig bezahlten Eurokraten. In ist Brüssel zwar ver-
nun nicht mehr nur von einem drohenden Grexit, einem Ausstieg der
präsident Viktor Orbän, Chef der
sei
ge, betrieben von väterlichen Politikern ä la I(ohl oder Mitterrand in Hinterzimmern, ausgeführt von
mehr auch dem tiefen Frust überdie Dauer der I(rise. Manche Regierungschefs registrieren das still und
heimlich.Andere gehen ganz offensiv damit um.Wie die Briten. ,,Es darf keine Tabus geben'i sagt David Cameron, der konservative britische Premier, in einer Rede im fanuarzor3. Deshalb wolle er erneut über das Machtverhältnis zwischen Brüssel und London verhandeln, auch über Befugnisse. Der Logik der
immer engeren Gemeinschaft will Cameron ausdrücklich den Garaus
nach Brüssel oder Straßburg, um von
lleillilrunU Mit Cupcakes werben britische Eurogegner bei einem Treffen in London für einen
Austritt ihres Landes aus der EU. Die konservative
Regierung von David Cameron will das Volk darüber im Sommer 2016 abstimmen lassen
Sie lassen keine Gelegenheit aus,
gegen die Eurokraten zu wettern oder die deutsche Arroganz. Einige von ihnen sehnen sich zurück nach den Zeiten, als ihre Welt noch überschaubarer schien. Und suggerieren, mit Grenzen, Zöllen und demVorrang einheimischer Produkte wäre die Zukunft zu meistern. Sie treffen nach |ahren der I(rise aufMenschen, die sich um ihren Arbeitsplatz sorgen, um die Zukunft ihrer I(inder oder die Sicherheit in ihremViertel, und die das Vertrauen in die klassischen Parteien verloren haben. So sind die Erfolge der Rechten
auch in den Niederlanden oder in Finnland eine Abrechnung mit dem
machen. ,,Ich möchte nicht nur
Elitenprojekt Europa. Zu fern, zu un-
einen besseren Deal für Großbritan-
verständlich war dieses Europa lan-
Staat.
chen Zivilisation. So
wird zor5 zum,,Horrorjahr'i wie
Anfang |anuar stürmen islamistische Terroristen in Paris die Redak-
tionsräume der Satirezeitschrift,,Charlie Hebdo"undtöten elf Men-
schen. Die Mörder kommen nicht aus dem Ausland. Sie stammen aus
Frankreich. Der Schock lässt für einen Moment alle zusammenstehen.,,Je suis Charlie." Im selben Monat feiertAlexis Tsipras, Chef der linken Partei Syriza, seinen Siegbei den ParlamentswahIen. Die Wut, die sich in Griechenland über das vermeintliche Spardiktat
der Gläubiger aufgestaut hat, wird zur Regierungspolitik. Tsipras und sein Finanzminister Yanis Varoufakis kündigen an, sich der verhassten
Troika aus Europäischer I(ommission, Währungsfonds und Europäischer Zentralbank nicht länger >
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Gedenktag Ein Kosake in Uniform am ersten Jahrestag der Annexion der Krim durch Russland an einem
Mahnmal in Sewastopol
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beugen zu wollen.Athen und Brüssel steuern aufeinen neuen Höhepunkt der Iftise zu. Zum Showdown kommt es Ende Juni. Bis dahin muss Athen eigentIich r,6 Milliarden Euro an den Internationalen Währungsfonds (IWF)
Sparauflagen ein.Angela Merkel hat sich durchgesetzt. Wieder einmal. Es gehört zu den besonderen Vol-
weltoffene Schweden. Viktor Orbän wirft Merkel ,,moralischen Impe-
ten der europäischen Geschichte,
Deutschland ist der Druck auf die Kanzlerin enorm, die Grenzen stärker überwachen zu lassen und das Schengener Abkommen auszuset-
kühle I(anzlerin innerhalb kürzester Zeit Europa aufs Neue spaltet und in Aufruhr versetzt um dann schließlich der Welt ihre warme, ihre menschliche Seite zu dass die
zahlen.Aber die Griechen haben das Geld nicht. Die anderen EU-Länder sind bereit, das Hilfsprogramm zu
zeigen.
Denn im Sommer zot5 kommen
verlängern. Dafür sollen die Griechen jedoch verbindliche Zusagen
die Flüchtlinge, übers Meer und
empfiehlt ein Nein. Es ist eine
über Land. Sie landen in der spanischen Enklave Ceuta oder auf Lampedusa. oder sie kommen über die sogenannte Balkanroute, über Griechenland, Mazedonien, Serbien, über Ungarn und Österreich nach Deutschland. Sie sind den Bomben Assads entkommen, den Halsabschneidern des IS - oder ganz einfach derArmut. Binnen Monaten entwickelt sich
IGmpfansage.
die Flüchtlingsfrage zur vielleicht
zu einem Sparprogramm machen.
Wieder einmal wird in Brüssel verhandelt. Doch plötzlich bricht der Grieche die Gespräche ab. Er fliegt zurück nachAthen und hält eine Fernsehansprache. Darin verkündet er, dass er ein Referendum abhalten wolle. Das Volk soll über die Sparvorschläge abstimmen. Und er, Tsipras,
lmüirunI
ennoch sitzen sich Merkel
und Tsipras kurz darauf wieder am Verhandlungstisch gegenüber. Der Premier hat das Referendum gewonnen, die Griechen haben gegen die Sparvorschläge ge-
stimmt. In einer kuriosen Volte deutetTsipras das Ergebnis derAbstimmung als Mandat, neue Spar-
vorschläge auszuhandeln. Aber Merkel fordert ihm jetzt mehr ab als zuvor.
