LINA BERTOLADasin Männern und Frauen verratene Weibliche befreien KILL VENUS!

Lina Bertola Kill Venus! Das in Männern und Frauen verrateneWeibliche befreien Übersetzt aus dem Italienischen von Marianne Lang Meier unter Mithilfe von Ivo Zanoni Schwabe Verlag
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uber http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2022 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschutzt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Abbildungen Cover: Die Geburt der Venus von Sandro Botticelli, überarbeitet durch icona basel gmbH, und Unterwegs mit Papa,Fotografie aus Familienbesitz Übersetzung:Marianne Lang Meier, Curio, und Ivo Zanoni, Neggio Korrektorat:Anna Ertel, Göttingen
Die Publikation wurde durch BancoStato gefördert.
Cover:icona basel gmbh, Basel Layout:icona basel gmbh, Basel Satz:3w+p, Rimpar Druck:CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4642-6 ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4643-3 DOI 10.24894/978-3-7965-4643-3
Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabe.ch www.schwabe.ch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Originaltitel:Lina Bertola:Kill Venus!Liberare il femminile tradito negli uomini enelle donne. Locarno:Armando Dadò editore 2021. © Lina Bertola
Für Caroline .. ... .. .. ... ... .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. ... .. .. ... .. 9 Es existiert auch eine andere Welt .. .. .. .. ... .. .. .. .. ... ... .. .. .. 11
Hin zu neuen Formen der Menschlichkeit?. ... ... .... ... .... ... .. 23
Das Weibliche als Fürsorge für das Leben .. .... ... .... ... .... ... .. 15
2Das Hereinbrechen des Logos .. .. .... .. .. ... ... .... ... .... ... .. 27
3Die unsichtbare Identität .. ... ... .... .. .. ... ... .... ... .... ... .. 41 Was wir ausgeschlossen haben .. .. .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .. 41 Eros im Exil .. .. .. ... ... .... .. .. .. .. .. .... ... .... ... .... ... .. 42
Die Methoden der Wissenschaft: beobachten,beschreiben, rechtfertigen 35 Glückwünsche und männlicheNachkommen!. ... ... .. .. .. .. ... .. 36 Beobachtete Natur, gedachte Natur .... .. .. .. .. .. .... ... .... ... .. 37 Zwischen Entscheiden und Verzichten .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. ... .. 38
Die Krise des Mannes .. .. .... ... .... .. .. ... ... ... .. .. .. .. ... .. 18
1Die Erfindung des Weiblichen .. .. ... .. .. ... .. .. .. .. ... ... .. .. .. 13
Das von den Frauen nicht gelebte Weibliche .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. 20
Inhalt Prolog .. .... ... ... .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. ... ... .... ... .... ... .. 9
Jenseits der Geschlechterfragen ... .... .. .. ... .. .. .. .. .. .. .. ... .. 21
Das von den Männern verdrängte Weibliche .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. 16
Das Vergangene verstehen, um weiterzugehen .. ... .... ... .... ... .. 27 Die Struktur des Denkens:unterscheiden, trennen, einordnen .. ... .. 29 Vernunft und Gefühle trennen:die Verdrängung des weiblichen Prinzips .. .. .. .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... ... .. 30
Das Weibliche ist nicht die Frau ... .. .. ... ... .. .. .. .. ... ... .. .. .. 13
Unterscheiden durch Messen .. ... .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .. 31 Zeugung und Fortpflanzung:die große Metapher einer weiblichen Erzählung .... ... .... .. .. .. .. .. .... ... .... ... .. 31 Überraschung:Die Entwertung des weiblichen Prinzips ist vollbracht 33
Omnipotenz und Fragilität einer Vernunft ohne Körper 48
4Das betrogene Weibliche und seine Stimmen ... ... .... ... .... ... .. 53
Vernunft und Gefühl:eine unmögliche Begegnung?. ... ... .... ... .. 45
Der flüchtige Augenblick und das fehlende Weibliche ... .. .. .. .. .. .. 64 Ein nicht verstandenes Glück .. .. .. ... ... .... ... .... ... .... ... .. 65 Sich in der Zeit des Weiblichen aufhalten 67
Häusliches Wissen, verborgenes Wissen 53 Spuren des Weiblichen,zwischen Akzeptanz und Zensur. .. .... ... .. 54
Die roten Lackschuhe:Wünscheund Bedürfnisse. .. .. ... ... .. .. .. 75
Eudaimonia: wenn eine Blume aufblüht 78 Das Gute benennen .. .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .... ... .... ... .. 79 Den eigenen Weg wählen .. ... ... .... .. .. .. .. .. .... ... .... ... .. 81
