Psychologie Heute (Juni 2016)

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Cüroff

Dagmar l(umbier

Eril<a

Selbstsicherheit und

Stadler, Spitzer-Prochazl<a, l(ern, l(ress

Verständnis und Bewältigung alltägl icher Tragöd ien

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Soziale l(ompetenz ist erlernbar. Das fürTherapeuten und l(lienten als Leitfaden konzipierte Trai n i ngsprogra m m

Franl<-M. Staemmler

Kränkungen

Warum treffen uns l(ränl(ungen in intimen und anderen nahen Beziehungen oft so tief? Der Autor u ntersucht Entstehu ngsbedingungen und Dynamil< dleser seelischen Verletzungen, analysiert die typischen Real<-

tionsmuster und zeigt bessere Verhaltensalternativen auf.

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l<önnen.


Liebe Leserin, lieber Leser hat die Kollegin eben gemeint mit ihrer spitzen Bemerkung? Warum ignoriert mich der Nachbar so gefl issentlich? Wie stehe ich jetzt vor den Leuten da - nachdem ich as

so ins Fettnäpfchen getreten bin? Manches, was

wir

im Alltag mit anderen erleben, geht unsbuchstäblich unter die Haut. Anderes nehmenwirzwarzur Kenntnis, aber es perlt an uns ab wie das Wasser an der Ente, es lässt uns kalt. Und wieder anderes ist uns so was von gleichgültig, dass wir Karl Valentin zitieren könnten: ,,Das ignoriere ich nicht einmal!" Leider gelingt uns das mit dem Nicht-mal-Ignorieren bei weitem nicht so gut, wie wir es gerne hätten; wir sind meist alles andere als gelassen, wenn wir Kränkungen erfahren oder vor Scham in den Boden ver-

sinken möchten. Es ist ein normaler Impuls, auf Kritik und Zurückweisung irritiert und betroffen zu reagieren. Denn als soziale Wesen kann es uns nicht gleichgültig lassen, wie unsere Mitmenschen uns sehen und bewerten. Unser Wohlbefinden hängt in hohem Maße von der Akzeptanz und Wertschätzung anderer ab, wir haben ein starkes Bedürfnis, uns zugehörig und eingebunden zu fühlen. Über dieses need to belongwacht ein psychologisches System, das die Sozialpsychologen Mark R. Leary und Roy Baumeister

keiten gleichmütiger zu begegnen und von Fall zu Fall zu entscheiden, wie wir die Einschätzung des Soziometers bewerten wollen: Wie schlimm ist die Zurückweisung? Will ich die Kritik ernst nehmen? Ist dieser Mensch wichtig für mich? Auch Hinweise, wie sie der amerikanische Satiriker und Autor Roger Rosenblatt in seinem Buch Rules for Aging (Regeln fürs Alterwerden) gibt, sind hilfreich, dieAusschläge des Soziometers in Grenzen zu halten: ,,Es ist nicht wichtigl" Was immer wir denken es ist sub specie aeternitatis nicht wirklich von Bedeutung. Ob der Boss böse guckt, ob die Freundin zickig ist, ob man einen badhair dayhat -was soll's! Und ein zweiter Hinweis:,,Niemand denkt an dich!" Sollheißen: Wirbildenunsnurein, dass dieanderen zwei Drittel ihres Tages damit verbringen, über unsere Angelegenheiten zu räsonieren oder unsere

Ar-

beit zu kritisieren oder unser Aussehen zu bewerten.

Rosenblatt: ,,Niemand denkt über dich nach. Die anderen denken an sich - so wie du auch!"

als ,,Soziometer" beschrieben haben, Dieses scannt

automatisch und ununterbrochen unsere soziale Umgebung, um zu prüfen, wie es um unseren Beziehungswert steht. Registriert es - zum Beispiel kritische Blicke oder negative Kommentare, signa-

lisiert das System: ,,Da stimmt was nichtl" Unser Selbstwertgefühl verschlechtert sich, wir fühlen uns unwohl und unglücklich, grübeln über das Geschehene nach. Die Arbeit des Soziometers spüren übrigens nicht nur die Sensiblen unter uns, sondern auch Menschen, die glauben, von der Meinung anderer weitgehend unabhängig zu sein. Es lässt uns also nicht kalt, wenn andere mit uns nicht einverstanden sind (und wir deshalb nicht mit uns). Doch wir können lernen, unempfindlicher zu werden und uns ein dickeres Fell zuzulegen, das uns schützt vor unvermeidlichen Nadelstichen ( Seite 18). Denn - und das ist die gute Nachricht - wir sind unserem Soziometer nicht ausgeliefert. Es ist mög' lich, uns und unseren ganz normalen UnzulanglichPSYCHOLOGIE NEUTE 06/2016

u.nuber@beltz.de

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IN DIESEM HEFT

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TITEL 18 Drüber stehen! Ungerechtigkeiten passieren. ,,Nimm dir das nicht zu Herzen", sagt man. Doch was tun, wenn man zu den Dünnhäutigen gehört? Von Birgit Schönberger

24 ,,Die Frage ist: Will ich michweiter als Opfer fühlen?" Die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki erklärt, wie man dagegen angeht, sich von tiefgreifenden Verletzungen das Leben vermiesen zu lassen

12 lmFokus: ,,Eine Masse ist nicht zugänglich für Vernunft" Der Systemwissenschaftler Thomas Brudermann analysiert, was mit Menschen geschieht, wenn sie zu einem wütenden Mob werden

26 ln Liebe verschränkt Die Psychologen Franz Neyer und Christine Finn erforschen in Langzeitstudien, wie eine Beziehung die Persönlichkeit prägt und die beiden Partner aneinander reifen

34 Doktorspiele 2.o Eltern blenden das Tabuthema kindliche Sexualität am liebsten aus. Doch die Welt der Pornos lauert in jedem Smartphone Von Sylvia Meise

38 ,,Wir sind abgeschnitten vom Rest der Menschheit" Ein Gespräch mit Christiane Heinicke, die mit fünf Schicksalsgenossen ein Jahr in einer simulierten Marsstation auf Hawaii verbringt

44 Was Sokrates zu Ihren Sorgen sagt Lebensphilosophie ist gefragt wie nie. Kann sie der Psychotherapie Konkurrenz machen? Von Boris Hönfiler

58 Ich XXL Die dunkle Seite des Narzissmus: Die Gier nach Bewunderung ist karrierefördernd, doch im Privatleben teuer erkauft Von Michael Kraske

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TITELTH EMA

{ fl Nicht immer sind die anderen nett zu I Ö ,ns Der Kollege stichelt malwieder, von der Tochter hagelt es Vorwürfe, der Kunde brüllt ins Telefon. Wie oft wünschen wir uns in solchen Situationen:,,Ach hätte ich doch ein dickeres Fel!!" Aber ist das überhaupt erstrebenswert? Wie können wir uns vor Kränkungen und Stress schützen, ohne unsensibel zu werden? PSYCHOLOGIE HEUTE O612O16


62 Tlainierenbis zum Umfallen Sie kennen keine Grenzen und rennen selbst

mit blutigen Füßen: Für manche Menschen

'wird Sport zu einer Suchterkrankung Von Thomas Müller

66 ,,Integration ist derbeste Schutz gegen Terrorismus" Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler

Andreas Bock über seine These, dass der ,,Krieg gegen den Terror" den lslamismus stärkt

7 A J +

Schon im Vorschulalter haben

Junsen und Mädchen heute übers lnternet Zugritt auf eindeutigstes pornografisches Material. Und was sie dort sehen, hat durchaus Auswirkungen auf ihr Verhalten. Wie sollen Eltern und Erzieher reagieren, wenn Kinder die Szenen nachspielen oder

70 ,,Du nutzloses Stück Dreck!" Leben im digitalen Zeitalter, Teil vier:

lm Internet wird beleidigt, gehetzt, gedroht. Was steckt hinter dem Hass? Von Jochen Metzger

Sätze sagen wie,,Komm, wir ficken"?

RU BRI KEN

4 4populär ;:lil :J"",,::T":'ffi :#,iä. phie ;X

ist wie selten zuvor. Bestsellerautoren verbreiten Sinnstiftendes von Sokrates & Co für alle Lebenslagen. Manche Philosophen eröffnen sogar Praxen und preisen ihr Fach als Alternative zur Psychotherapie. Was sollen wir davon halten?

16 Therapiestunde Angst vor der Leere Von Margarethe Schindler

32 Psychologie nach Zahlen Sieben Mythen rund um das Alter Von T ho m a s S aum -Al dehoff

76 Der Psychotest Wie logisch denken Sie? Von Jochen Metzger

78 Pehnts Alltag Lob und Wahrhaftigkeit Von Annette Pehnt

3 Editorial 6 Themen&Trends 52 Körper&Seele 57 Schilling & Blum: lrgendwas mit Menschen

80 Buch&Kritik 91 92 93 94 95

Medien Leserbriefe lmpressum lm nächsten Heft

Markt

106 Noch mehr Psychologie Heute PSYCHOLOGIE HEUTE O612O16


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Mächtig kompromisslos ,,Nächtliche Verhandlungen enden ohne Durch-

Manche leiteten Abteilungen von mehr als 100 Mit-

bruch", hieß es imvergangenen Sommerbei Zeit Online.Damalskonnten sich die Staatschefs der EU lange nicht auf Hilfen für das bankrotte Griechenland einigen. Und in diesem |ahr fanden Angela Merkel

arbeitern, andere kleinere Einheiten. Zu dritt oder viert verhandelten die Teilnehmer über die Einstel-

und ihre europäischen Kollegen lange keine gemein-

lung eines )obsuchenden. Dabei achteten die Forscher darauf, dass die Diskutanten aufAugenhöhe zueinander waren. Es fanden einerseits besonders Mäch-

same Position in der Flüchtlingskrise. Diese Aufzäh-

tige zusammen, andererseits weniger Einfl ussreiche.

lung ließe sich beliebig fortsetzen.

Zwar glbt es für Dissens oft inhaltliche Gründe. Doch haufig steckt mehr dahinter, meinen der Managementexperte |ohn Angus Hildreth und der Psychologe Cameron Anderson. Mächtige sind von ihrer eigenen Macht gelähmt, sagen die Forscher von der

Mehr als 80 Prozent der aus Normalos zusamFrist von 30 Minuten. Dagegen bremsten sich die Alphatiere gegenseitig aus. Weniger als die Hälfte

nen, wer üblicherweise das letzte Wort hat - der tut sich schwer, in Verhandlungen aufAugenhöhe einen Kompromiss zu finden. Wichtiger als Ergebnisse ist

ihm die Sicherung seiner herausgehobenen Position. Hildreth und Anderson gewannen für ihr Experiment 158 Führun[skräfte eines Unternehmens.

John Angus D. Hildreth, Cameron Anderson: Failure at the top: How power undermines collaborative performance. Journal of Personality and Social Psycholosy. llol2, 2016, 261 -2A6. DOI: lO.l037,/pspiOOOOO45

dass seine Ideen

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mehr zählen als die der Untergebe-

Donald Trump: Als Präsident der USA müsste er mit anderen Staatschefs verhandeln - wobei ihm sein Ego im Weg stehen könnte

mengesetzten Einheiten einigten sich innerhalb einer

ihrer Teams fand einen Konsens. Was erklärt diese Unterschiede? In einem weiteren Versuch wiesen Hildreth und Anderson ganz normalen Versuchspersonen einen hohen oder niedrigen Status zu. Das Ergebnis: Auch die eigentlich Unauffalligen arbeiteten schlechter zusammen, wenn ihnen eine einflussreiche Stellung zugefallen war. Offenbar korrumpiert Macht tatsächlich.

Universität von Kalifornien in Berkeley. Wer es im Alltag als Staatschef oder Topmanager gewohnt ist,

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PSYCHOLOGIE HEUTE 0612016


Was ist der gefährlichste Teil eines

Autos? Der Mensch hinterm Steuer! Einer Auswertung von

9o5 tlnfällen in den USA zufolge ließ sich mehr als die Hälfte der Crashs durch abgelenkte Fahrer erklären. Weitere häufige [Jrsachen: Müdigkeit, Alkohol- und Drogenkon-

sum sowie Fehleinschätzungen.

schöne Dinge zu notieren steigert das Wohlbefinden. Ein gutes Buch, ein attraktiver Mensch, ein leckeres Essen, egal - wer Buch darüber führt, was ihm ästhetisch positiv auffällt, hebt durch den bewussten Umgang mit Schönheit seine Laune. Diese Wirkung hält bis zu einen Monat an.

DOI : 1O.1O73lpnas.1513271113

DOI: 1O.1016,/i.paid.20l6.Ol.O28

Schön glücklich? Viele Menschen gehen ins Fitnessstudio, um ihren Körper zu stählen. Manche unterziehen sich gar einer SchönheitsOP. Da liegt die Vermutung nahe: Hätten wir ein hübscheres Gesicht und einen attraktiveren Körper, dann wären wir auch glucklicher. Dem widerspricht eine neue Studie des polnischen Glücksforschers Lukasz Kaczmarek von der AdamMickiewicz-Universität in Posen. Kaczmarek teilte 97 Probanden in zwei Gruppen ein. Die eine Hälfte startete mit Fragen zum eigenen Aussehen und dachte dann über ihre Lebenszufriedenheit nach. Die anderen Teilnehmer widmeten sich den Aufgaben in umgekehrter Reihenfolge.

attraktiver die Probanden sich selbst einschätzten, desto glücklicher schienen sie zu sein - aber nur dann, wenn sie zuerst zu ihrem Aussehen befragt worden waren. Im umgekehrten Fall war die Verbindung zwischen Schönheit und Befinden nur sehr schwach ausgeprägt. Wie kann das sein? Kaczmarek geht davon aus, dass die Probanden einer sogenannten,,Fokussierungsillusion" unterliegen: Erst wenn sie darauf gestoßen werden, dass ihr Glück etwas mit ihrem Aussehen zu tun haben könnte, stellen sie eine zuvor irrelevante Verbindung zwischen den Aspekten her. Dazu bemerkte schon der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman: ,,Nichts im Leben ist so wichtig, wie man denkt, es sei denn, man denkt darDas Ergebnis: Ie

über nach."

PATRIcK SPAT

Lukasz D. Xaczmarek u.a.: Would you be happier if you looked better? A focusing illusion. Journal of Happiness Studies, lZ 2O16,357-355. DOI;1O.1Oozsl0902-Oi49598-O

PSYCHOLOGTE

HEUTE

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Im Dunkeln essen: ein neuer Diättrick? Zumindest naschten in einem Versuch von Psychologen um Britta Renner Probanden mit verbundenen Augen weniger Spaghettieis.

Vielleicht fehlte ihnen der appetitanregende

Anblick von Erdbeersoße auf Vanilleeis.

Aus einer funktionierenden Beziehung lässt sich niemand herauslösen? Falsch, sagt der

Psychologe Edward Paul Lemay. Er hat das bei Freundschaften zwischen Männern und Frauen untersucht. Machte der eine die Beziehung des anderen schlecht (,,Sie verdient

dich einfach nicht", ,,So gut sieht er auch nicht aus"), fühlte sich der andere weniger stark an seinen Partner gebunden. Da

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Frag mich doch mal! Als Ratgeber gefiagt zu sein, verleiht dem eigenen Leben Bedeutung. Besonders ir.n mittleren Lebensalter steigt das Bedtirfnis danach, sich für nachfolgende Generationen zu engagieren. Generativität nannte das der Psychoanalytiker Erik Eriksor.r. Doch offenbar fehlt vieien älteren Menschen die Gelegenheit,

ihr Wissen weiterzugeben. Das hat der Soziologe Markus Schafer von der Universität von Toronto herausgefunden. Scha-

fer und seine Koautorin Laura Upenieks werteten Daten von mehr als 2500 erwachsenen Amerikanern aus. Von den 60- bis 69-|ährigen war im Jahr vor der Befragung ein Ftinftel kein einziges Mal um ihren Rat gefragt worden. Bei den Alteren war die Quote noch höher. Bei den füngeren dagegen musste nur jeder Zehnte seine Ansichten für sich behalten. Und was ist daran schlimm? Wer seine Erfahrungen teiler-r kann, sieht mehr Sinn in seinem eigenen Leben. Besonders ausgeprägt ist dieser Zusammenhang für Befragte ab den-r siebter.r Lebensjahrzehnt. Doch in dieser Zeit gehen viele Menschen in Rente, die Kinder sind längst aus dem Haus. Die Gelegenheiten, anderen zu helfen, nehmen ab. ,,Die Bedürfnisse der späten Lebensmitte passen nur schlecht mit der sozialen und demografischen Wirklichkeit zusammen", sagt Schafer. Besonders

tragisch: Eigentlich schätzen Jüngere die Alten als lveise Gesprächspartner. tMarkusH.schafer,LauraUpeneks:Theage gradednatureofadvice Dlstrbutona patterns and implicalions for I fe meaning. Socia Psychology Ouarter y 79/1,2016.22-43. Da 10.117

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PSYCIOLOGIE HEUTE 0612O]6


Verloren in Träumen Positives Denken gehört nt den Standardempfehlungen zahlloser Motivationsgurus und Selbsthilfebücher. Doch womöglich kann es sich rächen, die eigene

Zukunft in leuchtenden Farben zu malen.

Das befürchtet jedenfalls die Psychologin Gabriele Oettingen, die aus Deutschland stammt und an der

N ew York U niv er s ity lehr t. In mehreren Untersuchungen ließ sie Studierende

und Schulkinder Fragebögen zu depressiven Symptomen einerseits und Zukunftsfantasien andererseits ausfüllen. Die Kinder sollten sich beispielsweise vorstellen, sie seien siegesgewiss in der Endrunde eines Rechtschreibwettbewerbs angekommen und merkten nun, dass die anderen auch sehr gut sind. Welche Fantasien würden sie in dieser Situation entwickeln? In einer anderen Untersuchung antworteten Studierende nicht aufsolche fiktiven Vorgaben, sondern notierten vier Tage lang immer wieder, wie positiv oder negativ ihre tatsächlichen Stimmungen und Vorstellungen gerade waren. Das Ergebnis der insgesamt vier Untersuchungen war immer dasselbe: Wer sich positiven Zukunftsfantasien hingibt, fuhlt sich kurzfristig gut. Doch einige Wochen oder Monate später ist seine Stimmung depressiver als vorher. Eine der Studien zeigt, woran das liegen könnte: Die Motivation, sich anzustrengen, schwindet - und das führt später zu Problemen. Wenn sich Studierende eine rosige Zukunft ausmalen, geben sie sich beim Lernen wenig Mühe und kassieren deshalb schlechte Noten. Die verhageln dann die Stimmung.

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Träumt er gerade von einer goldenen

zukunft?

Die Psychologin sieht Parallelen zu früheren Forschungsergebnissen. Wenn jemand einen Suizidversuch hinter sich hat, denkt er erst einmal über keinen weiteren nach, wenn er sich für die Zukunft Glück und Gesundheit ausmalt. Doch tatsächlich ist in diesem Fall die Gefahr größer, dass er in den nächsten 1

5

Monaten noch einmal versucht, sich umzubringen.

Auch das Beiseiteschieben von Problemen führt langfristig zu depressiverStimmung, so Gabriele Oettingen: ,,Positive Fantasien und Verdrängen erlauben Menschen, Problemen zu entgehen-abernurbis die

Wirklichkeit zuschlägt."

cabriele Oettingen u.a.: Pleasure now, pain later. Positive fantasies about the future predict symptoms of depression. Psychological Science,2T/3, 20l6, 345-353. Dot: 10.117 7/ 09567 97 61s62O7 A3 Einen ausführlichen

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berblick

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ber die Forschung Gabriele Oettingens bie-

tet ihr Beitrag Träume machen träge in Heft 9/2015

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PSYCHOLOGIE HEUTE O612016

JOCHEN PAULUS

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Mehr Risiko mitHelm

Auch Einstein hatte es schwer

Radfahrer, die einen Helm tragen, gelten als vorsichtig und umsichtig. Dass dies nicht unbedingt stimmen muss, bewiesen die britischen Psychologen Tim Gamble

Was motiviert Schüler, für den Chemie- oder Physikunterricht zu lernen - gerade diejenigen, die keinen intuitiven Zugang zum Fach finden? Wie amerikanische

und Ian Walker von der Universität von Bath. Unter einem Vorwand ließen sie 80 Proban-

Bildungswissenschaftler um Xiaodong Lin-Siegler

den zwischen einem Fahrradhelm und einer Schirm-

von der Columbia-Universität in New York herausgefunden haben, helfen Geschichten vom Scheitern bärühmter Forscher. Die Wissenschaftler teilten 402 Neunt- und Zehntklässler aus New York in drei Gruppen ein' Ein Teil der fugendlichen las einen Text über die persönlichen Schwierigkeiten bedeutender Köpfe, etwa die Flucht

Albert Einsteins aus Nazideutschland' Eine andere Gruppe erfuhr von intellektuellen Rtickschlägen, etwa fehlgeschlagenen Experimenten der Physikerin und Chemikerin Marie Curie. Dazu gehörte aber auch, wie Prodiese Niederlagen letztlich doch zum Gelingen des jekts beitrugen. Eine Kontrollgruppe beschäftigte sich mit den herausragenden Leistungen von Genies' Nach sechs Wochen zeigten diejenigen Schüler, die

von persönlichen oder intellektuellen Schwierigkeiten

mütze wählen. Angeblich sollten mit einer auf der Kopfbedeckung angebrachten Kamera die Augenbewegungen aufgezeichnet werden. Tatsächlich interessierte die Wissenschaftler etwas anderes: nämlich die Risikobereitschaft der Probanden, etwa bei einem Computerspiel' Die Ergebnisse zeigen' dass die behelmten Versuchspersonen

mutiger an ihre Aufgaben herangingen als die Mützenträ-

g.r.

b..

Fahrradhelm erhöhte die Risikobereitschaft

.b..rro wie

das Bedürfnis, nach Reizen und Nervenkitzel

zu suchen. Und das, obwohl kein Zusammenhang zwischen

- dem Scheitern bei einem ComNachAnsicht Kopfbedeckungbestand' puterspiel-und der priming social äer Forscher ist dafür das sogenannte au(Helm Schutz) = verantwortlich, wonach ein Stereotyp

den Gefahren im Labor

tomatische Einstellungen und Verhaltensweisen aktiviert' MARION SONNENMOSER

Einsteins oder Curies erfahren hatten, verbesserte Leistungen. Besonders profitierten diej enigen, die zuvor

besonders schlechte Noten eingefahren hatten' Xiaodong Lin-Siegler meint, vielen Schülern sei nicht

risk taking and Tim Gamble, lan Walkerl Wearing a bicycle helmet can increase

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klar, dass Rückschläge und Schwierigkeiten zum Lernen dazugehören. about Xiaodong Lin-siegler u.a: Even Einstein struggled: Effects of learnlnq great scientists'struggles on high school students motivation to learn science' of Educational Psychologv, ßA/3, 2a16' 314-32a DOl: 1O lO37'l Journal

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Wie soll man sich in 1oO Jahren an Sie erinnern? Die PsYchologin Samantha Heintzelman erhielt auf diese Frage überraschende Antwor-

ten. Die meisten Befragten nämlich wünschten sich, anderen nach ihrem Tod mit ihren guten und schlechten Seiten im Gedächtnis zu bleiben. DOt; 1O.lOl6,/i. jrp.2Ol5.12.OO4

PSYCHOLOGIE HEUTE O612016

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Eingebildet ist er nur für andere: Viele Kinder haben einen imaginären Freund, der sie teils über Jahre ihres Lebens begleitet. Fünf Erkenntnisse über fantastische Begleiter; die auch manchem Erwachsenen nicht fremd sind d ,,1

Schätzungsweis e 37 Prozent aller Kinder im Alter bis zu sieben fahren haben zeitweise einen imaginären Freund Schließt man Kuscheltiere oder andere Spielzeuge, die als lebendig behandelt werden, mit ein, sollen es sogar 65 Prozent sein. Nicht immer wissen

die Eltern davon.

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Ein zwei Meter großer Hase, ein gemütlicher Bär, ein verständiger Stofftiger: Die Grenzen bei

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der Gestalt und Persönlichkeit des imaginären Freundes setzt nur die Fantasie des Kindes. Viele dieser Kameraden sind unsichlbar und verfügen über besondere Fähigkeiten, gerne auch Zauberkräfte.

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Nicht alle imaginären Freunde sind freundlich: Viele Kinder beschreiben ihren Begleiter auch als streitsüchtig, ungehorsam und nicht zähmbar.

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Trotzdem ist ihnen dabei durchaus bewusst, dass es nur eine Vorstellung ist, die ihnen

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da aufder Nase herumtanzt.

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Imaginäre Freunde können

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Kindern als Beistand bei Krisen und ihrer Bewältigung dienen.

,, Mädchen haben eher einen imaginären Freund als |ungen. Die Angaben des typischen Alters variieren: von drei bis sechs /ahren bis ins fugendalter und darüber hinaus. Bei Teenagern kann ein Tagebuch die Funktion übernehmen, bei manchem Erwachsenen ein geliebter Verstorbener - und viele Schriftsteller fühlen sich beim Schreiben von eipem selbst erdachten Charakter geführt.

PSYCHOLOGIEHEUTE O612016

Doch nicht jedes betroffene

Kind hat zwangsläufig Probleme. Viele scheinen besonders sozial verständig, kreativ und fantasievoll zu sein, ohne auffällige Defizite. Doch welchem Zweck auch immer der Fantasiefreund dient: Sobald er ihn erfüllt hat, verschrvindet er auch wieder.

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tM FOKUS

Herr Dr. Brudermann, Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit Situationen, in denen Menschen

in der Gruppe ihre lndividualität zu verlieren scheinen und zu einer gesichtslosen wütenden Masse, zu einem Mob werden. War das in Clausnitz und Bautzen der Fall? Ich kann das, was dort vorgefallen ist, auch nur anhand der Medienberichte und Videos im Internet beurteilen und habe daher ein unvollständiges Bild. Doch diese Bilder und Berichte legen nahe, dass wir es hier mit einem aggressiven Mob zu tun haben, wie wir ihn in Deutschland zumindest in der jüngeren ,Vergangenheit nicht oft gesehen haben.

Fallen lhnen andere Begebenheiten ein, die dem vergleichbarsind, was da in Sachsen passiert ist? 12

Die Rohheit und Aggressivität erinnern mich zum Beispiel an den inszenierten Volkszorn in Libyen und anderen arabischen Ländern im Iahr 2012. Ein schlecht gemachtes YouTube-Video, das man als Schmähung des Propheten Mohammed empfand, war damals der Initialzünder für Ausschreitungen, in denen unter anderem Botschaften attackiert und Fahnen verbrannt wurden. Der politische Hintergrund war ein anderer, aber die psychologischen Mechanismen sind ahnlich. Um malein unpolitisches Beispielzu nehmen: lnwiefern ähnelt und unterscheidet sich der Mob in Clausnitz von einer Horde aufgebrachter Fußballfans, die fäusteschwingend den Mannschaftsbus

belagern? PSYCHOLOGIE HEUTE 0612016


Emotion sorgt für eine Gleichrichtung a.. Uur-' se, sie dominiert alles, alles ist ihr untergeordnet. Sie haben die psychologische Ansteckung in einerMasse am Computer simuliert. Wie sind Sie Diese

Auf den ersten Blick überwiegen Gemeinsamkeiten : Es gibt ein Feindbild, die Horde besteht ausschließIich oder überwiegend aus Männern, vorwiegend jungen Männern, man sieht kollektive Wut, oft auch unter dem Einfluss von Alkohol. Allerdings ist ein Mob

ä

da vorgegangen?

Man definiert wie in einem Computerspiel Regeln, die das Verhalten und das Wechselspiel der virtuellen Akteure beschreiben, und programmiert die Ak-

la Clausnitz vielschichtiger und alarmierender,

denn er ist aus meiner Sicht Folge einer schleichenden Entwicklung in der Gesellschaft und Politik über die letzten Jahre, wenn nicht fahrzehnte hinweg. Die Psychologen Thomas Fenzel und Constantin Malik nennen diese unterschwelligen gesellschaftlichen

teure mit diesen Verhaltensregeln. Dann startet man das Programm, lässt die Akteure agieren und interagieren undbeobachtet quasi gottgleich, was passiert.

Diese virtuellen Akteure entsprechen den Men' schen in einer Masse? Genau. Man versucht hier, einfache Mechanismen

Entwicklungen,,Phänomene erster Ordnung". Sie bereiten den Boden für die,,Phänomene zweiter Ordnurg", nämlich die kurzen explosiven, sichtbaren Ausbrüche, wie wir sie in Clausnitz erlebt haben. Hat sich da unterschwellig schon seit langem eine politisch gleichgesinnte, latent aggressive Masse gebildet, die viel größer ist als der sichtbare Mob? Die Möglichkeit ist zumindest nicht von der Hand zu weisen, dass sich in Teilen der Bevölkerung eine

zu identifizieren, die Gültigkeit haben für Massenphänomene. Natürlich lassen sich diese Modelle nicht einfach aufdie menschliche Realitat übertragen, aber sie sind hilfreich, um diese Realitat zu verstehen.

Eine Frage, die Sie auf diese Weise untersucht haben, ist: Braucht eine Menschenansammlung eine bestimmte Größe, eine ,,kritische Masse" an Teilnehmern, damit sie sozusagen zündet und zu einem Mob wird? In unseren Modellen konnten wir keine solche Min-

entsprechende Stimmungslage ausgebreitet hat. Was passiert in dem Moment, in dem sich solche

Gleichgesinnten zusammenfinden? Entsteht da eine Eigendynamik, die sie von einer Ansamm' lung von lndividuen zu einem Mob werden !ässt? Aus den Polizeiberichten geht meines Wissens nicht

destanzahl von,,infizierten' Teilnehmern identifi-

zieren, die zur Massenbildung notwendig sind. Manchmal reichte bei bis zu 10 000 Akteuren schon ein einzelner Initialagent aus, um ein Massenphänomen zu begründen. Dieser Initiator infizierte dann einen zweiten, einen dritten und diese dann wiederum zehn und so fort. Eine ,,kritische Masse", analog zu einer nuklearen Kettenreaktion, war da nicht erforderlich. Es ist ohnehin ein oft untaugliches Unterfangen, Konzepte aus der Physik aufdie Sozialpsychologie zu übertragen. Isaac Newton soll, nachdem er in einer der ersten Spekulationsblasen am Finanzmarkt viel Geld verloren hatte, resignierend

genau hervo6 auf welche Weise sich diese Menschen

zusammengerottet haben. Aber mir scheint plausibel, dass da zunächst Leute zusammenkamen, die eine ablehnende, negative Grundstimmung gegen die Auf-

nahme von Flüchtlingen einte, die noch nicht notwendigerweise Gewaltbereitschaft umfasst haben muss. Aber aus der Gruppe heraus kann es - vielleicht auch angestachelt von lauten Wortführern - zu Verhaltensweisen kommen, die die meisten Teilnehmer einzeln niemals zeigen und wagen würden. In einer psychologischen Masse herrschen ganz schlichteVerhaltensregeln: Man tut, was die anderen tun, schreit,

gesagt haben:,,Ich kann zwar die Bewegung der

melskörper berechnen, aber nicht die Verrücktheit

Verhalten der Einzelnen synchronisiert sich. Eine

der Menschen."

psychologische Masse kennt dann nur noch eine Mei-

Auch wenn man es nicht berechnen kann: Was trägt dazu bei, dass Menschen zur Masse werden? Es hängt vor allem von der Anfälligkeit des Einzel-

es keinen Widerspruch, keine Diskussion, keine Reflexion. Das Ausmaß an Gewalttätigkeit, das aus dieser Dynamik entstehen kann, ist schwer vorauszusagen. Welche Rolle spielen Emotionen in diesem Pro'

nung, ein Ziel. Da gibt

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nen und der Bevölkerung insgesamt ab. Bestimmte Rahmenbedingungen machen uns empfänglicher für psychologische Ansteckung. Dabei sind zwei FaktoThomas

zess des Hochschaukelns? U

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Him-

wenn sie schreien, schaukelt sich gegenseitig auf. Das

Massen sind charakterisiert durch eine einzige einfache, starke Emotion, die alle vereint. Das kann auch Euphorie sein, etwa der Investoren an der Börse, die

dann zu Spekulationsblasen führt. Es kann Angst sein, etwa bei einer Massenpanik. Oder eben Wut.

Brudermann ist s s ste n z p rofes s o r an der Universität Graz. Er schrieb das Buch Massen-

A

i

psychologie (Sprinser 2O1O).

ren entscheidend: emotionale Erregung und Unsicherheit. Die Psychologen StanleySchachter und Ierome Singer haben schon in den l960er Jahren in Experimenten gezeigt, dass ängstliche oder euphorische Erregung einerseits und Orientierungslosigkeit andererseits Menschen anfälliger machen für Sug'13

PSYCHOLOGIEHEUTE O612O16


IM FOKUS I

gestion: Sie nehmen dann eher die Erklärungen von anderen an, statt selbst abzuwägen. In einer Situation wie jetzt haben wir beides: Wir haben Unsicher-

- kommen viele Zuwanderer, Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, und wir wissen nicht, in welcher Weise dies unser Zusammenleben verändern wird und ob diese Entwicklung bedrohlich ist. In dieser Unsicherheit schwingt schon eine ängstliche Erregung mit, und wenn dann ein Ereignis wie in der Silvesternacht in Köln hinzukommt, dann kommt eine zusätzliche heftige Emotion hinzu, nämlich Wut. Das ist der perfekte Nährboden für psychologische Ansteckung, für Suggestion, für einfache Erklärungen. heit

es

Daraus entstehen Massenphänomene.

lst eine Masse erst eanmal entstanden, geht von ihr eine,,hypnotische Wirkung" aus, meinte Gustave Le Bon, der Ende des 19. Jahrhunderts die Massenpsychologie begründete. Kann man sich dem Sog einer Masse dann gar nicht entziehen? Le Bon hatte in vielem recht und hat sehr viel vorweggenommen. Allerdings sollte man relativieren: Eine Masse kann anziehen, aber auch abstoßen, je nach persönlichem Hintergrund. Ein überzeugter Befürworter der Willkommenskultur, der einen solchen Mob erlebt, wird sich sicher abgestoßen ftihlen. Aber: Ieder, der schon einmal im Fußballstadion von einer kollektiven Begeisterung erfasst worden ist -

Wenn ich Teileines Mobs bin, löst sich das Empfinden persönlicher Verant-

wortung praktisch in nichts auf

Ich meine: ja. Es ändern sich ja nicht nur die politischen, sondern auch die wirtschaftlichen und gesell-

schaftlichen Ra}menbedingungen. Wir leben nun schon seit einigen Jahren in einer Zeit problematischer Wirtschaftsentwicklung. Die |ahrzehnte des Aufschwungs sind tendenziell vorbei oder zumindest ausgesetzt. Das bewirkt eine latente Unsicherheit, und die heftigen Reaktionen aufdie Flüchtlingskrise zeugen von dieser Unsicherheit. Vor l5 Iahren wäre die Reaktion vielleicht gelassener ausgefallen. Der amerikanische Finanzwissenschaftler Robert Prechter geht in seiner Soclor omics-Theorie sogar davon aus, dass die social mood, die gesellschaftliche Grundstimmung, keine Folge von Ereignissen ist, sondern umgekehrt die treibende Kraft hinter diesen Ereignissen: Angstliche Menschen führen Kriege. lnZeiten des Optimismus gründet und erweitert man die EU, in pessimistischen Zeiten, wie wir sie heute er-

leben, haben wir die Spaltungstendenzen.

Welche Rolle spielt die Pegida-Bewegung aus massenpsychologischer Sicht? Sie ist eine Art Wegbereiter. Pegida reduziert sämtliche gesellschaftlichen Entwicklungen auf ein The-

ma: Bildungsrückstand, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Wohnungsmangel - alles wird auf Einwanderung und Überfremdung zurückgeführt. Diese ein-

dimensionale Diskussion senkt bei Einzelnen

oder von einer tiefen Trauer wie nach den Attentaten

Hemmschwellen: Wer davon überzeugt ist, auf der

von Paris -, der weiß, dass von solchen Massen schon eine ganz besondere Wirkung ausgeht.

moralisch richtigen Seite zu stehen, schließt sich leichter einem Mob wie in Clausnitz an. Und das senkt

Sie vermuten unterschiedlich hohe individuelle

seinerseits die Hemmschwelle für weitere Mobs: Der Tabubruch ist dann ja bereits etabliert. ,,Dassind keine Menschen, die so etwas tun", entf uhr es dem sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich nach Clausnitz und Bautzen. Wird man tatsächlich ,,entmenschlicht", wenn man zum Bestandtei! einer Masse wird? Ich denke, wir müssen uns ohnehin von dem lange vorherrschenden humanistischen Ideal eines ratio-

,,Reizschwe!!en": Der oder die eine steckt sich leichter mit dem Massenvirus an, der andere ist resistenter. Wovon hängt das ab? Wahrscheinlich von der persönlichen Geschichte, dem Erfahrungsschatz und zum Teilvon der Persön-

lichkeit. Manche sind zudem anfälliger, sich von euphorischen Emotionen anstecken zu lassen, andere stecken sich eher mit einer aggressiven Stimmung an. Aber entscheidend sind vor allem die Rahmenbedingungen, das gesellschaftliche Klima, denn dies ändert die Reizschwellen von sehr vielen Menschen.

Wir haben in unserem Modell beobachtet,

dass oft

schon eine geringftigige Anderung der durchschnitt-

lichen Reizschwelle in einer Population darüber ent-

scheidet, ob sich ein Massenphänomen ausbreitet oder nicht. Flüchtlingskrise, Kriege rund um Europa, Terror-

nalen, eigenständig denkenden Menschen verabschie-

den. Wir Menschen sind nicht von Vernunft und Weisheit allein angetrieben. Wir handeln in vielen Situationen intuitiv und rationalisieren unsere Handlungen erst im Nachhinein. Als soziale Wesen orientieren wir uns fast immer an dem, was andere Menschen denken, meinen und tun. Aus neurowissenschaftlichen Studien weiß man, dass wir gar nicht in der Lage sind, solche sozialenEinflüsse auszublenden.

anschläge, schwere Konflikte innerhalb der EU bis hin zum drohenden Zerfall: Leben wir in einer Zeit gesenkter ReiTschwellen mit der Gefahr

In einer psychologischen Masse multipliziert sich dieser Effekt sozialer Einflüsse natürlich enorm. Schon in Gruppen verringert sich das individuelle

kaum kalkulierbarer Massenbewegungen?