Ihr
Finanzminister Schäuble
lm Januar 2015 überfallen lslamisten die Redaktion des Satire-
blatts,,Charlie Hebdo" in Paris und töten elf Mitarbeiter. Überall auf der Welt solidarisieren sich Menschen mit den Journalisten und dem Slogan ,,Je suis Charlie" lch bin Charlie.
-
Sie protestieren
bringt einen kurzzeitigen Austritt
gegen jede
Griechenlands aus der Eurozone ins Spiel.Auf Twitter verbreitet sich der
Bedrohung der Pressefreiheit
-
das ist ein Staatsstreich. Die Deutschen hätten jedes Maß verloren, schimpfen die Ift itiker. US-Ökonom Paul I(rugman Hashtag: #Itsacoup
rialismus" vor. Und auch in
kürt das USMagazin,,Time" Merkel zur Person des fahres, die ,,Irish Times" macht sie zur ,,I(anzlerin Europas'l der britische ,,Economist" zeichnet sie zen. Gleichzeitig
als,,unersetzliche Europäerin'i In Wahrheit ist Angela Merkel in jenen Tagen wohl einsamer, als Helmut I(ohl Am
es
je war.
September hält Jean-Claude )uncker eine Rede im Europäischen Parlament. Es ist ein bemerkenswerter Auftritt. Zur,,Lage der Union" sagt er: ,,Es ist an der Zeit, offen und ehrIich über die großen Fragen zu spre9.
chen, denen sich die Europäische Union stellen muss. Denn unsere
größten politischen Prüfung des
Europäische Union ist in keinem gu-
I(ontinents.Wie nehmen wir sie auf? Wie verteilen wir sie? Wie begrenzen wir den Zustrom? Und Europa versagt. Statt sich auf Quoten und
ten Zustand. Es fehlt an Europa in dieser Union. Und es fehlt an Union in dieserUnion." 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, z6 ]ahre nach dem Fall
gemeinsame Schritte zu einigen, werden Schlagbäume gesenkt und Grenzzäune errichtet. Da sind sich die Europäer einmal einig, allenvoran die Osteuropäer. Nur Angela Merkel verhält sich anders, ungewohnt anders. Anfang September sitzen Tausende rund um den Bahnhofin Buda-
pest fest. Die Zustände dort sind kaum erträglich. Sie sitzen fest,weil das sogenannte Dubliner Abkommen gilt.Es siehtvor, dass Flüchtlinge sich
inUngarn, in ihrem Einreise-
land, registrieren lassen müssen.
der Mauer scheint Europa so tief gespalten wie lange nicht. Der Glaube
an Europa ist vielen abhandengekommen.Überfahre hatte es so ausgesehen, als sei Europa ein Wert an sich, etwas universal Erstrebenswertes. Auf einmal wirkt die europäische Integration wie eine histo-' rische Phase, etwas Vergängliches. Nur wenige rufen noch nach mehr Europa. InAthen wird im Septemberzor5 wieder gefeiert. Alexis Tsipras gewinnt noch einmal eine Wahl. Die
Griechen geben ihm eine zweite
in seinem Blog bei der
Dort sollen sie auch vorerst bleiben. dürfen nicht einfach so weiter. Aber Merkel fürchtet eine huma-
,,New York Times": ,,Das europäische Projekt hat gerade vielleicht einen tödlichen Stoß erhalten. Und was auch immer man von Syriza odervon Griechenland halten mag
- und gibt das Signal, das Dubliner Abkommen auszusetzen, kurzzeitig. Wenn Flüchtlinge j etzt nach Deutschland kommen,werden sie nicht mehrzu-
waren nicht die Griechen, die es
rückgeschickt. Es ist, als hätte sie gesagt, die Berliner Mauer sei gefallen. Die Zahl der Flüchtlinge schwillt so sehr an, dass Dänemark seine
trieren.
Grenzen schließt, dann auch das
daszuspäterkannt. X
schreibt
-
es
getan haben."
Aber es kommt nicht zum Aus-
tritt. Denn Alexis Tsipras lässt sich im Gegenzug für Hilfen auf harte
Sie
nitäre I(atastrophe
Chance. Tatsächlich könnte sich das
Schicksal Europas in ihrem Land entscheiden. Nach dem Euro und den Schulden sind es nun die Flüchtlinge, die über Griechenland einreisen. Die Behörden sind nicht Lage, sie auch nur zu regis-
in der
Eine I(ette, so heißt es, sei immer
nur so stark wie das schwächste ihrer Glieder. Vielleicht hat Europa
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und Münzen durch cent und Euro währungsunion Zwölf Länder bilden ab 2002 die Eurozone. Hier sind die nationalen Geldscheine gelegt Länder ihre Geldpolitik in die Hände der Europäischen Zentralbank in Frankfurt ersetzt. Damit haben diese
lie [iiultkehr iles ]latioltalislntls 2[04
2[[5
Unterzeichnung der Verfassung
Referendum in Frankreich und den Niederlanden
Am 29. Oktober
Franzosen und Niederländer lehnen in Volksabstimmungen die europäische Verfassung ab. Der 475-Seiten-Vertrag ist damit Geschichte
setzen die 25 Staatschefs ihren Namen unter den Entwurf - in Rom, wo einst die EWG begann
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Deutschland
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So wie hier in Straß-
burg konnten die Bürger zwischen zwei Stimmzetteln wählen: einem mit,,Oui", einem
Nle schien dem Rest der Welt das Land so locker, so modern, so
wenig bedrohlich wie in diesem Sommer
von Lissabon Um den Einigungsprozess Europas voranzutreiben, stimmen die EU-Staaten einer abgespeckten Verfassung zu. Die ldee der Vereinigten Staaten von Europa spielt keine Rolle mehr