Das Lebentanzen .. ... .. .. .. .. .. .. .. ... .... ... .... ... .... ... .. 88
Aus dem eigenen Leben ein Kunstwerkmachen ... ... .. .. .. .. ... .. 93
Marie Curie:Rationalität und Geist des Gebens ... .... ... .... ... .. 60
Körper werden .. .. ... .. .. .. .. .. .... ... .... ... .... ... .... .. .. . 85
Das rationale Tier als ethisches Projekt .. .. .... ... .... ... .... ... .. 44
5Neuem glücklichen Erblühen entgegen .. .. .... ... .... ... .... ... .. 63
Der Stoff des Lebens .. ... ... .. .. .. .. ... .... ... .... ... .... ... .. 63
6Das Weibliche in unserem Leben annehmen ... ... ... .. .. .. .. ... .. 83 Ein Neuanfang mit Eros .. .... ... .... .. .. .. .. .. .... ... .... ... .. 83
Die heilige Stimme der Stille .. .. .. .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .. 90
Der Logos in einem weiblichen Körper .. .. .... ... .... ... .... ... .. 57
Der flüchtige Augenblick und die Stille der Seele .. .. ... ... .... .. .. . 69 Spuren einer antiken Weisheit .. .. ... .. .. .... ... .... ... ... .. .. .. 71 Reichtum und Glück .. ... .. .. ... ... .. .. .... ... .... ... .... ... .. 71
Das Bildder Frau zwischenKörper und Vernunft .. .... ... .... ... .. 46
Das Coming-out des männlichen Prinzips .. ... ... .... ... .... ... .. 51
In Richtung einer Versachlichung der Welt und des Lebens .... ... .. 47
VonMutter Natur zur Ressource:der von der Macht verführte Eros .. 49
Lou Salomé und das erotische Tabu ... ... .... ... .... ... .... ... .. 59
Epilog .. .... ... ... .. .. .. .. ... ... .. .. .. .. .. .. ... ... .... ... .... ... .. 95 An meinen Vater .. .. .. .. .. .. .. .. ... ... .... ... .... ... .... ... .. 95 Nachwort der Übersetzerin .. ... ... .. .. ... .. .. .... ... .... ... .... ... .. 97 Anmerkungen .. ... .. .. .... ... .... .. .. .. .. .. .... ... .... .. .. .. .. .. .. 99
Das Sich-Verflechten unserer Gedanken und Gefühle hat sich als wunderbare Gelegenheit erwiesen für den Versuch, die Stimme dieses weiblichen Zugangs erklingen zu lassen, den eine lange Geschichte mit dem Frau-Sein identifiziert hat. So haben wir, ausgehend von unserem persönlichen Erleben, angefangen, die Macht und den Wert dieses Weiblichen im Leben zu verstehen sowie es als Antlitz der Existenz zu erkennen, jenseits des Frau-Seins jeder Frau.
Prolog Für Caroline Caroline hat sich entschieden, für eine Maturaarbeit meine Geschichte zu erzählen.
So haben sich an den gemeinsam verbrachten langen Nachmittagen unsere Leben als Frauen in meinen Worten miteinander verwoben:ihr Leben, das im Begriff ist aufzublühen,und meines, das sich seine Reise durch mein Erzählen unter ihren erwartungsvollen Augen noch einmal erfunden hat.
Warum diese Maskerade?Welche Gründe konnten eine junge Philosophin dazu bringen, ihr Frau-Sein zu verbergen? Ich war im Begriff,ineine Männerwelt einzutreten, mit der ich übrigens bereits durch das Studium der Philosophievertraut war;ich war also im Begriff, ein männliches Universum zu betreten, und ich fühlte in den Männern ein Unbehagen, wenn sie das Frau-Sein einer Frau wahrnahmen.
Sie nahmen dieses Weibliche wahr, das in der Geschichte unserer Kultur oft verleugnet wurde;dieses Weibliche,das von der Vernunft als gefährliche Bedrohung verdrängt wurde. DerFrauenkörper, der das Weibliche heraufbeschwört, erschien als Ort des Chaos, das der Vernunft Angst macht.
Ich erahnte bereits in meinem Körper, in meinenEmpfindungen, aber auch bei meinen Gedankenübungen das, was ich später als das weibliche Antlitz der Seele erkannte. Dieses Antlitz, das ich schon als Mädcheninden Armen meines Vaters wahrgenommen hatte.
Liebe Caroline, ich glaube zu wissen, warumDich die Episode, als ich mich bei einem Bewerbungsgespräch gewissermassenals Mann verkleidet habe, sehr berührt hat. Du warst überrascht, weil Du heute Deine Schönheit ohne Zurückhaltung zeigst, die Schönheit Deiner Intelligenz und Deines Frauenkörpers, während ich, an jenem Tag, das Bedürfnis verspürte, mich zu verstecken:keine Schminke, langer Rock, zusammengebundene Haare.
Wir müssenuns fragen, ob auf diese Veränderungen auch ein Wandel im Gedankengut, das unsere Zivilisation tief geprägt hat, gefolgt ist.