VerantwortungsgefUhl. Wenn ich Teil eines Mobs

14

PSYCHOLOGIE HEUTE 0612O'I6


bin, dann löst sich das Empfinden persönlicher Verantwortung praktisch in nichts auf. Die Verantwortung wird an die Gruppe, an den Mob abgegeben. ln Clausnitz haben Leute aus dem Mob, der den Flüchtlingsbus umlagerte, auch weinende Kinder drohend angeschrien - ein Verhalten, das Außen-

stehende als zutiefst beschämend empfinden. Wie weit sinkt in der Masse die Hemmschwelle für aggressive Tabubrüche? Eine Masse ist von einer basalen Emotion wie Wut bestimmt. Sie ist nicht zugänglich für Argumente

Die Hemm-

schwellen sinken.lch halte eine weitere Eskalation durchaus für möglich

und Vernunft. Auch ein einzelner Mensch ist, wenn er emotional stark erregt ist, kaum empfanglich ftir eine rationale Argumentation, und bisweilen reicht der Kontrollverlust bis hin zu ,,Totschlag im Affekt". Erst recht sinkt die Hemmschwelle für solche Tabubrüche in einem emotionsgeladenen Mob ohne Verantwortungsgefi.ihl und Selbstreflexion. Es ist dann auch nur noch sehr begrenzt mögiich, aufeinen solchen Mob einzuwirken, wenn überhaupt. ln der Masse sind also Vernunft und Urteilskraft abgemeldet. Sinkt sogar die lntelligenz der Ak-

Kann die kollektive Dynamik einer Masse jederzeit weiter eskalieren, zum Beispiel zur Lynchius-

tiz wie bei den Judenpogromen im Mittelalter oder dem Sturm auf die Bastille als Auftakt der Französischen Revolution? Wäre Ahnliches in unserer heutigen Zeit und Kultur mö9lich? Es ist wahrscheinlich für uns alle sehr schwer vorstellbar, auch für mich, der ich in Friedenszeiten aufgewachsen bin. Aber ich halte weitere Eskalationen durchaus für möglich. Man sieht ja, dass die Hemmschwellen sir-rken und auch von bestimmten Gruppen systematisch weiter gesenkt werden. Und wir stehen noch dazu vor immensen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen. Wirleben in einer Umbruchszeit, und die Bedingungen ändern sich schneller als irgendwann sonst in der jüngeren Geschichte. Ich habe kürzlich ein Buch von Stefan Zweig mit dem

Titel Die Welt von gestern gelesen. Zweig beschreibt, wie unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg niemand in seinem Umfeld auch nur ansatzweise ftlr möglich gehalten hat, was dann folgte. Und niemand hatte auch vor dem Nationalsozialismus dessen Grausam-

teure?

keiten und Brutalitäten für möglich gehalten. In bei-

einmal gesagt haben: ,,Eine große Gesellschaft, aus lauter trefflichen Menschen zusammengesetzt, gleicht an Moralität und Intelligenz einem großen, dummen und gewalttätigen Tier." Tatsächlich können Intelligenzniveau und die Qualitat

den Fällen wurde die Entwicklung durch ein syste-

C. G. Jung soll

von Entscheidungen bereits in einer Gruppe sinken

-

matisches Absenken von Reizschwellen und immer neue Tabubrüche vorangetrieben. Wenn man das Buch von Zweig liest, ist es beängstigend, wie viele Parallelen es zur heutigen Zeit gibt und wie sich die

Mechanismen und Strategien

und erst recht in einer Masse.

Was uns innerlich antreibt

ähneln.

INTERVIEW: THOt'1AS SAUl"l-ALDEHOFF

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i§8§,ry,H:1,," »lch bin eh nicht so wichtig«, »lch bin schuld«, »lch glaub, ich bin zu blöd«: Drei typische Glaubenssätze die wir schon früh verinnerlichen, unbewusst für wahr halten und mit denen wir uns das Leben schwer machen. Dieses Buch zeigt die häufigsten Muster, die dahinter stehen, und ihre Auswirkungen auf Lebensbewältigung, Partnerschaft und Beruf, Zugleich weist es Wege, die aus dem Bann dieser Muster herausf uhren,

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ANGST VOR DER LEERE VON MARGARETHE SCHINDLER

Mann mit grau melierten Haaren, gepflegt und sorgfältig gekleidet, wirkt etwas steif. Ich frage ihn nach seinem Anliegen. Er schaut er ältere

auf den Boden. ,,Angst. Depression. Beides." Ich erfahre, dass er in einem Iahr pensioniert wird und ihn das schon seit langem sehr ängstigt und bedrückt. ,,Ich liebe meinen Beruf, und ich brauche ihn",

erklärt er. Dann berichtet er, dass er als Gymnasiallehrer arbeitet und ihm der Kontakt mit den Schülern und Schülerinnen immer sehr wichtig war und ihn erfüllt. ,,Wahrscheinlich weil ich keine eigenen Kinder habe", erklärt er. ,,Mit den Kollegen ist es schwieriger als mit den Schülern. Die mögen mich." Ich sehe, dass er den Tränen nahe ist. ,,Und jetzt haben Sie Angst vor der Leere

Er war Lehrer mit Leib und Seele. Nun steht die Pensionierung vor der Tür. Das bereitet ihm Angst. Doch in Gesprächen

mit der Psychotherapeutin Margarethe Schindler erkennt der Klient, dass das Leben durchaus noch Neues bereithalten könnte

,,Bei uns zu Hause war das Geld

,ich. Abschied und Verlust sind wahr16

immer

knapp", fängt er an. ,,Das war schlimm. Ich schämte mich vor den Klassenkameraden, weil ich zum Beispiel nur mit

nickt. Ich bitte ihn, mir Näheres über seine Lebenssituation zu erzählen. vor zwei Iahren gestorben ist und er seither allein lebt. Noch ein Verlust, denke

sicht, dass er bald ohne diese Struktur im

Alltag sein wird, dass ein Vakuum entstehen könnte, ist natürlich ängstigend und deprimierend. Er denkt nach. ,,Ich brauche Aufgaben', fährt er fort. ,,Ohne Aufgaben ist mein Leben sinnlos." Ich erfahre, dass seine Frau lange Zeit krank war und er sie gepflegt hat. ,,Ich war ja nachmittags zu Hause", erklärt er. Nun möchte ich gern mehr über seine Herkunft erfahren. ,,Wie sind Sie aufgewachsen?"

nach der Pensionierung", vermute ich. Er

Unter Tränen erzählt er, dass seine Frau

scheinlich die Themen, die ihn belasten und umtreiben. Ich vermute, dass der Beruf auch ein Halt nach dem Tod seiner Frau war. So konnte er den Schicksalsschlag leichter überwinden. Und die Aus-

fi-

nanzieller Unterstützung aus der KlassenMargarethe Schindlel ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet als systemische Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Tübingen.

mitkonnte. Aber ich war ein guter Schüler und wollte später unbedingt studieren. Ich wollte etwas werden, anders als mein Vater, der nur kasse ins Schullandheim

PSYCHOLOGIE HEUTE 06120]6


Hausmeisterwtrr. Meine Eltern haben Opfer gebracht, un-r n.rich unterstützen zu

mit

steht eine Perspektive

ftir ihn. ,,Damit

wäre die Zukunft doch nicht so leer und

Pron-ro-

grau", meint er leise. Außerdem braucht

tion wäre sonst nicht rnöglich gewesen."

er ein Abschiedsritual für den Über$ang

Leistung ist für ihn also wichtig. ,,Meine jüngere Schwester ist rnit 16 Iahren ab-

in den Ruhestand. Etwas, das deutlich

gehauen", spricht er weiter. ,,Sie lebt jetzt in Italien, und wir haben so gutwie keinen

und etwas Neues beginnt.

Kontakt." Also ruhten die Hoffi.rungen der

jeden einen entscheidenden Einschnitt im

Eltern, die nun schon seit Jahren tot sind, auf ihm. Er hat sie nicht enttäuscht. Doch das, was zu seiner Lebensaufgabe gewor-

Leben dar. Viele freuen sich darauf, an-

könner.r. Das lange Studium

den ist, wird bald hinfallig sein. Also viel ,,Was

gibt

es

aufzeigt, jetzt hört etwas Gewohntes auf Das Ende des Berufslebens stelit ja

dere

- wie

er

- fürchten

denn außer dem Beruf?",

frage ich ihn. ,,Womit beschäftigen Sie sich? " Lange Pause. ,,Früher habe ich noch

für

sich davor. Meis-

tens ist es eir.re Mischur-rg von beidem. Auf jeden Fall geht kaum jernand so entspannt

in die neue Lebensphase

Leere um ihn.

was über lange )ahre zentral bedeutsam und nicht selten auch Lebensinhalt war,

wir oft gewandert, meine Frau und

ich", fallt ihm nach einer Weile ein.

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ou*nr*."orn,

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ist vorbei. In Leber.rsübergängen und

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vergessene

Klugheit

um einen Abschied; etwas,

ich schon lange nicht mehr", antwortet er

de sind

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weiljede Veränderung zuerst Angst macht. Es geht auch

geeignet hat. Ich bohre weiter: ,,Und sonst früher? Außer Garten? " ,,Am Wochenen-

är

elr,

des Ruhestands

hinüber, als ob es sich urn etwas Alltägliches handeln würde. Nicht nur deshalb,

gern im Garten gearbeitet, aber das mache

dann. ,,Ich habe keir-re Zeit mehr dafür, weil ich viel in die Vorbereitung des Unterrichts investiere." letzt ist er in seinem Element, merke ich, denn er würde am liebsten weiter berichten, welche zeitgernäßen Unterrichtsmethoden er sich an-

Ein köstliches Plädoyer für die Klugheit!

Kri-

(!

hogrefe

sen können Rituale hilfreich sein. Was

könnte ftir ihn stimmig sein? Nach einer Weile fällt ihm ein, dass er aufjeden Fall ein Fest n-rit seiner letzten Klasse veranstalten könnte. Ein Abschiedsfest in seinem Garten. Diese Vorstellung belebt ihr-r offensichtlich. Auch die Auflösung seines Arbeitszimmers

Allan Guggenbühl

Die vergessene

Klugheit Wie Normen uns am Denken hindern

kann als Ritual gestaltet werden. Aber da-

ln Lebensübergängen und Krisen sind Rituale hilfreich Es ist

klar, dass er eine Perspektive braucht,

etwas, um sich die Zukunft ohne Beruf angstfrei vorzustellen. Was also könnte

Art Ersatz sein für die Berufstätigkeit? Ein Ersatz für diese Struktur, für Leistung? Etwas, was er sich zur Aufgabe machen kann? Er denkt nach und erwägt schließlich die Gartenarbeit. Ich werfe ein, dass auch die Kontakte mit Menschen wahrscheinlich wichtig ftir ihn sind. Seine Kontaktfahigkeit - ohne sie ginge es ihm mit den Schülern ja nicht so gut - ist darüber hinaus eine wichtige Ressource. Wie könnte die genutzt werden? Nach längerem Nachdenken kommt ihm die Idee, dass ervielleicht bedürftigen eine

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Kindern ehrenamtlich Nachhilfeunterricht geben könnte. Oder Kurse in der Volkshochschule. Das würde gut zu seinem Beruf passen. Auf diese Weise ent-

ran mag er jetzt noch nicht so detailliert denken. Grundsätzlich geht es darum, Platz zu schaffen für Neues. Dabei fallen ihm seine Bücher ein. Viele hat er noch nicht gelesen, aus Zeitn-rangel. Darauf

201 6. 21 2 Seiten, gebunden

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Normen regetn geseltschafttiche Abläufe. Der Zweck dieser Normen ist schnell erkannt: S e sind eine Antwort auf Unvernunft.

könnte er sich freuen. Allmählich komrnt

Sie solLen uns vor uns setber schutzen. Doch

Leben in seir.r Gesicht, und seine Züge hel-

AtLan Guggenbühl ptad

len sich auf. Und dann kommt er noch auf die Idee, nach

dass er eine Reise zu seiner Schwester

Italien machen könnte. Er hat ihre Kinder noch nie gesehen. Solch eine Wiederaufnahme einer fan-riliären Beziehung könnte ein sinnvolles Signal sein, ein wegweisendes Zeichen

ert unter andereln anhand der PiSA-Studie fur e genstandiges Denken: Ktuges Handeln bedeutet, dass man sich über beruftiche Standards hinauswagt, wenn es angeze gt lst, und neue Kom b nationen od-or Alternativen andenkt.

t#äär

für die kommenden fah-

re. Anstelle von Leistung neue

Eindrücke

und emotionale Wiederanbindung an die Schwester. Jetzt, wo er bald Zeit im Überfluss hat.

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TITEL

Drübe stehen! Stress ist unvermeidbar. Ungerechtigkeiten passieren. Wir können nicht verhindern, dass andere Menschen uns verletzen. Ein dickeres Fell könnte helfen, die kleinen und großen Kränkungen des Lebens besser zu ertragen. Nur: Was tun, wenn man eher zu den Dünnhäutigen und Sensiblen gehört? voN BtRGtr scHöNBERGER

as

Seminar Gesprächsführung geht

zu Ende. Die Trainerin hat ein gutes

Gefühl.

Es

war lebendig und inten-

siv, immer wieder loste sich die Spannung durch befreiendes La-

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te ich doch

nur ein dickeres Fell, an dem destruktive

Kritik, gemeine Spitzen, nervende |ammertiraden, stressige Situationen und die täglichen Katastrophen-

verdammt leicht gemacht", schimpft der letzte Teilnehmer mit hochrotem Kopf. ,,Wir mussten alles selbst machen. So, wie Sie arbeiten, möchte ich mal Urlaub machen. Das hat mir alles gar nichts gebracht. Ich werde mich beschweren." Die Trainerin sackt in-

lung, andere seien im Besitz dieser beneidenswerten Schutzschicht, nur man selbst sei vergessen worden,

nerlich in sich zusammen, die guten Rückmeldungen sind vergessen. Selbstzweifel tauchen auf. ,,Was habe

als die Felle verteilt wurden. Doch die Vorstellung vom dicken Fell, das in allen Lebenslagen zuverlässig

ich falsch gemacht? Bin ich eine schlechte Trainerin? ' Werde ich weitere Aufträge bekommen?" Noch Ta-

vor Kränkungen, Vorwürfen, kritischen Bemerkungen und anderen unangenehmen Dingen schützt, hat

sichter. Die Rückmeldungen sind positiv, manche sogar überschwänglich. Guter Aufbau, tolle Übungen, viele Aha-Momente. Sie freut sich schon auf einen Espresso und ein Stück Kuchen in ihrem Lieblingscafd. Daplatzt die Bombe. ,,Sie haben es sich ja

d

demütigende Szene immer wte-

der in Gedanken durch. Und sie wünscht sich: ,,Hät-

meldungen einfach abperlen wie Wassertropfen! " ,,Mir fehlt ein dickes Fell." Dieser Satz fällt regelmäßig, nicht nur in Psychotherapien und Coachings, auch in Gesprächen mit Freunden und Kollegen. Variationen sind: ,,Ich möchte nicht mehr so empfindlich sein", ,,Ich will nicht alles persönlich nehmen", ,,Ich wünsche mir, dass Kritik an mir abperlt", ,,Ich will nicht so kränkbar sein". Häufig ist die Sehnsucht nach einem dicken Fell verbunden mit der Vorstel-

chen. Bei der Abschlussrunde blickt sie in offene Ge-

d

ge später geht sie die

PSYCHOLOGIE HEUTE 06,/2016

l9


,TITEL I

Ein dickes Fell schützt

es

ist auch kein Kampfanzug, mit dem wir uns gegen

die Außenwelt verteidigen." Vielmehr, so Berckhan,

das lmmunsystem. Es mildert die Wucht von Krän ku ngen u nd Stresssituationen

sei es so etwas wie ,,ein Umhang, der dafür sorgt, dass ich innerlich stabil und ruhig bleiben kann, wäh-

rend ich in einer stressigen Situation stecke." Wenn uns ein Verkehrsstau in Zeitnot bringt, ein Streit mit der Partnerin uns nachgeht, das Kind schlechte Noten nach Hause gebracht hat und ein Wasserrohrbruch

im Haus für Chaos sorgt, dann kann eine

gewisse

seelische Immunität all das zwar nicht verhindern, aber sie kann die Wucht der Geschehnisse abmildern.

viel mit magischem Denken und wenig mit der Realität zu tun. Das Bild des dicken Fells, so verlockend und schön es ist, kann in eine Sackgasse führen. Es suggeriert, entweder man hat es oder man hat es nicht, und wenn man in der glucklichen Lage ist, eins zu haben, braucht man es sich nur überzuziehen, und schon ist man souverän, gelassen und unverwundbar. ,,Am liebsten wäre uns eine Pille, die wir einwerfen können, und dann tut es nicht mehr weh. Das ist

ein ganz normaler menschlicher Wunsch, nur leider oder glticklicherweise ist er nicht erfüllbar", sagt die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki. ,,Es wäre doch

langweilig, wenn wir von morgens bis abends total kompetent wären und jedes Problem sofort vom Tisch wischen könnten. Viele sagen, wenn ich ein dickes

Familie aufgewachsen sind. Ihr dickes Fell hängt vor allem davon ab, mit welcher Grundhaltung Sie an die Dinge herangehen", so Barbara Berckhan. ,,Sie können das, was Ihnen das Leben serviert, innerlich anders verarbeiten." Sie empfiehlt unter anderem, sich auf das Hilfreiche, Brauchbare, Angenehme zu

konzentrieren und weniger auf das Nervige, Störende und Unangenehme und sich folgende Fragen zu stellen: Inwieweit bringt mich das, was mich nervt, ärgert oder stresst, weiter? Was kann ich daraus lernen? Was kann ich bei diesem Problem trainieren oder üben? Welche zu hohen Erwartungen kann ich endlich loslassen? Was gibt mir jetzt Kraft? Welche Gedanken beruhigen oder trösten mich? Ziel ist nicht, sich Unangenehmes schönzureden, sondern auch

in

es mir nichts mehr ausmachen, wenn mein Chef mich runterputzt oder mein Partner exzessivmit anderen flirtet. Aber das ist Unsinn. Wenn ich so ein dickes Fell habe, dass mir solche Verletzungen nichts mehr ausmachen, bin ich nicht souverän, sondern ein unerträglicher Zombie. Wir können nicht unverletzbar werden." (Siehe Interview

schwierigen Situationen die eigene Stärke zu spüren,

Seite 24).

dort

Dass andere uns Druck machen, unfair behandeln, aufdie Nerven gehen, im Stich lassen, kurz: sich nicht

Erste Hilfe: Abstand gewinnen

Fell hätte, würde

wünschen, können wir nicht verhindern, auch nicht mit einem dicken Fell. Ebenso wenig, dass das Leben uns immer wieder mit so verhalten, wie

wir

es uns

schwierigen Situationen, Enttäuschungen, Verlusten und Schmerz konfrontiert. Die gute Nachricht aber

ist: Es ist möglich, mit Kritik, Anfeindungen, Ignoranz und Stress besser umzugehen und daran zu wachsen.

mitten in der Turbulenz eines Angriffs. Nur, wie geht das? Wie verändert man seine Einstellung und lernt, unempfindlicher gegen die kleinen oder größeren Nadelstiche zu werden? Es gibt Strategien, die helfen, schneller wieder ins Gleichgewicht zu kommen und die innere Mitte zu finden und von aus besonnen

und entschlossen zu handeln:

kann auch nur mir passieren", ,,Was denken die anderen jetztvon mir? ",,,Wäre ich nurselbstbewuss,,Das

ter aufgetreten" -wenn die Gedanken düster werden und ständig um ein belastendes Erlebnis kreisen, hilft als Erstes: Abstand gewinnen und ein paar Schritte

zurücktreten. Räumlich und mental. Oft wirkt

es

Wunder, den Raum zu verlassen, ein paar Schritte an der frischen Luft zu gehen, sich aufder Toilette

Barbara Berck-

einzuschließen, ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen

han ist ein dickes Fell ein ,,Aufprallschutz, der verhindert, dass wir allzu gestresst werden. Oder dass wir uns zu sehr über etwas aufregen." Auf keinen Fall, so betont sie, ist das dicke Fell eine ,,starre Ab-

und dann zurückzugehen in die stressige Konferenz oder das schwierige Gespräch mit dem Partner. Wenn physischer Abstand nicht moglich ist, kann es entlastend sein, innerlich auf Distanz zu gehen, die Si-

wehrmauer, mit der wir uns rigoros abschotten. Und

tuation

Für die Kommunikationstrainerin

20

,,Ein dickes Fell ist nicht davon abhängig, ob Sie zufallig die richtigen Gene haben oder in einer tollen

aus der Vogelperspektive zu betrachten oder PSYCHOLOGIE HEUTE 0612016


TITEL

»

Wer dickfelliger werden will, sollte prüfen:

Stimmt das, was ich über andere denke?

sich vorzustellen, man säße an einet.n Flussufer und

einlacher.r Gefaller.r irbschlager-r? Ler.rte wie dieser Kerl

könne aus sicl.rerer Entfernung zuschauett, wie die Turbulenzen des Alltags vorbeitreiben.

vergitier-r einern dtrs Leben. Und danr.r bildet er sich

Die eigene lnterpretation überprüfen Ein Mann will ein Bild aufhringer.r. Den Nagel l-rat er, nicht aber den Hamrner. Del Nachbzrr hat einen. A1so beschließt der Mann, I.rintiberzugehen ur-rd ihr.r :ruszuborgen. Doch da komr.nt ihr.n ein Zrveifel: ,,Was,

wenn der Nachbar mir den Hammer r-ricl.rt leiher-r will? Gestern scl-ror.r grtißte er r.r.ricl-r nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht ivar die Eile nur vorgeschützt, ur-rd er hat etwas geger.r rnicl.r. Und was? Ich habe ihrn r-richts angetirn; der bildet sich da etwas eir.r. Wenn jernaud von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und n,arut-u er nicht? Wie kann rran einer.n Mitr.nenschen einen so PSYCHOLOGIEHEUTE 0612OI6

noch ein, icl-r sei auf ihn ar.rgewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht's mir aber u'irklicl-r." - Ur.rd so stürmt er hir.rüber, läutet, der Nachbar'öffr.ret, docl-r noch bevor er ,,Guten Tag" sager.r kartr.r, schreit ihn unser Mann an:,,Behalter-r Sie Ihren Hirt.t.tn.rer, Sie Rüpell" Diese bertihmte Gesci-richte, die auf Paul Watzlarvick zurückgeht, erzählt der Würzburger Psychotherapeut Frank-M. Staemmler in seinern aktueller.r Buch Krtinkungen. Verstärtdnis tnrd Bewältigtrtrg alltägliclrcr T'agödie n nach, um zrufzuzeiger.r, wie sehr scheinbare Gewissheiten einen it.t die Irre führen könner-r. ,,Die Wirkung, die das Verl-ralten des anderen auf mich hat, hängt wer-riger vott dessen Verhal-

ten, sondern mehr davon ab, wie ich sein Verl.ralten 21


,TITEL t

auffasse und deute", so Staemmler. ,,Wenn man diese Einsicht für sich nut-

res suchen, der meinen

zen möchte, kann man da-

kungsgefühlen'geschützter und dickfelliger als ein Mensch, der ein Bedürfnis äußert und erwartet, dass andere darauf positiv reagieren. ,,Die Wahrscheinlichkeit, sich gekränkt zu fühlen, sinkt, je weniger man an seine Wünsche die Erwartung, die Forderung oder den Anspruch koppelt, sie müssten so erfüllt werden", so Staemmler. Ein gewisses Maß an ,,Bescheidenheit und Demut" könne helfen, die seelische

raus ableiten, dass man aus

der Kränkung, die man empfindet, weniger über die Absichten des anderen

erfährt als über die eigenen Interpretationen." Wer dickfelliger werden will, sollte den eigenen Deutungen auf die Spur kommen - zLLm Beispiel durch offene Fragen. Fragt sich die Trainerin im Eingangsbeispiel :,Ntl as könnte Super, ich bin

nicht durchgedreht: Jede Kränkung, die wir überwinden, ist eine Einzahlung auf unser

Selbstwertkonto

der Teilnehmer mit seiner Kritik meinen? ", fallen ihr garantiert mehr Möglichkeiten ein, als wenn sie denkt: ,]rt[as hat er damit gemeint? " Denn Studien zeigen, ,,dass Menschen auf

offene Fragen sehr viel kreativer antworten als auf solche, die nur eine Antwort zulassen", erklärt Sta-

emmler. Eine weitere Möglichkeit, die eigenen Überzeu-

gungen infrage zu stellen, zeigt die amerikanische Therapeutin Byron Katie auf. Sie bittet ihre Klienten, ihre Überzeugungen aufzuschreiben und sich dabei zt fuagen:,,Kannst du wirklich wissen, dass das so

stimmt?"

Erwartungen senken Wer gekränkt wird, wer unter schmerzhaften (kleinen oder großen) Nadelstichen anderer leidet, wird diese Aufforderung irritierend finden. Wie können

wir Verhaltensweisen anderer, die uns treffen und verletzen, nicht wichtig nehmen? Sicherlich hängt es

von der jeweiligen Situation ab, ob wir es schaffen, einen Schritt zurückzutreten und Abstand zwischen dem Stressor und unserem Erleben zu schaffen. Grundsätzlich aber hält Frank-M. Staemmler für sinnvoll, sich eines klarzumachen: Wirkönnen nicht erwarten, dass andere immer auf unsere Wünsche eingehen, und wir sollten auch berücksichtigen, dass

ihre Interessen anders gelagert sind als unsere. An-

Wunsch teilt. Wünsche darf

man äußern, aber man kann nicht erwarten, dass sie in Erfüllung gehen. Wer das akzeptiert, ist vor Krän-

Immunität zu stärken, ,,Wer andere Werte über den des eigenen Selbst stellt, ist weniger durch Kränkungen gefahrdet", stellt Frank-M. Staemmler fest.

Buddhistisch werden Wie auch immer man zum Buddhismus steht, einige buddhistische Prinzipien der Gelassenheit können helfen, den Herausforderungen des Alltags flexibler und gelassener zu begegnen wahrnehmen,was gerade geschieht, ohne es sofort zu bewerten; annehmen,was ist, ohne es größer oder kleiner zu machen (nicht leugnen, aber auch nicht dramatisieren); erkennen, dass nur ein Teil von mir verwundet oder hilflos ist; nicht verallgemeinern, denn nur im Moment fühlt es sich schrecklich an, aber das geht auch wieder vorbei; sehen, dass man nicht der Einzige ist, der leidet. Andere machen gerade Ahnliches durch. Und schließlich helfen Fragen wie: Was werde ich in zehn Iahren über dieses Ereignis denken? Wird es überhaupt noch eine Rolle spielen? Werde ich womöglich darüber lachen? Ein dickes Fell schützt uns nichtvorVerletzungen, aber es schützt unsere Ressourcen, unsere Energie und unsere Kraft. Wer dickfelliger wird, ,,besinnt sich auf seinen Wert, seine Fahigkeiten und Möglichkeiten und lebt sie unabhängig von dem, was draußen ist", sagt Bärbel Wardetzki. ,,Jede Kränkung, die ich überwunden habe, ist eine Einzahlung auf mein Selbstwertkonto. Weil ich mir dann auf die Schulterklopfen und sagen kann: Super, ichbin nicht durchgedreht, ich habe mich nicht selbstbeschimpft, ich habe mein Problem gelöst. Dann werde ich auch zukünftige Kränkungen anders erleben und verarbeiten."

genommen, man hat den Wunsch, mit einem Freund einen Spaziergangzu machen, der aberhatkeine Lust

und lässt uns abblitzen. Dann, so Staemmler, ,,muss ich nicht gleich beleidigt sein, sondern kann mich vielleicht damit anfreunden, mit ihm eine Fahrradtour zu machen oder mich einfach nur mit ihm in 'den Garten zu setzen". Oder ich kann jemand ande22

LITERATUR Frank-M. Staemmler: Kränkungen. Verständnis und Bewältigung alltäglicher Tragödien. Klett-Cotta, Stuttgart 2016

Barbara Berckhan: Das dicke Fell. Wie Sie sich vor Frustfallen und Nervensägen schützen. Kösel, München 2014 Bärbel wardetzki: Nimm's bitte nicht persönlich. Der gelassene Umgang mit Kränkungen. Kösel, München 2012 PSYCHOLOGIE HEUTE 0612O16


TITEL

DICKFELLIGER WERDEN Mentale Stärke hilft, cool zu bleiben VON AMY MORIN

Finden Sie sich in den folgenden Beispielen wieder? . Sie fühlen sich von Kritik oder negativem Feedback tief betroffen, egal wer sie äußert. . lhr Selbstwertgefühl hängt davon ab, was andere über Sie denken. . Sie sind lange verärgert, wenn jemand Sie beleidigt oder verletzt hat. Wenn Sie diese Situationen kennen, geben Sie anderen Menschen Macht über lhre Gedanken, lhre Gefühle und lhre Handlungen. Wenn man sich als Opfer der eigenen Lebensumstände betrachtet hat, dann fällt es oft schwer zu erkennen, dass man die Macht hat, seinen Weg selbst zu bestimmen.

Wie schafft man es, seine Macht zu bewahren und mental stark zu sein? Ein Perspektivenwechsel

lohnt sich Manchmal benötigt man eine andere Sichtweise auf Dinge, um sich seine Macht zurückzuerobern. Hier einige Beispiele: .,,Mein Chef macht mich so wütend." Vielleicht mögen Sie es nicht, wie lhr Vorgesetzter oder Chef sich lhnen gegenüber verhält, aber ist er wirklich in der Lage, Sie wütend zu machen? Er mag sich nicht so benehmen, wie Sie es gerne hätten, und das hat Einfluss auf lhre Gefühle, aber er zwingt Sie nicht dazu, etwas Konkretes zu empf inden. . ,,Mein Freund hat mich verlassen, weil ich nicht gut genug für ihn bin;' Sind Sie wirklich nicht gut genug, oder ist das nur die Meinung eines einzelnen Menschen? Nur weil ein Mensch so etwas denkt, heißt es nicht, dass es wahr ist. Geben Sie einem Mqnschen nicht die Macht, darüber zu bestimmen, wer Sie sind. PSYCHOLOGIE HEUTE O612O16

Ruhig bleiben Wenn jemand etwas sagt, das lhnen nicht gefällt, und Sie fangen an zu argumentieren, dann geben Sie den Worten noch mehr Gewicht. Denken Sie vorher darüber nach, wie Sie sich verhalten wollen, bevor Sie reagieren. Jedes Mal, wenn Sie die Kontrolle verlieren, geben Sie der anderen Person mehr Macht. Hier ein paar Strategien, wie man ruhig

bleiben kann: . Atmen Sie tief ein. Frustration und Wut rufen körperliche Reaktionen hervor, zum Beispiel Atemnot, Herzrasen und Schwitzen. Langsam und tief ein- und ausatmen entspannt lhre Muskeln, was sich wiederum positiv auf lhr emotionales Reaktionsvermögen auswirkt. . Entziehen Sie sich der Situation. Je aufgewühlter man ist, desto weniger kann man rational denken. Erkennen Sie lhre persönlichen Wut-Warn-

signale, zum Beispiel Zittern oder Schwitzen, und gehen Sie einfach weg, bevor Sie die Kontrolle verlieren. Sagen Sie: ,,Darüber will ich jetzt nicht reden." . Lenken Sie sich ab. Versuchen Sie nicht, ein Problem zu lösen oder über etwas zu diskutieren, wenn Sie

emotional aufgeladen sind.

Stärker Umgang mit Kritik Wenn Sie Kritik oder Feedback von anderen bekommen, dann warten Sie erst einmal, bevor Sie darauf antworten. Wenn Sie verärgert sind oder emotional reagieren, dann nehmen Sie sich Zeit, um sich zu beruhigen. Stellen Sie sich folgende Fragen: . Welchen Beweis gibt es dafür, dass das Gesagfe wahr ist? Zum BeisPiel wenn lhr Chef behauptet, Sie seien faul, überprüfen Sie, ob es Zeiten gab, in denen Sie vielleicht nicht so ganz bei der -Sache waren.

. Welchen Beweis gibt

es, dass das Ge-

sagte nicht wahr ist? Überprüfen Sie, ob Sie viel Mühe in lhre Arbeit investiert und hart gearbeitet haben. . Warum gibt mir dieser Mensch ein so/ches Feedback? Versuchen Sie herauszufinden, warum jemand lhnen negatives Feedback gibt. Weiß derjenige genug über Sie? Wenn lhr Chef Sie an einem Tag beobachtet hat, an dem Sie sich krank fühlten, dann denkt er womöglich, Sie seien nicht sehr produktiv. Diese Schlussfolgerung mag aber nicht richtig sein. . Möchte ich mein Verhalten verändern? Es mag Zeiten geben, in denen Sie lhr Verhalten verändern möchten und Kritik annehmen. Wenn lhr Chef zum Beispiel sagt, Sie seien faul, liegt es an lhnen zu entscheiden, ob Sie tatsächlich nicht so viel Einsatz gezeigt haben, wie Sie gekonnt hätten. Vielleicht beschließen Sie, in Zukunft früher auf der Arbeit zu sein und länger zu bleiben, weil es lhnen wichtig ist, als fleißig angesehen zu werden. Aber denken Sie immer daran, dass lhr Chef Sie zu nichts zwingt. Sie verändern lhre Gewohnheiten, weil Sie das so

wollen, nicht weil Sie müssen. Denken Sie immer daran, dass die Meinung eines Einzelnen nicht der Wahrheit letzter Schluss ist. Man kann auch auf respektvolle Art anderer Meinung sein, ohne Zeit und Energie darauf zu verschwenden, die Meinung anderer revidieren zu wollen. Amy Morin ist Psychotherapeutin und Sozialpädagogin. Sie forscht seit vielen Jahren zum Thema mentale Stärke. Dieser Text ist ein Auszug aus ihrem Buch 13 Dinge, die mental starke Menschen nicht tun. FÜr alle, die sich heute besser fühlen möchten a/s gesfern, das Ende Mai 2016 im S.-FischerVerlag erscheint.

23


TITEL I

,,Die Frage ist: Will ich michweiter als Opferfiihlen?" Die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki weiß, wie tief manche Verletzungen gehen. Dennoch meint sie: Wir sollten unsere Lebenszeit nicht an Ohnmacht und Wut verschwenden

Frau Wardetzki, in lhrem Buch Mich kränkt so schnell keiner! zeigen Sie Wege auf, mit Kränkungen besser umzugehen und nicht alles per-

sönlich zu nehmen. Wenn wir gekränkt sind, fühlen wir uns aber im Kern getroffen und haben den Eindruck, dass andere uns übel mitspielen. Wie kommen wir da heraus? Bevor ich mich aus dem Kränkungssumpf herausziehen kann, muss ich

mir erst mal eingestehen,

dass ich gekränkt bin, und anerkennen, ja, diese

Kritik hat mich sehr getroffen, diese Reaktion tut mir weh, und ich bin völlig von der Rolle. Meist wehren wir jedoch unsere Scham, unseren Schmerz

oder unsere Angst ab und reagieren sofort mit Schuldzuweisungen. Der andere ist gemein und böse, und ich armer Tropf muss leiden. Statt zu sagen: Ich bin gerade sehr getroffen und komme damit nicht klar. Das ist eine ganz andere Dimension. Wenn ich meine Gefühle wahrnehme, bin ich

nicht mehr gekränkt, sondern ängstlich, traurig, wütend oderbeschämt. Daraus erwächst die Kraft, mich zu wehren und innerlich wieder stabil zu werden. Ziehe ich michbeleidigt zurückundleckemeine Kränkungswunden, kann ich das nicht.

Wenn wir gekränkt sind, wollen wir dies aber oft nicht eingestehen. Diese Blöße wollen wir uns nicht geben. lst das nicht verständlich? Verständlich ist es, aber nicht hilfreich. Mit dieser Abwehrstrategie schwächen wir uns und machen alles nur noch schlimmer. Wenn ich meine Verletzung gelten lassen und vielleicht sogar aussprechen kann, kommt sofort Ruhe in mein inneres System, 'weil ich plötzlich koqgruent bin. Und von da aus kann ich schauen, ob ich in diesem unangenehmen

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PSYCHOLOGIE HEUTE O6,/2O]6


TITEL

Gefühl der Kränkung drinbleiben möchte oder mir das irgendwann zu anstrengend wird. Die häufigsten Zustände in Kränkungssituationen sind Ohnmacht, Minderwertigkeitsgefühle, Racheimpulse, Trotz, Empörung und Wut. Vielleicht kommt der Punkt, an dem ich keine Lust mehr habe, mir meine schöne Lebenszeit damit kaputtzumachen. Dann kann ich

Bin ich überhaupt gemeint? Oder hat das, was mich trifft, gar nrchts mit mir zu tun?

anfangen zu sortieren. Bin ich überhaupt gemeint? Muss ich michpersönlich getroffen fühlen? Oderhat das, was mich so

trifft, vielleicht gar nichts mit mir

zu tun? Das ist manchmal nicht so leicht zu erkennen.

Wo'

ran merken wir, dass uns etwas verletzt, was gar nicht persönlich gemeint ist? Oft brauchen wir dafür einen Impuls von außen. Ich hatte vor kurzem eine Situation, in der ich durch eine gesetzliche Regelung sehr benachteiligt wurde. Ich fUhlte mich gekränkt und zurückgesetzt, war auf der einen Seite stinksauer und erlebte mich auf der

Verantwortung beim anderen lasse, habe ich diese Option nicht. Sie sagen, es ist eine Frage der Entscheidung, ob wir gekränkt bleiben oder eine Kränkung über' winden. Haben wir wirklich immer die Wahl? Die haben wir in jeder Situation, aber es ist natürlich sehrverführerisch, darüber zu jammern, wie gemein die anderen sind. Ich habe mich früher selbst gerne beklagt, statt konstruktiv etwas zu unternehmen. Die Opferrolle erscheint zunächst attraktiv, aber sie führt psychologisch in die Sackgasse, denn als Opfer kann ich nichts tun. Die Frage ist: Will ich mich weiter als Opfer ftihlen oder den Racheengel spielen? Oder will ich mich wieder gut und integriert fuhlen und versuchen, das Problem, das mit der Kränkung zusammenhängt, konstruktiv zu lösen? Ich finde es auch völlig in Ordnung, zu sagen, im Moment geht es mir so schlecht, und ich kann gerade nichts dagegen tun. Niemand verlangt, dass wir in jeder Kränkungssituation sofort den Durchblick haben und den Schalter umlegen können. Genau das hätten wir aber gerne. lst die Sehn' sucht nach dem dicken Fell nicht genau deshalb so groß, weil wir uns wünschen, ganz schnell wie'

anderen Seite hilflos ausgeliefert. So eine himmelschreiende Ungerechtigkeit passierte gerade mir. Was für eine Zumutung! Eine Freundin machte mich da-

rauf aufmerksam, dass ich die Situation persönlich nehme. Da wurde mir erst klar, dass diese blödsinnige Regelung mit mir als Person überhaupt nichts zu tun hat und andere genauso betrifft. Was rege ich mich also auf? Ich kann mich noch weiter festbeißen, gegen

Windmühlen kämpfen und so richtig mies

draufkommen oder loslassen und dafür sorgen, dass es mir besser geht. Die Regelung werde ich auch weiter kritisieren, aber ich habe mich davon nicht weiter runterziehen lassen und das Beste aus der Situation gemacht. Heute kann ich darüber lachen. Sie sehen, auch als Kränkungsexpertin bin ich voll in den Schlamassel reingerasselt, aber zum Glück habe ich auch schnell wieder herausgefunden. Was ist entscheidend, um das Ruder herumzurei'

der selbstbewusst und obenauf zu sein? Es reicht aber nicht, das Fell einmal anzuziehen; ich muss jeden Tag darauf achten, dass ich mich nicht zu sehr von dem beeinflussen lasse, was mir nicht guttut und nicht gefallt. Für mich ist das Fell die

ßen und nicht noch tiefer im Kränkungssumpf zu

versinken? Ganz wesentlich ist, dass ich die Verantwortung wie-

der zu mir nehme. Wenn ich gekränkt bin, gebe ich meist automatisch anderen die Verantwortung für mein Leid: dem unsensiblen Partner, der ignoranten

Chefin, der treulosen Freundin oder in meinem Fall dem ungerechten Versorgungssystem. Doch wenn ich das tue, habe ich keine Chance, etwas zu verändern. Der Umkehrschluss, um aus den Kränkungen herauszukommen, ist, zu sagen, hier geschiehtetwas, was mich tief erschüttert und aus der Bahn wirft,

und ich übernehme die Verantwortung für das, was in mir passiert und wie ich damit umgehe. Ich sorge daftir, dats es mir wieder besser geht. Wenn ich die PSYCHOLOGIE HEUTE O612OI6

Haut. Die Haut ist neben der Lunge das einzige Organ, das direkt im Kontakt mit der Umwelt steht. Darfich meine eigenen Entscheidungen treffen? Darf ich bei mir bleiben? Muss ich mich anpassen? Darf Bärbel Wardetzki ist Psychothera peutin und Supervisorin in München und hat mehrere erfolgreiche Sachbücher zum Thema Kränkung veröffentl icht.

ichAggressionen nach außen zeigen? Mit diesen Fragen müssen wir uns auseinandersetzen, wenn wir uns ein dickeres Fell zulegen und weniger kränkbar sein möchten. Das ist tägliche Arbeit. Und dieser ArPH beit stellen wir uns nicht so gerne.