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Landrut gewinnl Eurovision Song Conlest Lichtblick für die Deutschen: Eine von ihnen siegt im Wettbewerb
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Der verdeckte Leichnam des Regisseurs am Tatort
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Absturz von Smolensk
Deutschlands offene Grenzen
Die polnische Delegation von Präsident Kaczyriski ist auf dem Weg zu einer Gedenkfeier für im Krieg
Mit der Entscheidung im Spätsommer, Flüchtlinge aus dem Nahen Oslen hereinzulassen, zeigt Kanzlerin Angela Merkel ihre menschliche Seite und beschwört eine Krise in Europa herauf
ermordete polnische Offiziere. lhre Maschine zerschelh beim Landeanflug in einem Wald
Kroalien wird 28. EU-Mirglied Bis heute das letzte Land, das
aufgenommen wird. Nach der großen Welle neu-
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2t12 Friedensnobel-
Oslo würdigt die Union als
größtes Friedensprojekt auf dem Konfinent
Russland besetzt die Krim Unter Präsident Putin wird die Außenpolitik seines Landes immer aggressiver. lm Frühjahr besetzen seine Truppen die Krim, bis dahin Teilder Ukraine
Nun folgt nach Slowenien der zweite Staat des ehemaligen
Jugoslawien
preis für EU Das Komitee in
2fi5 gramm der EU für ihr Land ab und bestätigen Premier Alexis
Anschlägevon Paris
132 Menschen
Tsipras in seinem Amt
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Der Regisseur fährt am 2. November morgens auf dem Fahrrad durch die Linnaeusstraat in Amsterdam, als ein Mann das Feuer auf ihn eröffnet. Van Gogh stürzt. Der Angreifer beugt sich über ihn, schneidet ihm die Kehle durch und heftet mit zwei Messerstichen ein Bekennerschreiben an seinen Körper, darin eine Morddrohung gegen Ayaan Hirsi Ali. Mit der Schriftstellerin hat van Gogh Monate zuvor einen Film produziert, in dem vier muslimische Frauen über Missbrauchserfahrungen reden. Der Film ist kontrovers - so wie vieles, was der Großneffe des Malers van Gogh geschaffen hat. Er gilt als Enfanl terrible, das sich weder bändigen noch einordnen lässt Sein Mörder ist ein junger Marokkaner mit niederländischem Pass. Zwei Jahre nach der Ermordung des homosexuellen Politikers Pim Fortuyn in Rotterdam, der gegen die multikulturelle Gesellschaft und den zu toleranten Umgang mit dem lslam gekämpft hal sitzt der Schock tief. ln dem traditionell liberalen Land beginnt eine große Debatte um Flüchtlinge und die Einwanderer vor allem aus muslimischen Slaaten. Es kommt zu Brandanschlägen auf islamische Einrichtungen. lslamfeindliche Parteien haben mehr Zulauf denn je.
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Vereint in der Trauer um die TerrorToten von Paris
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Referendum in Griechenland Die Wähler lehnen das Sparpro-
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überfallen islamistische Terroristen eine Musikhalle, mehrere Restaurants und das Stade de France in Paris. An jenem Freitag sterben
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er Staaten 2004 sind 2007 noch Rumänien und
Bulgarien dazugekommen.
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,,Uor dem [euimg sull manfinuslhalglt" Zu kommunistischen Zeitengalt György I(onräd in Ungarn als Dissident. Er wurde abgehört, seine Texte hat man verboten. Heute ist er scharfer l(ritiker von Ministerpräsident Viktor Orbän
Wir erleben heute die Herrschaft von Leuten, die einst keineswegs in Opposition zum bestehenden System standen. Sie waren nicht unbedingt dafür, sie hielten sich
ilaIner Der B2-jährige
err I(onräd, nach dem Ende des IGlten Iftiegs schien Europa zusammenzuwachsen. Daran zweifeln heute viele, wenn sie polnischen oder ungarischen Politikern zuhören. Verstehen Sie, weshalb? Ja. Ich glaube trotzdem nicht, dass es zu einer Spaltung Europas kommen wird. Herr Orbän tut vieles dafür, sich unbeliebt zu machen. Aber er weiß, wie weit er gehen kann. Denn woher kommen die Investitionen in Ungarn? Aus der EU. Sie ist die Ölquelle Ungarns. Dennoch klingt die Propaganda
vor allem antieuropäisch. Die nationalen politischen I(lassen haben kein Interesse daran, einer supranationalen Bürokratie unterworfen zu sein. Niemand soll ihre Herrschaft kontrollieren können. Sie schreiben dazu in einem Essay, Ungarns Nationalisten empfänden die rationale I(ontrolle
ihrer Politik als erniedrigend. Weil sie mit ihrer großen Mehrheit glauben, das Recht zu haben, selbst die Verfassung nach ihrem Gutdünken zu ändern. So konnten sie missliebige Beamte entlassen wie nie zuvor. Die Menschen in Ungarn waren ja lange daran gewöhnt, in Angst zu leben. Wir haben jetzt wieder ein Regime, vor dem man Angst haben soll, wenn man sich nicht anpasst.
Warum verhalten sich Viktor Orbän und seine Parteigänger so?