Ich spürte in mir ein «Anderswo», von dem ich aber meinte, es versteckenzu müssen, und vor dem ich mich auch schützen musste.
Wie steht es heutemit diesem Weiblichen des Lebens, das identifiziertworden ist mit dem Frau-Sein? 10
Diese kulturellen Veränderungen müssen aber näherbetrachtet werden. Es ist nötig, ihren Sinn zu verstehen, auch ihre Schattenseiten zu sehen, zu begreifen, was sich hinter dem Sichtbaren der neuen Verhaltensweisen verbirgt.
Wir müssenuns fragen, ob die mächtigen sinnbildlichen Käfige, in welche Männer und Frauen im Laufe der Geschichte hineingedacht worden sind, wirklich nicht mehr existieren.
Ich fühlte den Argwohn der Männer, einen Argwohn, der von einer langen Geschichte kultureller Vorstellungen und Vorurteile genährt war. Noch nie war hier eine Frauenstimme erklungen:Und doch habe ich offenbar eine gute Vorlesung gehalten und den Wettbewerb für mich entschieden.
Heute frage ich mich,obdieses eigenartige «Anderswo», unbequem und auch ein bisschen beunruhigend, vielleicht auf magische Art auch von den Männern erkannt worden war. Liebe Caroline, die Du mich fasziniert und auch ein bisschenerstaunt anschaust, dies ist, was meine Generation erlebt hat, diejenige, welche viele Feminismen hat entstehen sehen. Was mich betrifft, und ich weissnicht, ob es eine bewusste Entscheidung war, habe ich sofort aufgehört, mich zu verkleiden. Allem zum Trotz habe ich es versucht. Ja, trotz allem, denn am Ende der Lektion hat ein Mitglied der Auswahlkommission mir mit väterlicher Zuneigung eine Hand auf die Schulter gelegt; er wollte mich mit den folgenden Worten belohnen:«Aber dieses Fräulein ist auch intelligent!». Heute hat sich vieles verändert.Die Anwesenheitder Frauen im öffentlichen Leben, in der Arbeitswelt, in der Politik gibt Anlass zur Hoffnung, dass Vorurteile und Diskriminierungen nun zu einem guten Teil überwunden sind. Es bleiben leider die unannehmbaren und schändlichen Lohnunterschiede, aber diese Ungerechtigkeiten betreffen nicht so sehr die Frauen als Frauen, sondern eher ihre Zugehörigkeit zu ökonomischschwachen Schichten:Genauso ergeht es auch den Jungen.
Wir waren zehn Personen, die sich für eine Stelle für den Unterricht in Philosophie bewarben: neun Männer und ich.
Liebe schöne Caroline, heute kannst Du jedenfalls Deine mädchenhafte Leichtigkeit spazieren führen. Ihr habt Mütter, die studieren, die einen Beruf haben, die in der Politik aktiv sind, und vielleicht habt Ihr Väter, die manchmal die Teller waschen und den Einkauf und die große Wäsche machen.
Vielleicht wartet das weibliche Prinzip des Lebens noch auf seine echte Befreiung;auf eine neue Darstellung seinesWesens, seines Wertes und seiner außerordentlichen Entwicklungsmöglichkeiten für unser Leben und unser Zusammenleben.
Kann es seine Kraft als Lebensnahrung von Männern und Frauen entfalten?
Starke Zweifel bleiben.
Unsere Aufgabe ist es heute zu lernen, das weibliche Prinzip zu erkennenund anzunehmen, auch um es von seiner zweideutigen und irreführenden Benennung zu befreien. Diese Aufgabe müssenwir zusammen angehen, Frauen und Männer, und uns zu Komplizen machen für eine neue Kultur der Menschlichkeit, die wir dringend benötigen. Es existiert auch eine andere Welt
Daher die Frage:Wie können wir dieses Weibliche des Lebens einfangen? Wie es erkennen und erzählen?Wie es darstellen in seiner vollen Bedeutung und in seinem Wert, jenseits der sinnbildlichen Käfige, die es mit dem Frau-Sein gleichgesetzt und somit eingesperrt haben?
In der Welt, die in uns ist, gibt es immer eine andere mögliche Welt;esgibt immer eine andere Möglichkeit des Lebens, die den Käfigen, in denen wir denken, entflieht.
Was soll man über die vielen verführerischen Verhaltensweisen von Frauen denken, die sich auf das Spiel mit der Machteinlassen?
Ich habe Caroline mein Zeugnis als Frau gewidmet:Ich habe mit ihr ein paar Momente meines Erlebens geteilt im Bewusstsein,dass meine nur eine von vielen möglichen Geschichten ist.