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In Liebeverschr채nlct

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PSYCHOLOGIE HEUTE 06/2016


wenn jemand übersteigert selbstzentriert ist bis hin zum Narzissmus, denn diese Menschen sind unsensibel für die Bedtirfnisse ihres Partners. Neyer: Ein gesundes Selbstwertgefühl zeichnet sich

Wieso haben Menschen überhaupt das Bedürfnis,

eine überdauernde, oft bis zum Tod währende Partnerschaft einzugehen? Man könnte sich ia auch von Affäre zu Affäre hangeln, aber das tun und wollen doch die wenigsten.

tatsächlich durch eine leichte Form der Selbstüberschätzung und Selbstüberhöhung aus: Man findet

Neyer: Der Wunsch nach sozialem Anschluss, Vertrautheit und Bindung ist ein menschliches Grundbedürfnis. Menschen suchen engeBeziehungen, auch und vor allem in einer romantischen Partnerschaft. Ob diese Beziehung allerdings aufdie Dauer des ganzen Lebens angelegt sein muss, ist die Frage. Zu an-

deren Zeiten und in anderen Kulturen war und ist das nicht so selbstverständlich. Und auch hier im Westen gibt es durchaus viele Menschen, die nach

sich selbst etwas besser, als man ist. Das ist durchaus Franz J. Neyer

ist Professor und Direktor des Instituts für Psychologie an der FriedrichSchiller- U n iversität Jena.

eher kurzfristigen Liebesbeziehungen suchen. Sie gehen dann eben nicht die eine Ehe, sondern mehrere aufeinanderfolgende Partnerschaften ein.

Nicht selten brechen Bezlehungen aber auseinander, obwohl die beiden eigentlich für lange oder sogar für immer zusammenbleiben wollten. ln lhren Langzeitstudien haben Sie nachgewiesen, dass es auch von der Persönlichkeit der beiden Beteiligten abhängt, wie überdauernd und glücklich ihre Beziehung wird. Welche Merkmale bringt ein idealer Beziehungsmensch mit? Finn: Den ,,idealen Beziehungsmenschen" gibt es nicht. Beziehungsgltick hängt von so vielen Einfltissen ab. Aber man kann festhalten: Menschen, die von ihremWesen herverträglich sind und nach Harmonie und Ausgleich streben, führen in der Regel eine glucklichere Beziehung. Ein wichtiger Faktor ist aber auch emotionale Stabilität. Gute Voraussetzungen haben also Menschen, die

nicht zu Angstlichkeit

oder Depressivität neigen und ein hohes Selbstwertgefrihl haben, also sich ihrer selbst sicher sind und sich so mögen, wie sie sind.

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Besteht denn nicht die Gefahr, dass Männer und Frauen mit einem hohen Selbstwertgefühl in der Beziehung die Hosen anhaben wollen, also sehr bestimmt und dominant auftreten - und den Partner damit nlcht zur Geltung kommen lassen?

Finn: Diese extreme Art von Selbstbewusstsein ist damit nicht gemeint. Es geht um Menschen, die mit sich selbst zufrieden und im Reinen sind. Sie strahlen dies auch nach außen aus, und diese Sicherheit wirkt sich positiv auf den Partner und die Partnerschaft aus. Selbstwertgefühl ist also gut für eine Beziehung, aber eine glückliche Beziehung ist auch gut für das Selbstwertgefühl. Dieses Merkmal ist sogar eine

Art Gradmesser dafür, wie

sehr man sich in der

Beziehung aufgehoben und vom Partner gemocht fuhlt. Doch natürlich schadet es der Partnerschaft, PSYCHOLOGIEHEUTE O612016

Christine Finn, wurde für ihre Doktorarbeit über die persön-

keitstypischen nterp retationsverzerrungen in

lich I

Pa

rtnersc haften

mit dem Dissertationspreis der Universität Jena ausgezeichnet.

günstig und tut nicht nur dem Betreffenden, sondern auch der Beziehung gut. (Siehe auch H eft512016: Ich finde mich pr ima !) Dies gilt aber nicht für Menschen, bei denen diese Eingenommenheitvon sich selbst ins

narzisstische Extrem geht. Sie sind gerade in einer

Partnerschaft ausgesprochen anstrengend und reagieren wütend, wenn der Partner sie mal nicht so grandios findet wie sie sich selbst (siehe Seite 58). Was machen Menschen, die sich ihrer selbst sicher sind, ohne sich ins Grandiose zu überhöhen, im Beziehungsalltag anders und besser als unsichere Menschen? Finn: Selbstbewusste Menschen vertrauen sich dem Partner an und holen sich bei ihm emotionalen Rückhalt, zum Beispiel wenn sie auf der Arbeit Probleme haben oder bei den Kindern etwas nicht rundläuft. In der Partnerschaft selbst sind sie nicht so verletzlich und so fixiert auf Dinge, die schiefgehen könnten. Und sie sind überzeugt, eine Lösung zu finden, sobald Unstimmigkeiten aufkommen. Man traut sich, gegenüber dem Partner auch heikle Dinge an- und auszusprechen.

Neyer: In einer Partnerschaft bleibt es ja nicht aus, dass man sich hin und wieder Kränkungen zufügt oder dass man dem anderen mal nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die er sich wünscht. Eine Person mit einem gesunden Selbstwertgefühl kann damit umgehen und gerät nicht gleich aus der Fassung. femand mit einem schwachen Selbstwertgefühl erlebt solche Situationen jedoch gleich als bedrohlich und denkt sich zum Beispiel: ,,Er ignoriert mich, denn er mag mich nicht mehr. Und er hat ja auch recht - ich

bin einfach nichts wert!" ln der Forschung sprechen Sie von einem relat ion s h i p -s

pec if i c i nte rp retat io n b ias, ei ner Denk-

falle, die selbstunsicheren Menschen das Beziehungsleben schwermacht. Finn: Das betrifft vor allem Menschen mit hohem ,,Neurotizismus", die emotional nicht sehr stabil sind. Sie nehmen vieles im Leben eher negativ wahr und reagieren daher oft unsicher oder gekränkt. Im Zweifel interpretieren sie harmlose oder allenfalls vieldeutige Verhaltensweisen ihres Partners zu ihren

Unguns-

ten. Wenn der Partner ihnen etwa in einer hektischen Situation sagt, es gebe da noch etwas, was er später in

27


Ruhe mit ihnen besprechen wolle, dann schrillen bei

neurotischen Menschen gleich die Alarmglocken: ,,Mein Gott, er will sich von mir trennen ! " Während emotional stabile und selbstsichere Menschen ganz selbstverständlich davon ausgehen, gemocht und geschätzt zu werden, brauchen die Unsicheren ständig Bestätigungen, dass der Partner sie noch liebt.

lst dieser Alarmismus nicht harmlos? Finn: Nicht unbedingt. Denn zum einen fühlen sich die Betreffenden selbst schlecht und traurig, wenn ihre Gedanken sich immer wieder in negativen Szenarienverlieren und sie befürchten, ihr Partnerkönnä sieverlassen. Zum anderen kann sich das auch auf den Partner auswirken, der sich nun seinerseits unverstanden und permanent verdächtigt frihlt. Die Interpretationsverzerrung eines neurotischen Menschen hat also negative Folgen für beide Partner.

Neyer: Das bedeutet nun aber nicht, dass unsichere, ,,neurotische" Menschen dazu verdammt sind, in allen ihren Beziehungen zu scheitern. Denn zum einen kommt es ja nicht nur auf ein einzelnes ungünstiges Merkmal an, sondern auf das Gesamtbild der Persönlichkeit: Man kann Selbstunsicherheit kompensieren mit einnehmenden Eigenschaften wie Zugewandtheit, Umgänglichkeit, Zuverlässigkeit. Zum anderen kommt es natürlich auch immer auf den Partner und dessen Persönlichkeit an, etwa wie geduldig er oder sie reagiert, wie viel Wertschätzung er zeigt oder auch wie viel Humor er mitbringt. Und außerdem kann das Lebensumfeld eine Partnerschaft

stabilisieren, zum Beispiel die Tatsache, dass Kinder da sind. Auch eine Paartherapie kann hilfreich sein. Die Persönlichkeit der beiden Beteiligten beein-

flusst also, wie gut ihre Partnerschaft funktioniert. Wird denn auch umgekehrt ein Schuh draus? Also: Verändert eine Partnerschaft die Persönlichkeit? Finn: Eine Partnerschaft pr ägt ganz eindeutig die Per-

sönlichkeit. Das gilt besonders für die ersten überdauernden Beziehungen, die jemand im jungen Erwachsenenalter eingeht. Sie führen zu einer insgesamt reiferen Persönlichkeit. Die beiden Partner werden verträglicher

und emotional stabiler, das Selbstwertgefühl steigt. Sie, Herr Professor Neyer, ha,ben das Eingehen einer Partner-

schaft in diesem AIter einmal be2A

Menschen, die ohne einen Gefährten bleiben, stagnieren oft in ihrem

Selbstwertgefühl

schrieben als,,ein Spiel, beidem man nur gewinnen kann". Neyer: Ja, wir haben diese Persönlichkeitsreifung in mehreren Langzeitstudien gefunden und auch mit Daten aus den USA bestätigt. Wir beobachten bei jungen Leuten Anfang zwanzigja generell eine Reifung der Persönlichkeit, und dieser Prozess wird durch die erste Partnerschaft noch beschleunigt und

verstärkt. Interessanterweise wird dieser Reifungsschritt nicht rückgängig gemacht, wenn dann später die Partnerschaft endet, so schmerzhaft das auch ist.

Der Gewinn ftir die Persönlichkeit bleibt bestehen. Wasgenau Iässtiunge Menschen in einer Partner-

schaft so unumkehrbar reifen? Neyer: Es wird in unserer Kultur als eine wichtige Entwicklungsaufgabe angesehen, eine Beziehung einzugehen und womöglich eine Familie zu gründen. Allein schon die Tatsache, dass man diese Aufgabe gemeistert hat, stärkt in diesem Alter das SelbstwertgefUhl. Darüber hinaus trägt die Erfahrung der Sicherheit in einer Beziehung zu dieser Reifung bei. Aber das ist f ür die meisten doch keine ganz neue Erfahrung, denn sicher und aufgehoben fühlt man sich auch schon im Elternhaus. Neyer: Die Eltern-Kind-Beziehung ist stark ungleichgewichtig. Kinder sind abhangig von ihren Eltern und erhalten von diesen viel mehr, als sie zurückgeben. Dagegen begegnen sich romantische Partner auf einer Ebene. Man bekommt vom Partner Sicherheit geschenkt, gibt sie ihm aber auch. Dies zu erproben und zu lernen, darin besteht der Reifungsschritt. Was ist mit den Frauen und Männern, die in ihren jungen Erwachsenenjahren keinen Partner finden oder es mit keinem lange aushalten? Entwickeln sie sich anders als die Gebundenen? Neyer: Dies betrifft relativ wenige, zwischen sieben und neun Prozent. Tatsächlich zeigte sich in unseren Studien, dass diese Menschen diesen Reifungsschritt nicht mitmachen. Zum Beispiel stagnierte ihr Selbstwertgefühl, und bei den Männern ging es in einer amerikanischen Studie sogar deutlich zurück. Möglicherweise identifizieren sich Männer besonders stark über ihren Wert auf dem Partnermarkt und empfinden ihren Singlestatus als persönliche Niederlage. Tatsächlich

kann

ein Zeichen von psychischen Schwierigkeiten sein, wenn jemand überdauernd keinen Partner findet. es

Auf der anderen Seite gibt es

Menschen, diehoch an-

schlussmotiviert sind und in einer Partnerschaft viel zu PSYCHOLOGIE HEUTE O612O]6


Mann attraktiv. Vielleicht schützt die IIlusion der Verschmelzung - ,,Wir beide sind füreinander geschaffen!" - Sie in solch einer Situation davor, dies überhaupt wahrzunehmen. Die Eifersucht wäre ja wahrscheinlich auch ganz über-

bieten hätten - aber einfach zu schüchtern sind. Die brauchen einfach länger, aber irgendwann kommen sie auch zrtmZiel.

Was ist mit Paaren, die sich schon über Jahr-

zehnte in ihrer Beziehung eingerichtet ha' ben, bei denen die anfängliche Verliebtheit längst in den Hintergrund und die Kinder

fltissig. lst es denn durchweg eine Illusion, wenn man immer mehrAhnlichkeiten zwischen dem Partner und sich fest-

oder der Beruf stärker in den Vorder' grund getreten sind: Prägt die Partnerschaft während dieser

stellt? Zum Beispiel dass man über dieselben Witze lacht. Finn: Aufder Ebene von Interessen kann das durchaus so sein: Man schaut sich im Fernsehen dieselben Filme an, geht in dieselben

langen Lebensmitte noch immer die Persönlichkeit der beiden? Neyer: Daftir gibt es durchaus Anhaltspunkte. Wir haben bei jungen Erwachsenen gesehen, dass auch in langjährigen Beziehungen deren Einfluss auf die Persönlichkeit noch immer sehr stark ist. Warum sollte das in späteren Jahren anders sein? Wir vermuten, dass dann die Beziehung selbst immer stärker Teil der Persönlichkeit wird und sozusagen in der Persönlichkeit aufgeht.

Allerdings bleibt man, so lange die Beziehung auch währen mag, immer die Person, die man ist. Auch wenn man sich verändert: Die individuelle Besonderheit bleibt bestehen, niemand dreht sich in seiner Persönlichkeit um 180 Grad. Man neigt in langjährigen Beziehungen dazu, sich selbst und den anderen als Einheit zu sehen. Die Grenzen überlappen sich. Der Partner wird zum ,,erweiterten Selbst". Was halten Sie von dieser Theorie? Neyer: Diese self-expansion theory, die auf den Psychologen Arthur Aron zurückgeht, ist weniger esoterisch, als sie vielleicht klingt. Man muss sich das nicht vorstellen wiebeikistan und Isolde,wo die beiden in ihrer Liebe so miteinander verschmelzen, dass sie Ich und Du nicht mehr unterscheiden können. Man so

erlebteben über die Jahre sehrviele Dinge gemeinsam, die man teilt. Das kann dazu führen, dass man sogar

Gemeinsamkeiten zwischen sich feststellt, die gar nicht existieren. Man glaubt, der andere sei so ähnlich wie man selbst, und unterstellt ihm automatisch, dass er eine bestimmte Alltagssituation genauso empfindet und bewertet. Man projiziert also das eigene Erleben auf den anderen. Das hat den,Vorteil", dass man sich

mit dem abweichenden Standpunkt des anderen gar nicht erst auseinandersetzen muss, sich nicht streiten muss. Laut einigen Studien scheint diese positive

Il-

lusion der Beziehungszufriedenheit tatsächlich eher zuträglich als abträglich zu sein. Hätten Sie ein Beispiel? Neyer: Nehmen wir an, Ihre Partnerin findet auf einer gemeinsam besuchten Party einen anderen PSYCHOLOGIE HEUTE 06120]6

Die Verliebt-

heit legt sich, Kinder rücken in den Fokus doch die Beziehung

bleibt prä9end

Ausstellungen. Man bezieht also ähnliche Informationen aus seiner Umwelt. Das führt laut Studien offenbar dazu, dass sich sogar die Intelligenz der beiden Partner über die |ahrzehnte ein wenig anzugleichen scheint. Dafür, dass die Partner auch emotional und in ihrer Persönlichkeit immer ähnlicherwerden, gibt es hingegen wenige Anhaltspunkte. Altere Paare scheinen sich nicht ähnlicher zu sein als jüngere. Vielleicht

ist es eher so, dass sich die beiden aufeinander einschwingen: Man weiß, wie der Partner in einer bestimmten Situation reagiert, man entwickelt Rituale. Neyer: Die wahrgenommene Ahnlichkeit ist immer sehr viel stärker als die tatsächliche Ahnlichkeit - das gilt tibrigens nicht nur für Liebesbeziehungen. Menschen suchen eben nach Vertrautheit, und im Zweifel konstruieren sie sich diese Verbundenheit. Vor einem halben Jahrhundert beschrieb der Psy-

chologe David Bakan zwei widerstreitende Grundbedürfnisse des Menschen. (Siehe den Kas' ten auf Seite 3O.) Wirwollen einerseit§ eigenstän' dig und frei sein, uns aber andererseits mit ande' ren verbunden fühlen. Müssen diese beiden Be' dürfnisse in einer Partnerschaft gegeneinandei

ausbalanciert werden? Finn: Ich denke schon. Einerseits möchte man in einer Beziehung Nähe erfahren - das ist schließlich der entscheidende Grund, überhaupt eine Beziehung einzugehen. Andererseits ist es wichtig, auch etwas

Distanz zu halten, um als Person bestehen zu bleiben - also sich Freiräume zu schaffen, den eigenen Interessen nachzugehen, mit Freunden etwas zu unternehmen, eventuell auch mal allein in Urlaub zu fahren

- und gleichzeitig

zu wissen, dass der Partner

eine sichere Basisbildet. Wie diese Balance dann kon-

kret hergestellt wird, ist aber in Beziehungen ganz unterschiedlich und hängt auch von der Persönlichkeit der beiden ab. 29


leider noch immer: ,,ein dunkler Kontinent", wte

Neyer: Manche Menschen brauchen viel Unabhängigkeit, andere eine starke Nähe zum Partner. Dieses

Mischungsverhältnis muss immer ausgehandelt werden, sowohlinnerhalb einer Person als auch zwischen den Partnern. Forming separations and relations, so hat David Bakan dieses gleichzeitige Herstellen von Nähe und Distanz in einer Partnerschaft Senannt. Das ist entfernt vergleichbar mit den Erfahrungen, die ein sicher an seine Eltern gebundenes Kind macht: Von dieser Basis aus kann es die Welt explorieren, aber immer in den sicheren Hafen zurückkehren, die Trennung zu bedrohlich wird. ryenn Wie wichtig ist Sexualität für die Verbundenheit

Freud zu sagen pflegte.

PAIRFAM

Persönlichkeit in der Partnerschaft ist eines der Themenfelder, die in der großen Paar- und Familienstudie ,,pairfam" beleuchtet werden. Noch bis 2022 werden rund l2OOO Frauen und I.4änner immer wieder zu ihrem Familien-, Liebes- und Beziehungsleben befragt:

www.pairfam.de

der beiden Partner? Finn: Das ist noch nicht wirklich geklart. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass unsicher gebundene Partner die Sexualität dazu nutzen, um Nähe herzustellen. Auch scheinen Männer Sexualität eher als Gradmesser

für Intimität anzusehen

Sie beide studieren in lhren Langzeitstudien zum Beispiel in der großen Familienstudie,,pairfam" - viele Tausende von Paaren und das Auf und Ab ihrer Beziehungen. Finden Sie darin auch Fingerzeige für lhren eigenen Beziehungsalltag? Finn: Diese Forschungsergebnisse sind keineswegs so abstrakt, dass man sie in der Praxis nicht verwerten kann. Wenn man etwa weiß, auf welche Weise man bestimmte Situationen im Beziehungsalltag verzerrt interpretiert und wie das mit der eigenen Per-

sönlichkeit zusammenhängen könnte, ist das durchaus nützlich. Auf der anderen Seite: Wenn man aus seiner Forschung weiß, wie und wann eine Partnerschaft gut und richtig läuft, hält einen das nicht unbedingt davon ab, im Alltag Fehler zu machen. Neyer: Man ist ein Mensch aus Fleisch und Blut und reagiert im sozialen Kontext eben häufig doch spontan und unreflektiert, nicht wie ein Wissenschaftler.

als Frauen.

Aber all das ist empirisch nicht sehr gut belegt. Neyer: Relativ sicher ist hingegen, dass Bindung und

Man kann dann höchstens im Nachhinein

Sexualität zwei unabhängige Verhaltenssysteme sind. Es gibt also durchaus Sexualität ohne Bindung und Bindung ohne Sexualität. Ansonsten gilt, was die

versität Jena und seinen

MACHT

sowie 216 Paare, die mit Absicht und ohne beruflichen Zwang in getrennten, aber nahe beieinanderliegenden Wohnungen lebten. Ein Teil der Paa-

einer Partnerschaft gilt es, zwei widerstreitende Bedürfnisse unter einen Hut zu bekommen: jenes nach Nähe und Verbundenheit (communion) und ienes nach Distanz und Unabhängigkeil (agency). Honigsüße Harmonie ohne agency ist kein erstrebenswerter Zustand. Doch auch wenn der Unabhängigkeitsdrang eines der Partner stark ist, kann darunter die Beziehung leiden - es sei denn, man entschließt sich von vornln

herein, eine Beziehung auf (räumliche) Distanz zu führen. Das ist die Quintessenz einer Studie von Birk Hagemeyer von der Uni-

30

itforschern

WENN NAHE UNZUFRIEDEN

Dastanz zum Partner

viel-

INTERVIEW: THOMAS SAUI'4-ALDEHOFF

Forschung zu Partnerschaft und Sexualität angeht,

Menschen mit einem hohen Bedürfnis nach Autonomie brauchen

-

leicht, aber nicht unbedingt besser als andere ! - verstehen, was da passiert ist. Aber dann steht schon die PH nächste Situation vor der Tür.

M

aus München und Berlin. Bef ragt wur-

den 332 zusammenlebende Paare

re führte außerdem zwei Wochen lang ein Beziehungstagebuch

f

ür die

Forschung.

Wie zu erwarten, war bei den auf Distanz lebenden Paaren das Grundmotiv nach Eigenständigkeit stärker ausgeprägt als bei den zusammenlebenden. Ein starkes agency- Bed ürfnis ging bei diesen Paaren aber nicht

das beide Partner, vermuten die Autoren: den einen, weil er sich eingeengtfühlt; den anderen, weilder Partner so wenig Nähe zulässt. Dieses Missverhältnis sPiegelte sich auch in den Tagebüchern: Normalerweise waren die Partner umso zufriedener mit ihrer Beziehung, je mehr Zeit sie an dem betreffenden Tag zusammen verbrachten. Das galt übrigens auch f ür die getrennt lebenden Paare. Nur jene Probanden, die a) ein hohes

Autonomiebedürfnis hat-

ten und b) mit dem Partner zusam-

zulasten der Beziehungszufriedenheit, denn sie hatten ja die Distanz,

menlebten, machte jede zusätzliche zweisam verbrachte Stunde tendenziell eher unzufriedener als glücklicher. Diese Paare wären also vermut-

die sie brauchten. Bei den zusammen-

lich gut beraten, mehr Abstand zu

lebenden Paaren hingegen häuften sich Konflikte und Missstimmungen, soba ld einer der beiden Pa rtner einen starken Freiheitsdrang innerhalb der

halten.

Beziehung hatte. Vielleicht frustet

TSA

Birk Hagemeyer u. a.: When "together" means "too close": Agency motives and relationship functioning in coresident and living-apart-together couples. Journal of Personality and Social Psychology, lO9l5,2015, DOI: lO.lO37 pspiOOOOO3 l

PSYCHOLOGIE HEUTE O612O16


PSYCHOLOGIE NACH ZAH !

»JAt WAS HAT ER DENN?" Zu betagten Menschen spricht man am besten wie zu Kindern und 6 weitere Mythen rund um das Alter VON THOMAS SAUM-ALDEHOFF

er Ausdruck ,,Anti-Aging" sagt alles: Alter wird heute fast wie eine Krankheit behandelt, gegen die es beizeiten Mittel zu ergreifen gilt. Das Iiegt wohl auch daran, dass so falsche Annahmen über den letzten Abschnitt des Lebens in Umlauf sind. Joan Erber und Lenore Szuchman, die als emeritierte Psy-

chologieprofessorinnen in der Forschung

wie im Leben einschlägige Erfahrungen gesammelt haben, entkräften in ihrem Buch 37 Mythen über das Alter. Hier sieben der gängigsten:

ZU ALTEN SPRICHT MAN AM BESTEN LAUT, LANGSAM UND BETONT ist wahr: Vor allem sehr alte Menschen haben oft Probleme mit dem Gehör.

Ja, es

Wenn dem so ist, spricht man automatisch

Iauter mit der oder dem Betreffenden. Doch ab einem bestimmten Punkt verzerrt das Geschrei die Sprache. Der alte 32

Menschkann dann zwarhören, abernicht verstehen, was man gesagt hat. Ein bemutternder Tonfall - langsam, schlicht, überbetont, mit hoher Stimme und ,,kind-

gerechten" Kosewörtern - ist nicht nur bevormundend, sondern zum Teil wirkungslos. Langsam sprechen fördert zwar dasVerstehen, abernurbis zu dem Punkt, an dem die natürliche Sprachmelodieverlorengeht. Überbetonung bringt gar nichts. Wohl aber Blickkontakt.

IM ALTER WIRD MAN ERST VERGESSLICH UND DANN DEMENT Der Begriff ,,senile Demenz" suggeriert, dass Alzheimer & Co fest mit dem Alter verkettet sind. Doch erstens kommen Demenzerkrankungen auch in jüngeren fah-

ren vor, und zweitens sind die meisten daheim lebenden alten Menschen nicht dement. Betroffen sind bis zu l0 Prozent im Alter über 65 und bis zu 30 Prozent im

Alter über 85. Das Vergessen von Namen und selten genutzten Fakten ist eine normale Alterserscheinung, ebenso das Gefühl, dass einem etwas aufder Zunge liegt und nicht einfallen will. Alarmzeichen sind, wenn man etwa die Regeln eines geliebten Spiels nicht mehr kennt oder den Heimweg nicht findet.

MIT DER RENTE WERDEN WIR ALLE ZU HYPOCHONDERN Bisweilen ist das Wartezimmer beim Arzt voll mit alten Leuten. Wird man im Alter wehleidiger, neigt man dazu, sich Krankheiten einzubilden? Studien kamen zu dem Ergebnis, dass Hypochondrie

imAl-

ter nicht häufiger auftritt als in anderen Lebensphasen. Mit den Jahren tut einfach mehr weh. Manchmal ist es etwas Ernstes. Häufige Arztbesuche sind dann eine Strategie, sich zuvergewissern, dass die Sym-

ptome nichts Schlimmes bedeuten. PSYCHOLOGIE HEUTE 06120]6

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ALTWERDEN IST DEPRIMIEREND In einer großen Umfrage in

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Ländern schätzten die Teilnehmer, dass alte Menschen depressiver sind als jede andere Altersgruppe. Die Vorstellung von den ,,depressiven Alten" ist in der Tat weitverbreitet. Und sie scheint ja auch plausibel: Am Ende des Lebens häufen sich die Gebrechen, liebe Freunde sterben weg, der

Lebensradius verengt sich. Umso überraschter waren die Forscher, als eine amerikanische Bevölkerungsstudie 2070 zu dem Ergebnis kam, dass Depressionen

im

Alter sehener auftraten. 4,1 Prozent der Gesamtbevölkerung, abernur 2,1 Prozent der Menschen ab 65litten an einer schweren Depression. Am stärksten gefährdet war die Altersgruppe zwischen 45 und 64 Jahren. In Pflegeheimen ist die Situation allerdings anders : Yon 7 6 7 35 untersuchten Bewohnern in Ohio hatten 48 Prozent

die Diagnose Depression.

MIT DEM ALTER KOMMT DIE WEISHEIT positiven Stereotype über das Alter, aber leider scheint auch das nicht zuzutreffen. Wissenschaftler definieren Weisheit als ein tiefes Wissen um das Leben und seine Wechselfälle und Begrenzungen. Ein weiser Mensch betrachtet ein Problem aus

,TT [,

Arn ENDE WIRD DIE ZUKUNFT BEDEUTuNGsLos

Ie älter man wird, desto mehr verkürzt sich die persönliche Zeitperspektive: Die Lebensspanne, die noch vor einem liegt, ist auch bei optimistischster Prognose begrenzt. Man könnte also meinen, dass alte Menschen nur noch in der Vergangenheit leben und sich nicht mehr um die Zukunft scheren. Das trifft überhaupt nicht zu. In einer deutschen Studie ana-

Die neue Studie zu Jugend, Vorsorge und Finanzen

E sffire

lysierten facqui Smith und Alexandra Freund über vier fahre hinweg die Aussagen von Frauen und Männern im Alter von 70 bis 103 Iahren, die nach ihren Hoffnungen und Befürchtungen fijrr die Zu-

Jugend, Vorsorge, Finanzen

kunft befragt wurden. Wie sich herausstellte, hatten sie konkrete und lebhafte Vorstellungen davon, was sie erwarteten - und diese Erwartungen waren keineswegs starr, sondern im Wandel. Viele der Hoffnungen kreisen im Alter darum, gesund und geistig fit zu bleiben - und dieses Leitbild ist motivierend, Körper und Geist bestmöglich in Schuss zu halten.

zw i sche n Eiqenve rontwottung und Regulierung - LösungsontöEe in Deultchlond lnd Europa

Das ist eines der wenigen

. I ,

JE NAHER DER TOD

püc«T. DEsro MEHR

FÜRCHTET MAN IHN

Wer heute in das Berufsleben eintritt, soll sich

Trotz allem Zukunftsoptimismus sind

vom ersten Tag an um seine Alterssicherung

natürlich bewusst, dass derTodnäherkommt. Blicken sie ihm mit

kümmern. Wer das nicht tut, ist später von Altersarmut bedroht.Wohl noch nie stand

verschiedenen Perspektiven, wägt ab, zieht

zunehmenderAngst entgegen? Richtig ist:

eine lunge Generation so stark im Span-

keine voreiligen Schlüsse. Dazu braucht

Wenn der Tod tatsächlich naherückt, sinkt

nungsfeld von eigener Verantwortung und

oft das Wohlbefinden

staatlicher Regulierung.

man viel Lebenserfahrung

-

sollte man

sich alte Menschen

(siehe

Heft4/2016).

meinen. In einem klassischen Experiment

Doch generell nimmt die Todesfurcht mit

Die Studie gibt Aufschluss darüber, welclle

bat die Berliner Forschungsgruppe des

dem Alter eher ab. Am stärksten ist sie in

Einstellungen .Jugendliche und junge Er-

verstorbenen Psychologen Paul Baltes Pro-

der Lebensmitte. Für die meisten alten

wachsene zu Vorsorge und Finanzthemen

banden unterschiedlichen Alters, einem

Menschen hat der Tod an sich wenig Schre-

haben. Ergäna wird sie durch Beiträge euro-

fiktiven Menschen bei einem beschriebe-

cken. Sie machen sich eher Sorgen um den

päischerWissenschaftlerinnen und Wissen-

nen Lebensproblem einen guten Rat zu geben. Das Ergebnis: Nur fünf Prozent derAntworten erfüllten die Kriterien von Weisheit - und die waren gleichmäßig über die Altersgruppen verteilt. Altere Menschen gaben also nicht weisere (aber auch nicht weniger weise) Antworten als junge. Eine erstrebenswerte Eigenschaft ist Weisheit im Alter aber allemal. Alte Menschen, die als weise beurteilt werden, sind oft zufriedener mit ihrem Leben.

zurückbleibenden Lebenspartner, und es beunruhigt sie die Vorstellung, dass sie starke Schmerzen haben könnten. ,,Sie wünschen sich, den Sterbeprozess halbwegs unter Kontrolle zu haben", schreiben Joan Erber und Lenore Szuchman, ,,und in Würde zu sterben."

schaftler Sie analysieren die Lösungsansätze

PSYCHOLOGIE HEUTE O6120]6

in verschiedenen Ländern und machen ein-

dringlich klar: Nicht nur in Deutschland ist die nachhaltige Alterssicherung in Gefahr.

201 6, 224 Seiten,

broschiert, € 1 2,95

lsBN 978-3-7799-3369-4

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alsuerhältlich

LITERATUR Joan T. Erber, Lenore T Szuchman: Great myths of aging. Wiley Blackwell Chichester 2015

wwwjuventa.de

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in der Mainzer zu aggressivem Kindertagesstätte,,Maria Königin" und sexuell übergriffigem Verhalten gekommen sein. Und zwar unter den Kindern, und ohne dass Erwachsene eingeschritten wären. Als besorgte Eltern diese

Kindergärten sowie den Lehrplänen der weiterführenden Schulen zum institutionell verankerten Bildungsauftrag. Doch in der Praxis ist das oft schwierig. Nicht immer liegt die Schuld daftir bei der Einrichtung. Manchmalverweigern sich auch die Eltern dem Dialog, etwa wegen strenger religiöser Vorschriften. Im Kindergarten treffen daher zum Bereich Sexualität die unterschiedlichsten Einstellungen von entspannt über verklemmt bis überfordert oder nach-

Vorwürfe im vergangenen Jahr öffentlich machten,

lässig aufeinander.

ita geschlossen. Krisenstab. Fristlose Kündigung der Mitarbeiter. Die Gründe für diese drastischen Maßnahmen schienen triftig. Über Wochen hinweg sollte

es

u'ar die mediale Aufmerksamkeit groß, die Fassungs-

losigkeit überregional. Doch einige Monate später eröffneten die Ermittler: Belastbare Indizien fehlen. Die Eltern hätten überreagiert, heißt es in den nun weniger zahlreichen Berichten. Kein Skandal, keine Story. So

ungreifbar diese Geschichte ist:

Sie

verdeutlicht

das Spannungsfeld, in dem sich kindliche Entwick-

I )

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1\

lungs- und erwachsene Erziehungsaufgaben heute befinden. Einerseits sollen Mädchen und Jungen einen entspannten und selbstbewussten Umgang mit ihrem Körper lernen. Andererseits denken ihre Eltern bei kindlicher Sexualität schnell an Missbrauch. Das

hat die Kölner Psychologin Elisabeth Raffauf registriert. Sie berichtet, Mütter und Väter würden bei diesem Thema zuerst aufdas böse Ende schauen, auf

mögliche Gefahren. Dabei sei kindliche Sexualität ,,neugieriges Forschen und Entdecken - also etwas Schönes!". fungen und Madchen erkunden ihren Körper genauso wie einen neuen Raum oder ein neu-

,,Komm, wir ficken" Am Beispiel der evangelischen Kita Rosengarten, die in einem sozialen Brennpunkt in Frankfurt-Nied liegt, lässt sich ablesen, welche Herausforderungen aus diesem Mix erwachsen. Zu den immer wiederkehrenden Aufgaben gehört hier der Umgang mit sexuell aufgeladenen Spielen und Vokabular. Es sei nicht ungewöhnlich, dass Vorschulkinder den Geschlechtsakt nachspielen, berichtet Leiterin Ulrika Ludwig: ,,Da sehen wir einen fungen und ein Mädchen unter dem Tisch. Die sind natürlich angezogen, ziehen sich aber dennoch eine Decke über, und der funge führt entsprechende Bewegungen durch." Letztlich spielten sie altersgemäße Rollenspiele - aber in einer eben nicht altersgemäßen Variante. Explizit sexuelles Vokabular wird in der Kita Rosengarten nicht geduldet. Trotzdem musste das Team lernen zu verstehen: ,,Die Kinder spielen nach, was

beschaftigt, und geben wieder, was sie gehört haben. Also auch Sätze wie ,Komm, wir ficken"', sagt die Leiterin. Der Umgang mit Sexualität habe sich auch gegenüber Kindern stark verändert, hat die 6l-fährige be-

es Spielzeug. Erwachsene müssten verstehen, dass

sie

dieses neugierige Explorieren zur gesunden EntwickIung eines Kindes gehört, meint Raffauf. Im Nachhinein hat sich die Schließung der Mainzer Kita als überzogen herausgestellt. Ob Eltern und Betreiber mit mehr Hintergrundwissen umsichtiger gehandelt hätten? Um die Grenzen zwischen normaler Entwicklung und Missbrauch deutlich zu machen,

obachtet: ,,Wörter auszusprechen wie ,ficken'war für meine Generation noch undenkbar. Bis vor ein paar |ahren konnte man davon ausgehen, dass Kinder-

hält die Psychologin Raffauf ein sexualpädagogisches

gartenkinder solche Vokabeln nur nachplappern,

Konzept für sinnvoll: ,,Nur damit gibt es Klarheit. Dann kann das Team jederzeit erklären, dass und

ohne zu wissen, was sie bedeuten." Heute dagegen verstehen Kinder den Inhalt ebenso - und sie mer-

Kuschelecken gibt oder wie mit Nacktheit umgegangen wird." In der Realität fehlen solche Leit-

ken, dass sie bei Erwachsenen damit unterschiedliche

warum

es

linien jedoch meist, mehr noch: Mütter, Väter, Erzieher und Erzieherinnen klammern das tabubesetz-

te Thema lieber aus. Raffauf jedoch meint, es sei enorm wichtig, dass die Erziehungspartnerschaft zwischen Kindertagesbetreuung und Eltern auch das Thema Sexualität umfasst. Ein transparenter Umgang mit dem sensiblen Ge-

genstand sollte eigentlich selbstverständlich sein. Schließlich gehört Sexualerziehung gemäß den Bildungs- und Erziehungsplänen für Grundschulen und PSYCHOLOGIE HEUTE O612O]6

Reaktionen auslösen können. Doch woher kennen fungen und Mädchen solche Begriffe? Ulrika Ludwig vermutet, dass die Vorlagen von älteren Geschwistern stammen, aus den Medien oder ,,durch einen Umgang der Eltern mit diesem Thema, den ich als lax bezeichnen würde".

Darauf angesprochen reagierten manche Mütter und Väter erschrocken, andere wischten das Thema Es gebe sogar Eltern, die anböten, mal einen Porno auszuleihen. Zwar bringt Ulrika Ludwig nach 30 Jahren Berufserfahrung so schnell nichts aus der

zur Seite.

55


Fassung. Doch sie macht deutlich: ,Vorschulkinder

mit Pornografie zu konfrontieren ist eine Form von sexuellem Missbrauch, also Kindeswohlgefährdung."

Eltern wie diese sind sicher nicht die Regel. Zwar gibt es nur wenige Daten zu Art und Umfang der Mediennutzung bei Kindergartenkindern, doch dürfte es die Ausnahme sein, dass sie an Pornografie geraten. Leider ist es aber auch eine Ausnahme, dass Eltern sich darum kümmern, welche digitalen Inhalte Kinder in ihren eigenen Zimmern, bei Freunden

oder bei den Geschwistern konsumieren. Dabei ist die Erziehung zu Medienkompetenz heute eine unerlässliche Grundlage, um sexualisierte, betrügerische und unaufrichtige Inhalte in sozialen Netzwerken oder andernorts im Internet zu erkennen. Oder um Heranwachsenden klarzumachen, dass das InsNetz-Stellen von intimen Handybildern und -videos - Sexting Pics genannt - tabu sein sollte. Doch sowohl Eltern als auch Pädagogen sträuben sich vor dieser Aufgabe. 2014 wurden für eine Allensbach-Erhebung im Auftrag der Telekom-Stiftung

I

500

Eltern von Klein- und Grundschulkindern sowie Kitapersonal und Grundschullehrkräfte zur Medienpädagogikbefragt. Dabei stieß die Medienfrüherziehung auf viel Ablehnung. Vor allem wollte sich niemand darum kümmern. Erzieherinnen sahen die Mütter und Väter in der Pflicht; diese wiederum sagten, Me-

dienfrüherziehung müsse nicht unbedingt sein. Zwar nutzen der Umfrage zufolge Kindergartenkinder kaum digitale Medien, sondern am liebsten Bücher, Kassetten und Filme. Das jedenfalls antworteten die Eltern. Gleichzeitig zeigen Erhebungen durch die Landesmedienanstalten, dass Kinderzimmer fl ächendeckend mit Fernsehern ausgestattet sind und dass Grundschüler und teilweise auch schon Kindergartenkinder über Handys und Tablets verfügen.