112 StET,,
THEMA
Schriftsteller György Konräd war einst Präsident des Sch riftstel lerverbandes PEN, erhielt l991 den Friedenspreis des
Deulschen Buchhandels und 2001 den Aachener Karlspreis. Er kommt aus einer jüdischen Familie, die
den Holocaust nur knapp überlebte
die Gewaltenteilung im Großen und Ganzen respektierte.Auch da
hat man schon versucht, das zu unterlaufen. Mir scheint ganz allgemein, dass die Idee der Checks
raus. Bs shd Tethloktaten, die wie
aßd Ba,lasces in (en
die alten kommunistischen IGder
Mittel- und Osteuropas keine
nun bestimmen wollen. Sie haben ebenfalls geschrieben, wer in Sachen Demokratie wankelmütig sei, solle vielleicht besser außen vor bleiben. Mindestens die Hälfte der Men-
starken Befürworter hat. Sind osteuropäische Völker anfälliger für Formen eines Führer-
schen in Ungarn oder Polen wollte
nicht allein vom Reichtum der Union profitieren. Sie wollten auch die Werte, für die Europa steht. Wo liegt die Grenze,bis zuder Brüssel nur zugucken kann, ohne I(onsequenzen zu ziehen? Die ist dann erreicht, wenn es zu
politischen Prozessen kommt. Sind die Methoden der lustiz heute nicht viel raffinierter? Das stimmt. Es gibt das Buch eines ungarischen Soziologen, das den Titel ,,Die ungarische I(rake" trägt. Es ist die Analyse des modernen Mafi astaats. Die I(onzentration von I(apital und politischer Macht geht heute parallel.Wir erleben zunächst eine Verstaatlichung in der Wirtschaft. Dem folgt eine Privatisierung zugunsten von Freunden und Familie. So baut man eine neue herrschende Idasse auf. Ist Ihr Land für Sie heute ein Rechtsstaat? Ein wenig ja, ein wenig nein. Gerade hat der oberste Gerichtshofgegen die Regierung entschieden. Die Staatsanwaltschaft steht der obrigkeit nah, die Richter versuchen immer wieder, ihre Unabhängig-
Sta(en so
kults als westeuropäische? Nicht mehr als die Ostdeutschen.
Dort fühlten sichviele alsVerlierer, nicht Gewinner derWende. Darum gibt
es
eine Nostalgie für
die angeblich guten Zeiten derVergangenheit. Dieses Gefühl beruht nicht allein auf Illusion. Denn das
alte System vermittelte jedem ein Sicherheitsgefühl, das verloren gegangen ist.Was die Leute gelernt hatten, nützte ihnen oft nichts mehr. So bekam der Satz des französischen Soziologen Proudhon plötzlich fürviele einen Sinn: ,,Eigentum ist Diebstahl." Zumal neue Eigentümer auf oft fragwürdige Art zu ihrem Besitz gekom-
menwaren. Ist Europa stark und attraktiv genug, um dagegen zu bestehen? Das glaube ich schon. Das
gilt
nicht nur für die städtischen Eliten. Auch für einen Arbeiter ist es wichtig zu wissen, dass er für seine Arbeit tatsächlich bezahlt wird. Dass es Gesetze gibt, aufdie er sich verlassen kann,wenn er schlecht behandelt wird. Ich muss nicht nett sein, um meinen Lohn zu erhalten oder gar IGrriere zu machen. Sind Orbän und der polnische Rechtspopulist I(acz5mski dann nur Geburtswehen auf demWeg
keit unter Beweis zu stellen.In je-
zurDemokratie?
dem Prozess geht es um die Frage: Wer ist tapferer, wer ist feiger?
Sie sind Regressionsfiguren. Alle Länder, die auf dem Weg zur De-
Demnach gibt es in Ungarn offen-
mokratie experimentieren, werden wahrscheinlich solche Rückfälle erleben. Leute haben immer genug Gründe, enttäuscht zu sein. X
sichtlich weder Gewaltenteilung noch starke Institutionen. Die wurden hier abgebaut. Nach dem Ende des I(ommunismus hatten wir zuzeiten ein System, das
lnterview: Hans-Hermann Klare und Tilman Müller
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Jeder kennt das Gerücht von der Banane, deren I(rümmungsgrad einst von EU-Bürokraten festgelegt worden ist. Die Beamten sind besser als ihr Ruf. Siehe unten
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Was nervt es uns in jedem Urlaub aufs Neue: Ohne den richtigen Adapter kriegt man weder Föhn noch Rasierapparat in Gang. Einheitliche Steckdosen wird es zwar noch lange nicht geben. Aber wenigstens beim Telefonieren und Arbeiten am Computer sind wir ab kommendem fahr alle gleich.Und damit sind auch die Nutzer von Apple-Produkten nichts Besonderes mehr.
Vorm I(amin oder im Liegestuhl zu sitzen und einzukaufen - der virtuelle Shopping-Trip ist populärer denn je. Doch weil das Internet manches schöner erscheinen lässt, als es ist; weil wir schon zu viel Rotwein intus hatten; weil das I(onto leerer ist, als die Bank erlaubt - warum auch immer: Wir kaufen mehr, als gut für uns ist. Dank der EU gibt es eine Lösung für alle.
Lb zorT gilt ein einheitlicher Steckerstandard auch für Apple-Geräte
SeitJuni zot.4: t4Tage Rückgaberecht ohne Angabe von Gründen
1'lmffüillUffilSt Es gehörte zu einträglichen Absurditäten, dass Telefonieren abenteuerlich teuer wurde, sobald man von einem Land ins andere wechselte.Auch wenn die I(osten für die Telefonanbieter nicht oder kaum höher lagen. Die haben sich Iange dagegen gewehrt, die Preise zu senken. Aus und vorbei ab kommendem fahr. Dank der EU-l(ommission.
zoo72 49 Cent pro zooS:.46 Cent
zorr:
l[inute
35 Cent
zot,4z tg Cent
zorz: keine Roaming Gebühren
PlffiIIt(l'lli11 Wir kennen die Fotos der von Plastik verdreckten Ozeane und der vom Wind durch die Landschaft getriebenen Tüten. Innerhalb der EU gibt es große Unterschiede im Umgang mit dem Plastikmüll,vor allem mit den Tüten. Bis zorg soll kein EU-Bürger mehr als 9o Tüten pro Jahr verbrauchen, sonst müssen die
Leute dafür bezahlen.
Plastiktütenverbrauch pro l(opflzoro Bulgarien:,4,2r
Tschechien:297 Griechenlan dz 269
Großbritannien: r3z Schweden: nr
Franhreich:29 Deutschland: zr Luxemburg: zo.