Das sogenannte Weibliche kann den Frauen und, wie wir sehen werden, auch den Männern auf sehr unterschiedliche Arten innewohnen. Es genügt, zwei Protagonistinnen der jüngeren Geschichte miteinander zu vergleichen: Margaret Thatcher, «der Politiker»inTailleur und Hütchen, und Vanda Shiva, die Wissenschaftlerin, welche uns, Bäume umarmend, auffordert, die Natur und in ihr unser Menschsein zu verstehen. Zwei Frauen, zwei Welten,die uns zeigen, wie sich auch das weibliche Prinzip in sehr verschiedenen Formen ausdrücken kann oder auch still bleibt und wie es sich nicht einsperren lässt in die symbolische Darstellungder Frau als Frau.
Wie viele Mädchen treten in Schönheitswettbewerben an?Wie viele 20-Jährige lassen sich von Schönheitschirurgen die Brüste operieren, weil dies im Showbusiness eine sichere Investition in den Beruf darstellt?
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Haben wir gelernt, es als außerordentliche Quelle anzunehmen für uns alle?
Oder bleibt es immer noch gefangen, entmachtet und manchmal schamvoll im Erleben vielerFrauen?
Das Gefühl, dass es immer etwas gibt, das sich nicht in schon gedachte Gedanken fassen lässt, ist in mir entstandenaus der Art, wie mein Vater den täglichen Mikrokosmos seines Mädchens nährte. Ich habe später, angesichtsmeines Frau-Werdens, entdeckt,dass die Fülle seiner Wesensart das ausdrückte, was wir das Weibliche des Lebens nennen.
Diese Entdeckung, die ich in den Armen meinesVaters zum ersten Mal gemacht habe, hat meine Art zu denken und zu leben stark geprägt.Daherist dieses Buch auch ein sehr persönliches Fazit eines Wunsches und einer Aufgabe, die mich in meinem Leben seit Mädchenzeiten begleitethaben:zuversuchen, im Körper und in den Gedanken die Spuren des noch zu weit entfernten LebendigSeins zu finden und zu empfangen;inder Erfahrung der Männer und der Frauen. 12
Die vitale Kraft des Weiblichen wurde stark geschwächt, da man sie mit der biologischen und körperlichen Dimension und den damit verbundenenErfahrungen identifizierte. Indem das weibliche Prinzip des Lebens an den Frauenkörper als geschlechtliche Form gebunden wurde, ist die Möglichkeit verloren gegangen, das weiblichePrinzip als Ausdruck der Fülledes Lebens zu erkennen: Zeugung, Geburt und Wiedergeburt,Hegen und Anerkennen des ewigen Kreislaufs;wachsen, blühen, sterben und wieder leben;die Erfahrung des kosmischen Werdens und Vergehens, das in der Erfahrung von Männern und Frauen lebt.
1Die Erfindung des Weiblichen
Der Gebrauch des Adjektivs weiblich (femina)zur Qualifizierung des Dame-Seins (domina)könnteVorbote einer beabsichtigten kulturellenEntwicklung sein:der Entscheidung, einen Teil der sozialen Subjekte mit ihrer biologischen Eigenschaft, d. h. mit ihrem geschlechtlichen Körper, gleichzusetzen. Und damit ist die Entscheidung gemeint, im Körper der Frau das einzusperren, was der weibliche Zugang zum Leben ist, und zugleich diesen Teil der Menschheit auf seine biologischeEigenschaft zu reduzieren.
Das Weibliche ist nicht die Frau Ein großes Missverständnis begleitet uns auch heute noch, wenn wir den Begriff der Weiblichkeit mit dem des Frau-Seins gleichsetzen.
Fraulich,ein weiteres Wort, das sich auf das Frau-Sein bezieht, hat eine ziemlich andere Bedeutung angenommen. Das erstaunt nicht;die Worte sind nie unbefangen, sie gehören in einen Zusammenhang, den das Denken in sie legt.
Weiblich ist nicht ein Ausdruck, der das Frau-Sein speziell kennzeichnet. Das lateinische Stammwort femina definiert das Geschlechteines Wesens, die Gattung des Weiblichen, so wie es auch die grammatikalische Geschlechtsbestimmung der Namen und Dinge angibt. Der Begriff femina hat die gleiche etymologische Wurzel, erkennbar anhand des Präfix fe, wie der Begrifffetus, aber auch wie die Begriffe felix und ferax, Eigenschaftender fruchtbaren und freigiebigen Erde. Der Begriffbezieht sich auf die Frau als biologisches Wesen und verweist gleichzeitig auf die engeVerbindung von Liebe und Leben.1 Die Bedeutung geht also über das Biologische hinaus und beinhalteteine Art Zugang zum Leben, den wir weiblich nennen. Die etymologische Herkunft des Begriffs Dame hingegen ist der Begriff domina,daraus leitet sich zum Beispielder Begriff der Dame des Hausesab. Der Begriff Dame setzt das weibliche Geschlecht in einen menschlichen, sozialen und geschichtlichen Zusammenhang.