Im Internet stoßen Kinder ohne gröl3eren Aufwand auf sexualisierte Inhalte. Zugleich fristet die frühe Sexual- und Medienerziehung ein Schattendasein. Wo finden ]ungen und trlädchen eigentlich Antworten auf die Fragen, die sie zu Hause nicht zu stellen wagen? Paradoxerweise oft auch: im Internet. Der Verband pro familia etwa unterhält die Online-

informationsportale sexundso.de

Nach den aktuellen Statistiken des Medienpädagogischen For-

schungsverbunds Südwest (2015) zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen nutzen 63 Prozent der Sechs- bls 13-Jährigen zumindest selten das lnternet. Ab zehn Jahren verfügen fast alle Kinder über ein Handy, ab 14 gehört die lnternetnutzung bereits zum Alltag. Das Medium lnternet birgt nicht nur die Möglichkeit, sich zu vernetzen, oder das Risiko, auf pornografische lnhalte zu stoßen, sondern auch die Gefahr, Ziel von unerwünschten Annäherungsversuchen seitens Erwachsener zu werden. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, www.mpfs.de

36

-

sowie

tersgruppe verantwortet die Bundeszentrale für ge-

sundheitliche Aufklärung unter loveline. de. Doch auch jüngere Kinder haben Fragen. D as zeigt jede Woche die WDR-Kinderradiosendun gHerzfunk, die mittlerweile seit fast 15 Jahren läuft und von der Psychologin Elisabeth Raffauf zusammen mit den Journalistinnen Katrin Sanders und Monika Frederking geleitet wird. Das Besondere daran: Kinder beantworten als Experten die Fragen anderer Kinder. Die Fragen, die dem Herzfunk-Team bisher gestellt

wurden, sind erstaunlich konkret. Die Kinder ivollen etwa wissen, ,,was in den Hoden drin ist", u'ie man sich verliebt oder ob Sex wehtut. Sogar Fragen zum Thema Missbrauch werden gestellt - und in der vorgegebenen Länge von drei Minuten beantrvortet, Sind Kinder heute frühreif? Raffauf, die auch Autorin von Entwicklungs- und Erziehungsratgebern ist, verneint: ,,Nicht, was die Fragen zum Thema Sexualität betrifft." Da habe sich in den vergangenen |ahren wenig geändert. Allerdings seien Kinder heute früher ge-

schlechtsreif. Aufder Ebene der körperlichen Entwicklung und Reifung hat sich der Zeitplan verschoben, das zeigen Daten des Robert-Koch-Instituts. Die typischen Anzeichen der Pubertät - Mädchen werden rundlicher und haben ihre erste Regelblutung, Iungen bekommen mehr Muskeln und haben ihren ersten Samenerguss

JUGEND ONLINE

- für Kinder und

sextra.defir ältere lugendliche. Ein weiteres Angebot ftir diese Alfugendliche ab zehn Iahren

-

stellen sich mittlerweile schon ab l1

Iahren ein. ,,Dass die Seele da mithalt", bezweifelt die Psychologin. ,,lJnsere Aufgabe als Erwachsene ist,

Kindern dabei zu helfen, ihre Gefühle einzuordnen." Und diese Hilfestellungen scheinen prinzipiell zu funktionieren. Die Statistiken der BZgA dokumentieren bei fugendlichen seit Jahren ein zunehmendes Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit Sexualitat. Auch Teenagerschwangerschaften gehen stetig zurück. Möglicherweise zeigt die Sexualerziehung

in Schulen und Kindergärten langfristig Wirkung. Allerdings hat diese Auslagerung der Aufklärung auch unerwünschte Begleiterscheinungen mit sich gebracht. Offenbar haben sich die Eltern vom Thema

entfremdet. Ein Beispiel: 2014 wandten sich aufgebrachte Baden-Württemberger mit einer Petition geDSVCHOLOGIEHEUTE 06120]6


r'

gen die Neufassung des schulischen Sexualkunde-

unterrichts für lugendliche. Mit 200000 Stirnmen sprachen sich die unterzeichnenden Mütter und Väter dagegen aus, dass Homosexualität in Schulen the-

t

matisiert wird. Im selben lahr traf die Soziologin

)

Elisabeth Tuider, Professorin an der Universität Kassel, ein Shitstorm. Sie hatte in einem Interviewgesagt, dass sexualpädagogisch Tätige oftmals die ersten Personen seien, ,,mit denen sich |ugendliche trauen, ihre Fragen und lrritationen zubesprechen". ImZweifelsfall eben auch über Analverkehr, Homosexualität

und Sexspielzeuge. Kinder und Jugendliche scheinen also im Großen und Ganzen gar nicht so schlecht zurechtzukommen. Doch wie die Aufregung um die Mainzer Kita im vergangenen Jahr gezeigt hat, sind da ja noch die besorgten Erwachsenen. Aberwie berechtigt sind deren

Angste überhaupt, gerade was Kindergartenkinder angeht?

Gefährliche Gleichaltrige Marc Allroggen, Oberarzt am Ulmer Universitäts-

klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, tatsächlich gebe

es

sagt,

sexuell problematisches Verhalten

auch bei Kindergartenkindern. Die Ursachen seien individuell verschieden :,,Diskutiert wird ein Zusamn-renhang mit eigenen Missbrauchserfahrungen. Wir wissen jedoch, dass solche Verhaltensweisen auch bei

Kindern auftreten können, die emotional nicht gut versorgt sind." Allroggen schränkt allerdings ein, ihm seien nur Einzelfälle bekannt. Wie viele Kinder in Deutschland insgesamt betroffen sind, lasse sich nicht sagen.

Als potenzielle Täter sexuellen Missbrauchs werden meist klischeehaft,,fremde Männer" vermutet. Womöglich geht die Gefahr jedoch viel häufiger von Gleichaltrigen ais vor.r Erwachsenen aus. Zu diesem Schluss kommen Forscher um N{arc Allroggen und Jörg Fegert in einer aktuellen empirischen Untersuchung. Im Fokus standen dabei jedoch nicht Kindergartenkir.rder, sondern Iugendliche in Einrichtungen der Jugendhilfe und Internaten. Allroggen und Fegert

halten fest, dass sexuell übergriffiges Verhalten ,,eine der häufigsten Formen aggressiven Verhaltens ist, dem Schüler ausgesetzt sind". Beunruhigend an diesen Ergebnissen ist, dass mildere Formen von sexuell belästigendem Verhalten von einem Großteil der Mädchen und lungen als normal en-rpfunden werden.

Absichtlich wurde der Begriff ,,sexueller Über-

griff"

weit ausgelegt. Ob ungewolltes Geküsstwerden,

Nötigung oder gar Vergewaltigung - keine Form sexueller Belästigung sollte als ,,jugendtypisch bagaPSYCHOLOGIE HEUTE O612O']6

tellisiert" werden. Ie nach individueller Sensibilitat könne auch weniger schwerwiegendes sexuell übergriffiges Verhalten zu erheblichen Schwierigkeiten

wie Leistungsabfall, Schulschwänzen sowie,,internalisierenden und externalisierenden Problemen" führen. Was meint der Experte - könnte hier eine früh

$ Auch iüngere Kinder haben Fragen zur Sexualität: ,,Was ist in den Hoden drin?" zum Beispiel

ansetzende Sexualerziehung helfen? Allroggen bremst: ,,Offensichtlich zeigt die Mehrheit der Kinder kein problematisches sexualisiertes Verhalten. Also funktioniert die Erziehung in diesem Bereich überwiegend gut. Was wir brauchen, ist eine Bestandsaufnahme: Wie viele Kinder betrifft es?" Die nächste Frage müsse sein: welche Kinder?Allroggen: ,,Danach erst kann man überlegen: Was können wir tun?" Ein besonnener Fahrplan. Besonnenheit könnte auch dazu taugen, Gerüchte zu entlarven. Das wirklich Bedrückende an der Mainzer Geschichte ist, dass sich Eltern und Journalisten gegenseitig in ihrer Aufregung befeuert haben. Die Leitung der Kindertagesstätte ,,Maria Königin" wurde wegen unterlassener Aufsichtspfl icht angeklagt und der Pfarrer vor Ort wegen Missbrauch.

Nichts davon war wahr. Grundsätzlich unterscheidet sich Sexualität in Zeiten des Internets ja nicht von der in Zeiten analogen Aufwachsens. Wichtig ist auch heute, dass Kinder, aber ebenso Eltern Antworten aufihre Fragen erhalten. Dafür braucht es Ruhe, Vertrauen und Besonnenheit.

LITERATUR ,Anja Henningsen, Elisabeth Tuider, Stefan Timmermanns (Hg.)

Sexualpädagogik kontrovers. Beltz Juventa, Weinheim 20]6 Silke Hubrig: Sexualerziehung in Kitas. Beltz, Weinheim 2014

Elisabeth Raffauf: So schützen Sie Kinder vor sexuellem Missbrauch. Prävention von Anfang an. Patmos, Ostfildern 2012

37


Seehs-

endes aktuellen Projekts leben in einer Marsstation. Unter den ist auch die Deutsche Christiane Heinicke. Ein Gespr채ch 체ber den Einsatz als Versuchsperson, das eigene Leben als Experiment und ungeahnte Sehns체chte Fo rsc h u n g spro g ra n"r'fi'f .m

i.::..j:;:


der Zeit ändert. Dazwischen haben

einer besonderen Wohngemeinschaft: Zusammen mit fünf anderen Wissenschaftlern bevöl' kern Sie für ein Jahr eine simulierte Marsstation auf Big lsland, der größten hawaiianischen lnsel. Wie außerirdisch fühlt sich lhr Leben derzeit an?

Freizeit, die wir unter unseren eigenen wissenschaft-' lichen Projekten, Sport und Hobbys aufteilen. Das Abendessen ist eines der wichtigsten Ereignisse, da

fühlt sich nicht an, als wären wir auf einem anderen Planeten, denn wie in Deutschland gibt es

meinsam; mittwochs ist Spiele-, freitags Filmabend. Jeder hat einen Tag Küchendienst, samstags ist Resteessen, und am Sonntag putzen wir. An etwa zwei Tagen in der Woche haben wir Außeneinsätze, so-

Nun,

kommen wir alle zusammen und reden über unseren Tag. Anschließend unternehmen wir oft etwas ge-

es

hier Wolken, Wind und blauen Himmel, die wir auch aus unserem einzigen Fenster sehen können. Dafür wirkt die vegetationslose Vulkanlandschaft von Ha-

waii umso fremdartiger. Dazu kommt die geografische und soziale Isolation: Wir sind definitiv weit weg von allem Geschehen daheim. Da macht es keinen Unterschied, ob 50 Millionen oder nur 50 Kilometer dazwischen liegen - wir sind abgeschnitten vom Rest der Menschheit. Sie und lhre fünf Mitbewohner sollen über die

Christiane Heinlcke, 30, ist promovierte Physikerin. Die Bit-

terfelderin studierte in llmenau und Uppsala. Bevor sie sich für die Teilnahme bewarb, arbeitete sie an der Aalto University in Helsinki. Über ihr Leben im Habitat schreibt sie auf

www.scilogs.de/ leben-auf-d em-mars

Dauer lhres Aufenthalts unter möglichst ähnli' chen Bedingungen Ieben, wie es Astronauten auf Marsmission tun würden. Was bedeutet das? Wir wohnen in einem kuppelformigen Habitat, das wir nur in Raumanzügen verlassen können. Das Habitat steht am Hang des Vulkans Mauna Loa inmitten ausgedehnter, praktisch vegetationsloser Lavafelder, fernab der Zivilisation. feglicher Kontakt mit der Außenwelt ist auf E-Mails beschränkt, die wegen des großen Abstands zwischen Mars und Erde 20 Minuten langzuuns unterwegs sind. Die letztePerson, die wir von uns einmal abgesehen in natura gesehen und gehört haben, ist die Studienleiterin, die im August die Tür hinter uns geschlossen hat. Wie sieht lhr Alltag derzeit aus? Es gibt sieben Fragebögen, die wir jeden Tag ausfüllen, dazu kommen weitere wöchentliche und monatliche. An ausgewählten Tagen ftihren wir Gruppenexperimente durch, die unter anderem untersuchen sollen, wie sich der Zusammenhalt im Team im Lauf

wAs lsr Ht-sEAs? Das Programm Hawai'i Space Exploration Analog and Simulation

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wir im Prinzip

Frau Dr. Heinicke, Sie leben seit August 2O15 in

(Hl-SEAS) ist ein Projekt der Universität von Hawaii. Mit Unterstützung der US-Raumfahrtbehörde NASA erforschen Wissenschaftler seit 2012, wie sich das isolierte Zusammenleben auf eine Gruppe auswirkt. Dafür werden je sechs freiwillige ,,Astronauten" ausgewählt, die gemeinsam mehrere Monate in einer simulierten Marsstation zubringen. Die Forscher erhoffen sich unter anderem Erkenntnisse über die ideale Zusammensetzung künftiger Astronautenteams. Die aktuelle vierte Mission ist die erste mit einer Länge von einem Jahr. www.hi-seas.org PSYCHOLOGIE HEUTE O612O16

genannte EVAs.

Wie weit dürfen Sie sich bei diesen Ausflügen vom Habitat entfernen? Etwa zwei Kilometer. Das klingtwenig, aber aufdem Lavagestein und im Anzug kommt man nur langsam vorwärts, sodass wir für diese Distanz etwa eine Stunde brauchen.

In der Regel dauern unsere Außenein-

sätze zwei bis drei Stunden, und das schließt die

Ar-

beit selbst ein, den Weg dorthin und fünf Minuten in der Luftschleuse beim Ein- und Ausstieg. Sie sind sonst seit mehreren Monaten umgeben von immer denselben Menschen, denselben Dingen, auf begrenztem Raum. Wie erleben Sie das? Wir suchen uns abwechslungsreiche Beschäftigungen. Ich zum Beispiel lerne Französisch und Mundharmonika. Einige von uns arbeiten an wissenschaftlichen Projekten. Wenn das Neue nicht mehr zu uns kommen kann, erschaffen wir eben Neues. Wie hat sich die Beziehung zu lhren Mitbewohnern seit dem Einzug verändert? Im Großen und Ganzen haben sich Tendenzen, die sich am Anfang schon abgezeichnet haben, verstärkt. Diejenigen Crewmitglieder, mit denen ich beim Einzug aufgutem Fuß stand, sind heute enge Freunde, während ich die, mit denen es gleich Reibereien gab, bestenfalls als Kollegen oder Mitbewohner bezeichnen würde.

Wie gehen Sie mit dem Thema Sex um? lst Sex ,,erlaubt", sind Beziehungen gar erwünscht? Vonseiten der Studienleitung ist Sexweder verboten, noch wird er gefördert. Wir wurden nur darauf hingewiesen, dass Beziehungen problematisch werden können, wenn sie zerbrechen

-

man kann dem oder

der Ex hier schließlich nicht aus dem Weg gehen. Crewintern waren wir uns alle von Beginn an einig, dass Beziehungen akzeptabel sind, solange sie die Mission nicht beeinträchtigen. Zu den Situationen, die wir uns vorgenommen haben zu vermeiden, zählen lautstarke Konflikte, Eifersüchteleien, aber auch das Gegenteil :

allzu öffentliches Herumgeknutsche.

Klappt das? Bisher ja

-

zumindest habe ich noch keine der eben

39


genannten Verhaltensweisen hier beobachtet.

ln anderen lsolationsstudien kam es zu teils erheblichen Spannungen in der Gruppe. Bei uns läuft bisher alles friedlich ab. Klar hatten wir Auseinandersetzungen, und zwei- oder dreimal haben sich einzelne Crewmitglieder für den Rest des Tages in ihre Zimmer zurückgezogen. Aber jedesmal

wir spätestens am nächsten Morgen wieder miteinander gesprochen und zusammen gearbeitet. Was haben Sie im Verlauf des Aufenthälts lernen müssen - über sich und andere? Ich habe mich immer für eine schlechte Köchin gehalten. Doch tatsächlich gibt es an meinen Küchendiensttagen die wenigsten Reste, egal wie voll der Topf vorher war. Dass ich zum Beispiel viel toleranter geworden bin, glaube ich aber nicht. Ich habe schon immer dazu geneigt, kleine Fehler oder Unachtsamkeiten durchgehen zu lassen. Erst wenn sie sich häufen, bringe ich sie zur Sprache. Ich denke, wer ständig aufKleinigkeiten herumreitet, macht sich haben

selbst das Leben schwerer.

Wie ist es um lhre Privatsphäre bestellt? Gibt es so etwas für Sie derzeit überhaupt? Jeder hat sein eigenes Zimmer, das zwar winzig ist, aber mit allem Notwendigen ausgestattet. Wer seine Ruhe haben möchte, kann sich also zurückziehen. Überhaupt: Wir haben zwar Kameras im Habitat, die sind aber nur aufden Essbereich gerichtet. Labor,

Bad, Lagerraum, Gemeinschaftsraum, unsere Zim- all diese Bereiche sind nicht überwacht.

mer

Wie geht es lhnen körperlich? Bemerken Sie Einschränkungen, was Bewegung, Schlaf, Konzent-

ration angeht?

40

Die anderen behaupten, dass ich 30 Stunden am Tag schlafe. Tatsächlich ist es aber in etwa so viel wie vor Missionsbeginn. Ich achte darauf, regelmäßig aus-

zuschlafen, damit ich mich besser konzentrieren kann. Schwieriger ist für mich der Bewegungsmangel. Einige von uns treiben täglich mehrere Stunden Sport, wir haben hier ein Laufband, ein Generatorfahrrad und Yogamatten. Das ist mir zu eintönig: Nach einer halben Stunde aufdem Fahrrad hatte ich genug für den Rest der Mission. Im Moment nutze ich das Laufband regelmäßig - und lese dabei. Die Stimmung von Teilnehmern ähnlicher lsolationsexperimente soll sich laut Studien nach einer gewissen Zeit verschlechtern. Bemerken Sie so etwas beisich oder lhren Mitbewohnern? Das würde man vor allem ungefähr zur Halbzeit erwarten, zu Beginn des sogenannten dritten Viertels, wenn derAlltag längst eingetreten, das Ende der Mission aber noch lange nicht in Sicht ist. Mir selbst ist um die Zeit herum keine Verschlechterung aufgefallen. Das muss aber nichts heißen - wir wären nicht die Ersten, denen diese schleichende Veränderung entgangen ist. Genau deshalb frihren wir ja regelmäßig Experimente durch, die unsere Kooperationsbereitschaft und Produktivität objektivbewerten sollen. Was stört Sie in lhrem Alltag am measten? Wir können nicht spontan nach draußen gehen, wenn das schöne Wetter lockt. Dazu kommt, dass wir immer einen Anzug tragen müssen, egal wie warm es ist. Daher ist es kein Zufal| dass meine Duschtage mit unseren EVA-Tagen zusammenfallen. Dürfen Sie nur begrenzt duschen? Nein, aber intern wetteifern wir darum, wer am kürPSYCHOLOGIE HEUTE 0612016


zesten duscht und somit am wenigsten Wasser ver-

braucht. Unsere männlichen Teamkollegen liegen häufig unter einer Minute, ich schaffe es selten unter zwei. Darüber hinaus haben wir uns angewöhnt, einbis zweimal in der Woche zu duschen, bevorzugt nach

zweistöckigen Zeltbaus beträgt nur zwölf Meter

Das hängt vom Tag ab. Ich liebe unsere Außeneinsätze, besonders wenn wir uns dabei weiter vom Habitat entfernen. Ich lerne wie gesagt Französisch und gelegentlich Morsecode. Theoretisch übe ich auch,

Mundharmonika zu spielen, aber dazu bin ich schon

schweißtreibenden Aktivitäten. Dazwischen waschen

seit einigen Wochen nicht mehr gekommen.

wir uns; es stinkt niemand. Was fehlt lhnen besonders?

Sie werden teils von Kameras beobachtet, Puls,

Frische Tomaten!Wir arbeiten daran, aberes istnicht einfach, hier Pflanzen zuziehen.

IuZ Iz f f ! P

Zuhause für ein Jahr: Der Durchmesser des

Was ist daran so schwierig? Unsere Pflanzen leiden unter Lichtmangel und einer Fliegenplage. Hier auf 2500 Meter Höhe verirrt sich selten ein Lebewesen. Aber irgendwoher haben sich Fliegen in unseren Kompostiertoiletten eingenistet, und deren Larven mögen auch junge Pflänzchen. Was essen Sie sonst? IJnser ,,normales" Essen besteht aus Gefriergetrocknetem, dazu Nudeln und Reis. Wir haben Gemüse, Obst, Fleisch, Milch - alles, was man in der Küche so braucht. Nur eben in dehydrierter Form. DerVorteil: Alles ist schon in mundgerechte Stücke vorgeschnitten, man braucht es nur noch in eine Schüssel mit Wasser werfen und warten. Was ist für Sie die größte Herausforderung bei dieser Mission? Das klingt vielleicht banal, aber ich vermisse, ungehindert geradeaus laufen zu können. Wir sindbis auf funfbis sechs Stunden in derWoche ständigdrinnen.

Schlaf, Bewegungen werden aufgezeichnet. Wis' senschaftler aus aller Welt erhoffen sich daraus Erkenntnisse zum Beispie! dazu, wie sich das Zu-

sammenleben in isolierten Gruppen entwickelt. Wie viel bekommen Sie davon mit? Die Kameras sind ja nur auf den Essbereich ausgerichtet und zeichnen keinen Ton auf. Wir tragen Fitness-Tracker am Handgelenk, die spürt man kaum. Andere Sensoren, diewir unter anderem um den Hals legen müssen, sind störender, aber die tragen wir nur zu bestimmten Zeiten. Neben dieser passiven Überwachung führen wir regelmäßig die verschiedeneri Sozialexperimente durch. Die wohl meiste Zeit verbringen wir aber mit dem Ausfüllen der Fragebögen. Darin geht es zum Beispiel um unsere Stimmung während des Tages, mit wem wir wie erfolgreich interagiert haben oder wie wir in der Nacht geschlafen haben.

lnwieweit beeinträchtigt Sie die Rolle als Versuchsperson? Beeinträchtigen ist das falsche Wort. Klar würde ich

die Stunden am Tag, die fur die Untersuchungen draufgehen, lieber für meine eigene Forschung nut-

Der Durchmesser unseres Habitats beträgt etwa zwölf

zen. Aber ich gehöre auch zu dem Teil der Gruppe,

Uete., d"s ist die längste Strecke, die wir zurücklegen

der sofort noch mehr Versuche auf sich nehmen

könrr.n, ohne umkehren zu müssen. Was tun §ie, um bei Laune zu bleiben?

de, um aus dieser einmaligen Gelegenheit wissenschaftlich so viel wie möglich herauszuholen.

PSYCHOLOGIE HEUTE O612016

wür-

41


Wie geht es lhnen mit dem Mange! an Natur?

sind; ich habe schon vor Beginn der Mis-

Ich finde das Vulkangestein um uns herum

Sie haben sich vorgenommen, während

nicht so trostlos, wie es sich für andere vielleicht anhört. Die Landschaft ist fremdartig und spannend für mich: Man sieht die unmöglichsten Formen, in denen das Gestein mitten im Fluss erstarrt ist. Nach fünf Monaten haben wir unseren Bewegungsradius allerdings so gut wie ausgeschöpft, es wird zunehmend schwerer, noch Neues zu entdecken. Dazu engt uns der Anzug ein, und es kann ziemlich lästig sein, eine ihteressante Gesteinsformation durch den Helm betrachten zu müssen und nicht mit den Fingern berühren zu können. Manchmal schaue ich mir sehnsüchtig Fotos von alten Ausflügen an. Mal wieder nach einer schweißtreibenden Wanderung in einem

der H1-SEAS-Zeit,,mindestens eine

Waldsee zu baden wäre schon schön. Aber unser Le-

ben hier ist so andersartig, dass ich wohl mehr irritiert als glücklich wäre, hier einen Baum oder einen

finden. Und die Abgeschiedenheit hat durchaus auch Vorteile: Selbst durch unser Fenster hindurch können wir problemlos die Milchstraße erSee zu

kennen.

Jedes Crewmitglied hat nur begrenzten, um 40

Minuten verzögerten Zugang zum Internet. EMails erreichen Sie erst mit 20 Minuten Verspätung. Die Möglichkeiten, Kontakt mit der Außenwelt zu halten, sind entsprechend gering. Wie hat sich lhre Art zu kommunizieren verändert? Ich warnie der große Telefonierer, die Beschränkung auf E-Mails fällt mir daher meist gar nicht auf. Erst bei Problemen, die sich per Mail einfach nicht effizient lösen lassen, vermisse ich die Möglichkeit, einfach zum Hörer zu greifen. Ich bin gezwungen, auch komplizierte Sachverhalte schriftlich darzulegen. Durch denZeitverzugkann der Empfängernichtmal eben nachfragen, wenn etwas unklar geblieben ist. Dadurch erstrecken sich fast alle ,,Gespräche" über längere Zeiträume. Was außerhalb der Station eine Stunde dauert, kann sich hier über mehrere Tage hin-

ziehen.

lnwieweit beeinflusst lhr Aufenthalt die Beziehung zu Freunden und Familie? Ich tausche mit ihnen gelegentlich Videonachrichten aus, wobei ich es immer noch eigenartig finde, mit einer Kamera zu sprechen. Ich denke, unser Kontakt

hat sich vom Umfang her wenig geändert, nur das Medium ist jetzt ein anderes. Vermutlich hilft es, dass meine Freunde und Familie an die Trennung gewöhnt

i.

42

sion für längere ZeitenimAusland gelebt.

Spradhe zu lernen und ein lnstrument" - und ab und zu Kuchen zu backen. Wie sind Sie damit vorangekommen? Die Französisch-Grundlagen sitzen, und demnächst werde ich anfangen, mit unserem französischen Teammitglied zu üben. Zum Mundharmonikaspielen komme ich nur sporadisch, das kann man leider nicht nebenher aufdem Laufband machen. Kuchen backe ich gelegentlich, aber die ande-

ren backen auch sehr gern, sodass wir uns mit dem Aufessen regelrecht beeilen müssen. Und lhre Forschung? Sie haben mit dem

Aufenthalt ia auch wissenschaftliche Ziele verknüpft. Zwei bis drei Stunden dauern die Außeneinsätze, bei denen sich die Teilnehmer maximal

zwei Kilometer weit entfernen dürfen

Eines meiner Projekte ist die Gewinnung von Wasserausdem Boden. Das Lavagestein hier istvergleich-

bar mit dem Mars, sowohl was den Wassergehalt angeht als auch die chemische Zusammensetzung. In einer Woche gewinne ich durch reine Verdunstung etwa zwei LiterWasser aus einem QuadratmeterBoden. Die anderen Projekte beschäftigen sich unter

anderem mit unserem Wasserverbrauch, unserem Schlafverhalten und Problemen, die mit Pflanzenwachstum auf Marsboden zusammenhängen. Worin besteht für Sie der größte Reiz an dem Hl-

SEAS-Experiment? Für mich waren zwei Gründe für die Teilnahme ausschlaggebend: die persönliche Herausforderung und die Möglichkeit, aktiv zur Weltraumforschung beizutragen. Ein angenehmer Nebeneffekt ist, dass ich einen recht tiefen Einblick in die Spezialgebiete meiner Teamkollegen erhalte. Was interessiert Sie da besonders?

Cyprien Verseux ist unser Astrobiologe, der hier unter anderem an Cyanobakterien forscht. Das Faszinierende an diesen Bakterien ist, dass sie im Labor unscheinbar wirken, sie sehen fast wie ein Schluck Waldmeisterbrause aus. Tatsächlich steckt in ihnen großes Potenzial: Sie können das Leben aufdem Mars ermöglichen und als Nahrungsquelle, Sauerstoffl ieferant oder sogar Dünger für Pflanzen dienen. Wie hoch ist eigentlich die Vergütung dafür, ein Jahr die Kontrolle über sein Leben abzugeben? Wir erhalten eine Aufwandsentschädigung, freies Essen und freie Unterkunft. Im Gesamtwert entspricht das dem, was ich in Deutschland als wissenschaftliche Mitarbeiterin erhalten habe. PSYCHOLOGIE HEUTE 0612016

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Wie bereiten Sie sich auf die Rückkehr in die Zivilisation vor?

könnten. Meine Hoffnung ist, dass die Entwicklun-.

Den ersten Tag nach dem Ende der Simulation stel-

auf dem Mars zu sichern, auch den ,,Daheimgebliebenen" aufder Erde von Nutzen sein werden.

Ie ich mir schwierig vor - plötzlich wieder von so vielen Menschen umgeben zu sein. Deshalb werde ich im ersten Monat nach meiner Rückkehr,,auf die Erde" erst einmal ausgiebig zelten gehen. Was nehmen Sie als wichtigste Erfahrung mit? Weil wir nicht mal eben im nächsten Supermarkt unsere Essensvorräte aufftillen können, müssen wir einen Überblick darüber behalten, was wir verbrauchen. Unser Strom wird von Solarpaneelen erzeugt und in Akkus gespeichert, die wir nachts entladen. Da diverse Systeme über Nacht laufen müssen, bedeutet das, dass wir zum Beispiel nach Sonnenuntergang nicht mehr kochen können. Noch stärker ist der EinschnittbeimWasser: Wir sparen, wo wir können. Die gesamte sechskopfige Crew verbraucht pro

gen, die nötig sind, um das Überleben von Menschen

Worauf freuen Sie sich am meisten? Frisches Obst, frisches Gemüse, frisches Fleisch,

fri-

sche Milch, frisches - alles. Und mal wieder weiter weg als eine Handvoll Kilometer von meinem Ar-

beitsplatz zu sein.

Würden Sie wieder teilnehmen, wieder ein Jahr in lsolation leben? |a

- wenn die richtigen

Menschen dabei sind.

Was ist lhnen da besonders wichtig? Wer dauerhaft auf so engem Raum zusammenleben will, muss ein Teamplayer sein, nett, kooperativ, und

grundsätzlich Respekt vor anderen haben. Das ist schwerer, als es klingt. Jeder kann für ein paar Stunden oder Tage nett sein, aber eine Fassade kann man

Tag knapp 100 Liter Wasser. Das ist weniger, als ein

nicht über Monate aufrechterhalten. Da ist man, wie

einzelner deutscher Durchschnittsbürger täglich verwendet, und der hat kein gefriergetrocknetes Essen, das mit Wasser versetzt werden muss. Das zeigt mir,

man ist.

dass

PH INTERVIEW: EVA.MARIA TRAGER Das lnterview wurde per E-Mail geführt

wir alle deutlich ressourcenschonender leben

Fachhochschule Nordwestschweiz Hochschule für Soziale Arbeit

4. lnternationaler Coachingkongress ««Goaching meets Research ... »r Wirkung, Oualität und Evaluation im Coaching 14.115. Juni 2016, Olten/Schweiz ... für Personen, die für ein anspruchsvolles und qualitativ hochwertiges Coachingverständnis stehen und sich am State of the Art der Coaching-Praxis und Coaching-Forschung orientieren.

wvwv.coaching-meets-research. ch

PSYCHOLOGIE HEUTE O612O]6

43


Was Sokrates Tt lhren Sorgen sagt Philosophie ist populär wie selten zuvor. Aristoteles und Kollegen liefern Antworten für jede Lebenslage. Klassische Texte werden zur Fundgrube für Wohlfuhltipps. Manche Philosophen preisen ihr Fach sogar als Alternative zur Psychotherapie. Was sollen wir davon halten? voN BoRrs xÄxsslen


er bin ich

-

und

wenn ja, wieviele? Werde ich gelassener, wenn ich älter werde?Warumist

die Liebe so schwierig, und wie gelingt sie dennoch? Das sind einige der Fragen, mit

denensich die deutschen Philosophen Richard David Precht und Wilhelm Schmid

in ihren Sachbüchern beschäftigen. Offenbar sprechen sie damit ein großes Pu-

blikum an: Allein Prechts BuchWer bin ich - und wenn ja, wie viele? hat sich bis heute mehr als zwei Millionen Mal im deutschsprachigen Raum verkauft. Nicht nur philosophische Bücher sind gefragt: Viele Menschen haben auch das Bedürfnis, über Philosophie zu reden. In den vergangenen Iahren haben sich verschiedene Angebote etabliert, die unter den

Epikur und die sogenannten Stoiker tätig waren - die ersten Philosophen, die ihr Sujet explizit als Lebenshilfe begriffen. Precht nennt sie die Gründer der Selbstmanagement- und der Ratgeberliteratur.

,,EpikurwareineArtspirituellerGuru, der eine Kommune aufbaute und in ihr das richtige, gute Leben vorleben wollte", sagt Precht.,,Dafürwurde ervonden akademischen Philosophen angefeindet. Aber die Sinnsuche war eine logische Reaktion aufdie eher optimistische, politische Philosophie von Platon und Aristoteles, die noch große Utopien des menschlichen Zusammenlebens entwarfen. Ihnen folgte eine Phase der Ernüchterung, da die Gesellschaftsentwürfe nicht griffen, und in einer solchen Phase befinden wir uns erneut." Sie begann nach Prechts Einschätzung

chige Internationale Gesellschaft

in den 1970er Jahren, als viele Menschen erkannten, dass die Proteste der l960er dem Kapitalismus langfristig nichts anhaben konnten. Die Hoffnung auf eine

sophische Praxis zählt etwa 150

bessere und gerechtere Welt war verfl

Begriff ,,philosophische Praxis" fallen, sei es in Form von Einzelgesprächen oder Gruppendiskussionen. Die deutschsprafur fhiloMitglieder, der amerikanische Verband National Philo sophical Counseling Asso ciation hat etwa 400 Mitglieder - doppelt so viele wie noch vor zwei Jahren. Es gibt in Deutschland

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mit

ihrem eigenen Glück zu beschäftigen. ,,Zunächst wandten sich viele Leute den Philosophien des Fernen Ostens oder der Esoterik zu', sagt Precht. ,,Die klassische

abendländische Philosophie galt als zu schwierig für die Allgemeinheit aufzubereiten, aber das ändert sich allmählich, und seither steigt das Interesse an ihr." Ein Grund dafür sei auch der Bedeutungsverlust der Kirchen und Religionen. Wilhelm Schmid sieht es ähnlich: ,,Die Menschen haben keine Normen mehr, die bislangvon der Religion erlassen, von der Tradition überliefert oder durch die Konvention vorgegeben wurden. Also müssen sie sich selbst orientieren." Ratgeber, die

ihren Lesern das Denken abnehmen, befriedigen viele Menschen nicht. Schmid sagt, seineBücher seien fürMenschen, die selbst denken können und wollen. Während der Glauben für große Bevölkerungsschichten an Relevanz verloren hat, lässt sich zugleich ein zunehmender religiöser Fundamentalismus beobachten.

ETH Zürich lehrt, sieht auch darin einen Grundfürdasneuelnteresseanwestlicher Philosophie. Man wende sich bewusst den schen Aufklärung zu.

Wie kommt es, dass sich so viele Menschen für Philosophie interessieren, ein Fach, das lange Zeit als zu abstrakt, als zu

Manche Philosophen gehen so weit, dass sie die Philosophie alsAlternative zur

Hilft

bewerben. Der kanadische Autor Lou

Psychologie

-

-

genauer: zur Psychotherapie

Philosophie denen, die sich innerlich leer

Marinoff, der Bücher wie Plato, Noi

fuhlen? Hat die Psychologie keine Antwor-

Prozac! (auf Deutsch: Bei Sokrates auf der Couch) geschrieben hat, geht davon aus, dassviele Probleme unserer Seele ihre Ur-

zu kümmern? Oder versprechen sie mit der Popularisierung der Philosophie etwas, F d

Iichen Problemen und begannen, sich

Wurzeln und Idealen der abendländi-

ftir ausgebildet, sich um solche Menschen

-

,

wandten sich ab von gesellschaft-

sophische Publikumszeitschriften wie das

ten aufihre Fragen? Sind Philosophen da-

o

Sie

Philosophie Magazin undHohe Luft.

fern von den alltaglichen Sorgen galt?

J

gen,

tert.

Der Philosoph Michael Hampe, der an der

philosophische Cafds, Philosophieren für Kinder, philosophische Reisen und philo-

o

o

die ehemaligen Aktivisten waren ernüch-

was das Fach nicht zu leisten vermag?

Richard David Precht jedenfalls sagt, dass das Interesse derbreiten Bevölkerung

an philosophischen Fragestellungen kein

wirklich neues Phänomen sei. Precht hat kürzlich den ersten Band seiner dreiteiligen G e s chichte der Philo sophie veröffentlicht

,,Philosophie ist die Kunst, über das Leben

reflektiert nachzudenken also über das Leben, nicht mein Leben"

sachen darin hätten, dass wir am Sinn des Lebens zweifeln. Psychologen und Psych-

iater schlössen zu schnell aufeine psychische Störung und verordneten Therapien oder Medikamente. Dabei seien die meisten mentalen Probleme weder emotional noch biochemisch zu lösen, sondern philosophisch.

mit

Alain de Botton veröffentlichte 1998 ein Buch, in dem er die Philosophie, Li-

jener Zei1, in der griechische Denker wie

teratur und Kunst mit den gängigen For-

und vergleicht darin unsere Gegenwart

PSYCHOLOGIE HEUTE O612O16

45


und gut?" Der Klient denke dann über

meln eher psychologisch orientierter Ratgeberliteratur verknüpft: Wie Proust lhr

die Einstellung nach und lockere sie. ,,Im zweiten Schritt geht es darum, was ange-

Leben verändern kann. Eine Anleitung.

messen und hilfreich ist. Menschen können an der Suche nach dem Sinn im Leben

Zehnlahre später gründete de Botton in London die S chool of Life, die mithilfe von Kultur unsere,,emotionale Intelligenz" stärken soll. Die Schule gibt Kurse wie ,,Wie man ruhig bleibt", ,,Wie man eine gute Führungskraft ist" oder ,,Wie man

in der Liebe kommuniziert". Im hauseigenen Shop kann man Bücher mit

besser

ähnlichen Titeln kaufen - neben Schltissqlanhängern mit philosophischen Sprüchen oder Honig aus Griechenland. Unter dem Überbegriff ,,Therapie" bietet die School of

Life zudem sowohl klassische

Psychotherapien als auch philosophische

Lebensberatungen zur Persönlichkeitsentwicklung an.

Kierkegaard als Hausaufgabe Der amerikanische Psychologe Samuel Knapp hat das weltweite Angebot an philosophischen Beratungen analysiert und zwei Richtungen ausgemacht: narrow scope- v:nd broad scope-Beratungen, zu Deutsch etwa ,,eng gefasst" und ,'weit gefasst". Die narrow scope-Philosophen beschäftigen sich mit Problemen, die in der Psychotherapie nicht behandelt werden, etwa ethischen, metaphysischen, politischen oder rein logischen Fragestellungen.

Klienten kommen in die Beratung, weil sie in ihrem Berufvor einem ethischen Dilemma stehen, weil sie ihre Weltsicht hinterfragen oder wissen möchten, was ein würdevolles, freies Leben ausmacht. Die broad scope-Philosophen bieten ihre Dienste offensiv als Alternative zur Psychotherapie an. Sie behandeln Lebenskrisen, Angste

und DePressionen.

Tatsächlich haben sich alle philosophischen Berater Techniken aus der Psychotherapieangeeignet, etwa den Rahmen für die Gespräche. Sie dauern ungefähr eine

Stunde und finden wöchentlich oder l4-tägig in professionellen Praxisräumen statt. Die Beraterhören zu undreden-ihr Ziel ist, die irrationalen Annahmen ihrer

'

Klienten zu identifizieren. Mitunter geben sie den Klienten philosophische Werke zur L.ktü.. als Hausaufuabe mit.