Irland: r8
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ttllES[sIffHlI Der Wettbewerb unter den Fluggesellschaften ist hart. Entsprechend groß ist die Chance, ein Ticket zu bekommen, das billiger ist, als mit Bahn oder Auto zu fahren. Doch hatte das lange einen Preis. Wenn etwas schiefging und ein FIug ausfiel oder eine Maschine viel zu spät abhob, musste man sehen, wo man blieb. Das ist vorbei - auch wenn die Fluglinien weiter versuchen, sich um Entschädigungen zu drücken.
Ab 3 Stunden Verspätung beträgt die Entschädigung 2So bis 6oo Euro plus Verpfle gung. Auch bei Flügen außerhalb der EU
rHEMA
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113
WirsindluroE I(eine Generation hat mehr von Europa profrtiert als die zo bis 4o-Jährigen. Zwei ,,Neon" Journalisten plädieren für mehr Engagement ihrer Altersgruppe
t. Blick in den Spiegel Du bist mehr als nur: deutsch. Seit dem t. November
,,Versagen" oder,,Geburtsfehler" auftauchen. Genauer gesagt sieht sich die EU gleich mit mehreren I(risen kon-
1993, dem Tag, an dem in Maastricht die EU gegründet wurde, besitzt jeder Bürger der Bundesrepublik auch eine Unionsbürgerschaft. Du bist Europäer - ganz offiziell. Das merkst du,wenn du am Flughafen den Schil{ern mit der blauen EU-Flagge folgst,,,EU Citizens" steht dann da. Sonst merkst du es nur selten, denn für dich sind die Privilegien Europas selbstverständlich. Du genießt Reisefreiheit: steigst in den Flieger von Wien nach Barcelona und hast nichts dabei außer deinem Personalausweis und ein paar Euro. Es gibt keine Visa-Formulare oder andere bürokratische Hürden. Seit dem praktischen Inkrafttreten des Schengener Abkommens 1995 sind die Grenzen zwischen EU-Mitgliedsstaaten offen, deshalb kannst du vonWarschaubis nach Lissabon fahren, ohne Grenzpolizisten und Schlagbäume zu sehen. Mehr als 3ooo I(ilometer! Du genießt Freizügigkeit: Du kannst dich entscheiden, morgen nach London zu ziehen. Weil du dort studieren möchtest. Weil du dich verliebt hast. Oder weil dir das Wetter gefällt. Du kannst deinen Wohnort frei wählen. Du zahlst mit einer gemeinsamen europäischen Währung, Ökonomen loben die Preisstabilität und die geringeren Wechselkursrisiken des Euro. Das ist dir egal. Für dich zählt, dass du in r9 europäischen Ländern zahIen kannst, ohne in Wechselstuben herumzustehen oder gut im I(opfrechnen zu sein. Der Euro ist mehr als ein
frontiert. Die I(risen sind nicht etwa gefährlich, weil die europäische Einigung sie ausgelöst hätte, sondern weil die EUnoch immer keine Institutionen und keineAgenda hat, mit denen sie die Herausforderungen des globalen Zeitalters gestalten könnte. Denke zum Beispiel an die Flüchtlingskrise: Seit dem vergangenen Sommer sind Hunderttausende Opfer von Itieg und Armut nach Europa gekommen. Die Flüchtlinge sind zwar beinahe ungehindert von Griechenland nach Gelsenkirchen gelangt, weil es innerhalb der EU keine Grenzen mehr gibt.Aber die fehlenden Stacheldrahtzäune sindja nicht der Auslöser für das sogenann-
Zahlungsmittel. Eine Verbindung entsteht. Du lebst europäische Werte: Demokratie, Menschenrechte, soziale Absicherungssysteme und die Freiheit,
dich so entfalten zu können,wie duwillst. Freue dich ab und zu darüber. Nenne es den europäischen Traum. Du lebst in Frieden: Bis ins zo. |ahrhundert herrschte fast konstant Itieg in Europa. Dreißigjähriger Iftieg, Erbfolgekriege,Weltkriege. Die Begriffe kennst du nur aus dem Geschichtsunterricht. Freu dich auch mal darüber. Deine Heimatist größer geworden. Deine Freunde leben in Paris, London, Prag.Amsterdam liegt nicht mehrjenseits einer Grenze, sondern ein paarAutostundenvon I(öln entfernt. Die Deutschen und die anderen sind sich nähergekommen. z. In der Endloshrise Es gibt die Europäische Union seit mehr als zo Jahren. Das ist nichtbesonders lange.Aber lange genug, dass du manchmal das Gefühl hast, es hätte die EU immer schon gegeben.Und damit auch die Freiheiten, die du dank der EU genießt.Aber sie sind gefährdet. Die Europäische Union steckt in einer I(rise. Das weißt du, weil du seit Monaten - oder waren es Jahre? - keine Nachricht mehr übei die EU gelesen, gesehen oder gehört hast, in der nicht Wörter wie,,I(risei,,IGtastrophe'l
114
ster,,
rHEMA
te Flüchtlingsproblem. Statt gemeinsam über eine euro-
päische Außenpolitik zu beraten, die ,,Failed States" in Afrikaund die Bürgerkriege im Nahen Osten adressiert,
streiten die europäischen Partner.Wut in Deutschland auf Ungarn, das Flüchtlinge misshandelt und einfach
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Oie,,lteon -Chefredakteurin,39, und ihr Autor,35, waren entsefzt über das geringe lnteresse ihrer Generation an Europa. Und machen sich Sorgen um
den Kontinent. So haben sie
ein Manifest geschrieben, mit dem sie junge Europäer aufrufen, etwas für die Zukunft des Kontinents zu tun
weiterschiebt, Wut in Ungarn auf Deutschland, das das Dubliner Abkommen temporär außer lftaft gesetzt und den syrischen Flüchtlingen so übertriebene Hoffnung gemacht hat.,,Wir schaffen das'isagt die Bundeskanzlerin. Aber man hat nicht das Gefühl, dass Europa in die gleiche Richtung geht. Oder die scheinbar endlose Wirtschaftskrise. Der Euro zeigt sich seit zooS als Fehlkonstruktion. Nicht weil eine Gemeinschaftswährung eine schlechte Idee wäre. Sondern weil sie keine Lösung für die unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen der Euro-Mitglieder bietet noch! In den Nachrichten hörst du von Euroländern, die von Schuldenbergen erdrücktwerden und unter horren-
immer
der Jugendarbeitslosigkeit leiden. Du hörst, dass
mehr Menschen das Vertrauen in die Politik verlieren. Du hörst von sinkenden Wahlbeteiligungen und radikalen Protestparteien, die gefährlich simple Antworten auf die komplexen Fragen der Gegenwart geben. Du hörst vonVlaams Belang, Dansk Folkeparti, Die Finnen, Front National, Goldene Morgenröte, Schwedendemokraten, AfD; wie Politiker und Menschenmassen auf dem ganzen I(ontinent fordern: Fuck off, Brüssell Das EU-I(ernland Großbritannien stellt bald seine Mitgliedschaft per Volksabstimmung infrage. Und bei
der Europawahl zo4 wurden die europaskeptischen Parteien drittstärkste
Itaft im EU-Parlament.