Das Weibliche ist seit der Urgeschichte assoziiert mit dem Geheimnis der Entstehung und Weitergabe des Lebens aus einem Blickwinkel, der die Grenzen jeder Existenz überschreitet. Seit den sogenannten Venusstatuen des Paläolithikums ist weiblich Nameund Metapher einer universellen Erfahrung:das stete Werden und Vergehen der Natur. Weit über den geschlechtlichen Körper hinaus manifestiert das Weibliche seine Lebenskraft in einer metaphysischenDimension. Aber diese transzendierende Bedeutung, die alles Lebende durchdringt, wurde bereits in den urzeitlichen bildnerischen Darstellungen weggelassen, um später explizit unterdrückt zu werden:inder Gleichsetzung von Weiblich-Sein und Frau-Sein.2 Diese semantische Verarmung ist im Zuge komplizierter geschichtlich-kultureller Prozesse geschehen, die im Laufe der Zeit das kollektive Bewusstsein bestimmt haben. Es erscheint daher schwierig, zu den Anfängen der Identifikation des Weiblichen mit dem Frau-Sein zu gelangen. Diese Begriffe haben im Laufe der Zeit so viele Veränderungen und Umdeutungen erlitten, dass sie sich losgelöst haben von ihren ursprünglichen Bedeutungen und an deren Stelle neue Bedeutungen erhalten haben. Angesichtsder Komplexität des Themas haben wir uns entschieden, derjenigen philosophischen Sichtweise eine Stimme zu geben, welche die Grundlage der abendländischen Zivilisation ist. Mit dem Gedankengut der antiken griechischen Philosophie gehen wir auf die Suche nach den möglichen Anfängen der Verdrängung des Weiblichen. Andere Wege könnten ebenso beschritten werden. Es ist allerdings kein Zufall, dass wir den Anfangunserer westlichen Zivilisation genauer betrachten. Um für uns und unser Lebenzubegreifen, wie das Weibliche gedacht und gelebt werden könnte, müssen wir versuchen herauszufinden, wie sich seine Bedeutung herausgebildethat.
Wie wir in den nächsten Kapiteln ausführlich zeigen werden, beinhaltetdas Wort weiblich viele Aspekte des Lebens, die in einem langen Prozess der Entmachtung begonnen haben, das reale Leben der Frauen zu prägen. In Kapitel 2 werden wir sehen, wie der Logos von Anfang an alles, was der Kontrolle der Vernunft mit ihrem Bedürfnis nach Ordnung entgeht, im weiblichenPrinzip eingeschlossen hat:alles, was für sie eine Bedrohung in Form von Chaos ist. Bereits in den ersten Schriften der antiken griechischen Philosophie wird klar, dass das Wort weiblich die kraftvolle Lebensenergie heraufbeschwört, welche unter Kontrolle gehalten werden muss. Die Geschichte hat diese Lebensenergie auch im Erleben der Frauen verkümmern lassen.
Infolge dieser Verdrängungund Entmachtung der weiblichen Wesensart ist das großekulturelle Missverständnis entstanden:Alles, was im Wort weiblich eingeschlossen worden ist, wird fälschlicherweise dem Körper der Frau zugeschrieben. 14
Das Weibliche als Fürsorge für das Leben Ungeachtet der zahllosen Arten der Verdrängung, die das Weibliche im Laufe der Geschichte erfahren hat, beherbergt die Idee des Weiblichen in sich Möglichkeiten, wie wir die Welt gemeinsam bewohnen und teilen könnten:Möglichkeiten, die zu einem guten Teil noch unausgeschöpft sind oder die wir in uns selbst noch gar nicht erkennen.
Das Weibliche zu befreien, es zutage treten zu lassen als neueNahrung für unser Leben und Zusammenleben, bedeutet auch, es von seinem Namen zu befreien;bedeutet, symbolische Vorstellungen, die irreführend sind, zu überwinden, um in dem, was wir weiblich genannt haben, ein Lebensprinzip zu sehen, das wir alle zusammenpflegen müssen.
Außerhalb des häuslichen Käfigs, in den es eingeschlossen wurde und wo den Frauen die Rolle der Betreuendenübergeben worden ist, kann das Weibliche seine Bedeutung entfalten. Es offenbart sich als ein Zugang zum Leben, der uns alle in Berührung bringt mit den innersten Schichten unseres Menschseins, in denen auch unser Fühlen beheimatet ist. Sich um das Lebendige kümmern heißt auch, die Werte des Zusammenlebens anzuerkennen;heißt, sich zu sorgen um die eigenen Schwächen, wie wir sie auch im Anderen gespiegelt sehen;heißt, sich zu öffnen gegenüber den Worten und den Blicken, die uns befragen;heißt,sich der Zerbrechlichkeit bewusst zu sein, die uns miteinander verbindet und voneinander abhängig sein lässt. Für das Leben Sorge zu tragen erlaubt uns, das «Erkenne dich selbst!» zu pflegen, das den inneren Dialog und die Verbindung zum Anderen aufrechterhält. Auf das Empfinden zu hören, ihm Worte zu verleihen,bedeutet auch, sich neuen ethischen Erfahrungenzuöffnen.