46

krank werden, falls sie ihn nicht finden, und daraus ergeben sich mitunter psychiGrundfrage,vor der sie stehen, ist zunächst philosophisch." Die Philosophie hinterfragt Werte, Konventionen und Traditionen. Thomas sche Störungen. Aber die

,,Die Philosophie

Polednitschek aus Münster ist in erster

hilft, die Grundlagen eines

Linie Psychologischer Psychotherapeut, aber Ende der 1980er und 1990er Iahre

Problems zu verstehen und Lösungen zu erörtern. Aber wir sagen nicht, welche zu welchem Menschen Passen.r'

wandte er sich zunehmend der Philosophie zu, als er merkte, dass sich das Belastungsbild seiner Patienten änderte. ,,Ich erkannte eine Art Subjektmüdigkeit' Tradition und Religion verloren bei den Menschen ihre Bindewirkung. An ihre Stelle trat die Leere, und daraufhat die Psychopathologie keine Antworten. Unsere Frei-

heit ist heute nicht nur durch Unterdrückung, sondern durch Banalität bedroht'"

WILHELM SCHMID

,,Ich gebe regelmäßig Textabschnitte heraus, die zu den Problemen der Klienten passen", sagt Oliver Florig, der als

philo-

sophischer Berater, Logotherapeut und Heilpraktiker Psychotherapie in Heidel-

Auch Oliver Florig glaubt, dass sich die Gesellschaft zunehmend wegen einer um sich greifenden mentalen Leere der Philosophie zuwendet. ,,Ich war an mehreren Orten tätig und merkte, je traditioneller

Milieu ist, desto weniger tauchten Sinnfragen auf. In München waren sie in

das

der Beratung das Hauptthema. Die Men-

berg und Kempten arbeitet.,,Zum Beispiel hatte ich einen Klienten, der Ende 30 war.

schen sind heute oft familiär und religiös ungebunden, und wenn sie keine Erfül-

Er hatte studiert, aber er wusste nicht genau, wie er sein Leben gestalten sollte. Soll

spüren sie eine gewisse Leere. Sie merken

er seine Freundin heiraten? Wie geht es beruflich weiter? Er wollte das Optimum und nichts falsch machen. Ich gab ihm einen Text über die ,Krankheit der MögIichkeiten von Soren Kierkegaard." Darin geht es um die Notwendigkeitvon Einschränkungen und die Möglichkeit, Fehler zumachen, sobald man imLebenkonkret wird.,,Darüber konnten wir sprechen und so einen Ztgang zu den Problemen

finden", meint Florig. Der Philosoph sucht nach Widersprüchen im Denken seiner Klienten. Florig fragt: ,,Welche Argumente gibt es für die Einstellung, die jemand hat? Ist sie auch auf den zweiten Blick angemessen, wahr

lung in einer sinnvollen Arbeit finden, auch, dass es ihnen auf die Dauer nicht reicht, sich amWochenende aufeinen Latte macchiato zu treffen." Albert Camus nannte das 20. )ahrhundert noch das fahrhundert der Angst - er ging davon aus, dass Angst nicht ein Problem der Psyche des Einzelnen ist, sondern

umgekehrt die Psyche ein Produkt der modernistischen Angste. So interpretiert Maquarie Universi11, in SydneyCamus'schriften' Eine mentale Krankheit sei ein Rückzug vom modernen Leben oder eine Abgrenzung. Die Philosophie beschäftige sich nicht mit der Störung der Persönlichkeit wie die Psychologie, sondern mit dem ZusammenSteven Segal

von

der

PSYCHOLOGIE HEUTE O612016


Viele Menschen fühlen sich mental leer. Es reicht nrcht, sich am Wochenende auf einen Latte macchiato zu treffen

bruch der Konventionen, die den Alltag strukturieren. Segalschreibt:,Vondiesem Standpunkt aus ist das Ziel der philosophischen Beratung nicht, das Selbst zu heilen, sondern die Störung der Konventionen zu erkunden und einen alternativen Rahmen zu schaffen, damit sich im Alltagsleben wieder ein Sinn findet." So weit die Theorie. In der Praxis ist es nicht immerleicht, so eindeutig zwischen psychologischen und philosophischen Fragestellungen zu unterscheiden. Daher diskutieren die philosophischen Praktiker seit Iahren, wie nahe die Philosophie sich an die Psychotherapie herantrauen dürfe. Der kanadische Praktiker Peter Raabe vertritt die Auffassung, dass philosophi-

sei es die Verantwortung der Klienten, auszuwählen, ob sie einen philosophischen oder psychologischen Ansatz für ihre Probleme bräuchten. Die Philosophen, die ihre Beratung als

Brown weist freilich daraufhin, dass Philosophen umgekehrt mit ihrer Expertise im kritischen Denken und ihrer Weltsicht alle mentalen Beschwerden als Folgen von

Irrtümern im philosophischen Denken

Alternative zur Psychotherapie sehen, kritisieren an heutigen Psychotherapeuten, dass sie alleAbweichungen von der Norm als Symptom einer biologischen Störung betrachteten. Auch der Bonner Philosoph Markus Gabriel schlagt in seinem Buch Ich ist nicht Gehirn in diese Kerbe, wenn er schreibt, dass wir Neurowissenschaftlern zufolge zu Agenten der ,,Neuronengewitter unter unserer Schädeldecke" de-

interpretieren könnten. Hinzu kommt, dass Philosophie eigentlich keine Wohlfühl-Veranstaltung ist - sie soll nicht unbedingt die Seele stabilisieren.

gradiert werden. Der Philosoph Sam

wenn man bedenkt, dass der Kenntnisstand in 100 |ahren womöglich ein ganz anderer sein könnte? ,,In der Philosophie geht es um die Suche nach der Wahrheit

sche Praxis selbst für Menschen geeignet sei, die laut den Kriterien in der psychia-

Der Philosoph Tom Stern vom University College London sagt, er habe Philosophie studiert, weil sich das Fach mit jenen komplexen Fragen beschäftige, die er sich selbst

stelle: Gibt es einen Gott? Wie kann ich es wissen? Und wie sicher ist das Wissen,

-

trischen Diagnostik an einer psychologischen Störung leiden, sei es manische Depression, posttraumatische Belastungsstörung oder Schizophrenie. Die

es geht

nicht um etwas Bequemes, Be-

ruhigendes", sagt Stern.,,Sobald Philosophie gut ist, ist sie schwierig und heraus-

philosophische Beratung müsse therapeu-

fordernd. Wenn ich eine Kritik zum Beispiel an der School of Lifehabe, dann die-

tischeZielehaben, dasiedasLeiddesMen-

se: Ihre Behandlung philosophischer

schen zu verstehen und zu mildern versuche. Da ein Philosoph sich zum Beispiel

Fragen erscheint

mit Solipsismus auskenne-der Idee, dass nur der eigene Verstand sicher existiert und außerhalb des Verstandes alles unsicher ist -, sei der Philosoph nach Paul I. Gibbs sogar besonders geeignet, die Weltsicht eines an Schizophrenie Leidenden zu verstehen und ihm zu helfen. Ihm

um zum Beispiel Trost zu suchen, danri muss die Möglichkeit bestehen, dass einem diese Denker die Augen öffnen und man zu dem Schluss kommt, dass es keinen Trost geben könnte." Professionelle

müsse Skepsis beigebracht werden, damit

erdie Rationalitat

des

Solipsismus akzep-

tiere. Die Psychologin und Philosophin Emmyvan Deurzen stellt sich auf den Standpunkt, dass Klienten, die zu einer exis-

tenziellen Therapie kommen, wissen, worum es dabei geht - um die grundsätzlichen Erfahrungen des Lebens. Demnach PSYCHOLOGIE HEUTE 06/2016

mir zu einfach. Wenn

man schon die großen Denker mobilisiert,

,,ln der Philosophie geht es um die Suche nach der

Wahrheit - es geht nicht um etwas Bequemes und Beruhigendes"

Philosophen präsentierten sich nie als weise Menschen, an die sichLeuteratsuchend wenden könnten, wenn es um ihr Leben

geht. ,,Warum sollten wir das auch? Das ist nicht das, wofürwir ausgebildet sind."

Richard David Precht, der sich selbst als psychotherapieskeptisch beschreibt, sagt: ,,Philosophie sollte nicht die gleiche

Rolle wie die Psychologie spielen; es ist die Kunst, zu lernen, über das Leben reflektiert nachzudenken - also iber das 47


Leben, ,nicht mein Leben. Das ist etwas anderes, als wenn man massive persönliche Probleme hat. Das reflektierte Nachdenken führt nicht zwingend dazu, dass Menschen ihre Sorgen verlieren. Es kann Depressionen mitunter verschlimmern." ,,Sucht man einen Reflexionspartner

für Fragen zur Endlichkeit

des Daseins,

zu Themen wie Sterben, zu moralischen Entscheidungen - dann sind Philosophen geeignet", sagt die Psychologin Antonia

[arke, die auch promovierte Philosophin ist. ,,Mit meiner Ausbildung als Philosophin hatte ich aber nie eine Therapie anbieten können. In der Psychotherapie gibt

Stigma zu entgehen. Falls Philosophen meinen, eine Alternative zur Therapie und nicht nur Reflexion anbieten zu können, ist das meiner Ansicht nach eine Selbstüberschätzung oder ein Mangel an Wissen, was Therapie bedeutet." Außerdem fehlten für die philosophische Beratung gesetzliche Rahmenbedingungen und Qualitätskontrollen, die die Menschen schützen. Es gebe nicht einmal eine Schweigepflicht.

Viele in Deutschland praktizierende Philosophen sind sich dieser Grenzen bewusst und sagen, sie würden Menschen

chische Störung zu behandeln. Das Ziel

mit psychischen Störungen nicht beraten. Aber das bedeutet nicht, dass sie psychische Störungen immer erkennen. Nicht

ist, das Leiden und die Einschränkungen,

alle Berater haben einen psychologischen

die durch diese Störung verursacht werden, so gutwie möglich zu beseitigen oder zu lindern. Dazu unternimmt man gezielte, aufeinander aufbauende Schritte, die zu einer Veränderung beim Patienten

Hintergrund wie Thomas Polednitschek oder Oliver Florig. Die Symptome fürpsychische Störungen seien bestenfalls

führen."

ob der Klient die Realität wahrnehme wie

es

einen klaren Auftrag, nämlich eine psy-

Alternative zur Therapie oder Selbstüberschätzung?

In der kognitiven

Verhaltenstherapie

stützten sich die angewandten Methoden auf empirische Evidenz, sagt Barke. ,,Psychologische Psychotherapeuten haben ei-

ne lange Ausbildung hinter sich. Man kann nicht einfach in Gesprächen etwas ausprobieren, selbst wenn man sehr klug ist. Es ist wichtig, vorab eine fundierte Diagnostik durchzuführen. Patienten können suizidal sein, sie leiden oft unter erheblichen Problemen in ihrem Befinden, bei derArbeit oder in ihren Beziehungensie benötigen fachkundige Behandlung." Barke sagt auch: ,,Ich glaube, dass es nach wie vor eine gewisse Geringschätzung gegenüber der Psychotherapie gibt. Denn ichwürde janichtaufdieldee kommen, mich von einem Menschen operieren

zu lassen, der kein Chirurg ist, nur weil er eine andere gute Ausbildung hat. Au-

schwammig, und nur eine psychologisch ausgebildete Person habe ein Auge dafür, die meisten anderen Menschen auch oder sich seine Realität konstruiere, schreibt die

Psychologin und Philosophin Beatrice A. Popescu von der Universität Budapest.

Grundsätzlich sind Menschen schlecht in einer philosophischen Beratung aufgehoben, wenn sie mentale Probleme jeglicher Art beschäftigen: wenn sie traurig sind, depressiv, ängstlich, aggressiv, hoff-

nungslos, wenn sie sich wertlos fühlen, unter Phobien oder Panikattacken leiden oder Zwangsstörungen haben. Philosophische Fragen sind etwa, wie man mit dem Alterwerden umgeht, wie man über Geld denkt, über Familienplanung - oder wie man es mit Moral, Werten und Politik hält. Der Psychologe Samuel Knapp beschreibt einige Beispiele, die zeigen, wie schwierig diese Abgrenzung manchmal ist: Klienten mit subtilen autistischen Störungen können aufmerksam und intelligent erscheinen, haben aber kognitive weiße Flecken, die erst durch professio-

ßerdem sind auch psychische Erkrankunstigmatisiert, und ich sehe die Gefahr,

nelle psychologische Untersuchungen auf-

dass Menschen

mit ihren Problemen sich 'lieber der Philosophie oder der philoso-

ihren logischen Anomalien, kann sie das in Bedrängnis bringen und seelisch ver-

phischen Beratung zuwenden, um diesem

letzen, ohne dass dabei ihre kognitive Leis-

gen

48

gedeckt werden. Konfrontiert man sie mit

tung profitiert. Auch neurotische Klienten

mit unverhältnismäßigen emotionalen Empfindungen neigen dazu, allerlei Abwehrmechanismen aufzubieten, sobald ihre Überzeugungen infrage gestellt werden. Überhaupt können Konfrontationen mit unbequemenWahrheiten, wie sie die Philosophie ja gerade fordert, immer gefährliche Reaktionen hervorrufen. Philo sophen sind Knapp zufolge aufgrund ih-

rer Ausbildung nicht in der Lage, dies frühzeitig zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten.

Knapp wirft beratenden Philosophen vor, dass ihre Annahme, ihr Ansatz sei eine legitime Alternative zu traditionellen Psychotherapien, auf rein theoretischen überlegungen beruhe. Philosophen hatten die ethische Verpflichtung, nachzuweisen, dass ihre Angebote dem Wohle der Gesellschaft dienen. Sie müssten em-

pirisch nachweisen, dass philosophische Ursachen tatsächlich hinter einigen menschlichen Problemen steckten und dass sich diese Probleme effizient mit philosophischen Mitteln mindern ließen. Philosophen wie Schmid und Precht sehen es ähnlich. Schmid sagt: ,,Wir Phi-

losophen verstehen nichts vom Unbewussten, von Verstrickungen des Gefühlslebens, von Traumata. Die Philosophie hilft, die Grundlagen eines Problems zu verstehen und Lösungen zu erörtern. Aber wir sagen nicht, welche zuwelchem Menschen passen; der einzelne Mensch muss

das mit seiner Intelligenz allein heraus-

finden." Das setze allerdings eine psychiPH sche Stabilitat bereits voraus.

LITERATUR Richard David Precht: Erkenne die Welt. Eine Geschichte der Philosophie, Band l. Goldmann, München 2O15

wilhelm Schmid: Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden. lnsel, Berlin 2014 Lou Marinoff: Bei Sokrates auf der Couch. Philosophie als l'ledizin für die Seele. Dtv, München 2OO2 Markus Gabriel: lch ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert. Ullstein, Berlin 2015

Alain de Botton: Wie Proust lhr Leben verändern kann. Eine Anleitung. Fischer, Frankfurt 2OOO

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KORP=R&S=ELE

REDAKTION: THO I\4AS SAU M.A LD EHOFF

-{

Bloß kein Stress mit dem Stress! ,,Lass dich nicht stressen", gibt man einander vor einem anstrengenden Tag auf den Weg. Will heißen:

Auch wenn es turbulent zugeht, lass die Hektik von dir abperlen (siehe auch unser Titelthema, S. 18). Das ist natürlich leichter dahergesagt als umgesetzt. Dennoch: Der Rat hat was für sich, wie jetzt eine amerikanische Studie bekräftigt. Nancy Sin und ihrem Team von der Pennsylvania State und der Columbia University diente dabei die ,,Herzfrequenzvariabilität"

als

einfach zu erfassendes

Sin und ihre Kollegen befragten nun 909 Teilnehmerinnen und Teilnehmer über gut eine Woche hinweg taglich per Telefon, ob und wie viele stressige Begebenheiten sie an diesem Tag durchlebt und wie sie sich dabei gefühlt hatten. Wütend? Traurig? Nervös? Und wenn ja: Wie intensiv war die Emoti-

Manche Menschen haben die beneidenswerte Angewohnheit, sich vom Stress nicht mitreißen zu lassen

on? Es stellte sich heraus: Diejenigen Probanden, die

über eine Menge stressiger Vorfälle berichteten, waren nicht notwendigerweise diejenigen mit der geringsten Herzfrequenzvariabilität - wohl aber

Maß dafur, inwieweit ein Mensch,,sich stressen lässt". Ein niedriger Wert weist darauf hin, dass das autonome Nervensystem nicht mehr flexibel je nach Si-

diejenigen, die solche Vorkommnisse als sehr belastend empfanden, begleitet von starken aversiven

tuation zwischen Aufregung und Ruhe hin und her schalten kann. Es ist dann unentwegt in Habachtstellung, was sich psychisch in chronischer unterschwelliger Anspannung niederschlägt. Langfristig

,,Die Ergebnisse sagen uns, dass die Wahrnehmung und emotionale Reaktion eines Menschen wichtiger

Emotionen.

sind als das stressige Geschehen selbst", kommentiert Nancy Sin.

hat sich dies als Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen herausgestellt. 52

PSYCHOLOGIE HEUTE O612OI6


Bei Fitnesstrainings per Spiel-

konsole ist es vorteilhaft, sich auf dem Monitor als durchtrainierten

Adonis darstellenzLt lassen. In einer

kalifornischen Studie erlebten sich

,,Fast alle meine

Kindheitserinnerungen gelten Augenblicken am frühen Morgen oder späten Abend, und alle haben einen Geruch. Am stärksten werden diese Erinnerungen durch die Luft, die ich einatme, durch physische Attribute. Es geht mir noch heute so, dass eine Erinnerung spontan und schockierend intensiv auftaucht, wenn ich unerwartet eine Luft einatme, die so riecht wie die in dieser Erinnerung, dann bin ich wieder da, wo ich damals war, binnen einer Sekunde ist alles wieder da."

die Absolventen eines virtuellen

Tennisspiels mal in Gestalt eines

normalgewichtigen, mal eines

fülligen Avatars mit einem stattlichen Body-Mass-Index von 32,L Ergebnis:

Als schlanke Figur legten sie sich stärker ins Zeug. DOI: lO.ll1]/jcc4.12l5i

Der NorwegerTorbjorn Ekelund beobachtet in seinem neuen gucn lm Wald. Kleine Fluchten für das ganze Jahr <Malik 20l6) sein Seelenleben in der Natur.

Tiefdrinnen duftet der Hotdog Warum packt einen manchmal solch ein Heißhunger auf eine ganz bestimmte Speise? Am knurrenden leeren Magen kann es nicht immer liegen, denn manchmal hat man ja starken Appetit, obwohl man eigentlich satt ist. Nach einem Modell des australischen Gesundheitspsychologen

die Idee, dass stark übergewichtige Menschen ihren Appetitvielleicht auch deshalb nicht unter Kontrolle haben, weil sie mit der Gabe geschlagen sind, sich den Geruch ihrer Leibgerichte besonders gut vor-

stellen zu können. Sie gingen dieser Ver-

mutung in einer Doppelstudie mit 82 Probanden nach, deren Body-

David Kavanagh spielen bei solchen un-

Mass-Index

bändigen, kaum kontrollierbaren Gelüsten sinnliche Vorstellungen eine

Diese erhielten die Aufgabe, sich ver-

schiedene Speisen, aber auch Alltags-

gegenstände visuell und geruchlich

seresVerlangens, zum Beispiel an einen

vorzustellen. Tatsächlich bestätigte sich :

Hotdog, und plötzlich ist und bleibt der

PSYCHOLOGIE HEUTE O612O16

on 17,7 (leicht unterge-

wichtig) bis 38,7 (adipös) reichte.

Schlüsselrolle: Irgendetwas bringt uns auf den Gedanken an ein Objekt un-

Hotdog im Kopl mit allen Sinneszutaten, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Im Fall von Speisen sind es vor allem olfaktorische Vorstellungen, also ihr lebhaft imaginierter Duft, die unser Verlangen wecken. Das brachte Forscherinnen der Yale School of Medicine nun atf

v

Je

mehr Speck die Teilnehmer auf den

Rippen hatten, desto besser waren sie darin, sich den Duft von Speisen, aber auch etwa eines Rosenstrauches deutlich ins Bewusstsein zu rufen. DOI: 1O.1016/j.appet.2Ol5.O4.OO5

53


Alte Menschen

krank! Kommt mir nicht zu nahe!" ,rlch bin

Dumme Frage: Warum ftihlen wir uns eigentlich krank, wenn wir krank sind? Natürlich weil die Krankheit unseren Körper schwächt, möchte man meinen. Doch ganz so einfach ist das wohl nicht. So rühren das Fieber, die Kopf- und Gliederschmerzen bei einer Grippe weniger von den Grippeviren selbst her, sondern die Symptome sind eher eine Folge davon, wie unser Körper auf die Infektion reagiert: Das Immun-, das Hormonünd das Nervensystem versetzen uns in einen Leidenszustand. Nach herkömmlicher Lesart dient diese fiebrige Erschöpfung dazu, die eingedrungenen Erreger effektiver zu bekämpfen und den Körper durch erzwungene Passivität zu schonen. Doch der Immunologe Guy Shakhar und die Psychologin Keren Shakha r vom Weizmann Institute of Science inlsrael drehen nun den Spieß um: Nach ihrer evolutionären Erklärung zielt das,,Krankheitsverhalten" mitWehleidigkeit und Rückzug nicht darauf ab, den Kranken selbst, sondern vielmehr dessen Umgebung zu schützen - nämlich vor Ansteckung. Schwäche und Müdigkeit schränkten den Aktionsradius des Erkrankten ein und minderten damit den Kreis der Gefährdeten. Appetitlosigkeit verhindere, dass die gemeinsamen Nahrungsvorräte mit Krankheitskeimen kontaminiert werden. Die Körpersprache und das gesamte Erscheinungsbild des Erkrankten signalisierten den anderen:,,Ichbin krankl Kommtmirnicht zu nahe!" Leider werde dieser natürliche Instinkt heute oft ignoriert, klagt Guy Shakhar: ,,Die Leute nehmen eine Pille und gehen zur Arbeit, wo sie mit großer Wahrscheinlichkeit Kollegen infizieren." Millionen Iahre von Evolution sprächen dafür, sich besser krank zu melden und daheim zu bleiben. DOI: 1O.1371liournal.pbio.lO02276

haben Schwierig-

keiten, dicht aufeinanderfolgende Ereignisse zeitlich zu

ordnen. In einem kanadischen

Experiment konnten ältere Probanden zwar ebenso gut wie jüngere erkennen, dass

ein Licht- und ein Lautsignal gleichzeitig auftraten. Doch

wurden die beiden Reize leicht versetzt präsentiert, waren sich die Alteren oft nicht sicher, ob

der Ton dem Licht folgte oder

umgekehrt. DO I : lO.lOO7sOO2

21 -

O15' 4

466'7

Wenn Patienten Dr. Google befragen, so heißt es, entdecken sie bei sich Krankheiten, wo keine sind. Tatsächlich ist es oft umgekehrt, wie Tübinger Forscher des Leibnizlnstituts ermittelt haben: Wenn Patienten eine ärztliche Diagnose als bedrohlich erleben, dann suchen sie im lnternet nach entlastenden lnformationen - bis hin zu einer

problematischen Verharmlosung ihres Leidens. DOI: 10.2'196,/imir.5l4O

54

PSYCHOLOGIEHEUTE O612OI6


und auf leben

=?^*11:"t"teich Fast jeder dritte Fall von Alzheimer

in Deutdchland wäre durch einen gesünderen Lebensstil abwendbar

ffi, Kurz

ma

Bludenz

Der Demenzdavonrennen Alzheimerdemenz ist in den Augen vieler eine ebenso gefürchtete wie schicksalhafte Erkrankung. Doch Letzteres ist nur zum Teil richtig: Fast jeder dritte der eine Million Fälle in Deutschland ist die Folge eines ungesunden

cherquote lediglich auf elf Prozent wie in den

Lebens. Das zeigt eine Berechnung von Tobias

Menschen verschor.rt. Gegen diese Berechnungen lässt sich einwenden, dass die Menschen

Luck und Steffi Riedel-Heller, die beide am Institut für Sozialmedizin der Universität Leipzig arbeiten.

Denn Alzheimer entsteht auch durch unkluge Gewohnheiten. So vergrößert Rauchen

die Gefahr, von der Demenzerkrankung heimgesucht zu werden, um 60 Prozent. Mangelnde Bewegung steigert das Risiko sogar um 80 Prozent. Es gibt noch weitere Risikofakto-

ren: niedrige Bildung, Depression, Diabetes, erhöhter Blutdruck (über 140/90) und Übergewicht (beispielsweise mehr als 97 Kilo bei einer Körpergröße von 1,80 Metern). Weil sich jeder dritte Deutsche zu wenig bewegt, gehen allein 217 000 Fälle aufTrägheit zurück. Die 15 Prozent Raucher hierzulande verursachen weitere 149000 Fälie. Sämtliche Raucher vom Glimmstängel zu entwöhnen dürfte aufabsehbare Zeit kaum zu schaffen §ein. Doch selbst wenn sich die RauPSYCHOLOGIEHEUTE 06l2O16

USA drücken ließe, würde dies mehreren

Sie hab,en ein verlängertes Wochenende frei? Wie wäre es mit einer Kurzreise nach Österreich? Wir empfehlen 72 Stunden mit Wanderungen und großer Liebe auf 1 .400 Metern Höhe. D e AlPen region Bludenz lädt mlt ,,Shakespeare am Berg" zu e nen ganz besonderen Theaterer ebnis: n der Berga'ena am \,4ullersbe'g können Sie ,,Romeo und Julia" vor spektakulärer Bergkulisse und mit technisch raffrnrerten Lichl- und Soundeffekten erleben, Magischl

Zehntausend Menschen die Altersdemenz ersparen. Gelänge es, jeden zweiten Couchhocker zu aktivieren, blieben weitere 95 000

durch einen gesünderen Lebensstil älter werden würden und dadurch wieder mehr Leute an Alzheirner erkranken könnter.r. Doch es würden auch Menschen älter, die nie von der Krankheit ereilt werden, sodass der Anteii der Patienten unter den Senioren nicht unbedingt steigen würde. Einige der Risikofaktoren gehen bereitsjetzt zurtick. Die Deutschen rauchen weniger und treiben mehr Sport als früher, ihr Bildungsniveau steigt. Allerdings werden sie auch dicker und entwickeln häufiger Diabetes. Unter den-r Strich ist der Trendiedoch günstig. Wie europäische Studien zeigen, erkranken heute Lebende seltener ar-r Alzheimer als frühere Generationen im gieichen Alter. JOCHEN PAULUS

Dol: lo loOT/sOOll5-Ol5-OO45

Tagsuber lässt stch hier bet etner Wanderung dre abwechslungsreiche Natur in Brandnerta . Kiostertal und Großem Walsertal e.kunoen. Oder burrmeln Sie ider A tstadt von Bludenz entlang der prächt gen Fassaden und mediterran anmutenden Laubengänge. Unser Tipp: Das ,,Alpen

Culinary Street Food Festival"

t Kochshows und Lve-Musik am I. August 201 6,

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SHAKESPEARE AM BERG 2 ÜN im 3-sterne-Hotel inkl. Frühstück, Ticket für ,,Romeo und Julta" und geführtem Stadtrundgang, Ab € 1 19.- p. P im DZr buchbar: 1 5.7. -7 .8.2O1 6. Tel. +43 5552 30 227

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der Deutschen können sich vorstellen, sich im Ausland medizinisch behandeln zu lassen. Als Hauptgrund nannte gut die Hälfte die günstigeren Kosten und gut ein Viertel die verkürzte Wartezeit, so eine repräsentative Umfrage. Andere wollten Verfahren nutzen, die hierzulande nicht zugelassen sind, und 31 Prozent stellten es sich als reizvoll vor, die Behandlung mit einem Urlaub zu verbinden.

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Heilende Marke Patienten schätzen Arzneimittel ohne Markennamen wenig. Wer will schon Acetylsalicylsäure schlucken statt

Aspirin? Dass der Glaube an Arzneimittelmarken sogar bei der Genesung hilft, demonstrierten nun Kate Faasse und ihr Team von der University of Auckland mit 87 kopfschmerzgeplagten Studierenden. Die erhielten entwederPackungen, die ein schnödes,,generisches Ibuprofen" androhten oder den Markenschmerzbekämpfer Nurofen versprachen. Was die Probanden nicht wussten: Die Hälfte der Tabletten waren Placebos

- unabhängig

von der Beschriftung. Wenn sie vermeintlich

das

Generikum erhielten, merkten die Teilnehmer den Unterschied: Das Placebo half ihnen nicht so gut und hatte auch noch mehr Nebenwirkungen. Wenn jedoch

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lesstud iu m.de/med izintou rismu s- immer- beliebter/

Was früher Perversion

hieß, nennt sich heute im

Diagnostikatlas,, Paraphi-

lien'. Doch wie sich herausstellt, sind die dort aufgeführten sexuellen

Abweichungen gar nicht so abweichend, jedenfalls in der kanadischen

Provinz Quebec. 45,6 Prozent gelüstete es dort laut einer Umfrage

der Markenname auf der Packung prangte, spielte der

Inhalt keine große Rolle: Das Placebo linderte die Schmerzen fast genauso gut wie der Wirkstoff - und hatte auch genauso viele Nebenwirkungen. Bei anderen

Präparaten wie etwa Antidepressiva oder Blutdruck-

nach mindestens einer der Praktiken.

Vor allem Voyeurismus, Fetischismus,

senkern, bei denen subjektiv kein rascher Effekt wahr-

Frotteurismus und Masochismus

zunehmen ist, macht der Glaube an die Marke womöglich noch einen größeren Anteil an der Wirkung aus.

standen hoch im Kurs.

Wird ein ,,Markenpatient" auf ein Generikum umgestellt, könnte sich sein Zustand daher verschlechtern, fürchten die Forscher. JocHEN pAULUS

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PSYCHOLOGTE

HEUTE

0612O16


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PSYCHOLOGIE HEUTE 0612O]6

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DIE DUNKLE SEITE DES NARZISSMUS

IchXXL Jeder Mensch braucht Narzissmus, doch eine Überdosis davon kann zum Problem werden, Können Menschen mit einem übergroßen lch lernen, dass wenlger mehr sein kann VON MICHAEL KRASKE

Anrbivalenz begleitet Na rzissteu it.n Be-

ruf ebenso u,ic inr Prir,aten. 58

PSYCIOLOG E HEUTE 06/2A16


,,Ob sich narzisstische Eigenschaften als Vorteil erweisen oder in die Sackgasse führen, kommt sehr auf die Umstände an", sagt Stefan Röpke, Leiter des Bereichs Persönlichkeitsstörungen am Centrum

für

Psychiatrie der Berliner Charit6. ,,In Extremsituationen kann der unbedingte Führungsanspruch eines Narzissten erwünscht sein, während die gleiche Rück-

sichtslosigkeit in ruhigere n Zeilen möglicherweise im Gefängnis endet." Narzissmus werde heute als Persönlichkeitsmerkmal verstanden, das bei jedem Menschen angelegt, allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt sei. Problematisch werde Narzissmus al-

lein durch die Dosis.

Fantasien von Macht und Erfolg ,,Kern des Narzissmus ist ein Selbstwertproblem", meint Röpke. ,,Dieses geringe Selbstwertgefühl versuchtderNarzisst zu stabilisieren, indem erzum Beispiel sich aufwertet und andere abwertet." Seit 1982 wird die narzisstische Persönlichkeitsstörung im Diagnosemanual DSM als eigenständiges Störungsbild erfasst. Im DSM-5 von 2013 werden diverse Merkmale aufgelistet - vom übertriebenen Selbstwertgefuhl uber andauernde Fantasien von Macht und Erfolg bis hin zu Neid und arrogantem Verhalten. Um den Grad einer Störung zu erreichen, müssen Kognition, Affektivität, Impulskontrolle und Beziehungen dauerhaft von der Norm abweichen. Doch ,,entscheidend dafür, ob eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vorliegt, ist der Leidensdruck des Betroffenen", sagt Röpke. Demnach kann man sich also permanent für den Größten und Besten halten und sich suchtartig nach Bewunderungverzehren, ohne dass sich daraus per se dringender thera-

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der Narzisst ist ein miserabler Teamspieler. Er neigt' dazu, soziale Kontakte danach auszuwählen, ob sie ihm nützen. Gern buckelt er nach oben und tritt nach unteh. Auf Kritik reagiert er hochempfindlich. Vergleichsweise harmlose Auslöser könnten Wut, Hass, ja sogar Gewalt bewirken, so Stefan Röpke. Narzissten sind denkbar schlecht dafür ausgestattet, dauerhaft tiefe und erfüllende Beziehungen zu

führen.,,Zwischenmenschlich ist nämlich nicht Durchsetzungsfahigkeit gefragt, sondern Kompromissfähigkeit", sagt Herpertz. ,,Ummit einem Partner gleichberechtigt zusammenzuleben, müsste der Narzisst einen deutlich anderen Stil pflegen als im Beruf." Dieses Defizit, emotionale Gleichberechtigung herzustellen, hält auch Röpke für gravierend. Solche Partnerschaften litten daher langfristig an einem Mangel an Empathie und Wärme. In der ersten Beziehungsphase wird der narzisstische Partner noch als reizvoll und aufregend erlebt. Studien belegen eine Art Blendereffekt. In ersten Begegnungen kann der Narzisst seine Gesprächspartner

mit Charme, Witz, Intelligenz und attraktivem Selbstbewusstsein betören. Seine Selbstbezogenheit wird erst nach mehreren Treffen als störend emp-

funden. In Liebesbeziehungen womöglich noch später, weil der Partner anfangs idealisiert und negative

Facetten eher ignoriert werden. ,,Erst wenn die rosarote Brille einer realistischen Sichtweise weicht, erkennt man die narzisstischen Eigenschaften", sagt Röpke. ,,Dann ist man aber möglicherweise schon eine tiefe Beziehung eingegangen, hat geheiratet oder

ein gemeinsames Kind. Dem Angehörigen bleibt als letzte Möglichkeit nur, mit der Konsequenz zu drohen: Wenn wir uns keine Hilfe suchen, bin ich weg."

peutischer Behandlungsbedarf ergibt. In einigen Milieus und Berufen ist der Egotrip geradezu ein Er-

Psychiaterin Herpertz rät Angehörigen, sich nicht zu unterwerfen oder unterzuordnen. Darauf reagie-

folgsrezept und kann dabei helfen, in die Chefetagen

re der Narzisst nur mitAbwertung. Stattdessen soll-.

aufzusteigen. Überall, wo Durchsetzungsvermögen und Entscheidungsstärke gefragt sind, kann der Narzisst glänzen und die Bewunderung aufsaugen, die

ten eigene Interessen und Autonomie nicht aufgegeben werden. Viele, die in einer Partnerschaft dauerhaft nicht wahrgenommen werden oder etwa durch

er so sehnlich begehrt. Etwa beim Militär, in Behör-

narzisstisch motivierte Seitensprünge tief verletzt werden, leiden heftig an der Seite eines Menschen, der sich selbst mehr als alle anderen liebt.

den oder Konzernen mit einer autoritätsfixierten Unternehmenskultur. ,,Das narzisstische Bedürfnis nach sozialer Anerkennung deckt sich mit gesellschaftlichen Werten wie Ehrgeiz, Leistungsstreben und Erfolg", sagt Sabine C. Herpertz, Direktorin für Allgemeine Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg. ,,Wo es

deutliche Hierarchien gibt und Führung erwartet wird, kann ein narzisstischer Persönlichkeitsstil erfolgreich sein. Wenn kooperatives Verhalten gefragt ist, bereitet dieser Stil allerdings Probleme." Denn PSYCHOLOGIE HEUTE O612O16

,,Therapie? !ch bin perfekt!" Doch auch wenn daheim Konflikte und Streit zum Dauerzustand werden - von sich aus wird ein Narzisst keine Hilfe suchen. Nicht mal, wenn sein Verhalten offenkundig dazu beiträgt, die Familie zuzerrütten oder Partnerschaften regelmäßig in die Brüche gehen. Das liegt an der Ich-Syntonie seiner Persönlichkeit: Er selbst empfindet sich ja nicht als

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gestört, sondern als großartig. Schuld haben immer die anderen. Darin liegt das narzisstische Dilemma.

moralisch abgewertet zu werden, steige für narzisstische Patienten die Motivation, mitzuarbeiten.

Wer sich selbst für perfekt hält, sieht keinen Grund für eine Therapie. Niemand geht wegen seines Nar-

Aha-Effekte in der Therapie

abrupt aus der Bahnwirft und seine bislangverdeck-

In der Klinik für Allgemeine Psychiatrie der Universität Heidelberg behandelt Herpertz narzisstische Patienten auf Grundlage der kognitiven Verhaltens-

te verletzliche Seite bloßlegt: Die Frau verlässt ihn.

therapie. Zu Beginn jeder Therapie werden gemein-

Ihm wird gekündigt. Obwohl er doch so ein großartiger Liebhaber ist, ein ganz und gar unverzichtbarer Leistungsträger. Solche Kränkungen hält er nicht aus. Dann bricht alles zusammen. ,,Narzissti§che Patienten sehen wir im klinischen Alltag am

Droht gerade eine Partnerschaft in die Brüche zu gehen, kann ein Ziel sein, weniger Konflikte auszutragen und die Qualitat der Beziehung zu verbessern. Eine wichtige Technik, um die Wahrnehmung eigener Muster zu schulen und zu korrigieren, sind Rollenspiele, die mit einer Video-

zissmus zum Arzt oder Therapeuten. Meist gibt es einen Auslöser, der den Narzissten

häufigsten mit einer schweren Depression. Daneben kommen auch Suchterkrankungen vor, nicht zuletzt

sam Zielevereinbart.

im Zusammenhang mit Stresssymptomen und Er-

kamera aufgezeichnet und anschließend gemeinsam ausgewertet werden. Im Rollenspiel nehmen die Pa-

schöpfung", erläutert Herpertz. ,,Dann bietet sich die therapeutische Chance, auch die Persönlichkeitsstö-

tienten die Rolle von ihren Familienangehörigen oder Ehepartnern ein und erleben, wie es sich anfühlt, auf

rung zu behandeln. Erst durch eine schwere Krankheit sind viele bereit, darüber nachzudenken, ob die Krise eine Folge des eigenen interpersonellen Stils sein könnte." Die psychologischen Schulen haben zwar eine Vielzahl verschiedener Therapien zur Behandlung narzisstischer Störungen entwickelt, doch liegen keine zuverlässigen Studien vor, ob und wie sie wirken. Da bei Narzissten offenbar frühe Lebens- und Lernerfahrungen in starre Muster geführt haben, hält es Röpke für notwendig, diese tiefsitzenden persönlichen Strukturmuster therapeutisch zu korrigieren. Gleichwohl erachtet Kollegin Herpertz aufgrund ihrer klinischen Erfahrung eine langjährige Therapie bei einer narzisstischen Störung meist nicht für angemessen, weil es ja nicht darum gehe, die Persönlichkeit vollständig zu verändern. Vielmehr werde eine Flexibilisierung des Verhaltens angestrebt, eine Erweiterung des individuellen Repertoires. Viele Patienten profitierten schon von 25 Stunden Kurzzeittherapie, so Herpertz. Bei schweren Fällen mitwenig Einsicht brauche es mitunter 40 Sitzungen. Der wichtigste therapeutische Schritt besteht zunächst darin, gemeinsam zu erarbeiten, dass überhaupt eine Störung vorliegt. Der Therapiebeginn ist eine sensible Phase. Narzisstische Persönlichkeiten

ein Riesen-Ego zu treffen.

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es

anfangs entscheidend,

aufzubauen. Da Narzissten hochsensibel auf

Kritik

reagieren, muss der Therapeut anfangs alles vermei,

den, was als Kränkqng verstanden werden kann",

berichtet Herpertz. Erst wenn sie sicher sind, nicht

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allein schon deshalb problematisch ist, weil ihre Su-

ein vertrauensvolles Verhältnis zu dem Patienten

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neigen dazu, die Behandlung früh abzubrechen, was

izidrate hoch ist. ,,Daher ist

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lm Rollenspiel sah er sich wie in einem Spiegel: Diese eiskalte Art war kaum a uszuhalten

rapie wiederholte er später das Rollenspiel und probierte aus, sich seiner Frau gegenüber anders zrtyerhalten. Zuhören, ausreden lassen, aufAbwertungen verzichten - Selbstverständlichkeiten, die in seinem Repertoire nicht vorgekommen waren.

Viele Patienten sind wie Günter Bender davon überrascht, wie sie auf andere wirken. Ein Aha-Effekt.