Stärker
National oder die AfD immer mehr an Einfluss gewinnen, könnte sich eine gefährliche Eigendynamik entwickeln, die das europäische Integrationsprojekt nicht nur verlangsamt, sondern womöglich aufl öst. Bislang ging es immer vorwärts. )etzt drohen Rückschritte. Möchtest du das? Du schaust gerade dabei zu, als die Grünen.Wennaber Parteien wie der Front
wie ein ökonomisch erfolgreiches,Völker verbindendes
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Heute
alter des Nationalismus zurückkehrt? Du musst dich
Unterfangen scheitert, das in der Menschheitsgeschich-
jetzt entscheiden: Für welche Werte stehst du?
te einmalig ist.
Hast du Angst, dass irgendwann eine EU-I(anzlerin mit slawischem oder spanischem Namen auch über dei-
Vielleicht denkst du: Die EU kriegt es nicht hin, eventuell sollte man das Projektaufgeben. Das istfalsch. Die Europäische Union war nie nur eine pragmatische Interessengemeinschaft, sondern immer auch: eine Utopie. Eine große Vision von Frieden und Solidarität' Das ist dir zu naiv? EineVision ist zwangsläufig naiv. Oder hätte es historische Wendepunkte wie den Mauerfall gegeben,wenn Menschen nicht ganz naiv auf eine bessere Zukunft gehofft hätten?
ne Belange entscheidet?Wäre das ein Problem? Glaubst
du an Herkunft? Oder anwahlen und Demokratie? Und wenn du Zweifel hast, weil Europa zu unterschiedlich ist, um zu einer politischen und sozialen Einheit zu werden, solltest du bedenken: Deutschland funktioniert heute genauso,wie ein europäischer Bundesstaat funktionieren könnte: als Einheitvon Ländern, die regionale Eigenheiten und Regierungen haben, aber durch Instrumente wie den Länderfinanzausgleich solidarisch sind und sich bei größeren Entscheidungen miteinander abstimmen. Deutschland profi tiert von der europäischen Einigung und dem EU-Binnenmarkt.Willst du denWohlstand für dich alleinbehalten? Oder bist du bereit zu teilen? Lau-
3. Angst ist auch keine Lösung
Du hast keine Angst vor Easyj et. Vor Barcelona, London,I(openhagen. Du hast keine Angst vor Menschen, die so leben, wie sie es für richtig halten. Vor Toleranz. Du hast keine Angst vor deinen Freunden aus Wien, Paris und Stockholm.Warum fürchten sich dann so viele junge Deutsche vor Europa? In einer großen,,Neon"Umfrage wünschten sichvergangenes )ahr 44 Prozent der r8- bis aS-jährigen Deutschen, dass die EU weniger Einfluss in Deutschland bekommen soll. Und immerhin 3o Prozent der Befragten forderten, den Zuzug
dass sich dieWährungsentwickeln muss, die Fiskalunion echten zu einer union
tetdieAntwort,,faifolgtdaraus,
soziale Ungleichheiten durch Transferleistungen ausgleicht. Das ist die Lehre aus der Griechenland-I(rise. Die Welt ist komplex. Immer wieder tauchen neue Iftisen auf. Es istverständlich,Angst zu haben und sich
hinter Zäunen abgrenzen zuwollen.Aber das hilft nicht weiter. Es braucht einen europäischen Flüchtlingsbeauftragten, der dafür sorgt, dass Not leidenden Menschen geholfen wird. Es braucht eine europäische Außenpolitik, die sich dem I(rieg in Syrien und dem I(rieg in der Ukraine widmet. Die EU ist nicht das Pro-
von EU-Bürgern nach Deutschland wieder zu beschränken. Man darf solche Sachen sagen und sich wünschen (herrschtja Meinungsfreiheit in Europa). Es muss aber auch klar sein, dass diese Forderungen zeigen, wie viele Menschen die Niederlassungsfreiheit
und andere europäische I(ernprinzipien ablehnen und damit die EU als Ganzes. Europa ist nicht perfekt. Die EU schafft es zum Beispiel nicht, den mehr als 5oo Millionen Bürgern die große europäische Idee zu verkaufen. Statt Identifika-
tionsfiguren zu sein,verstecken die Repräsentanten der EUsichlieber imbürokratischen Dickicht.Die EUnimmt die soziale Ungleichheit zwischen den Mitgliedsstaaten scheinbar hin. Es gibt keine Ausgleichsmechanismen zwischen den Ländern, die wirklich ausreichen. Weil ein Land wie Griechenland schwächer ist als Deutschland, entstehen Schieflagen. All das muss sich ändern. I(eine Frage. Die viel entscheidendere Frage aber ist:
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4. Waswillst du? Du bist Teil der europäischen Generation. Anders als deine Eltern bist du nicht in einem Staataufgewachsen, sondern in einem Staatenbund. Du stehst für Toleranz, bist multikulturell.Willst du in einem Europa leben, das sich davon entfernt? Dir muss klar sein: Wenn du zuIässt, dass Europa kaputtgeht, handelst du gegen deine Chancen, deinen Lebensstil, deine Identität. Du wirst vielleicht I(inder haben: Möchtest du, dass sie dir später vorwerfen, deine Generation habe eine historische Chance verspielt und zugelassen, dass das dunkle Zeit-