Minderwertigkeit
Lange in den Frauen gefangen, häufig zum Merkmal ihrer Unzulänglichkeit und erklärt, könnte das Weibliche sich für uns als außerordentliche Chance erweisen, endlich das anzunehmen, was es schon immer enthält: vor allem die Erfahrung des Fühlens,die den Wunsch nach Schönheit und Harmonie weckt und uns Gelegenheiten bietet, uns selbst, die Anderen und die Welt zu verstehen. Das Leben spürenheißt, die eigene Verletzlichkeit wahrzunehmen als Vorbedingung für eine Öffnung gegenüber dem Anderen.
Schon Aristoteles hatte erkannt, dass der Respekt, Grundlage der Ethik, zuerst ein Gefühl ist und erst in zweiter Linie ein Prinzip der Vernunft.
Endlich von seinem Namen befreit, eröffnet dieses Weibliche die Möglichkeit, das ins kognitive Bewusstsein gebrachte Empfinden auszudrücken und dem Leben mit seinen unzähligen Nuancen Worte zu geben. 15
Das Leben spüren heißt, für es Sorge zu tragen und ihm Aufmerksamkeit zu schenken,damit Öffnung und Bewegung entstehen.
Ein langer Prozess der Versachlichung der Welt, der in Kapitel 3beschrieben wird, hat allmählich die Wahrnehmung unserer Zugehörigkeit zum Kosmos geschwächt. Schritt für Schritt hat sich der Vernunft-Mensch von der Natur verabschiedet.Der Höhepunkt dieser Form der Abkehr des Menschen von der Fülle des Lebens wird mit der modernen Wissenschaft erreicht:die Natur begreifen, verstehen bedeutet auch, ihr Verhalten vorauszusehen, die Ursachen unter Kontrolle zu bringen und sie, soweit möglich, zu beherrschen. Aber die Natur unter Kontrolle zu halten bedeutet, das Leben unter Kontrolle zu halten. Das kann als unerwünschter Nebeneffekt auf dem langen Weg der Zivilisierungbetrachtet werden, aber es hat erhebliche Folgen für unser In-der-Welt-Sein. Vielleicht ist es nur ein Abdriften, das ermöglicht, zu neuen Ufern zu gelangen.
Am Ende unserer Reise, in den Kapiteln 5und 6, werden wir versuchen, uns mögliche Szenarien vorzustellen, wie die noch nicht benannten Reichtümer empfangen werden können. Wir werden uns im eigenen Leben neu orientieren;wir werden lernen, Körper zu sein,ein Körper, der das Leben tanzt;lernen, uns als Teil eines Kosmos zu fühlen, zu dem wir alle gehören. Denn das Leben zu spüren bedeutet auch, sich in Grenzbereiche zu begeben, in Richtung eines immer möglichen Anderswo. Das von den Männern verdrängte Weibliche Ein 100 Kilo schwerer Körper, hingestreckt auf dem Diwan, die Armenach oben ausgestreckt: So erwartete und empfing unser Vater seine zwei Mädchen nach dem Mittagessen. Dieses unser Familienritual war eine vertraute Geschichte,die sich jeden Tag wiederholte und die einen geheimen Namen hatte:Eswar die Geschichte der Umarmung zwischenMutter Seehund und ihren beiden Seehündchen. Ich erinnere mich an keine Worte mehr, sondern nur an langes Schweigen, an Gerüche und an das Kitzeln seiner haarigen Arme, die uns umfingen;und ich erinnere mich vor allem an die Gefühle, die uns unser gleichmäßig-rhythmisches Atmen als einen einzigen Körper erleben ließen.
Die westliche Denkweise hat sich auf Distanz gehalten zu dieser beunruhigenden Dimension des Lebens und damit dem Wunsch des Logos nach Ordnung nachgegeben.