Konfrontiert mit ihren eigenen Ich-Inszenierungen, müssen die dtinnhautig Selbstverliebten über sich selbst grinsen. Selbstironie ist oft der erste Schritt

Günter Bender (Name geändert) war seit seiner Schulzeit ein Erfolgsmensch. Als Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens gab er stets den starken Mann, was ihm großen Respekt einbrachte. Doch als dann eines Tages das Erwerbsleben endete, war auch die Ara der Bewunderung vorbei. Bender fiel in ein tiefes Loch. Als der Rentner eine Psychotherapie begann, klagte er über depressive

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Symptome. Das Leben erschien ihm sinnlos. Immer habe er sich über Erfolg definiert. Anerkennung von

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seinen Eltern bekam er nur, wenn er etwas leistete. Gefühle zu zeigen, lernte er nicht, aus Angst, als

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Schwächling dazustehen. Im Ruhestand gab es nun immer häufiger Streit mit seiner Frau. Früher sei er fremdgegangen, wenn es daheim Arger gab. Nun-

mehr wolle er das Verhältnis zu seiner Frau verbessern, auch weil er auf sie angewiesen sei. In der Psychotherapie lernte Bender zunächst Stär-

ken und Schwächen seiner Persönlichkeit kennen. Dass die Fixierung auf Erfolg und Bewunderung ein inadäquater Versuch war, sein Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Als Hauptziele der Therapie vereinbarten Therapeutin und Patient, sein grandioses Selbstbild und die Überempfindlichkeit gegenüber Kritik abzubauen und vor allem nachempfinden zu lernen, was seine Frau fühlte, wenn er sie von oben herab behandelte und abkanzelte. In der Gruppentherapie nahm eine Patientin im Rollenspiel die Position seiner Frau ein. Sofort stritten sie heftig. Sie warfihm vor, er sei egoistisch und kränke sie mit seiner Mischung aus Arroganz und Distanz. Bis hierhin reagierte Bender auf das Rollenspiel wie so oft: amüsiert, mit Spott. Als er dann selbst in die Rolle seiner Frau schltipfte und spielerisch zur Zielscheibe seiner eigenen Gehässigkeiten wurde, brach er den Dialog abrupt ab und wurde nachdenklich. Dieser eiskalte Umgang sei für ihn kaum auszuhalten, sagte Bender. In der EinzelthePSYCHOLOGIE HEUTE O612OI6

in

Richtung Reflexion. ,,Rollenspiele bieten die Moglichkeit, einen alternativen Interaktionsstil auszuprobieren", sagt Herpertz. ,,Die Patienten stellen dann fest, dass ihre Gesprächspartner vollkommen anders auf sie reagieren, als sie es gewohnt sind. Dadurch machen sie die wichtige Lernerfahrung, dass sie es selbst in der Hand haben, ob sie anecken und Kon-

flikte provozieren." Es muss

nicht immer Wettkampf sein

Wichtige Therapieziele lassen sich erreichen, indem kognitive Grundannahmen, die den Patienten ein Leben lang starr und unflexibel gemacht haben, infrage gestellt werden. Er lernt: Ich muss nicht immer und überall der Beste sein. Mal im Strom mitzuschwimmen bedeutet nicht zu verlieren, sondern kann im Gegenteil sehr erholsam sein. Flexibilität, wie sie die kognitive Verhaltenstherapie vermittelt, bedeutet, Prioritäten setzenztJlernen, die dem Per-

sönlichkeitsstil entsprechen, und zugleich dessen negative Effekte zu entschärfen. Wer im fob unbedingt an der Spitze stehen will, könnte zum Ausgleich

Wettkampfsportarten wie Tennis lassen sich durch solche ersetzen, den Ehrgeiz beim Sport reduzieren.

bei denen der Spaß an der Bewegung imVordergrund

steht, wie etwa beim Inlineskaten. Wer sich auf eine Therapie einlässt, wird für die Erweiterung seines Handlungsrepertoires mit einem schöneren Familienleben belohnt, mit intensiveren Beziehungen und der Fähigkeit, genießen und entspannen zu können. Für viele sind das erste Male. ,,Narzisstische Patienten, die eine Therapie durchhalten, geben uns als Rückmeldung, dass sie ein großes Stück Lebensqualität gewonnen haben", sagt Sabine C. Herpertz. Die Chance auf Glück mit der Familie und in der Liebe - daftir lohnt es sich, das Ich eine Nummer kleiner auszuprobieren.

LESETIPP

Narzissmus ist nicht immer nur negativ. ln Heft 5/2O16 berichteten wir unter dem Titel lch finde mich prima! über die gesunden Seiten dieser Eigenschaft.

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Trainieren bis zum Umfallen Entzug, wenn sle Sie steigern ständig ihr Training und leiden unter wird sport zur Sucht' es absetzen. FÜr gar nicht so wenige Menschen Mit der Zeit ruinieren sie damit nicht nur ihren Körper VoN THOMAS MÜLLER

iejunge Frau konnte es nicht fassen: Die Blasen an den Füßen wollten einfach nicht verschwinden, dabei rannte sie kaum noch, ja machte fast

gar keinen SPort mehr, nur noch etwas Radfahren. Aber das belaste den Fuß doch sie kaum, sagte sie ihrem Arzt. Der fragte, wie viel

mit dem Rad täglich unterwegs sei' ,,Nicht viel' nur drei bis vier Stunden am Tag. Und wenn es nicht Beiregnet, auch in der Mittagspause'" Mit diesem ein spiel macht der Psychiater Karl-|ürgen Bär auf unternoch immer das Phänomen aufmerksam, schätzt wird: Sport als Suchtmittel'

ist die ho,,Ein Problem für die Suchtentwicklung

Akzeptanz von Sport"' erläutert für PsyBär, stellvertretender Direktor der Uniklinik chiatrie und Psychotherapie in Iena' Wer viel Sport

he gesellschaftliche

treibt und

es schafft, regelmäßig seinen inneren

beSchweinehund zu überwinden, der wird haufig den in wundert, erhält ein positives Feedback' Noch Der 1970er |ahren wurde die Sportsucht glorifiziert' poeiner von sprach Glasser US-Psychiater William Er Abhangigkeit' einet positiven

sitive addiction Sportsah darin einen,,wichtigen und neuenWegfür ler, mental noch stärker zu werden"' Kein Wunder' brüsdass sich so mancher Ausdauersportler damit PSYCHOLOGIE HEUTE 06120]6

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tet, den Sport zu brauchen, sich nicht wohlzufühlen, wenn er nicht trainiert, ja süchtig danach zu sein' Was Psychologen und Psychiater unter Sportsucht verstehen, geht jedoch noch viel weiter: Für sie beginnt die Abhangigkeit, wenn das Training zum

Zwang wird, wenn es jedes Maß sprengt, wenn Schmerzen und Verletzungen ignoriert werden und keine Zeit mehr für Freunde und Familie bleibt. Dann, so Bär, lassen sich

oft auch Merkmale beobachten,

wie sie für andere Suchterkrankungen typisch sind: Entzugserscheinungen mit Reizbarkeit, Angsten und Depressivität sowie eine steigende Toleranz, die immer weitere Strecken erforderlich macht, damit sich eine positive Stimmung einstellt. Schließlich fuhlen sich die Athleten zunehmend fremdbestimmt und verlieren die Kontrolle über ihrVerhalten. Sie haben dann zwar den Wunsch, ihr Pensum zu reduzieren, solche Versuche scheitern aber regelmäßig. Andere Aktivitäten geraten zunehmend in den Hintergrund, auch Freizeit und Urlaub stehen nur noch im Zeichen

Trainings. Oft geht das so lange gut, bis schwere Verletzungen auftreten. Manche laufen auch, bis sie buchstäblich tot umfallen. des

Letztlich halfaberkeine Einsicht, sondern ein medizinischer Befund, der ihre Karriere beendete: Sie bekam Herzrhythmusstörungen und war dadurch für lange Zeit ztr Bewegungslosigkeit verurteilt. Inzwischen darf sie wieder schwimmen, aber mit hartem Training ist nun Schluss. Nicht immer kriegen die Betroffenen noch die Kurve. Bär kann auch von Sportsüchtigen berichten, die nach einem Unfall Suizidbegingen-weil sie nicht mehr trainieren konnten. Wie viele Menschen betroffen sind, lässt sich nur schwer feststellen. Jedenfalls wird seit den 1990er fahren von einer steigenden Zahl Sportsüchtiger berichtet. Psychologen um Simone Breuer und Jens Kleinertvon der Deutschen Sporthochschule in Köln vermuten, dass etwa jeder Hundertste Sportler Auffalligkeiten zeigt, jeder Tausendste ernsthafte Symptome hat und einer von Zehntausend behandelt werden muss. Eine Untersuchung von Sportwissenschaftlern um Heiko Ziemainz von der Universität Erlangen-Nürnberg kommt zu einem deutlich hoheren Anteil. Die Forscher hatten über 1000 Teilnehmer von Ausdauersportveranstaltungen mithilfe ei-

interviewt. Bei rund fünf Prozent stellten sie ein erhebliches Risiko für ein nes speziellen Fragebogens

Auf Bewegung fixiert Wie sehr eine Sportsucht das Leben dominieren kann, erläuterte Bär vor kurzem aufdem Psychiatriekon-

in Berlin am Beispiel einer Profischwimmerin. Die Frau erinnert sich daran, schon als |ugendliche

gress

,,auf Bewegung fixiert" gewesen zu sein. Sie spielte Basketball, nahm an Crossläufen teil, wobei sie das Trainingspensum mit der Zeit immer mehr steiger-

te. Irgendwann stand sie bereits morgens um vier Uhr auf, damit sie dasviele Laufen, Schwimmen und Fitnesstraining überhaupt noch in ihren Tagesablauf integrieren konnte. ,,Ich bin aufvier bis fünfStunden Training gekommen, und zwar sieben Tage die Woche. Einmal habe ich 91 Tage ohne Pause durchtrai-

niert." Die harte Arbeit zahlte sich aus: Sie wurde gut im Schwimmen und nahm an Weltcups teil, belegte dabei vordere Plätze. Genießen konnte sie es aber nicht.

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war eine Art Hassliebe, ich war ständig gehetzt und getrieben, der Sport hat mich völlig absorbiert." Für eine vernünftige Ernährung war da keine Zeit mehr. Abends verschlang sie drei Nutellabrote im

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Stehen.

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ignorierte Schmerzen, trainierte trotz Sehnenscheidenentzündung weiter, brach einmal nach dem Training zusammen. Ihre Stimmungsschwankungen

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nahmen drastisch zu. Irgendwann sagten ihre Freun-

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de: ,,Du bist sportsüchtig."

PSYCHOLOGIEHEUTE O612O16

Suchtverhalten fest. füngere Sportler waren öfter betroffen als ältere, Frauen ebenso häufig wie Männer. Allerdings sagt das Trainingspensum allein wenig über die Suchtgefahr aus. ,,Wer als Leistungssportler

zehnmal die Woche trainiert, ist nicht unbedingt süchtig, der hat zunächst einmal eine starke Bindung an den Sport", erläutert Thomas Schackvon der Universität Bielefeld. Mit einer Sportsucht hingegen ruinierten Betroffene schnell ihren Körper, so der Vi-

zepräsident der Internationalen Gesellschaft für Sportpsychologie. Daran kann ein Leistungssportler kein Interesse haben. Auch Breuer und Kleinert gehen davon aus, dass eher Freizeitsportler gefährdet sind, die Kontrolle über das Training zu verlieren.

Körpereigenes Drogenlabor unter Verdacht Doch wie kommt es, dass manche sich nach einem Knochenbruch den Gips selbst abnehmen, um wieder laufen zu können, trotz Herzklappenfehler an Ultramarathons teilnehmen oder lieber ihre Ehe riskieren, als ihr Kilometerpensum einzuschränken? Lange Zeit verdächtigten Forscher das körpereigene So werden unter starker Belastung Substanzen ausgeschüttet, die mit Opium- und Canna-

Drogenlabor.

biswirkstoffen verwandt sind. Zunächst galt p-Endorphin als Favorit. Die Substanz wurde verdächtigt, rauschartige Zustände wie das Runner's 63


Highherbeizuführen. Typisch dafür ist ein Gefühl der Schwerelosigkeit und des Glücks - häufig verglichen mit der Euphorie nach einer Heroininjektion. Untersuchungen zur Endorphinhypothese seien jedoch eher ernüchternd verlaufen, sagt Schack. So habe man bei Teilnehmern von Ultramarathons oft keine erhöhte Endorphinausschüttung im Blut festgestellt, zudem könnten die kcirpereigenen Opiate die Blut-Hirn-Schranke kaum überwinden. Was im Blut gemessen wird, sagt also wenig darüber aus, was gerade im Gehirn passiert.

Etwas überzeugender sind die Indizien ftir korpereigene Cannabinoide, also Substanzen, die dem

$Virkstoff von Haschisch und Marihuana ähneln. leichter ins Gehirn. Auch konnten Wissenschaftler in Tierexperimenten zeigen, dass sich Zustände ähnlich dem Run ner'sHighverhindern lassen, wenn sie die Andockstellen für Cannabinoid im Sie gelangen

Gehirn blockieren. Die israelischen Psychologen Aviv und Yitzhak Weinstein vermuten zudem eine Betei-

ligung der hormonellen Stressachse.

Sie

wird nach

ihrem Modell bei exzessivem Sport überaktiv, in den Sportpausen machen sich dann Mtidigkeit, Traurigkeit, Unruhe und ein Krankheitsgefühl bemerkbar, was sich nur durch mehr Training beseitigen Iässt - so entsteht ein suchttypischer Teufelskreis. Für den Sportpsychologen Schack greifen solche Modelle jedoch zrkurz. Zwar könnten körperliche Prozesse in kritischen Phasen durchaus relevant sein und die Entwicklung einer Sportsucht forcieren. Entscheidend sind fur ihn jedoch die psychologische und die soziale Ebene: Manchewollen mit ihrer Leistung vielleicht Freunden imponieren oderlernen bei ihren Exzessen neue Freunde kennen. Andere machen Sport, um abzunehmen, wieder andere um sich zu entspannen oder mehr Kontrolle über ihr Leben zu

zessives

Training begünstigen.

Schack schlagt daher ein ,,biopsychosoziales Pha-

senmodell" der Sportsucht vor. In der ersten Phase

wird zunächst eine durchaus positive Bindung zum Sport aufgebaut: Das Trainingspensum ist moderat, die selbstgesetzten Ziele und Erwartungen werden erreicht, das Selbstwertgefühl steigt, und - für Schack entscheidend - die mentale Selbstkontrolle nimmt zu: Die Sportler lassen sich weniger ablenken, entwickeln neue Willenskräfte und lernen, ihre körperlichen und psychischen Ressourcen zu mobilisieren. Der griechische Ultramarathon- und Weltrekordläufer Yiannis Kouros bringt dies auf den Punkt: ,,Wenn andere Menschen müde werden, geben sie auf. Ich übernehme mit meinem Geist die Kontrolle über meinen Körper. Ich sag ihm, er ist nicht müde, und er gehorcht."

Der Sport übernimmt die Kontrolle über den Sportler Kommt es nun im Beruf oder in Beziehungen zu Konflikten und Stress, die den Selbstwert bedrohen oder zu einem Kontrollverlust führen, dann ist die Gefahr groß, dies über den Sport zu kompensieren. ,,So etwas kann sich weiter aufschaukeln, indem man versucht, mehr Sport zu treiben", erläutert Schack. Das höhere Pensum muss zunächst nicht problematisch sein. ,,Vielleicht pegeln sich die Probleme mit der Zeit wieder ein. Aber wenn das nicht so ist, wenn ich die Schwierigkeiten an anderer Stelle nicht löse oder wenn ein starker sozialer Druck anhält, dann kann aus dieser Übergangsphase heraus eine Sucht entstehen." Kritisch wird es vor allem dann, wenn die Athleten ausschließlich Sport zur psychischen Stabilisierung nutzen.

BIN ICH SPoRTSÜCHilCr

Sie halten lOO km laufen oder 4OO km Rad fahren pro Woche für

Stimmen Sie diesen Aussagen zu, ist eine Sportsucht wahrscheinlich:

Sie melden sich in mehreren Fit-

. Sie erzählen ihrem Umfeld nicht, dass Sie so viel Sport treiben.

. Sie ignorieren Warnzeichen des Körpers wie Schmerzen, Erschöp-

fung, Fieber und Stressfrakturen. . Sie zählen manche Sportarten, etwa Radfahren, gar nicht als Sport.

64

gewinnen. Solche Motive könnten ebenfalls ein ex-

normal und steigerungswürdig. nessstudios an, um jederzeit trainieren zu können. Keinen oder wenig Sport treiben zu können empfinden Sie als Strafe, Sie bekommen dann Entzugserscheinungen. Sie stehen extra früh auf, um vor

Sie vernachlässigen soziale Kon-

kte. Wenn Sie lhre Hauptsportart wegen Schmerzen oder Verletzungen nicht betreiben können, weichen Sie auf eine andere aus, um ihr Pensum zu erfüllen. Sie treiben Sport, um eine positive Stimmung aufrechtzuerhalten. ta

Quelle: Professor Karl-Jürgen Bär, DGPPNKongress

der Arbeit noch Sport treiben zu können.

PSYCHOLOGIE HEUTE 06,/2016


Sportbindung statt SPortsucht Bei der Therapie Sportsüchtiger plädiert Bär dafür, die Gesundheitsschadlichkeit deutlich anzusprechen.

In der Öffentlichkeit würden meist nur die positiven Seiten des Sports hervorgehoben, vielen sei gar nicht

klar, dass sie mit ihrem übermäßigen Training ihren Körper ruinierten. Bär hält es auch ftir wichtig, Alternativvorstellungen im Sport zu entwickeln und sich nicht nur aufdie Leistungssteigerung zu fixieren' Eine vollständige Abstinenz sei in der Regel jedoch

unnötig. Vielmehr gehe es darum, die Kontrolle über das Training zurückzuerlangen. Dazu gehörten ein strukturierter Übungsplan mit ausreichenden Pausen und vielseitigen Übungen.

Ahnlich geht auch Schack vor.

Sportsüchtige haben Probleme mit ihrer

ldentität: Das Training wird zum Lebensinhalt

Mit

der Zeit

finden auch hormonelleVeränderun-

gen statt, ein Gewöhnungseffekt setzt ein. Die Sport-

ler müssen dann noch mehr trainieren, um Stress abzubauen und das Selbstwertgefühl zu steigern schließlich auch, um Entzugserscheinungen in den

Er versucht, Sport-

süchtige von ihren zwanghaften Handlungen zu lösen, damit sie nicht gleich,,loslaufen, wenn sie.einen Turnschuh sehen". Mithilfe von Selbstinstruktionen lernen sie, sich auf den Atem oder aktuelle Aufgaben zu konzentrieren und das Training gezielt auf bestimmte Zeiten zu begrenzen. Über vier bis sechs Wochen soll dann die Sportmenge erkennbar redu-

ziert werden. Ziel sei ein Pensum wie damals in der ,,Bindungsphase", also in der Zeit vor der Sucht, als der Sport noch Spaß machte' ,,Gleichzeitig schauen wir: Wie steht es mit der Gesundheit, wie gut lässt

men Stress. An diesem Punkt verlieren die Athleten

sich das Training sozial einbinden?" Oft kann eine Therapie bei einem erfahrenen Psychologen den Weg aus der Sucht weisen. Besteht der

die Kontrolle über ihr Handeln. Sport macht nicht mehr Spaß, sondern wird zumZwang. Das Training kontrolliert jetzt den Sportler und nicht mehr um-

Verdacht, dass noch andere psychische Problemevorliegen, etwa eine Magersucht oder eine Körperschemastörung, sind auch Psychiater gefragt. Einige Ex-

Griff zu bekommen. Irgendwann verursacht die Aussicht, nicht genug

selbst

trainieren zu können' enor-

gekehrt. Schack vermutet, dass besonders solche Personen

gefahrdet sind, die sich in sensiblen Lebensphasen befinden, in denen sie Probleme mit ihrer Identität haben. Studien hätten zudem ergeben, dass es Sportsüchtigen schwerfälIt, alternative Strategien zu entwickeln, um mit negativen Emotionen oder Problemen umzugehen. Im Training sehen sie oft den einzigen Ausweg: ,,lrgendwann wird das Sporttreiben

zur zentralen Dimension in ihrem Leben." Um den Übergang in eine Sucht zu vermeiden, rät der Psychologe, Warnzeichen ernst zu nehmen. Kritisch werde es, wenn sich Familie und Freunde vernachlässigt fühlen, wenn jemand daran denkt,

trotz Knieproblemen weiterzulaufen, oder

sich

perten gehen davon aus, dass eine Kombination mit solchen Störungen noch häufiger vorkommt als eine reine primäre Sportsucht. In extremen Fällen von Sportsucht ist ebenfalls eine ärztliche Behandlung nötig, etwabei dem zrvan: zigjährigen Mann, der die Schule abgebrochen hatte,

damit ihm mehr Zeit zum Laufen blieb. Während der Untersuchung, so Schack, weigerte er sich zunächst, die Schuhe auszuziehen. Schließlich gab er nach und präsentierte einen blut- und eiterdurchtränkten Lappen, den er sich um den Fuß gewickelt hatte. Der Fuß war bis auf den Knochen durchgelaufen. Psychiater und Therapeuten konnten ihn schließlich so weit stabilisieren, dass er ein normales Trainingspensum akzeptierte- und das Abitur nachhol-

schlecht ftihlt, falls er malkeinen Sport machen kann. Wer mit einem Training beginnt, sollte feste Zeiten

und Pläne einhalten. Auch Sport in einer Gruppe oder mit konstanten Partnern kann vor einer ausufernden Belastung schützen.

Eine Literaturliste zu diesem Beitrag finden Sie auf unserer Website: www.psychologie-heute.de/literatur

65


R


annahmen und Vorurteilen über die soziale Welt und ihrer Akteure, die durch eigene Erfahrungen, aber

Paris:130 Tote, 35O zum Teil Schwerverletzte. Brüssel: 31 Tote, über 3OO Verletzte. Der islamis' tische Terrorismus versetzt Europa in Angst und Schrecken. Wie schätzen Sie als Terrorismusfor-

auch kollektive Erinnerungen oder mediale Bericht-

erst;ttung geprägt werden und die uns helfen, die Informationsflut einer überkomplexen sozialen Re-

scher die Gefahr ein? Zunächsteinmal ist die öffentliche Fokussierung auf den sogenannten Islamischen Staat - oder Daesh-, wie man besser sagen sollte - ganzim Sinne der Terroristen. Denn das Ziel terroristischer Gewalt ist, unser Denken zu besetzen, die Terroristen stärker

alität zu bewältigen. Damit erfüllen Mindmaps eine sie führen aber auch zu einer Wahrnehmungsbeeinflussung oder, wie es der Politikwissenschaftler Robert Iervis formuliert

kognitiv entlastende Funktion,

hat: ,,People perceive what theyexpect to be present", also: ,,Menschen nehmen wahr, was sie erwarten."

und gefährlicher erscheinen zu lassen, als sie eigent-

Entsprechend schätzen wir das Bedrohungspotenzial von radikalislamischen oder islamistischen Or-

lich sind. Heißt das, die Bedrohung, die wir angesichts der Bilder von Brüssel und Paris empf inden, ist unbe'

gründet?

ganisationen wie dem Daesh heute so hoch ein, weil sie scheinbarbreite Unterstützung, auch in denwest-

Nein. Die BedrohungdurchTerrorismus istnatürlich real, sie war es auch in den Iahren vor 9/11 oder vor den Anschlägen von Paris und Brüssel. Die Global

lichen Gesellschaften, genießen. Der Verfassungsschutz rechnet aktuell etwa 1000 Menschen zum ,,islamistisch-terroristischen" Spektrum' Darunter

Terrorism Database (GTD) der Universität von Maryland zählt allein fur 20t4 mehr als 16 800 terroris-

sind etwa 420 sogenannte Gefährder, denen die Polizei Terroranschläge oder andere schwere politisch

tische Anschläge weltweit; seit 1970 kommt die GTD sogar auf mehr als 140 000 Anschläge. Was sich mit

motivierte Gewalttaten grundsätzlich zutraut. Da dem so ist - haben dann die Mindmaps nicht auch elne schützende Funktion? Sie erhöhen die Wachsamkeit und können unter Umständen vie!' leicht sogar Anschlä9e vereiteln?

den Anschlägen auf das World Trade Center und das

Pentagon 2001 verändert hat, ist unsere Wahrnehmung. Terrorismus, genauer: der islamistische Ter-

Nicht unbedingt. Wie Mindmaps eine terroristische Bedrohung konstruieren, zeigt das Beispiel jenes Mannes, der am 22.lantar 2016 in einem Kölner Baumarkt Chemikalien gekauft hat,,,aus denen man mit entsprechenden Kenntnissen ein explosionsfähiges Gemisch herstellen kann", wie es die Kölner

rorismus erscheint uns heute als unmittelbare und existenzielle Bedrohung. Eine Tendenz, die die Anschläge von Paris und Brüssel nur noch verstärkt haben. Dass das Risiko, in Europa Opfer eines Terroranschlags zu werden - daraufhat der Risikoforscher

Ortwin Renn hingewiesen -, geringer

sei, ,,als

Polizeiformulierte. Offensichtlichaberwarnichtnur die Menge gekaufter Chemikalien fur die Alarmierung der Polizei verantwortlich, sondern das Aussehen des Mannes als ,,aus dem Nahen Osten stam-

die Gefahr, an einer Pilzvergiftung zu sterben", spielt dabei keine Rolle. Unsere Bedrohungswahrnehmung

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hängt wesentlich von der medialen Repräsentation der terroristischen Bedrohung und der staatlichen Reaktion auf den Terrorismus ab: Gerade weil man dem islamistischen Terrorismus solche Aufmerksamkeit schenkt und massiv, etwa durch militärische Gewalt, auf ihn reagiert, erscheint er so gefährlich. Das ist Teil des terroristischen Kalküls. Wollen Sie sagen: Würden die Medien und die Politik den terroristischen Ansch!ä9en weniger Aufmerksamkeit schenken, wäre die Bedrohung

geringer? Bedrohu ngsw ahr nehmu ng sicherlich. Denn das Bedrohungspotenzial - also die Gefahrlichkeit, die wir mit einem sozialen Akteur verbinden - ist eine D ie

psychologische Kategorie, die mit der öffentlichen Wahrnehmung terroristischer Gewalt korreliert und

von der sozialen Konstruktion sogenannter Mindmaps terroristischer Organisationen und ihrer Unterstützer profitiert. Mindmaps sind Sätze von VorPSYCHOLOGIE HEUTE O612016

mend". Das Problem an solchen Mindmaps ist, dass sid praktisch nicht falsifizierbar sind: Jede Information kann so interpretiert werden, dass sie mit den Vorannahmen zusammenpasst. Darum muss die TatDr. Andreas M. Bock

ist Professor für Politikwissenschaft, internationale Notund Katastrophenhilfe an der AkkonHochschule für Hu

ma

nwissenschaf-

ten in Berlin und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg.

sache, dass es in Deutschland seit 1945 einen einzigen Anschlag mit islamistischem Hintergrund gab - im

März 20ll tötete ein 2l-iähriger muslimischer Kosovo-Albaner am Frankfurter Flughafen zwei USSoldaten und verletzte zwei weitere schwer -, nicht zu einer Korrektur der Bedrohungswahrnehmung führen. Ebenso gut kann man das Ausbleiben islamistischer Anschläge als Indiz für die Effektivitat staatlichen SicherheitsapParates werten - und an der Grundannahme eines bedrohlichen Islams festdes

halten. Eine analoge Bedrohungswahrnehmung durch einen rechtsextremen Terrorismus ist

-

trotz 67


der Zunahme rechter Gewalttaten im vergangenen Jahr um mehr als 30 Prozent auf 13 846 Delikte dagegen nicht festzustellen.

- die Anschlä9e sind real und die angegriffenen Staaten und deren Verbündete können nichttatenlos Auch wenn wir die Bedrohung überschätzen

zuschauen. Gerade nach den Anschlägen von Paris und Brüssel reden immer mehr Politiker von

,,Krieg". Das bedeutet: militärische Aktionen? Die Vermutung liegt nahe, dass gerade der Daesh militärisch zu bekämpfen sei, verfügt er doch - anders als andere terroristische Organisationen

-

tat-

qächlich über ein Territorium, auf dem er angegriffen und, einen entsprechenden Einsatz militärischer

Machtmittel vorausgesetzt, auch geschlagen werden kann. Seit Ianuar beteiligen sich Tornado-Kampfflugzeuge aus Deutschland an der internationalen

Militärische

Angriffe treffen immer auch unschuldage Zivilisten. Das stärkt

die Überzeu9un9, die Terror9ruppen kämpften für eine gerechte Sache

anti-islamische Rhetorik des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump nutzt, um neue Rekruten für den bewaffneten Kampf zu werben.

lhr Fazit lautet also: Mit militärischen Mitteln ist der islamistische Terror nicht zu schwächen? fa, richtig. Eine Ausweitung der Kampfzone wird weder das Bedrohungspotenzial des Daesh noch die Be-

drohungswahrnehmung in den westlichen Gesellschaften redu ziercn. Zwar klingen die aktuellen Zahlen, die das Weiße Haus über den Kampf gegen den ,,Islamischen Staat" in Syrien und Irakver<iffentlicht hat, vielversprechend: In beiden Ländern habe diese Terrororganisation seit 2014 rund ein Fünftel ihrer Kämpferverloren. Heute gehen die USAvon nur noch 19000 bis 25 000 Kämpfern aus. Doch der Fokus auf diese Zahlen

ignoriert

das

eigentliche Funktionsprin-

sich einer dereinst ranghöchsten deutschen Genera-

- die Beeinflussung der Wahrnehmung. Um den Krieg gegen den Terrorismus zu gewinnen, muss der Daesh militärisch nicht gewinnen,

le der US-Forderung nach einem NATO-Einsatz in

er muss

Syrien angeschlossen. Auch die USA haben nach den Anschlägen von

die

Anti-IS-AIlianz, und mitHans-LotharDomrösehat

zip von Terrorismus

ihn nur spektakulär verlieren, in einem Kampi der hässliche Bilder getöteter Menschen produziert,

- tatsächlich

oder nur vorgeblich

- aufdas Konto

9lll zwei Kriege begonnen - gegen die Taliban in Afghanistan und das Regime von Saddam Hussein im Irak. Zwei Kriege, die beide in wenigen Wochen

der Anti-IS-Allianz gehen. Die Herkunft der Attentäter von Paris, London und Brüssel könnte uns hier

gewonnen waren; doch der eigentliche Krieg, der ge-

heute schafft, Anhänger und potenzielle Kämpfer

gen den Terrorismus, schien ebenso schnell verlo-

den westlichen Gesellschaften zu rekrutieren. Diese

rengegangen zu sein: InAfghanistan sind dieTaliban

Unterstützung für den IS wird, dafür spricht die historische Erfahrung, vom Kampf gegen eine multinationale Militärallianz, von der Gewalt und den Bildern des Krieges profitieren. Und dazu wird die Terrororganisation selbst durch die multimediale Inszenierung

weiterhin ein bedeutender Machtfaktor, und der Irak ist heute das, was die Regierung Bush vor Beginn der

Offensive 2003 behauptet hatte: Ein Spielfeld des na-

tionalen und transnationalen Terrorismus. Warum aberwar der Krieg gegen den Terrorismus in den genannten Fällen so wenig erfolgreich? Weil militarische Angriffe eben nicht nur die Organisationen, ihre Stellungen und Waffenlager, nicht nur die Kämpfer von al-Qaida oder Daesh, sondern immer auch unschuldige Zivilisten treffen. Was, wie die Erfahrung in Gaza, im Libanon, aber auch Nordirland lehrt, die Unterstützung für diese Gruppen nur verstärkt - wie auch die Überzeugung, die Organisationen kämpften für eine richtige, für eine gerechte Sache. Die Frage, wer im Einzelfall tatsächlich im Recht

- die Staaten, die gegen den Terror kämpfen -, ist für die Frage der Wahrnehmung und Bewertung der ist

jeweiligen Maßnahmen von untergeordneter Bedeu-

tung. Entscheidend ist, welche Seite die Emotionen besser nutzen und vermarkten kann, die durch die

Gewalt erzeugt werden. Das jüngste Beispiel dtirfte

wohl die islamistische Al-Schabaab-Miliz sein, die

'in einem fast einstündigen Propaganda-Video die 68

eine mahnende Erinnerung sein, dass der IS

es

bereits

in

der Opfer sicher noch beitragen.

Wenn nicht militärisch, wie kann man auf den isIamistischen Terrorismus reagieren? Sie schreiben in lhrem BuchTerrorisrnus, man müsse einen ,,Krieg um die Herzen der Menschen führen". Wie soll das funktionieren? Es wird sicherlich nicht funktionieren, indem wir Muslime pauschal verurteilen und stigmatisieren. Wenn wir uns klarmachen, dass die Stärke eines jeden Terrorismus die freiwillige Unterstützung ist, die er gewinnen kann, dann spielen Politiker wie Donald Trump, der ein Einreiseverbot für alle Muslime fordert, oder der CSU-Europaabgeordnete Albert Deß, der in einem Twitter-Beitrag nach den Anschlägen von Brüssel erklärt hat, dass alle Terroristen Muslime seien, nur den Terroristen in die Hände. So wie übrigens auch die etablierten Parteien, wenn sie sich die rechtspopulistischen Parolen von AfD oder Pegidazu eigen machen und eine Differenzzwischen Deutschland und Islam, zwischen Deutschen und PSYCHOLOGIE HEUTE 0612016


Muslimbn konstruieren - eine Differenz, die so gerade nicht existiert. Der vielgescholtene frühere Bundespräsident Christian Wulff hat mit seiner Feststellung, dass der Islam zu Deutschland gehört, nicht nur recht - er hat damit die Forderung, dass man die Herzen der Menschen gewinnen müsse, auf eine begrifflich-inhaltliche Formel gebracht: Muslime sind integraler Bestandteil unserer Gesellschaft. Und als solche sind sie Verbündete im Kampf gegen den Terrorismus. Wenn wir aber bei der Integration versagen, wenn wir zulassen, dass eine Differenz konstruiert wird zwischen ,,uns" und ,,den andereil', dann wächst bei diesen ,,anderen" auch tendenziell die Bereitschaft,

Übergriffe auf Flüchtlinge sagen nichts über,,die Deutschen" aus. Die Anschlä9e von Paris und Brüsselnichts über,rdie Muslime"

verantwortungsvoll handeln. In Deutschland leben' mehr als vier Millionen Muslime. Und so wenig wie die Brandanschläge auf Asylunterkünfte oder die Übeigriffe auf Flüchtende etwas über,,die Deutschen' aussagen, sagen die Anschläge von Paris oder Brüsüber ,,die Muslime" aus. Wenn wir es schaffen, diese perzeptive Verkürzung zu reflektieren, resel etwas

duzieren wir unsere Bedrohungswahrnehmung und

gewinnen Handlungsfreiheit zurück. Umgekehrt sind wir, wenn wir uns von den Schreckensbildern aus Paris

und Brüssel unsere Reaktion diktieren las-

sen, nicht frei, sondern getrieben.

Besteht auch in Deutschland die Gefahr eines islamistischen Anschlags? Natürlich. Es gibt keinen absoluten Schutz vor ge-

sich von dem Staat und der Gesellschaft abzuwenden,

waltbereiter Radikalisierung. Und doch ist das Risiko, in Deutschland Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, nicht sonderlich hoch. Die aktu-

zu denen sie ja nicht gehören sollen. Kurz: Integration ist der beste Schutz gegen Terrorismus.

Sie sprechen von den Mindmaps, die unsere

ell größere Gefahr besteht meines Erachtens darin, dass wir durch die pauschale Stigmatisierung des Islam als gefährliche Religion beziehungsweise von Muslimen als Terroristen, die in der Politik wie im gesellschaftlichen Diskurs zunehmend zu beobachten ist, eine tiefe Spaltung der Gesellschaft riskieren. Das wird die Gewaltbereitschaft an den extremen Rändern tendenziell nur weiter erhöhen. PH

Wahrnehmung verzerren. Angesichts der Terror-

bilder wird es so manchem schwerfallen, seine Bedrohungsgefühle unter,,Wahrnehmungsverzerrung" abzubuchen. Müssen wir nicht das Ge' fühl von Handlungsfähigkeit behalten, um uns nicht hilflos und ohnmächtig zu fühlen? Das stimmt. Und doch sind wir als politisch mündige Bürger genau dazu aufgefordert: uns zu fragen,

INTERVIEW: URSULA NUBER

inwieweit unsere subjektive Bedrohungswahrnehmung, unser Bedrohungsempfinden mit der empirisch überprüfbaren Realität zusammenpasst. Was ja gerade nicht heißt, Handlungsfähigkeit zu verlie-

'Daesh ist ein Akronym ftir den arabischen Ausdruck ,,lslamischer Staat im lrak und der Levante". Die Verwendung dieses Begriffs ist ein politisches signal; Der Anspruch des ,,lS" wird damit zurückgewiesen, ein Staatsgebilde mit weltweitem Herrschaftsanspruch zu sein. Zum anderen aber erinnert Daesh an andere arabische Begriff, die fÜr,,zwietracht säen" oder ,,zertreten" stehen, und wird vermutlich allein schon darum vom,,ls" selbst strikt

ren. Im Gegenteil. Wenn wir uns klarwerden, von wem oder durch was wir tatsächlich bedroht sind, können wir aufdiese Bedrohung auch reagieren und

abgelehnt.

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SERIE: LEBEN lM DIGITALEN ZEITALTER (4)

,,f)u nutzloses Stiick f)reck!" lm lnternet wird beleidigt, gehetzt, gedroht. Sogenannte Trolle attackieren Politiker und Journalistinnen, aber auch den Nachbarn, dessen Meinung ihnen nicht passt. Was steckt hinter dem Hass im lnternet? Und was kann man dagegen tun? F端nf Thesen und der Versuch einer Antwort VON JOCHEN METZGER

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o eine hohle Frucht! Gleich in das Mäh-

werk von einem Mähdrescher werfen!" ,,Ich schlage keine Frauen, aber bei dir würde ich eine Ausnahme machen." ,,Du fette, dämliche Ratte." ,,Du ekelhaftes, fettes Schwein." Das sind Beiträge, die aufFacebook geschrieben

wurden. Sie landeten alle auf der Seite von Katrin Göring-Eckardt; die Grünen-Politikern zitiert sie in einem YouTube-Video, mit dem sie dokumentieren gerade herrscht in einigen Teilen

will, welcher Ton

des Internets. Was die Thüringerin zur Zielscheibe

der Hassbeiträge werden ließ, war im Grunde eine Bagatelle: Sie hatte sich im Bundestag einen selbstironischen Scherz über Flüchtlinge und Ostdeutsche erlaubt. Noch schlimmer liest sich der Fall von Caroline Criado-Perez. Der britischen Publizistin war aufgefallen, dass auf den heimischen Geldscheinen außer der Queen bald mrr Männer zu sehen sein würden. Also startete sie eine Kampagne, die vor allem zwei Dinge bewirkte: Erstens, dass ab 2017 ein Porträt der Dichterin Jane Austen die Rückseite der neuen ZehnPfund-Note zieren wird. Und zweitens, dass CriadoPerez' Twitter-Account zur Zielscheibe heftigsten Hasses wurde. Innerhalb weniger Wochen erhielt sie mehrere Zehntausend Posts - im Durchschnitt dauerte

§7$

es

stets nur drei Sekunden bis zur nächsten Nach-

richt. Mehrere Hundert davon gingen weit über den Tatbestand der Beleidigung hinaus (,,Stirb, du nutzloses Stück Dreck!" ,,Ich werde dich finden!" ,,Ich schätze, manche Frauen brauchen von Zeil zt Zeit einfach he tüchtigeVergewaltigung"). Zwei der Drohbriefschreiber wurden später von einem britischen Gericht zu Haftstrafen verurteilt.

Was passiert da im Internet? Woher kommt der Hass? Fünf Thesen und der Versuch einer Antwort.