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blem, sondern die Lösung. Es kommt j etzt auf dich an. Schließt du dich der wachsendenZahlvonMenschen an,die,,Nein"zu Europasagen, oder glaubst du an den europäischen Traum? Um das Europa-Projekt zu retten, musst du nicht Verfassungsrecht studieren. Es reicht, wenn du all die Fakten und Fragen aus diesemText im I(opf hast, wenn dass du das nächste Mal wählen gehst.Wenn du NGOs
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und andere Institutionen unterstützt, die für Offenheit, Freiheit, Internationalität stehen. Und: Du beeinflusst mit deinen Aussagen, deiner Meinung, deiner Haltung deine Freunde und Familie. Überlege dir, zu welcher Stimmung du beitragen willst. Du hast dieWahl. Ein vereintes Europa ist eine Friedensmacht, die ihren außenpolitischen Einfluss nutzen muss. Ein Ort, der Menschen Hoffnung macht. Eine Idee, die nicht nur nach innen, sondern auch nach außen friedensstiftend
wirkt. Bist du dabei? Du entscheidest, in welchem Europa wir alle später leben werden. X
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ler llontinent als lac[nmlngr Die großen Themen Europas sind natürlich auch die Themen europäischer I(arikaturisten: Flüchtlinge, schräge Briten, arme Griechen und die I(anzlerin
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Plan B zur Lösung der Griechenland-Krise. 2,Aber es hal alle Tesls bestanden".3,,Wir müssen auf unseren Erfolgen aufbauen"
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lassen, Ganz egal, was der Doktor sagt.
Undwo die einen Müsli essen, nehmen die anderen Eier und Speck
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I(einer in Europa nutzt PC, Laptop und Tablet ausgiebiger fürs Internet als die Briten. Schlusslicht sind die Italiener. Die sitzen vermutlich länger in der Trattoria
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Wer nachliest, was die Menschen verschiedener Länder googeln, erfährt nicht bloß eine Menge. Auch der BegriffNetzne:utralitit bekommt neue Bedeutung:Jeder Unsinn ist erlaubt
Ullarlllll... ist der Himmel blau? ist die Banane krumm? nehme ich nicht ab? lverde ich nicht schwanger? ist scharfes Anfahren zu vermeiden? schnurren l(.atzenfl haben Sie sich bei uns beworben? haben Männer Brustwarzen? so viele Flüchtlinge?
haben Katzen Angst vor Gurken? (Deutschland)
keine Expo? zr Salutschüsse?
heißt es,,der Bund der Nazarener"? ist Griechenland in der lkise? ist der Mond rot? werden Sie Donatella genannt? ist der Bürgermeister von Rom
Ullasistliele? fragten User am häufigsten in:
zurückgetreten? (ltalien)
r. Bulgarien z. Portugal 3. Slowahei
4. Slowenien S. Deutschland
ttllasistderl§? fragten User am häufigsten in:
r.Iiland z. Franhreich 3. Schweden
4. Finnland 5. Italien 6. Rumänien 7.
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Dänemark
isst man keine Schildkröten?
flippen Leute aus? es Löcher im l(äse? ist das Meer salzig? lieben die Menschen?
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schwellen Beine an?
bin ich immer noch hungrig? wollen Männer nicht heiraten? (Slowakei)
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liellinUs-llrlaulsorts
wählt man per Brief?
der Italiener
der Bngländer
funktioniert das neue Snapchat? nimmt man einen Screcnshot mit dem Mac auf?
r. Follonica
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rechnet man Prozcnt aus?
3. Palinuro
3. Australien
4. I(reta
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5. Bordighera
5. Cornwall
6. Neapel
6. Duhai
fühlen sich Wehen an? L
wird der nächste Sommer? kann ich Flüchtlingen helfen?
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empftingt man TVz SPort? wechsclt man dcn Arzt?
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(Dänenrurk)
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Z.Lido di Camaiore
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8. Ponza
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9. Numana ro. Teneriffa
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t. t benutzt man das ncue Snapchat? macht man Pfannkuchenteig? isst man Pomelo?
zcichnet man ein Minion? entlüftet man Heizungcn? macht man Loom Bands?
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werde ich lGltekopfschmerz los? schaue ich
mir eine Sonnenlinsternis an?
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verliert man Bauchfett? reinigt man den Ofcn? löst man den Zauberwürfel?
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findet man einenJoh? finde ich ein H<lroskop? macht man CrGpes?
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hört man mit dem Rauchcn auf? (Griechertland)
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Strafpunhte überprüfen? liann man die Sonnenfinsternis heobachten? macht man eine Lochl<amcra?
nimmt man 5l(ilo ab? installiert man Windolvs ro?