Diese Momente waren das erste Kapitel meiner éducationsentimentale: meine erste Begegnung mit dem Lebensgefühl, das wir weiblich nennen. Im engen Kontakt mit dem kräftigenKörper meines Vaters habe ich gelernt, die Stimme dieses Lebensgefühls zu erkennen und sie in meinemMädchenkörper erklingen zu lassen. Erst später habe ich begriffen, dass ich in diesen Momenten dem Weiblichen begegnet bin, ohne diesen Begriff zu kennen. Ich habe es in seiner Reinheit, seiner Vollständigkeit und seiner Wahrhaftigkeit erlebt. Ich war noch nicht ein Jahr alt, als mein Vater es auf sich nahm, mich auf seinen Schultern die 16
Ein anderes Geschenkunerwarteter Vitalitätist mir eines Tagesinder Standseilbahn, die zum Bahnhof von Lugano führt, zuteilgeworden. Ein lieber Freund, Professor für Theoretische Physik, den ich auf den Zug begleitete, knallte mir einen heftigen Kussauf die Lippen. Er war nicht in mich verliebt, nichts konnte unserer langen Freundschaft etwas anhaben, auch nicht seine Nüchternheit des Wissenschaftlers. Und wieder Überraschung und Verlegenheit auf dem Gesicht des von sich selbst übertölpelten Mannes. Für mich aber war es ein Geschenk:der Professor für Theoretische Physik, glücklicher Gefangener seiner Vernunft, schenkte mir das Aufblitzen einer anderenmöglichen Erzählung seines Lebens. Viele Männerhaben mir Hinweise gegeben zum engen Zusammenhang zwischen Vernunft und Empfinden;Männer, die die Stimme ihres Körpers, der gehört werden will, haben auftauchen lassen;die Stimme eines feinfühligen Körpers, in welchem das Lebenunverwandt seine Gedanken und Gefühle tanzt; Männer, die sich hingeben können,sei es auch nur in einer kleinen Geste.
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20 Kilometer Liebe, um mir die Autokrankheit zu ersparen.
steilen Kurven des Gotthardpasseshinunterzutragen (siehe Abbildungauf der Innenklappe).
Diese innigen Erlebnisse, diese kleinen Zeichen der täglichen Normalität waren außergewöhnliche Geschenke:eine Art Schrein der Intimität, der mir später erlaubte, bei den Männern, denen ich in meinem Leben begegnet bin, ein Aufflackern des Lebendig-Seins wahrzunehmen, das oft unerwartet auftrat und immer in einem Widerspruch zum Bild eines «richtigen Mannes»stand. Ein solches außergewöhnliches Geschenk wurde mir auch kurz vor dem letzten Weihnachtsfest zuteil, mitten im Lärm einer Autowerkstatt, die für die Festtage geschmückt war. Während die Mechaniker ausgelassen die Pneus meines Autos wechselten, schenkte mir der Werkstattchef, ohne jede Scham und seine Rolle ablegend, das verzweifelte Weinen und die Schwäche eines einsamen Mannes, in statusgemäßer Aufmachung mit Fliege. Gewiss wurde auch ihm als Kind eingetrichtert, dass ein «richtiger Mann»nicht weint, und schon gar nicht vor einer Frau. Und doch hat das weibliche Prinzip, das in jedem von uns steckt, alle kulturellenBarrieren durchbrochen. In dieser Explosion menschlicher Verletzlichkeit hat mir der von sich selbst verratene Mann die ganze Kraft seines verborgenen Antlitzes geschenkt, ohne es in Worte fassen zu können.
Aber dieses Aufflackern, welches auf bisher unbekannte Regungen des Lebens hinweist, geschieht meist unbewusst und ist oft unerwünscht. Es überrascht und verweist auf eine andere mögliche Welt, die irgendwo verborgeninuns existiert. Diese Gemütsbewegungen können Verlegenheit, sogar Scham auslösen, denn sie werden als unerwünschter und beunruhigender Störfall wahrgenommen, als Bedrohung durch etwas, das unsere Kultur verdrängt. Diese Zeichen auftauchen und geschehen zu lassen, wird oft als Schwäche verkannt, weil es nicht übereinstimmt mit dem, wie sich ein «wirklicher» Mannzubenehmen hat.
Die Tatsache, dass wir unser Verständnis der Welt und unsere Fähigkeit, in ihr zu leben, einer von den Gefühlen losgelösten Vernünftigkeit anvertrauen, hindert uns daran, die totale Kontrolle über unser Leben loszulassen.
Deswegen bleiben viele Männer immer noch unbewusst Gefangene kultureller Vorgaben,die die Triebfedernihrer Identität und ihres Handelns sind. Die Kraft der sozialen Normen, die uns von unserer Kultur ständig vorgegeben werden, ist so groß und beherrschend, dass sie uns ohne jeglichen Druck dazu bringt, das Bild von uns selbst, das sie uns vorhält, als naturgegeben zu betrachten und nicht zu hinterfragen.
Wenn wir unser Verständnis der Welt einem Verstand ohne fühlenden Körper überlassen, dann wird unser Körper nicht mehr gehört werden. Die Worte selbst tragen in sich die Spuren dieser Verdrängung des Körpers:Wenn eine Entscheidung uns nicht vernunftgemäß erscheint, dann nennen wir sie einen «Bauch-Entscheid». Das starke Bild einer Vernunft ohne Körper verortet das, was wir fühlen, «imBauch»und setzt es mit dem bedrohlichen Stigma der Gefühle und Leidenschaftengleich, die immer unter Kontrolle gehalten werden müssen. Eine auf rationale Überlegungenreduzierte Denkweise kann sich nicht auf die nicht messbare Dimension der Gefühle und Empfindungeneinlassen.