Schuld an allem ist die Anonymität Das ist zum Teil richtig. Es gibt zu diesem Punkt

mehrere Studien, die sich methodisch alle ähneln. Man nimmt eine Reihe von Kommentaren, die unter Klarnamen ins Netz gestellt wurden. Dann vergleicht man deren Inhalt und Sprache mit anonymen Kommentaren. Die Statistik offenbart, was jeder vermutenwürde: Die anonymen Posts enthalten mehr Provokationen, mehr Beleidigungen, mehr unzivilisiertes Verhalten. Warum ist das so? Die meisten Psychologen sehen einen Prozess am Werk, den man ,,Deindividuation" nennt. In derWelt außerhalb des Internets ereignet er sich dort, wo Menschen aufhören, selbstverantwortliche Personen zu sein: in der Fankurve während eines Fußballspiels; in Gruppen, die Uniformen tragen - oder wenn man am 14. Iuli 1789 in Paris gerade dabei ist, die Bastille zu stürmen und dadurch die Französische Revolution loszutreten. In all diesen Situationen tun wir Dinge, die wir als Einzelmensch niemals tun würden - wir werden Teil eines wütenden Mobs. Einige der inspirierendsten Stücke psychologischer Literatur wurden über dieses Phänomen geschrieben: Gustave Le Bons Ps7-

chologie der Massen oder Freuds Massenpsychologie und lch-Analyse (siehe auch Seite l2).

Doch wird tatsächlich alles gut, wenn man die Anonymität im Netz beseitigt? Genau das dachten Politiker in Südkorea und erließen ein entsprechendes Gesetz. Anlass dafür war ein tagespolitisches Ereignis: Eine bekannte Schauspielerin hatte sich nach Wochen perfider (und anonymer) Internethetze er-

hängt. Doch drei Jahre später erklärten Koreas Verfassungsrichter den Erlass fur nichtig. Ihr Hauptargument: DieAnonymität im Netzseieinwesentlicher Beitrag zur Meinungsfreiheit. Man kritisiert Missstände einfach offenet wenn man keine persönlichen Konsequenzen befürchten muss. Mit anderen Worten: Eine umfassende Klarnamenpflicht schwächt die Demokratie eines Landes. Doch

es

gab noch ein zwei-

Argument: Eine Studie hatte nämlich gezeigt, dass die Anzahl der Pöbeleien unter dem neuen Gesetz praktisch nicht zurückgegangen war. tes

Wer Hassbotschaften versendet, ist ein schlechter Mensch Da könnte etwas dran sein. Zumindest dort, wo es sich bei den Pöbeleien um sogenanntes Trollinghandelt. Trolling geschieht nicht aus einem Impuls der

Wut heraus oder aus der Hitze einer heftigen DisPSYCHOLOGIE HEUTE 0612O]6

71


kussion. Einem Troll geht es nur um den Spaß dar-

Doch wie kontrolliert man ein soziales Netzwerk,

an, andere zu provozieren. Die Analogie zu seinen

das von einer Milliarde Menschen taglich genutzt

Beleidigungen ist die geworfene Stinkbombe in der

wird? Man denkt: mit Computerprogrammen. Doch tatsächlich sind es in vielen Fällen echte Menschen,

schulischen Aula. Kanadische Forscher fanden in einer Studie eine signifikante Verbindung zwischen Trollverhalten und einem Charakterzug, den Persönlichkeitspsychologen als,,dunkle Tetrade" bezeichnen: einen Mix aus übertriebener Selbstbezogenheit (Narzissmus), manipulativem Verhalten (Machiavellismus), Rücksichtslosigkeit (Psychopathie) und der Lust daran, andere zu quälen (Sadismus).,,Cybertrolling erscheint als Internetmanifestation eines alltaglichen Sadismus", schreiben die Autoren. Diese kanadische Studie wird recht haufig zitiert und das ist kein Wunder: Sie bestätigt genau das, was man irgendwie immer schon geahnt hat. Wer so schlimme Dinge schreibt, kann kein

die sich dieser Aufgabe annehmen. Content modera-

tion nennt sich ihr Beruf. Wie das geschieht, kann man in einer aufrüttelnden Reportage des US-Magazins Wired nachlesen. Viele der firmeneigenen Onlinepolizisten arbeiten unter enormem Zeitdruck ftir eine Handvoll Dollar auf den Philippinen, bezahlen aber zugleich einen hohen Preis für ihre Arbeit: Die Burnoutraten sind enorm, nur wenige halten länger durch als ein paarMonate; eine Therapeutin bezeichnet die Symptome der Betroffenen als eine Art post-

traumatische Belastungsstörung - ausgebr annte content moderators sind psychisch so kaputt

wie Kriegsveteranen, die gerade aus dem Afghanistaneinsatz zurückkehren.

guter Mensch sein. Ist die Sache damit erledigt?

Deshalb (und natürlich, um

Natürlich nicht. Denn die kanadische Studie Ieidet an zumindest zwei Schönheitsfehlern:

Kosten zu sparen) arbeiten Exper-

ten an computergestützten Lösungen. Wäre es zum Beispiel

Sie bezieht ihre Daten aus-

schließlich aus Fragebögen

-

nicht großartig, wenn eine Software

wie sich die Probanden tatsächlich im Netz verhielten,

frühzeitig erkennen könnte, dass ein Teilnehmer gar nicht wirklich diskutieren will - sondern nur dabei ist, um andere zu beleidigen und zu provozie-

wurde nie direkt untersucht. Zum anderen rekrutierten die Forscher ihre Ver-

ren? Der Informatiker fustin Cheng von der Stanford University hat ein solches Programm geschrieben. Die

suchspersonen über einen ungewöhn-

lichen Kanal, nämlich über Amazon. Dort kann man für wenige Cents

Software benötigt nach Chengs An-

sogenannte,,Klick-Arbeiter" ) für einf ache Onlineaufgaben mie(m e ch ani c al t urk

gaben nur zehn Blogeinträge, um

s

ten. Für die Forscher ist das

praktisch, weil sie auf diesem Weg sehr schnell und preiswert an eine relativ hohe Zahlvon Studienteilnehmern kommen. Wirklich repräsentativ werden die Ergebnisse dadurch aber nicht. Das Internet Iässt sich nicht kontrollieren Stimmt nur zum Teil. Soziale Medien haben seit vielen Jahren Regeln für das, was aufihren Seiten erlaubt ist und was nicht. Facebook verbietet zum Beispiel Bilder von nackten Frauenbrüsten oder Filme von Enthauptungen. Das geschieht nicht aus Moralgefühl, sondern aus wirtschaftlichen Überlegungen: Wenn Oma und Opa auf Facebook sind, um mit ihren Enkeln in Kontakt zu bleiben, dann will man diese älteren Kunden natürlichbei der Stange halten. Alles soll draußen bleiben, was sie schockieren und 'für immer vergraulen könnte.

mit

80-prozentiger Sicherheit vorhersagen zu können, ob ein Teilnehmer später von den Moderatoren gesperrt werden wird. Interessant: Chengs Programm inter-

ftir die Inhalte der einzelnen sondern nur dafür, wie die Community auf die Beiträge reagiert. Mit anderen Worten: Das Diskussionsverhalten einer Gruppe verändert sich sichtbar durch einen Störenfried. Und genau diese Tatsache werden Internetunternehmen in Zukunft vermutlich nutzen, um Trolle automatisch und frühzeitig erkennen zu können. essiert sich gar nicht Einträge

Die Technologiefirmen drücken sich

vor ihrer Verantwortung Das ist eher nicht richtig. Die großen Unternehmen leisten sich eigene Forschungsteams, die untersuchen,

wie Hassbeiträge entstehen, welche Auswirkungen sie auf das Netzwerk haben und was man dagegen tun kann. Es mag verrückt klingen, aber die er- » PSYCHOLOGIE HEUTE O612O]6


WIE KANN MAN SICH GEGEN HASS-ATTACKEN WEHREN? Wer sich mit einer Meinung an die Öffentlichkeit wagt - und genau das ist das lnternet: ein Ort der Öffentlichkeit -, der sieht sich gelegentlich heftigen Reaktionen ausgesetzt. Es gibt eine ganze Reihe von Gegenstrategien. Sie alle können helfen. Zumindest manchmal.

Die Hasskommentare in eine größere

Naming and Shaming. Man macht den Urheber von Hassbotschaften zuerst ausfindig und anschließend lächerlich. Die australische Journalistin Alanah Pearce bekam per Facebook wiederholt Vergewaltigungsdrohungen. Also begann sie, die ldentität des Schreibers zu recherchieren. Es war, wie sich herausstellte, ein Junge, der noch bei seinen Eltern wohnte. Pearce rächte sich mit dem Schlimmsten, was man einem Jugendlichen antun kann: Sie verpetzte ihn bei seiner Mutter. Deren Reaktion sorgte im Netz für eine Menge Spott: ,,Oh, der kleine Scheißerl Danke für den Tipp. lch werd' mal ein paar Takte mit ihm reden."

Hasskommentare ignorieren. Das ist eine der ältesten Netzweisheiten überhaupt: ,,Don't feed the trolls" (,,Füttere die Trolle nicht"). Wer auf die Störer nicht reagiert, nimmt ihnen den Spaß an der Sache. Sie werden sich früher oder später ein neues Ziel suchen. Leider hilft diese Methode nicht immer. Trolle - also jene, die andere nur aus Freude am Krawall beleidigen - haben wirksame Gegentechniken gegen das Nicht-9ef üttert-Werden entwickelt. Eine davon ist der Trick mit der sogenannten Sockenpuppe, einem zusätzlichen Benutzerkonto. Wie ein Bauchredner schlüpft man dabei in zwei Rollen gleichzeitig. Rolle Nummer eins spielt den Störenfried (,,Hey, ihr Feministinnen, zurück in die Küche mit euch!"), Rolle Nummer zwei übernimmt den Part der angeblich beleidigten DiskussionsteilPSYCHOLOGIE HEUTE O612O']6

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nehmerin (,,Hör auf, uns zu provozieren"). Danach lässt man den Konflikt eskalieren (,,Du bist wohl länger nicht mehr richtig gevögelt worden"). Ein solcher Schlagabtausch bleibt in den sozialen Medien selten unkommentiert - und der Troll bekommt genau den Zoff, den er will.

Öffentlichkeit bringen. Der Vorteil dieser Strategie: Man verharrt nicht in der Rolle des wehrlosen Opfers, sondern wird aktiv und holt sich dadurch Hilfe und Unterstützung. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Man kann - wie Katrin Göring-Eckardt - ein Video drehen und die schlimmsten Kommentare vorlesen. Eine brasilianische Kampagne namens,,Criola" geht einen anderen Weg: Sie spürt rassistische Kommentare im Netz auf, ermittelt den Ort, von dem aus sie geschrieben wurden - und stellt den Hetzspruch im entsprechenden Dorf oder Stadtviertel als riesiges Plakat an den Straßenrand.

l€effix

Beiträge löschen. Klar: Gelöschte Beiträge sind nicht mehr sichtbar, man putzt den Vogelmist von der Fensterbank - die Fensterbank wird sauber, Das klingt vielversprechend. Leider funktioniert es nur selten. lm Zweifel folgen einer gelöschten Nachricht 20, 30 oder gar 1OO neue. Mit ein wenig Programmierkenntnis kann man sie von einem Computerprogramm erstellen und verschicken lassen. Löschen muss man sie dagegen von Hand - und sitzt damit praktisch immer auf der Verliererseite des Spiels.

Einfach nicht mehr ins Internet gehen. Manchmal erscheint das tatsächlich als letzte Möglichkeit, dem Hass zu entgehen. ,,Das lnternet ist dann für eine Weile kaputt", schreibt die

US-Publizistin Sarah Jeong in ihrem klugen Aufsatz The lnternet of Garbage. Darin entwickelt sie eine erhellende Metapher: Trolling, Belästigung und Hass sind in ihren Augen eine Art Müll, der sich im Netz ansammelt und soziale Medien für manche Teilnehmer zeitweilig unbrauchbar macht. Die Frage laute deshalb nicht, warum Leute ,,so etwas Schlimmes tun", sondern schlicht: ,,Wer bringt den Müll raus?" Der einzelne User, so Jeong, sei damit immer überfordert. Der Job liege bei den Technologiefirmen, die einfach mehr Geld in die Hand nehmen müssten, um, na ja, eben den Müll nach draußen zu bringen. JOCHEN METZGER

LITERATUR

Catarina Katzer: Cyberpsychologie. Leben im Netz: Wie das lnternet uns ver@ndert. Dtv, München 2Ol6

Justin Cheng, Cristian Danescu-Niculescu-Mizil, Jure Leskovec: Antisocial behavior in online discussion communities. Vorträg auf der lnternational Conference on Weblogs and Social Media in Oxford 2O15 Erin E. Buckels, Paul D. Trapnell, Delroy L. Paulhus: Trolls just want to have fun. Personality and lndividual Differences 67, 2014, 97 -1O2

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staunlichsten Ergebnisse liefern dabei ausgerechnet die Hersteller großer Computerspiele. Bestes Beispiel

ist League of Legends, das mit 27 Millionen aktiven Usern pro Tag beliebteste Onlinespiel der Welt. Warum ist rüpelhaftes Verhalten ausgerechnet in der

notorisch ruppigen Gamer-Szene ein Problem? Weil die Statistiken zeigen, dass einige Teilnehmer das Spiel meiden, wenn sie wiederholt während eines Matches beleidigt werden. Offensive language ist schlecht fürs Geschaft. feffrey Lin, ein amerikanischer Verhaltensforscher, der beim Spieleentwickler Riot Games das player behavior team leitet, hat in mehreren Vorträgen die Maßnahmen verraten, mit denen man die Spielervon

L

eague of Legends

ztmehr

Fairness erzieht:

- Die Meinung der anderen Spieler zahlt. Nach jedem Matchwerden die Spieler gebeten, ihre Gegner und Mannschaftskameraden zu bewerten, sie für faires Verhalten zu loben - oder für rüpelhaftes BeOffensive language ist schlecht fürs Geschäft. Deshalb wollen die Hersteller großer Computerspiele die Nutzer zu mehr Fairness zu

erziehen

den folgenden Spielen nur noch eine Handvoll Botschaften an seine Mitspieler verschicken. Die Folge: Die Spieler achten viel bewusster darauf, was sie den anderen mitteilen und was sie besser für sich behalten. ,,71 Prozent aller Spieler werden nur ein einziges Mal bestraft - und danach nie wieder auffällig", er-

klart Lin.

-

Unbewusste Beeinflussung. Ieffrey Lin und ein

Team experimentierten auch mit einem sogenannten

priming: Kurz vor Spielbeginn schickten sie kurze Botschaften, die fur einige Sekunden auf dem Bildschirm aufleuchteten. Einige dieser Botschaften zei-

tigten im Versuch eine erstaunliche Wirkung. Der Teamkameraden spielen schlechter, wenn du sie nach einem Fehler beleidigst" reduzierte die Zahl der Beleidigungen um mehr als zehn Prozent. Satz ,,Deine

Die Wut im Netz ist nur Ausdruck einer stillen Wut in der Gesellschaft gibt einige theoretische Überlegungen, die ftirdieBehauptung sprechen. Sehr viele Menschen nutzen

nehmen zu,,reporten". Anders als bei Facebookoder Twitter holt der Betreiber also aktiv Bewertungen

Es

über seine Kunden ein. Die Daten zeigen etwas Über-

Facebook und Twitter inzwischen als wichtigste Nachrichtenquelle. Dort sieht man vor allem das, was die eigenen Freunde gut finden. Wer zum Beispiel meint, Deutschland solle keine Flüchtlinge auf-

raschendes. Zwar wird - ähnlich wie beim Fußball - in praktisch jedem Spiel zwischendurch geflucht,

provoziert und gemeckert. Die allermeisten Teilnehmer erweisen sich jedoch als ausgesprochen fair. Auch sie

werden gelegentlich,,reported", aber das geschieht

eher selten. Regelmäßig aus dem Rahmen fällt nur

se

nehmen, dessen Freunde denken darüber vermutlich ähnlich. So liefert einem Facebook Tag für Tag eine Menge Bestätigung fUr die eigene Haltung und erzeugt dadurch das, was Fachleute eine ,,Filterblase"

ein Prozent der Spieler. - Schnelle Strafen und Verwarnungen. Schwere Fälle von beleidigender Sprache kommen vor ein Schiedsgericht (,,Tribunal" ) und werden re-

nennen: viel Bestätigung, wenig Gegenmeinung. Sobald man sich jedoch aus dieser Meinungsblase entfernt und zum Beispiel die Tagesthemer sieht oder

lativ schnell geahndet. Wer

die Süddeutsche Zeitungliest, reibt man sich die Au-

schreibt: ,,Ich hoffe, deine Mutter stirbt an Krebs",

gen und fragt sich, ob die Journalisten in Deutschland noch alle Tassen im Schrank haben. Auf Facebookwaren sich doch noch alle einig- jetzt liest und sieht man auf einmal etwas völlig anderes. Man denkt:

erhältvor seinem nächs-

ten Spiel eine schriftliche Verwarnung per E-Mail. Wer sagt: ,,Bring dich um, Ios, tu es!", wird füreinigeTagevom

,,Lügenpressel" An dieser Stelle kommt eine zweite Theorie ins Spiel, die aus den 1970er Iahren stammt: Wer den Eindruck hat, mit seiner Meinung deutlich

Spielbetrieb ausgeschlossen - zu-

in der Minderheit zu sein, behält sie für sich. Die

sammen mit einem speziellen Feedback. Man zeigt den Spielern die Passage im Chatverlaul ftir die man sie bestraft. - Die Aufmerksamkeit der Spieler lenken. Wer viel redet, redet auch viel Unsinn. Dieser Gedanke brachte die Verhaltensdesigner von Riot Games auf eine Idee: Wer andere beleidigt

Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann prägte dafür den Begriff der,,Schweigespirale". Heute bekommt die schweigende Minderheit überdie sozialen Medien das Gefühl, gar nicht allein zu sein. Die Filterblase kann sprechen. Sie sagt: ,,Was du denkst, stimmt ganz genau!" Man äußert sich, wird zur Gruppe

- und trifft außerhalb

der BIa-

se nur noch auf Verrückte, Lügner und Dummbeu-

tel. Die oft extreme Sprache im Netz entsteht schlicht aus der Überzeugung, im Recht zu sein.

und dafür ,,verurteilt" wird, darf in 74

PSYCHOLOGIE HEUTE O612O]6


Wie logisch VON JOCHEN METZGER

Psychologen arbeiten gerne mit Tests. Einige tduron zeigen, wie wir Menschen denken. Besonders interessant sind sie dort, wo wir Fehler machen. Das folgende Minirätsel stammt aus den 196Oer Jahren. Es gehört zu den einflussreichsten Tests in der Denkpsychologie und funktioniert ganz einfach

Die Aufgabe Sehen Sie sich die folgenden vier Karten an. Jede von ihnen ist beidseitig bedruckt. Auf der einen Seite steht ein Buchstabe, auf der anderen steht eine Zahl. Nun wird lhnen gesagt: ,,Jede Karte mit einem D auf der Vorderseite hat eine 3 auf der Rückseite." Um herauszufinden, ob das stimmt, dürfen sie zwei der vier Karten umdrehen. Welche Karten sind das? Machen Sie einfach ein Kreuz unter die entsprechenden Karten.

Das war leicht? Gut. Dann machen wir jetzt noch einen zweiten Test. Er funktioniert ganz ähnlich. Diesmal stehen die vier Karten stellvertretend für vier Personen in einer Bar. Auf der einen Seite der Karte steht das Alter der jeweiligen Person, auf der anderen Seite steht das Getränk, das die jeweilige Person gerade konsumiert. Sie haben den Job des Barkeepers. Das Telefon klingelt, lhr Chef ist in der Leitung. Er möchte, dass Sie das Alter der Gäste überprüfen, denn schließlich dürfen Jugendliche unter 16 Jahren keinen Al-

BIE R

C OL A

t 24 JAH RE

15

JAHRE

kohol trinken. Wie bewältigen Sie diese Aufgabe, wenn Sie nur zwei Karten umdrehen dürfen?

76

PSYCHOLOGTE

HEUTE 0612016


denken Sie? Die Auflösung

Was verrät dieser Test über unser Denken?

Eine kleine Warnung vorweg: Als der britische Psychologe Peter Wason seinen Kartentest 1966 zum ersten Mal in einem Laborexperiment untersuchte, fanden nicht einmal zehn Prozent der Probanden die richtige Lösung. Aber der Reihe nach: Vermutlich haben Sie die Karte

Warum sind diese beiden Tests aus psychologischer Sicht so aufregend? Nun, von der Form her handelt es sich jeweils um genau dieselbe Aufgabe. Nur einmal mit Zahlen und Buchstaben, das andere Mal mit Getränken und Altersangaben. Die erste Form machen fast alle Menschen falsch. Die zweite Form machen praktisch alle richtig. Was verrät das über unser Denken?

mit dem D umgedreht. Das ist richtig, das machen praktisch alle. Man überprüft, ob auf der Rückseite eine 3 zu finden ist. Vermutlich haben Sie die Finger von der Karte mit dem K gelassen. Sie spielt für unseren Test schließlich keine Rolle. Auch das erkennen die allermeisten. Nun aber zur Falle in diesem Test: Fast alle Versuchsteilnehmer drehen die Karte um, auf der die 3 steht. Man will überprüfen, ob auf der anderen Seite ein D zu sehen ist. Doch wenn man genauer darüber nachdenkt, bemerkt man: Auf der anderen Seite könnte jeder Buchstabe stehen. Das bedeutet: Die Karte mit der 3 ist für unser Rätsel ebenso unwichtig wie die Karte mit dem K. Viel wichtiger jedoch ist die Karte mit der 7. Denn stünde auf der anderen Seite ein D, hätten wir die These ,,Jede Karte mit einem D auf der Vorderseite hat eine 3 auf der Rücksei-

te" widerlegt! Nun zur zweiten Aufgabe, dem Barkeepertest. Hier ist die LÖsung offenkundig. Natürlich dreht man die Karte mit dem Bier um - und die Karte,,l5 Jahre". Die Cola darf schließlich jeder trinken. Und mit 24 ist man alt genug, um Alkohol zu bestellen.

PSYCHOLOGIE HEUTE O612OI6

Psychologen haben auf diese Frage eine Reihe unterschiedlicher Antworten geliefert. Die wichtigste lautet so: Menschen neigen dazu, einen sogenannten,, Bestätigungsfehler" zu begehen (confirmation bias). Das heißt, man möchte gerne das bestätigt haben, was man ohnehin schon glaubt. Zum Beispiel: ,,Jede Karte mit einem D auf der Vorderseite hat eine 3 auf der Rückseite." Beispiele für den ,,Bestätigungsfehler" im Alltag gibt es genug: Wir schlucken ein Hustenmittel aus der Apotheke. Drei Tage später ist die Erkältung weg. Also preisen wir den Hustensaft als Zauberelixier - und übersehen dabei, dass die Halsschmerzen auch ganz von selbst verschwunden wären. Wer einer linksliberalen Gesinnung nachhängt, liest gerne Zeitungskommentare, die diese Haltung bestätigen - und meidet zum Beispiel die Kommentare rechtspopulistischer Blätter. Und wenn wir doch einmal eine Agenturmeldung lesen, die unserer Meinung widerspricht? Dann sehen wir vermutlich die ,,Lügenpresse" am Werk. Manchmal halten wir auch dann an einer falschen These fest, wenn wir sehen, dass unsere Alltagserfahrung ihr widerspricht. Woran liegt

das? Der US-Psychologe Joshua Klayman meint: Weil es so komPli-

ziert und schwierig ist, sich etwas Neues auszudenken. Genau deshalb

entstehen Erfindungen ja auch meist zufälli9. Klayman erzählt als Beispiel gerne die Geschichte des ,,Lutefisk", einer berüchtigten norwegischen Fisch-

spezialität. Angeblich entstand das Rezept folgendermaßen: Die Wikinger waren einmal wieder dabei, lrland zu überfallen. Die irischen Fischer sahen die nahenden Drachenboote und dachten sich: Wenn wir schon unseren Fisch nicht in Ruhe essen können, dann sollen ihn auch die Norweger nicht haben! Also kippten sie eine Brühe aus Birkenasche über ihren Dorsch und verdrückten sich ins Hinterland. Die Wikinger fanden den übel zugerichteten Fisch, hielten ihn für einen irischen Geheimtipp und kosteten davon. Sie bemerkten dabei zweierlei: Erstens, dass man von dem Fisch nicht sofort krank wurde oder gar daran starb. Und zweitens, dass der Geschmack nur etwas für sehr mutige Kerle war. Stolz und begeistert trugen sie das neue Rezept zurück in die heimischen Fjorde, wo es noch heute traditionell an Weihnachten gereicht wird. Dazu gibt es sehr viel Alkohol - aber hoffentlich nur für Wikinger, die bereits über l6 sind.

ZUM WEITERLESEN

89 Tests und ihre Auflösungen ein unterhaltsamer Reiseführer durch das Reich der modernen Psychologie. Ben Ambridge: Das PsychoTest-Buch. Knaur, 19,99 Euro

t7


PEHNTS ALLTAG

LOB UND WAHRHAFTIGKEIT aa ,' ,'

NeulichhabeichmeinealteLehrerin getroffen. Alle paar Jahre

und tadelte uns. Weil sie eine imposante Gestalt war, die Haare hoch aufgetürmt

lädt sie mich zum Tee ein, und immer fin-

zu einer goldenen Tolle, die Blusenärmel

de ich eine Ausrede. Aber diesmal hatte

etwas hochgekrempelt, mit breiten Schul-

ich plötzlich die Beftirchtung, es könnte das letzte Mal sein. Wenn ihre Todesanzeige im Briefkasten läge, wäre es nicht wieder gutzumachen. Also riss ich mich zusammen und ging hin, mit englischem Buttergebäck, weil sie das besonders gemocht hatte, damals, als sie laut, dick und klugwar und uns alle um sich scharte, uns Schülerinnen. Sie lud uns zu sich nach

Annette Pehnt (u.a. Briefe an Charly, Piper 2O15) schreibt jeden Monat in

tern und stämmigen Waden, sanken wir dann immer einwenig in uns zusammen, obwohl wir ja schon fast erwachsen waren und uns freiwillig unter ihrer Knute versammelt hatten. Sie lobte uns nie; wenn ihr etwas gefiel, nickte sie kurz. Wir waren es nicht anders gewöhnt. Lob gab es selten, und immer musste es verdient werden. Erst viel später kam die

Hause ein. Zuerst sagte sie uns ohne Um-

PSYCHOLOGIE HEUTE

schweife, wie wir aussahen: übernächtigt,

über ihre Alltagsbeobachtungen

zerstreut oder verschlafen. Dann stellte sie uns unlösbare Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach unseren Vorstellungen von Zusammenleben und Gerechtigkeit, heiz-

Die Schriftstellerin

www.annette-pehnt.de

große Inflation, und alles war einfach nur toll. Die Generation meiner Kinder wundert sich über Rückmeldungen, die aus einzelnen Wörtern bestehen, ,gut" zum Beispiel. Sie denken dann immer, da müs-

Schulklasse. Wenn wir nicht mehr weiter-

se doch noch etwas kommen. Gewohnt sind sie ausschweifende Lobesgirlanden: ,,wirklich echt schön", ,,sehr, sehr intensiv", ,,ganz besonders toll". Mit Freude und Lob wird jede ihrer Regungen begrüßt. Für sie ist die Welt voller Resonanz, ein Ort der Zustimmung und der Herzlichkeit. Immer wird dem Kind zunächst gra-

wussten, schüttelte sie unwirsch den Kopf

tuliert,

lehnte sie sich zurück, aß Unmengen von Gebäck und genoss das Gefecht. Oft fuhr sie auch dazwischen, und manchmal nahm te uns noch ein wenig ein, und dann

sie uns

einfach dran, obwohl wir doch auf

ihrer Terrasse saßen und nicht in der

7A

dass es da ist.

PSYCHOLOGIE HEUTE O612016


geübte Ermutigerin, Loberin und Förde-

ich entsetzt beobachtete, wie sie mit zitternden Fingern den Tee in die Kanne löffelte. Wir brauchten eine Weile, bis wir

rin geworden. Schwierig wird

immer

mit unseren Tassen aufderTerrasse saßen.

dann, wenn ich jemanden auf einen Fehler, eine Schwachstelle oder etwas Miss-

Hilflos redete ich gegen die Zittrigkeit an, erzählte wild aus meinem Leben undversuchte, die Krümel zu übersehen, die ihr

Inzwischen bin ich in Workshops' Kursen, Klassen und in meiner Familie eine es

lungeneshinweisenmuss. DiejungenLeute ducken sich wie unter Peitschenhieben, obwohl ich natürlich niemals direkt den Finger in die Wunde legen würde. Nein, ichlobe zunächst, ichfreue michuberdieses undjenes, dann schlage ich behutsam einige Veränderungen vor. Gleich zittern die Unterlippen; ein verdächtig feuchter G1anz legt sich über die Augen, und eine schlecht verborgene Verzweiflung greift um sich. Andere starren mich fassungslos an, recken dann kämpferisch das Kinn

und weisen alles von sich. Wortgewandt weisen sie mir nach, wie falsch ich liege und wie blind ich sei. Kritik ist heutzutage eine

heikle Angelegenheit, und ich muss

mit allem rechnen. Mit den Iahrenbin ich zwar ungeduldiger geworden und benutze beim Kritisieren weniger Einwickelpapier, aber Diplomatie ist auf jeden Fall

immer gefragt. Meine alte Lehrerin sah das anders. Man musste sich vor ihr bewähren. Wir sollten unseren Blick schärfen, unsere Gedanken überprüfen, wir sollten uns nicht einrichten in unserem sanften Geplauder und unseren wattigen Ideen. Immer wenn wir nachließen und in erschöpften Smalltalk auswichen, stieß sie wie ein

Habicht mit der nächsten Frage in unsere Runde. Unbequem war es damals bei meiner alten Lehrerin.

o

bekommen: ,,Sie sehen aber gar nicht gut aus. Dann erklären Sie mal." Aber als sie die Tür öffnete, war mir sofort klar, dass der Habicht gebrochene

2

war schmal geworden und hielt sich am Türrahmen fest. Die Kekse konnte sie nichtnehmen,weilsie sich aufeinen Stock stützte; ich trug sie ihr in die Küche, wo

F d F

)

l

re. Da hob sie den Kopf und unterbrach mich. ,,Und lässt sich denn Ihrer Ansicht nach zwischen all diesen Begebenheiten

ein Zusammenhang herstellen?", fragte sie scharf. Ich verstummte schlagartig. Es warklar,wassiewollte: Ichsollteaufhören plappern und anfangen zu denken. Und zugleich sollte ich sofort aufhören, sie zu zu

bemitleiden. Ich senkte den Blick und wusste nicht mehr weiter. Eine Weile schwiegen wir beide. Sie muss sich gewundert haben über

mich; über meine verlegene Redseligkeit und den fehlenden roten Faden, ohne den

sie Gespräche nicht durchgehen ließ. Vielleicht wollte sie auch einfach nur prüfen, ob ich überhaupt noch einen Funkenvon Scharfsinnin mirhatte. Fiebrig suchte ich nach einer klugen Antwort. Der Zusammenhang war, dass ich zerris-

Mitleid mit dem gealterten Habicht und meine Rührung nicht zeigen durfte. Aber genau das konnte ich natürlich nicht sagen. sen war vor

Und dann sagte ich es doch. ,,Ich wussnicht, was ich sagen sollte. Wir

haben sich ziemlich verändert." Sie ließ die Teetasse sinken. Und dann schaute sie mir direkt ins brennende Ge-

Flügel hatte. Wer nicht gut aussah, war sie.

I

zu überschlagen, wann ich wieder gehen könnte, ohne dass es allzu unhöflich wä-

te, Herzklopfen, als stünde mir eine Prü-

o

:

den Augen gelassen hatte, starrte sie vor sich hin, und ich fing schon an, im Kopf

te einfach

fungbevor. Ichbin esnichtmehrgewöhnt,

3

Anders als früher, wo sie uns nicht aus

Unddeswegen hatte ich, als ich neulich vor der Tür meiner alten Lehrerin warte-

kurz gemustert zu werden und gesagt zu

)U

auf die Bluse fielen.

Sie

PSYCHOLOGIEHEUTE O612016

haben uns so lange nicht gesehen, und Sie

sicht und nickte kurz. Ich wusste, was die-

Nicken bedeutete: Es war ihr größtes Lob. Ich hatte eine Prüfung bestanden, ses

und die war nicht weniger streng, nur weil die Prüferin inzwischen am Stock ging.

Ich wünschte, ich könnte sagen, ich hätte sie seitdem oft besucht. Oder öfter

Ich

ä*f::*-:;'Prochen

66

ffi$b

Gelegenheit macht liebe

rLusffiled &rlai.l,dtd


Wie sinnvoll ist mein Leben? Carlo Strenger analysiert die weitverbreitete An gst, die eigenen Potenziale nicht auszuschöpfen

Carlo Strenger ist in Basel geboren; heute

Buch The Lonely Crowd (Die einsame

lebt und lehrt er in Israel. Der in einer

Masse, deutsch 1956).

orthodoxen jüdischen Familie aufgewachsene Philosoph und Psychoanalytiker gehört zu den originellen Denkern der Ge-

Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft trete zunehmend ein neuer ,,Charaktertyp" auf, der nicht mehr traditions- oder

genwart. Schon aufder ersten Seite zitiert er Immanuel Kant, und das ist Programm: Strenger, erklärter Freigeist, Atheist und Weltbürger, versteht sich als Parteigänger

innengeleitet sei, sondern durch den Ein-

der Aufklärung. Diese sieht er weltweit bedroht und dringend der Wiederbelebung bedürftig. Denn unserem Zeitalter mangele es immer mehr an der Bereitschaft und Fähigkeit zum kritischen, un-

aus,

abhängigen Denken.

In der modernen

fluss seiner Mitmenschen gesteuert' Strenger dehnt diese Argumentation auf

die moderne digitalisierte Gesellschaft für die er das ,,Infotainment" für charakteristisch hält. Strengers Analyse liest sich überwiegend flüssig und spannend. Am beeindruckendsten finde ich die Passagen, in denen er über seine Auseinandersetzung

Laut Strengerlebenwir in einer Epoche

mit ultraorthodoxen Iuden berichtet.

des dogmatischen Schlummers, die do-

Manchmal gerät die Lektüre etwas zäh

miniert wird von Menschen, ,,deren Identität in erster Linie dadurch definiert wird, dass sie Teile des globalen Infotainment-

durch seine Neigung, in großem Umfang andere Autoren zu zitieren und zu rezen-

systems sind". Dieses Zur-Ware-Werden

genen Gedanken erfahren hätte. Unterm

unseres Selbst, von Strenger etwas umständlich,,Kommodifizierung" genannt,

Strich bleibt ein positiver Eindruck

führt zu einer Instabilität der Selbstachtung und zttm Zweifel daran, ob das ei-

er gegen Ende seines Textes

gene Leben

wirklich sinnvoll sei. Dem

daraus resultierenden existenziellen Unbehagen begegnet die Moderne mit Psychopharmaka und einer seichten ,,Pop-

spiritualitat". ,Viele Menschen in der globalisierten Welt leiden an tiefgreifenden existenziellen Angststörungen und dem

Strenger

trifft

vollends ins Schwarze, wenn

schreibt: ,,Wie

hoch der Preis ist, den wir dafür zahlen, dass die Bürger keine Ahnung haben von den Grundlagen politischen Denkens, sehen wir täglich im Fernsehen. Hier haben traurige Schauspiel einer aufkurze Soundclips reduzierten Politik vor Augen, einer Politik, die zu einem Unterhal-

wir

das

Autor. Er zeigt, dass der Großteil dieses

men zurücktritt."

neu. Schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat der US-Wissenschaft-

rILL BASTIAN

Carlo Strenger: Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der globalisierten Welt sinnvoll gestalten. Aus dem Englischen von lrmela KÖstlin. Psychosozial, Gießen 2016,323 S., € 34,90

ler David Riesman den ersten ,,soziologischen Wqltbestseller" veröffentlicht: das PSYCHOLOGIE HEUTE O612016

CARLO STRENGER

- denn

fortwährenden Gefühl, dass siekein Leben leben, das wirklich Sinn hat", meint der

,,der globale Markt der Ich-Kommodifizierung auf uns alle hat". Diese treffende Diagnose ist nicht eben

stellen: ,Lebe ich ein lebenswertes Leben?"'

sieren, wo man lieber mehr über seine ei-

tungsspektakel verkommen ist, hinter dem ihre eigentliche Aufgabe, das Nachdenken über das Gemeinwohl, vollkom-

Leidens nicht psychopathologisch ist, sondern ein Resultat der Auswirkungen, die

,,Nur ein Geschöpf, das weiß, dass seine Zeitbegrenzt ist, kann die Frage

@

lesenroue in der App

81


'.::i..§l

Die späten Jahre Drei Bücher beleuchten die Frage: Wie kann man mit Würde und Freude älter werden, wenn in der Gesellschaft die,, ldeologie ewiger J ugend ich keit" herrscht? l

Es gehört

at

den bemerkenswerten

Wi-

dersprüchen unserer Gesellschaft: Während der Anteil der älteren Menschen an der Bevölkerung wächst, wird die fugend

verherrlicht. In der Arbeitswelt oder in der Werbebranche setzt man auf die Le-

bensenergie und Innovationskraft von Menschen unter 40. Die Senioren hingegen werden mit Demenz oder mit der Krise des Rentensystems in Verbindung gebracht. Wenn ihnen doch Lob zugeteilt wird, dann al s Silver Surfer, Cougar-Frauen oder Best Ager sprich: |unggebliebene. Drei Bücher befassen sich mit diesem Phänomen - aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Bereits in der Einleitung von Ewige Jugend prangert der Literaturwissenschaftler und Philosoph Robert Pogue Harrison den |ugendkult an: Er trenne die Generationen voneinander, sodass der Erfahrungsschatz der Alteren den füngeren nicht mehr zur Verfügung stehe. ,,In Wahrheit entzieht das Zeitalter als Ganzes wissentlich oder unwissentlich den jungen Leuten das, was sie am meis-

Der Leser mag zunächst abgeschreckt sein vom sperrigen Stil und von schwerverständlichen Passagen über die sogenannte ,,Neotenie", einen aus der Biologie entliehenen Begriff, den Harrison alsWeiterleben des inneren Kindes im Erwachsenenalter versteht. Wer sich aber durch die Theorie kampft, kommt zur interes-

Freiheiten ist auch der Frage gewidmet:

Wie kann man mit Würde und Freude älter werden, wenn in der Gesellschaft die,,Ideologie ewiger |ugendlichkeit" herrscht?

santen Hauptthese: Ohne Bezug zur Ver-

Die kurze Abhandlung der 74-jährigen

gangenheit und eine Art Weiterleitung derselben in die Gegenwart droht eine Verkümmerung der Kultur. Richtige Revolutionen - die Erfindung der Philosophie, das Christentum, die Geburt der amerikanischen Republik - seien nicht

Autorin aus der Schweiz hat keinen kul-

nur Ergebnisse eines rebellischen und zu-

kunftsorientierten Drangs, sondern auch

turwissenschaftlichen Anspruch und liest sich dementsprechend viel leichter. Onken

hat vor allem einen spezifischen Fokus: Frauen. ,,Bei allen Frauen ist das Nachlassen der körperlichen Schönheit eine Tragödie von besonderem Ausmaß", stellt die Autorin und Psychotherapeutin fest.

Folgen der Weisheit, die das Erbe der Geschichte antritt und weitergibt. Wollen

wir

wirklich jung bleiben und dennoch gleich-

zeitigreif sein, so Harrison, sollten wir die historische Tiefe der Gegenwart wiederentdecken und Heranwachsende dafür

sensibilisieren. Dazu empfiehlt der Autor

unter anderem die Abschaltung der,,Ge-

ten brauchen, wenn sie sich entfalten sol-

räte, die uns so fesseln" und,,die Welt auf

Jen", urteilt der Autor..

Bildschirmformat verkleinern".