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kann man aufSnapchat einen Regenbogen machen?
liann man PIT übers Internet senden? (Polen)
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Die EU betreibt einen der größten Dolmetscherdienste der Welt. z4 Sprachen sind in Brüssel als Amtssprachen anerkannt. Interview mit einem, der sechs davon spricht
Nein. Es werden ja nicht bei allen Sitzungen alle Sprachen gesprochen. Und manchmal einigen
ntschuldigung, ich bin zu spät. IGin Problem, Herr Picq. I(önnen Sie das auch in anderen Sprachen sagen? Sorry I'm late. Desculpa pelo atraso. Scuzati-mi intärzierea. Perdona tel retraso. oesolE d'6tre en retard. Welche Sprachen waren das? Meine Arbeitssprachen Deutsch, Englisch, Portugiesisch, Rumänisch, Spanisch. Und Französisch natürlich, meine Muttersprache. In welcher Sprache träumen Sie? AufFranzösisch. Nach einem Tag wie heute, an dem ich alle meine Sprachen nutzen muss, ruhe ich mich im Französischen auch aus. Sind Sie in allen Sprachen gleich gut? Oh nein. Meine Passiv-Sprachen muss ich nicht gut sprechen können, mein Portugiesisch ist zum Beispiel sehr eingerostet gerade. Was sind denn Passiv-Sprachen? Sprachen, die ich nur verstehen muss,weil ich sie in meine aktive Sprache übersetze, ins Französische. Ich habe nur eine aktive, andere haben zwei oder sogar drei. Bei der EU kommt es vor allem aufdie passiven Sprachen an.
Warum? Weil es so viele Sprachen gibt in Europa. Nehmen wir die Sitzung, aus der ich komme: Da saß ich mit zwei I(ollegen in der I(abine, einer verstand unter anderem Niederländisch und Italienisch, der andere Dänisch und Schwedisch,insgesamt haben wir zehn Sprachen abgedeckt. Es waren aber auch Litauer und Letten da. Deren Sprache konnte keiner. So mussten wir die englische Übersetzung aus der anderen Kabine nutzen. RelaisÜbersetzungen nennt sich das. Und wer übersetzt ins Deutsche
oderins Lettische?
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Die Kollegen in der deutschen oder Iettischen lGbine. Wenn diese Sprachen gerade abgedeckt sind. Müssen dann nicht immer dle z+ I(abinen besetzt sein?
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IHEMA
sie sich auch vorher darauf, dass
$Uacltalcnt Michaöl Picq
ist einer von 600 beamteten Dolmetschern der EU in Brüssel. Der 38-jährige Franzose übersetzt seit acht Jahren, mal bei Staatsdiners, mal im Ständigen Ausschuss für Pflanzen,
Tiere, Lebensund Futtermittel
I(riegt der Redner
das
nicht mit?
Nein, entweder schalte ich das Mikrofon aus, oder ich überbrücke die Zeit,während die anderen re-
Englisch ausreicht.
cherchieren.
Verstehen das dann auchalle? Bei der I(ommission schon, da ist gutes Englisch Einstellungsvoraussetzung. Beim Rat kann es anders sein. Das istja auch nicht der fob von Politikern. Deshalb haben
Was erzählen Sie dann? Etwa das, was der Redner sagt, aber sehr neutral. Ich sage zum Beispiel,,eine andere Fischart" und liefere die entscheidende Information später nach.
sie das Recht, ihre eigene Sprache zu sprechen und zu hören. Gerade sen-
Gibt
sible Sitzungen, etwa zu den Themen fustiz, Inneres und Sicherheit, werden aber sehr breit übersetzt.
Manchmal sagtjemand etwas
Sie sehen die Personen, deren Worte Sie dolmetschen? Ja, immer. Selbstwenn wir mal nicht im selben Raum sitzen. Bei
lich aus sein. Wie übersetzt man echteWitze? Witze funktionieren oft nur in einer Sprache.Weil sich die meisten Menschen hier in Brüssel aber sowieso in Fremdsprachen ausdrücken, sind auch viele Witze
Gesprächen zwischen Präsidenten während des Abendessens kann es passieren, dass die Tische, an denen wir übersetzen, aufeinen Bildschirm in einen separaten Raum übertragen werden. Ikirpersprache ist wichtig, sie transportiert den Großteil der Emotionen.
es andere Situationen, in denen Sie das Mikro ausschalten?
unfreiwillig I(omisches. Wenn du da lachst, muss das Mikro natür-
schon tot,wenn sie in der Dolmet-
wir können: über Lautstärke,
scherkabine ankommen. Gibt esThemen, die Sie übersetzen und mit denen Sie sich persönlich identifi zieren? I(ar, ich komme gerade aus einer Sitzung zu den Rechten von Homo-, Bi- und Transsexuellen. Das betrifft mich persönlich. Da bin ich leidenschaftlicher dabei. Und wennjemand etwas sagt, das
Intonation, Tempo.
Sie
Sind Sie Experte für ein bestimmtesThema? Nein.Aber am Ende muss ich jedes Thema übersetzen können - und ein Experte etwa für Fischereipolitik bin ich sicher nicht. Welchen exotischen Fischnamen mussten Sie schon übersetzen? Das kriege ich höchstens noch auf Französisch hin. Den,,hoplostöthe orange"hatte ich mal.Und der englische Name fällt mir auch gerade ein: ,,orange roughy". Und wie übersetzt man so einen
Ich bin als Dolmetscher der Botschaft des Redners verpfl ichtet. Solange ich übersetze, ist diese Botschaft alles, was zählt. Was ich nach der Sitzung zu
Undwie transportieren Emotionen? Das ist schwierig
Sie
diese
- allein weil wir
eine ganz andere Stimme haben als der Redner. Aber wir tun, was
Namenspontan? Das ist immer eine Team-Anstrengung. Wir haben elektronische Glossare. Oft googeln wir auch.
persönlich ärgert?
meinen I(ollegen sage, ist eine andere Sache.
Übersetzen Sie auch Schimpfwörter? Ich selbst fluche so gutwie nie, deshalb fällt es mir eher schwer, drastische Ausdrücke zu verwenden. Ich benutze wahrscheinlich etwas harmlosere Wörter.
ZumBeispiel? Wenn jemand ,,Bastard" sagte,
würde ich,,Idiot"sagen. )( lnterview: Ferdinand D.
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