82

Zu diesem Kulturpessimismus lässt sich Iulia Onken hingegen nicht hinreißen. Ihr Btch lm Garten der neuen

Robert Pogue Harrison: Ewige Jugend. Eine Kulturgeschichte des Alterns. Aus dem Englischen von Horst Brühmann. Hanser, München 2O15, 284 5.. € 24,90

PSYCHOLOGIE HEUTE O6120]6


Es liege nicht daran, dass Frauen ober-

ächlich seien und mehr Wert auf Außerlichkeiten legten, sondern daran, dass sie fl

so erzogen würden. Die Aufforderung, schön zu sein, sei etwas, was Mädchen be-

reits im Kleinkindalter verinnerlichen: ,,Sei hübsch, räkle dich, richte dich her, mach das Beste aus deinemAußeren, denn

du musst vor allem eines: gefallen", laute die frühe, oft unbewusst übermittelte Botschaft in vielen Familien. Attraktiv bleiben, einen Partner finden und behalten sei für Frauen eine lebenslange Herausforderung. Im fortgeschrittenen Alter hät-

ten es Frauen daher noch schwerer als männliche Altersgenossen. Dies sei kein Grund zum Verzweifeln, meint die Autorin. Sie setzt auf individuelle Strategien gegen das |ugenddiktat. Der Vorschlag, sich als,,Teil eines großen zusammenhängenden Weltorganismus" zu begreifen, mutet freilich esoterisch an. Interessanter sind ihre Ratschläge, vorhandene Beziehungen zu klären und Selbsterforschung zu betreiben: Nur wer sich selbst kennt, kann selbstbestimmt altern. Diese Lehre lässt sich auch aus den Por-

träts von Hundertjährigen ziehen, die die |ournalistin Kerstin Schweighöfer in 100

Krieg, Unglück, aber auch von Heiterkeit und Zufriedenheit geprägt sind. Etwas

TRAUMA & GEWALT

plump sindmanchmal die Lehren, diä die Autorin aus ihren Begegnungen zieht. Weniger lebensklug als platt klingen Sätze wie ,,Ieder Mensch braucht in seinem Leben ein spezielles Interesse" oder ,,Man muss nicht immer erst unsterblich verliebt sein, um lieben zu können". 100 lahreLeben ist dennoch lesenswert. Es zeigt, dass viele Frauen tatsächlich ihr Leben mehr

. geht den weg von der KIinik dorthin, wo Gewalt entsteht

auf die Partnersuche ausgerichtet haben als Männer und dabei auch in finanzielle Abhängigkeit geraten. Mathilde, Mariska oder Agnes scheinen sich aber irgend-

lich ihre Herangehensweisen und Schreibstile sind. Für Harrison muss sich eine

Gesellschaft die Frage ihres kulturellen Alters stellen, denn nur so kann sie vernünftig mit den kommenden Generationen umgehen und ihren Bildungsauftrag ihnen gegenüber erfüllen. Für Onken geht

im Auf und Ab der eigenen Biografie ein,,gutes Einverständnis mit

der älteren Generation geradezu beispiel-

diesen einzelnen Aufforderungen steht, sie sind angenehm reflektiert - jenseits

Da ist Mathilde, die Bäuerin aus Süddeutschland, die ihren Mann betrogen hat und dafür einen hohen Preis zahlen musste. Oder Mariska, die passionierte Malerin aus Ungarn, die genau weiß: ,,Glück ist kein Dauerzustand." Alles normale, exemplarische Schicksale, die von

tulia

Onhen

IM GARTEN DER NEUEN FR

EIH

E

ITE N

Julia Onken: lm Garten der neuen Freiheiten. Ein Reiseführer für die späten Jahre, C. H. Beck, München 2O15, 176 S.. € t4.95

. verbindet die klinische Sicht m it gesel lschaftlichen Perspektiven

befreit zu haben, um im hohen Alter ein selbstbestimmtes Leben zu führen - ganz nach Onkens Modell. Was das gute - und nicht perfekte Leben ausmacht, ist das gemeinsame Thema der drei Autoren, so unterschied-

es darum,

haft.

von Gewalt und die Entgegnung von Gewalt

wann vom Diktat der Attraktivität

Ihr Buch taugt als Antwort auf Harrison, denn darin ist der Rückgriff auf den Erfahrungsschatz

Jahre Leben gesammelt hat.

. diskutiert die Prävention

sich selbst" zu erreichen. Egalwie man zu

Betuta.htung p5ychis.h reaktiver Traumaf olgen Gastherausgeber:

6uido Flanen & Ruth EbbinBhäus

Heftz I zo't6', c 24,-

der üblichen Klagelieder über die Vergrei-

sung der Gesellschaft und genauso weit entfernt vom aufgesetzten Optimismus der Marketingexperten, die Best Ager vor

allem für ihre Kaufkraft schätzen. CLAIRE-LISE TULL

Kerstin Schweighöfer:

100lur'..

lOO Jahre Leben. Welche

Werte wirklich zählen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2O15, 368 S.. € 20,-

#

Klett-Cotta

PSYCHOLOGIE HEUTE O612Oi6


AU FG EBLATTERT

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ffiüü H

tt r,ä E ü@H H€@

Das geliebte Ringelshirt, der mit glitzernden Schmetterlingen bedruckte Rock, die Jeans mit den zerschlissenen Nähten - Frauen und Kleider(S. Fischer,

€24,99) sind ein immerwährendes Thema. Ein ungewöhnliches Lesebuch haben Leanne Shapton, Sheila Heti und Heidi Julavits zusammengestellt. Es entstand auf der Grundlage eines Fragebogens, den die Autorinnen an 5OO Frauen auf der ganzen Welt geschickt haben,

4() Prozent der Deutschen leiden im Laufe ihres Lebens an einer psychischen Störung. Doch der Gang zum Psychotherapeuten bringt viele Fragen mit sich: Welches ist die richtige Therapieform? Müssen überhaupt alle Störungen in einer Psycho-

therapie behandelt werden? Was passiert in einer ambulanten, was in einer stationären Psychotherapie? Welche Risiken und Nebenwirkungen hat eine Therapie? Und: Wann ist sie eigentlich beendet? Der informative Wegweiser Psychotherapie (Thieme, € 19,99) von Andrea Dinger-Broda und Michael Broda Wegweiser bringt Orientierung ins Dickicht Psychotherapi

der

Psychotherapielandschaft

und baut Berührungsängste ab.

darunter Kim Gordon, Lena Dunham und Cindy Sherman. Sie wurden gefragt: Was ist für dich der Unterschied zwischen Anziehen und Schickmachen? Erzähl uns davon, was du im Schrank hast, aber nie trägst. Nach welchem Kleidungsstück bist du noch immer auf der Suche? Wenn du all deine Kleider weggeben müsstest, was würdest du behalten? Ein inspirierender, interessant illustrierter Band, in den man lange abtauchen kann.

Als die Pille am l. Juni 1961 in die west-

deutschen Apotheken kam, wurde sie ausschließlich verheirateten Frauen mit mehr als zwei Kindern verschrieben. ln der DDR gab es deutlich weniger Hürden: 197O konsumierten bereits 16-Jährige ohne Einwilligung der Eltern das kleine Dragee, und nur zwei Jahre später war das Medikament für alle Frauen kostenlos. Heute nehmen 87 Prozent der14- bis 17-jährigen Mädchen die Pille - viele nicht wegen ihrer verhütenden Wirkung, sondern aufgrund der ersehnten Nebeneffekte: volleres, glänzenderes Haar, eine größere Oberweite, reinere Haut. Für ihr Buch Die Pille und ich (C.H. Beck, €'14,95) hat Katrin Wegner mit 25O Frauen sprLr,: !n SEfrE !n(

aus drei Generationen über die Bedeutung der Pille in ihrem Leben gesprochen. lhr Fazit: Einst ein Symbol der sexuellen Befreiung, ist die Pille zur Lifestyledroge geworden, die jungen Mädchen dazu dient, den eigenen Marktwert zu steigern.

84

PSYCHOLOGIE HEUTE O612016


(?il

r-n Erzähl mir nix! Werner Siefer versucht zu klären, warum das Gehirn in Geschichten denkt

Mitglied imVFP ...

mich die ersten Telefonate sofort von der Engagiertheit und Kompetenz überzeugt haben

,,Ichbin ein Erzählerl " Mit dieser Behauptung setzt das Bucl-r Werner Siefers ein. Es

kreist urn den Erzählinstinkt und des-

unn-rittelbare Folgen: soziale Kommunikation, das Er.rtstehen eines Ichs, die sen

Organisation eines Lebens durch Narration, durch Erzählen also. Siefer, Diplombiologe ur.rd Wissenschaflsredakteur, präsentiert eine Collage ausgewäh1ter Str,rdien und Untersuchungen, derer.r Ergebnisse er geschmeidig

referiert. Das macht er mit leichter Hand. In die eigene Argumentationskette fäde1t er viele Einsichten klinischer Studien ein. Dies sind die interessantesten Partien dieses Buches. Dar.reben

befleißigt sich der

Journalist und mehrtäche Buchautor einer dramaturgischen Form, die Zugänglichkeit suggerieren soll: )edes Kapitel richtet sich in Brieffortn an eine Person namens

Maurice. Warum aber der.rkt das Gehirn nun in Geschichter.r? Wie macht

es das?

Wiebeim

Kleinkind, wie im Erziehungsr,rmfeld, wie im Alter, wenn eventuell erinr.rerungsschwächende Krar-rkheiten auftreten? Und ist nicht Konfhbulation, die Selbstpro-

duktion und Autosuggestion

falscl-rer

Erzählunger-r, auch Erzählen? Wie kar.rrl nun Erzählen gerneir-rschaftsstärkend, ja ,,wir-hersteller-rd" sein? Das Problematische dieses Buches ist: Siefer surfi viel lieber den Uferbereich des Konkreten er.rtlang, als dass er sich weit

hinaus zu den Atollen des Abstrakten wagt. Sein Prinzip des nahezu kritiklosen Arrangierens verhir.rdert dies. Und n-ran wenig verdrossen, dass sich der Autor entschlossen hat, ar.rf Origir-ralität zu verzichten. Vor allem in-r dritten Kapitel ,,Die Dich-

realisiert

eir-r

tung und die Welt", in dem es um ErzählPSYCHOLOGIEHEUTE O612016

theorien, erzählende Literatur vor allem des 20. Jahrhunderts und um Philologie geht, gerät seine Darstellung in den Bereich des Haarsträubenden. Dass ein Zeitscl-rriftenredakteur, Ressort,,Technik und Forschung", möglicherweise nicht überrnäßig viel mit dem einst in England lebenden amerikanischen Romancier Hen-

ry Iames (1843-1916), einem Autor ausgreifender psychologischer Romane, anfangen kann, mag ja noch angehen. Henry lames allerdings als kaum bekannten Schriftsteller zu dekiarieren, seinen

...

ich Antworten bekomme rund um die Führung einer Praxis

...

er wirklich gute Verbandsarbeit leistet

...

er innovative Projekte entwickelt, z. B.

den Therapeuten-Notdienst

lnformationen über den

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,' ,/

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VFP

Bruder, den Philosophen und Psychologen Willianr Iames hingegen nrit einem großen, dafür konventionellen Lob zu verse-

hen ist me1-rr als anfechtbar. Vor allem wenn Siefer William Iames falsche Lebensdaten n-ritgibt. Es mutet denkwürdig an, dass ein Haus wie der Carl-Harnser-Veriag, der eine statt-

liche Reihe von Literaturnobelpreisträgern ir.r seinem Programn-r verzeichnet,

Gelungene Kommunikation erleichtert das Leben

\t cornelia Schinzilarz

diese größtenteils ahnungsfreien Passagen

zum Druck hat freigeber-r könr-ren. Noch

Das Kommunikationsmodell

in der Anwendung

r.r.rerkwürdiger ist, dass zwar eine Fülle an

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Studien aufgeführt wird und zahlreiche Namen fallen - so mancher davon ohne Vornamen -, Siefer aber überzeugt ist, auf eine Literaturliste zum vertiefenden

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Nachlesen verzichten zu können.

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ALEXANDER KLUY

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Werner Siefer: Der ErzähLinstinkt. Warum das Gehirn in Geschichten denkt. Hanser. München 2015, 271 S., € r9,90

Sie erfahren, wie Sie gekonnt Sprechen und

gut verstanden werden. Zahlreiche Beispiele und Übungen aus dem Alltag zeigen, was unser Sprechen eindeutig, individuell und respektvoll macht. Leseprobe unter www.beltz.de

BELTZ


Herr im eigenen Haus Philipp Hübl entlarvt den Mythos von der Macht des Unbewussten Was haben Sigmund Freud und Neurowissenschaftler gemeinsam? Sehr wenig, könnte man meinen. Die Psychoanalyse

sucht die Ursachen des Seelenleids vorwiegend in der Familiengeschichte des Patienten. Für Hirnforscher hingegen sind vor allem biologische Prozesse, die über unser Wohlbefinden entscheiden' es

In seinem Buch Der Untergrund

des

Denkens siehrder Philosoph Philipp Hübi über diesen Unterschied hinweg und empfiehlt: Glaubt weder den einen noch den anderenl Den Anhängern der Psychoanavor, das Wesen und die Natur von Wünschen zu verkennen' Diese lägen

lyse

wirft

er

weder verdrängt noch verschlüsselt im Unbewussten, wie ,,Freuds obskure Triebtheorie" besagt. Hinter unserem Tun-, Nicht l(lima, nicht Rohstoffe, sondern Bildung ist der Schlüsselfaktor für das Überleben der Menschheit' Gesellschaften, in denen Breitenbildung gefördert wird, stehen heute bildungsfernen, teils fundamentalistischen gegenüber, die keine Antworten auf die sozialen und technologischen Herausforderungen unserer Zeit haben. l(lingholz und Lutz stellen klar: Wir stecl<en mitten in einem l(ampf der Bildungskulturen. Und der betrifft uns alle, denn Armut, Verzweiflung und Terror machen vor Grenzen nicht halt. Es ist Zeit, global in Bildung zu nvestieren

Sein- oder Habenwollen stecke nichts anderes als die Wünsche selbst - und schon gar kein sexuelles Verlangen'

In ähnlich prüfender Manier geht Htibl an die Neurowissenschaften heran' fede Veränderung im Bewusstsein geht mit einer Hirnaktivität einher, räumt derAutor

ein. Doch daraus zu schließen, den menschlichen Geist könnte man allein anhand jener Prozesse analysieren, die im Gehirn ablaufen, sei ein gravierender Fehler zahlreicher Wissenschaftler'

Aus diesen spezifischen Einwänden folgt eine allgemeinere Kritik: Psychoanalytiker und Hirnforscher würden unsere

»Das glänzend geschriebene

Entscheidungsfreiheit verkennen' Indem sie dem Unbewussten eine zu große Rol-

Buch ist ein einziges leidenschaftliches PlädoYer für mehr globale

le im menschlichen Verhalten zuschrieben, unterschätzten sie unsere Fähigkeit'

i

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Verantwortung'.«

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rational und reflektiert zu handeln' Wir sind die Herren im eigenen Haus' lautet Hübls zentrale These' Das Unbewusste, wie auch immer es definiert wird' ist für den Autor eine harmlose Nebensache:,,Unbewusste Prozesse haben

wusster Effekt stark ist, können wir ihn auch bewusst kontrollieren'" Dieses Plädoyer für eine Wiederentdeckung der menschlichen Gestaltungsfä-

higkeit hat durchaus etwas Sympathisches. Freiheit, Bewusstsein, Vernunft

-

und das sticht angenehm hervor in einer Zeit' in der angeblich überall dunkle Mächte

kommen damit zu neuem Glanz

wie dieAlgorithmen, die Pheromone oder

die Werbebranche am Werk sind, um klammheimlich auf uns einzuwirken' Leider muss der Leser HüblvielGeduld entgegenbringen, um sich durch das Dickicht seiner Argumente zu kämpfen' Auch die Art und Weise, wie der Autor philosophiert, ist nicht jedermanns Sache: Er führt viele konkrete Beispiele an, beansprucht für sich eine Denkweise, die über die klassische Arbeit an Begriffen hinaus auch,,eine empirische Komponente" hat. Psychologische Labortests dienen als Rohmaterial. Am Ende ist der Text leider überladen mit der Beschreibung un-

zähliger Studienprotokolle und widersprüchlicher Ergebnisse, die keineswegs das Vertrauen in die Aussagekraft des Ex-

perimentellen wecken. Seltsam ist, dass Hübl sich dieser Methode bedient, aber gleichzeitig von ihrer Begrenztheit referiert. Allen Moden zum Trotz sollten Philosophen gründlicher überlegen, ob und wie sie mit der experimentellen Psychologie und den Naturwissenschaften auf deren Terrain konkurrieren wollen' CLAIRE.LISE TULL

Philipp Hübl. Der Unter-

grund des Denkens Eine PhilosoPhie des Unbewussten. Rowohlt, Reinbek 2015, 478 S., € 19,95

selten einen Effekt; wenn sie einen haben'

ffiEtr

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ist er meist schwach, und wenn ein bePSYCHOLOGIE HEUTE O612016


Sagen Sie mal, Frau Katerle. Wie können Paare mit

unerfülltem Kinderwunsch ihre Liebe bewahren?

Stephanie Katerle ist Coach und Paarberaterin; ihr Ansatz ist systemisch, prozess- und lÖsungsorientiert Schwerpunktmäßig berät sie Paare in schwierigen Lebens- und Beziehungsphasen.

Warum dominiert der Wunsch nach einem Kind bei manchen Paaren das gesamte Leben? Ein Kinderwunsch ist ein Lebenstraum. Solche Träume lassen sich nicht abstellen, sie wirken intensiv. Solange es einen winzigen Funken auch noch so ir-

rationaler Hoffnung gibt, lassen viele Wunscheltern nichts unversucht. Für sie gehören Kinder und Familie zur persönlichen Identität. Ohne sie fühlen sie sich nichtvollständig. Oft geben sie sich und manch-

Viele Kinderwunscheltern berichten von einer

ist, hilft, die Phase seelisch gesund zu überstehen.

Vereinsamung. Woher kommt dieses Gefühl?

Was brauchen Paare, um eine gute ldentität als ,,kinderloses Paar" zu finden? Paare - ob mit oder ohne Kinderwunsch tibrigens -tun gut daran, sich das Fundamentihrer Beziehung gelegentlich anzuschauen. Warum haben wir uns füreinander entschieden ? Was ermöglichen wir uns ? Was erwarten wir voneinander? Solche ehrlichen Bestandsaufnahmen machen Offenheit auch für neue gemeinsame Perspektiven möglich.

U

tert. Sobald das Paar aber für den Kinderwunsch

d

z

unangenehme Prioritäten setzt und etwa von Fami-

2

Iienfeiern fernbleibt, weil es unter Termindruck zur Behandlung muss, sinkt das Verständnis rapide. Plötzlich heißt es: ,,Seid mal nicht so verbissen dabei, dann klappt's von allein ! " Viele Kinderwunscheltern

9 F d f

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laufen haben. Wer sich Kinder wünscht, wird deswegen zunächst großzügig unterstützt und ermun-

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Paare sollten ehrlich miteinander sein. Kommt einer von beiden zum Schluss, dass er oder sie aufdas Kind unter keinen Umständen verzichten will, ist eine

Trennung ehrlicher, denn unbewusst geben sich die Partner oft noch |ahre später die Schuld an geplatzten Träumen. Was raten Sie Paaren, die bisher vergeblich auf ein Kind warten und eine Kinderwunschbehand' !ung beginnen wollen? Paare sollten in jedem Fall Kontakt zu anderen Betroffenen suchen. Es gibt so viel mehr davon, als Paa-

o I

zigen nicht klappt?

mal auch ihr Liebesglück ohne Rücksicht auf das eigene Wohlergehen für ihren Wunsch auf. Leiden Frauen mehr als Männer? Seelisch leiden Frauen und Männer gleich stark unter unerfülltem Kinderwunsch. Für Frauen hat das Warten aufs Kind aufgrund unserer sozialen Gefüge größere negative Bedeutung. Viele Frauen rechnen die Babypause in ihre Biografie mit ein und halten sich in der aktivsten beruflichen Phase deswegen zurück. Sie erleben sogar manchmal einen Karriereknick-unddas ganzohneKind. Dasistextrem frustrierend und belastend für die Frauen.

Schwangerschaft und Geburt gelten invielen Köpfen als Selbstverständlichkeiten, die,,natürlich" abzuI

fühlen sich dann wie auf einer Insel: rundherum das Leben und aufder Insel große Leere. lst es legitim, dem Wunsch nach einem Kind eine so hohe Priorität einzuräumen, dass man sich ei' nen anderen Partner sucht, wenn es mit dem iet-

PSYCHOLOGIE HEUTE O612O16

re ahnen. Viele Kliniken bieten psychologische

Stephanie Katerles Buch Wir ohne dich. Wie Paare mit unerfülltem Kinderwunsch ihre Liebe bewahren ist im März bei Klett-Cotta erschienen (160 s., € 16,95)

Hil-

fen an. Diese sollten genvtzt werden. Im Internet sprechen mutige Paare in Videos oder Blogs über ihre Erfahrun gen. Zu wissen, dass man nicht allein

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Der Draht zur Welt Resonanz ist für Hartmut Rosa.die Bedingung für ein geglücktes Leben Der Mensch sehnt sich nach Begegnung. Andere Menschen, aber auch Dinge und Ideen, Natur und Kunst, kurz: Gott und die Welt sollen mit ihm in einen lebendigen Austausch treten, ihn berühren und von ihm erreichbar sein. Mit anderen Worten: Ersehntsichnach Resonanz. Dieses

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Resonanzverlangen, so der Ienaer So-

-

nanzblockaden.

die Qualitat dieser Beziehung zum Maßstab für ein gelingendes Leben und zur

,,Die Angst vor dem Verstummen der \4felt" scheint Rosa deshalb geradezu die Grundangst des spätmodernen Menschen

Öko-, Demokratie- und Psychokrise.

Mit

seiner Resonanztheorie schlägt Ro-

vor: ,,Nicht

schung und Verfügbarmachung der Welt.

die Reichweite, sondern die Qualität der

Das ist, so betont Rosa, in bestimmten Zusammenhängen, etwa in der wissen-

Weltbeziehung soll zum Maßstab politi-

schaftlichen Forschung, eine sinnvolle Kulturtechnik. Doch das Verhältnis zwischen beiden Beziehungsmodi scheint aus der Balance

schen wie individuellen Handelns werden." Ein solches Konzept könne dann als Kompass für gesellschaftliche Veränderungen dienen, sei aber inhaltlich offen.

geraten

mit dem

Versprechen, den Menschen aus den Fes-

de

Subjekte und der Gesellschaft als ganzer",

konstatiert er und liefert damit interessante Erklärungsansätze zur aktuellen

sa einen Paradigmenwechsel

zu sein. Die Moderne, angetreten

ol og i e-h eute.

zu sein. ,,Ein zielloser und unabschließbarer Steigerungszwang führt am Ende zu einer problematischen, ja gestörten oder pathologischen Weltbeziehung der

vorwiegend rational und zielt auf Beherr-

ihm grundlegend

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Offenheit. Zeit- und Leistungsdruck,

gie der Weltb eziehung macht Rosa deshalb

Subjekt und Welt dagegen innerlich unverbunden oder sogar feindlich, also ,,stumm" gegenüber. Die Beziehung ist

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und immer mehr an Ressourcen anzuhäufen, ohne jedoch automatisch glück-

Wettbewerb und Angst erzeugen Reso-

e S oziolo

Gegenpart, der Entfremdung, stehen sich

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man sich verliebt, ein Instrument lernt oder sich für ein Buch begeistert. Beim

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Auch der moderne Mensch versucht

licher zu werden. Denn die Bedingungen für ein gelingendes Leben - und das sind für Rosa stabile resonante Weltbeziehungen - werden gleichzeitig strukturell untergraben. Resonanz erfordert Zeit und

Resonanz als ,,vibrierender Draht zur Welt" erfordertein Sich-Einlassen und die Bereitschaft, sich zu verändern, etwa wenn

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ziologieprofessor Hartmut Rosa, gehört zur Grundausstattung des Menschen. Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Erst in der Begegnung mit seiner Umwelt entwickelt und gestaltet er seine Vorstellung von sich und der Welt. In seinem

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schen Gesellschaft, die auf ständiges Wachstum, auf Beschleunigung und In-

seln der Tradition, des Aberglaubens, der

Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der welt-

Armut und der Tyrannei zu befreien und damit Resonanz fijl immer mehr Men-

beziehung. Suhrkamp, Berlin 2O16, 762 S., € 34.95

schen überhaupt erst zu ermöglichen, ist zu einem Zeitalter der Entfremdung geworden. Das liegt, so Rosa, an der,,dynamischen Stabilisierung" der kapitalisti-

88

PSYCHOLOGIE NEUTE 06/2016


AKUTKLINIK URBACHTAL PRIVATKLIN

Wo Menschen durch Armut oder Unterdrückung gehindert sind, in einen Aus-

mit anderen Autoren und Theorien einen verhältnismäßig geringen Raum ein. Auch

tausch mit der Welt zu treten, seien ande-

droht die Resonanz mit dem Buch immer malwieder zu verstummen und das Lesevergnügen zur Anstrengung zu werden. Das liegt sowohl am schieren Umfang (762 Seiten) als auch an Rosas Schreibstil mit vielen Redundanzen, verschachtelten Sätzen und einem oft umständlichen So-

politische Maßnahmen erforderlich als in einer Überflussgesellschaft, in der Menschen vor lauter Termindruck keine Zeit re

mehr für Hobbys oder Freunde haben. Es ist Rosas

erklärtes Ziel, einen Beitrag

zu diesen Veränderungen zu leisten.

Doch

leider nehmen die konkrete Gesellschafts-

ziologendeutsch. Rosas Resonanztheorie

kritik und die Skizzierung einer Post-

könnte ein spannender und wichtiger Beitrag in aktuellen Debatten sein, doch

wachstumsgesellschaft gegenüber der his-

torischen Herleitung und theoretischen Einordnung seiner Begriffe und gegenüber der kritischen Auseinandersetzung

wird

er,

zumindestmit diesem Buch,wohl

eher nur ein akademisch gebildetes (Fach-)

Publikum

erreichen.

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\\--a .v

bildungshungrig? wissensdurstig?

diese Eigenschaften verfügen, sind eher in der Lage, auch Kindern gegen-

über Empathie und Respekt aufzubringen. Eine solche Haltung gelingt Menschen leichter, die persönliche Verantwortung zu tragen bereit sind, auch wenn sie Fehler machen. In Juuls Buch geht es daneben um die existenziell bedeutsame Frage, warum wir als Erwachsene oft jene elterlichen Verhaltensweisen wiederholen, unter denen wir als Kinder gelitten haben. In diesem Zusammenhang plädiert Juul für den Dialog zwischen Eltern und Kind, ohne dass die Erwachsenen ihre Rolle ,,spielen" oder ,,darstellen". Sein Buch ist praxisorientiert und hilfreich - allerdings kein herkömmlicher Erziehungsratgeber mit präzisen Handlungsanleitungen. Diese kritisiert Juul stark, weil sie den notwendigen Umbruch der elterlichen Haltung hin zu einer dialogbereiten,

JESPER JUU

offenenFührungsrollebehinderten.

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PSYCHOLOGIE HEUTE O612016


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REDAKTON:ANKEBRUDER

= HOREN

Familiengeschichten ,,Welchen Einfluss haben Ereignisse auf uns, die vor

siebziglahren stattgefunden haben? ", fragt sich Sacha Batthyany. Der 1973 geborene Schweizer Soziologe und Iournalist hat per Zufall erfahren, dass eine

seiner Tanten in ein grausames Naziverbrechen verwickelt war. Das Schweigen seiner Angehörigen treibt ihn schließlich hinaus in die Welt: )ahrelang reist er durch Ungarn, Österreich, Russland und bis nach Argentinien, immer auf der Suche nach der Wahrheit über seine Familie. Mit einem Psychoanalytiker spricht er über die Erfahrungen und die schockierenden Einsichten, die er dabei gewinnt. Und er schreibt seine Geschichte auf. Sein Buch 'tlnd

SEHEN

Geschichte einer Liebe Die junge Physikstudentin Agnes und der Sachbuchau-

tor Walter treffen sich in der Public Library in Chicago. Sie verlieben sich, werden ein Paar. So weit, so gewöhnIich. Doch irgendwann hat sie die Idee, er könne doch

mit mir zu tun? wurde ietzt als Hörbuch vertont, gelesen von Barnaby Metschurat. was hat das

Spannend, aufschlussreich und ergreifend

- und unbedingt hörenswert.

Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie. 4 Audio-CDs. Der Audio-Verlag 2O16. Laufzeit: 5 Stunden und 12 Minuten,

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die Geschichte ihrer Liebe aufschreiben. Fiktion und Wirklichkeit beginnen sich zu vermischen; die Geschichte, an der Walter schreibt, droht ihre Beziehung in Gefahr

zu bringen und sogar Agnes' Leben zu gefährden ... Der Film Agnes zeichnet ein intensives Bild einer Liebe und ihres dramatischen Endes. Der Stoff basiert auf dem gleichnamigen Romanvon Peter Stamm. Kinostart

€ 19,99

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ist am 2. Juni 2016. https://www.f acebook.com/Ag nes Lesen Sie auch unser lnterview mit Peter Stamm in der Aprilausgabe 2013: ,,Ein Roman sollte die Augen fürs eigene Leben Öffnen" http://tinyu rl.co m/hota e la

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Facetten des Glücks o

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Stefan Sagmeister ist Grafikdesigner, Typograf und Künstler. Doch was ihn umtreibt, schon seit ungefähr zehn Jahren, ist das Glück. Er will wissen: ,,Was macht uns glücklich oder zumindest glücklicher?" Seine Antworten auf diese Frage zeigt er nun in der AusstellungThe Happy Show im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main. Darin präsentiert er Ergebnisse sozialwissenschaftlicher, psychologischer und anthropologischer Studien und dokumentiert Erkenntnisse seiner eigenen Nachforschungen. In Form von Kommentaren, Filmen, Infografiken, Skulpturen und Installationen will er den Besucherinnen und Besuchern das Glück näherbringen. Die Ausstellung ist noch bis zum 25. September 2016 zu sehen. www.museumangewandtekunst.de

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L=S=RERI=FE

k.brennersbeltzoe

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fällt mir persönlich schwer, einen Faschisten als,empathisch( zu bezeichnen, der keine Toleranz gegenüber Fremdem oder Andersartigem zeigt und nur in den Alternativen Schwarz und Weiß denkt" ,,Es

lrene Martin, per E-Mail

Norden des Iraks gefangen genommene IS-Terroristen) ,,in die mittleren Bereiche der Normalverteilung fallen", was Eigenschaften ,,wie Empathie, Mitgefühl, Idealismus oder den Wunsch, anderen zu helfen, statt sie zu verletzen", anbelangt. Im Folgenden schreibt der Autor als Begründung für das Verhalten der Dschihadisten über die,,Banalität des Bösen" und über die Trennung in,,wir undsie, schwarz und weiß". Letzteres befasst sich also mit

Empathischer Faschist? (Thomas Saum-Aldehoff widmete sich der Frage, ob Dschihadisten psychisch krank sind.,,Ganz normale Terroristen", Hett 2/2016)

Unabhängig davon, dass der Artikel an sich sehr interessant ist, empfinde ich die

ausgewählte Fotografie dazu als sehr unpassend. Es gibt sicherlich andere Foto-

grafien, die die ,,Normalität" der Terroristen hätten aufzeigen können, muss es gleich eine Hinrichtung sein? Empfinden Sie das nicht selbst als grenzwertig? Ich hätte erwartet, dass es wenigstens einige

wenige Magazine gibt, die auf solche drastischen Bilder verzichten können. Nural Srlrerf, Bochum

der Ich- und Wir-Identität. Hier beziehen

meisten Dschihadisten sind nicht psychisch krank. Es mangelt ihnen auch nicht an Empathie - und genau da liegt das Problem." Begründet wird diese Behauptung hauptsächlich mit den Forschungs-

Anthro-

dass ,,auch spät

im Leben sehr

eine positive Einstellung zum eigenen Alterwerden. So weit, so gut und auch so zu erwarten. Überraschend ist aber die noch fehlende Säule. Laut Hans-Werner

Weiß denkt. Ich bin nicht bereit, der ,,Banalität des Bösen" einen solchen Spielraum zu geben, wie der Autor es tut. Damit schleicht sich die Gesellschaft aus der Verantwortung. Irerte

Martitr, per E-Matl

Auch im AIter haben wir eine Wahl (lm lnterview mit dem Alternsforscher HansWerner Wahl ging es auch um die Frage: ,,Leben wir vielleicht zu lange?" Hefl 4/2016)

Wahl ist Psychotherapie beziehungsweise psychologische Beratung ein wesentlicher Baustein oder besser: könnte es werden. Mit wissenschaftlichen Studien wurde

nämlich belegt, dass das chronologische Alter eines Patienten oder Klienten keinen Einfluss aufden Erfolg einer Psychotherapie oder psychologischen Beratung hat. Wenn wir also die Scheu vor psychologischer Beratung ablegen würden (,,Wer

gestört!") und stattdessen die Chancen würden (,,Da sind ja aufeinmal Wegel Ich habe eine Wahl!"), dann wären wir schon einen Schritt weiter. Dann können wir uns voller Erwartung und mit Optimismus auf die weitere Lesehen

Iahre wohl

für uns bereithalten

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bensreise bis ins hohe Alter begeben.

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Das Interview fand ich faszinierend und

zugsgruppe: in kurdischen Camps im

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braucht denn so was? Ich bin doch nicht

Margret \Iennebörger, Frankfurt ant lVlain

'pologen ScottAtran, der festgestellt haben will, dass die meisten IS-Kämpfer (Be-

92

wir jetzt,

positive, gar nicht mit Alter verbundene Vorstellungen gelebt werden". Die persönliche Entwicklung und ein zufriedenes Leben enden nicht mit 50 oder 60, sondern sind auch mit 70, 80 und 90 Iahren noch möglich. Die vier Säulen, die diese Entwicklung tragen, sind: kognitives Training, physische Aktivität und

auf die faschistoide Charakterstruktur, nachzulesen bei Adorno, dem Friedensforscher. Es fallt mir persönlich schwer, einen Faschisten als,,empathisch" zu bezeichnen, der seine Ich-Identität zur WirIdentität (hier also die Ideologie des IS) macht, Verantwortung für seine Greueltaten abgibt, keine Toleranz gegenüber Fremdem oder Andersartigem zeigt und nur in den Alternativen Schwarz und

inspirierend. Wir Babyboomer sind jetzt in den 50ern und fragen uns, manchmal mit einem bangen Blick, was die späteren

ergebnissen des amerikanischen

Aiternsforscher Hans-Werner Wahl hören

sich die Außerungen des Autors eindeutig

Thomas Saum-Aldehoff stellt die Ergebnisse seines Artikels seinen Recherchen voran und kommt zu dem Schluss: ,,Die

Wort ,,Alter" möchten wir im Zusammenhang mit uns nicht gebrauchen. Von dem

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Besser reifen ohne Beziehung (Birgit Schönberger analysierte den Trend zur Trennung nach vielen Ehelahren. ,,Späte Scheidung". Heft 4/2016) PqYaHOt OGtF HtrlrTtr .,6'/).16,

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Misere etwas ändern, könnten wir Heilpädagogen viele Dinge bereits im Keim ersticken, bevor die Betroffenen einen

Die Ergebnisse der Studie zu Scheidungen von Insa Fooken kann ich sehr gut nachvollziehen. Auch die Idee von den neuen Beziehungsformen gefällt mir. Allerdings

Kinder- und Jugendpsychotherapeuten

wird es komplizierter, wenn Kinder ins Spiel kommen. Die Hamburger Paartherapeuten Ulla Holm und Michael Cöllen

brauchen. Die Tatsache, dass Heilpädagogik nicht von den Krankenkassen anerkannt ist, macht es uns natürlich nicht gerade leicht, diese ganzheitliche Art der Förderung bekanntzumachen. Ich finde dies sehr schade, da mit Heilpädagogik große Erfolge in der kindlichen Entwicklung erzielt werden können.

meinen, eine dauerhafte Beziehung biete große Entwicklungs- und Reifungschancen für beide. Ich sehe es so, dass ein un-

abhängiger Mensch, der nicht danach trachtet, jemanden zu beherrschen oder beherrscht zu werden, ohne Beziehung besser reifen und sich entwickeln Mnrlies Frnnck, Potsdam kann.

Heilpädagogik gegen Kinderängste (Jochen Paulus beleuchtete die häufigsten psychischen Probleme von Heranwachsenden: ,,Die Angste der Kinder". Neft 4/2016)

In dem Artikel geht es um den Mangel an Kinder- und Jugendtherapeuten, die Kindern helfen können, ihre Angste zu überwinden. Ich bin selbständige Heilpädagogin und biete in meiner Praxis ein Training

zur Gefühlssicherheit bei Kindern an. Dieses Training wird bei Kindern im Al-

ter von fünfbis sechs Jahren eingesetzt, und ich habe sehrgute Erfahrungen damit gemacht: Die Kinder werden sicher in ihren Gefühlen und bekommen einen riesigen Schub für

ihr Selbstvertrauen. Sie

erfahren, dass jedes Gefühl seine Berechtigunghat, und lernen, damit umzugehen. Angstliche Kinder bauen ihre Angste nach und nach ab und werden durch das Training zu selbstbewussten Heranwachsenden. Auch mit jüngeren Kindern arbeite ich an ihren Angsten, die bis hin zu Pa-

nikattacken reichen können, auf herkömmlicher heilpädagogischer Ebene, und auch hier habe ich große Erfolge. Leider ist es so, dass unser Berufsstand viel zu wenig anerkannt wird und daher auch

Datiela

Boeck, Praxis

für Heilpüdagoglik, Kirchen

,,Die rosarote Pädobrille" (l.4ichael Kraske begleitete für seine Reportage Ralf Thieme, der gelernt hat, seinen pädophilen Neigungen nicht nachzugehen. ,, Beklemmende Beglerde". Nefl 2/2016)

- das könnte auch auf Ralf Thiemes Kinderwunsch zutreffen. Natürlich kann niemand ihm verbie,,Rosarote Pädobrille"

ten, eigene Kinder zu bekommen. Das kann nur er selbst. Und tut es nicht. Dem Kind bleibt nur zu wünschen, dass es ein funge sein möge. Ruth

G aido

s,

Clausthal-Zellerfeld

sehr unbekannt ist. Würde sich an dieser

IMPRESSUM REDAKTIoN sANSCHRIFT Werderstraße 10, 69469 Weinheim Postfach 1001 54, 69441 Weinheim, Telefon 062011 6007-0 Fd 0 620U60 07-382 (Redaktion), Fu 0 6201/60 07-3 l0 (Verlag)

E-Mail: redaktion@psychologie-heute.de WWw'PSYCHOLOGIE-HEUTE.DE HERAUSGEBER UND VERLAG lulius Beltz GmbH & Co. KG, Weinheim Geschäftsfuhrerin der Beltz GmbH: Marianne Rübelmann

cHEFREDAKTIoN Ursula Nuber REDAKTION Katrin Brenner-Becker, Anke Bruder, Johannes Künzel, Thomas Saum-Aldehofi Eva-Maria Träger HERSTELLUNG UND LAYOUT

IOhANNES KTANZ, GiSEIA JEttET

REDAKTtoNsasstsrsttz Nicole Coombe, Doris Müller KoRRESPONDENTIN lN DEN USA Dr Annette Schäfer ANzEIcEN Claudia Klinger Postfach l0 01 54, 69441 Weinheim Telefon 0 62 0l/60 07-386. Fax 0 62 01i 60 07-93 86 Anzeigenschlus5: 7 Wochen vor Erscheinungstermin GESAI'ITHERSTELLUNG

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unerklärten und somatoformen

Störungen (Dr. M. Kleinstäuber) . lmagery Rescripting & Reprocessing Therapy (IRRT) bei Traumafolgestörungen (Prof. Dr. M. Schmucker) . KVT bei affektiven Störungen: Erfahrungen und Ergebnisse aus aktuellen Untersuchungen (Prof. Dr. M. Hautzinger) 5a 01.10. bis Mo 03.10.2016

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