Die Krise des Mannes Trotz dieser uralten kulturellen Vermächtnisse erlauben heute neue Ansätze, Öffnungen zu erkennen, die helfen, über das eigene Menschsein nachzudenken und Nuancen außerhalb der symbolischenKäfigezuentdecken,indenen auch das männliche Verhalten gefangenist. Wir beginnen zu begreifen, dass aufgrund der biologischen Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern mächtige symbolische Konstruktionen im Laufe der Zeit die Kategorie männlich und die Kategorie weiblich erfunden und zementiert haben;mit anderen Worten, die kulturelle Darstellung der Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Dieser Weg der Bewusstwerdung, der die männliche Identität hinterfragt, ist vollerHindernisse, weil die Kraft der kulturellen Normen immer noch viele Männer daran hindert, dieses Andere,das in ihnen lebt, im eigenen Leben willkommen zu heißen. Und dies trotz der vielen Signale des Unbehagens.Inden Gedankengängen der letzten Jahrzehnte hat sich ein Gefühl der Orientierungslosigkeit verbreitet. Gleichzeitig mit der von den Frauen vorangetriebenen Neuorientierunghat auch der männliche Zugang zum Leben schließlich an Sichtbarkeit gewonnen:Mit vielen seiner Werte und Bedeutungen, die universeller Ausdruck der Menschheit sind, ist er aus seinem Versteck herausgekommen. Angesichts dieser Entlarvungfühlen jedoch viele Männer tiefes Unbehagen. Vorein paar Jahren hat der Schriftsteller Albert Leiss an einer Tagung zum Thema Frauenbewegungen bedeutsame Worte formuliert, die klarmachten, mit 18
welchem symbolischen Kraftakt die Frau auf die Seite geschoben wurde,weil sie als Hüterin des weiblichen Prinzips betrachtet wurde: Ich habe den Verdacht, dass die Autorität der Mutter (von einer Frau werden wir geboren), die Verdamnis des erotischen Instinktes (eine Frau begehren wir meistens), die Machtlosigkeit bei der Fortpflanzung (eine Frau entscheidet, ob wir Vater werden)Wahrheiten sind, die vom Mann als vernichtend empfunden werden. Wenn nicht, warum dann die vielen Jahrhunderte Anstrengungen, sie zu verdrängen, sie zu universellen Abstraktionen herabzusetzen oder mit Gewalt abzustreiten?3 Bewusstsein und gleichzeitig Orientierungslosigkeit;dies bringt in wenigen Worten Günter Grass in seinem Roman Der Butt von 1977 auf den Punkt: Dort antwortet der Butt auf die Frage, was ein Mann sei, sinngemäss, er sei ein Ort bedauernswerten Leidens, ein Geschenk des Himmels, ein Theater der Angst und Verzweiflung.
In einem kürzlich erschienenen Essay weist Ivan Jablonka, nach nochmaligem Aufrollender Geschichte des Patriarchats, auf die Dringlichkeit hin, mit welcher neue Formen der Männlichkeit erdacht und gefördert werden müssen, damit endlich das, was er «Gerechtigkeit der Geschlechter»nennt, entstehen kann. Gemäß Jablonka erscheint heute das traditionelle Männlichkeitsmodell, das durch tausendjährige Stereotypen gefestigt ist, als veraltet;und es erscheint dringend nötig, eine neue männliche Moral zu definieren. Denn heute brauchen wir Männer, die dem Patriarchat feindlich gesinnt sind, die nicht die Macht, sondern den Respekthochhalten.4
Auch wenn die Analyse von Jablonka eine eher juristische Sichtweise in eine fragwürdige Geschlechter-Logik bringt, beobachten wir bei ihm doch eine interessante Wendung zu einer Öffnung hin:«Es gibt viele Arten, ein Mann zu sein», schreibt Jablonka,«aus denen sich der Begriffder Männlichkeit zusammensetzt. Man kann sich einen Mann als Feministen vorstellen, aber auch als einen Mann, der die weibliche Seite in sich annimmt, ein Mann, der Gewalt und Frauenhass
Es sind nur ein paar Beispiele unter vielenanderen, herausgepflückt aus Dokumenten dieser Anfangszeit der Krise des Mannes. Viele Texte der zeitgenössischen Literatur sind Zeugen, dass das Selbstbild der Männer Risse bekommen hat.
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Neuere Arbeiten heben hervor, dass Männer und Frauen ihre gegenseitigen identitätsstiftenden Bilder überdenken müssen, im Bewusstsein, dass das Männerbild während zu langer Zeit als das allgemeingültigeBild des Menschseins galt.
Diese Orientierungslosigkeit zeigt sich auch in den Worten eines anderen Schriftstellers, Philippe Djian, der 1991 in Lent dehors sinngemäss schreibt, er habe lange Jahre gedacht, dass die Frau das absolute Geheimnis sei. Heute hingegen habe er, als Mann, Mühe zu begreifen, was es bedeute, ein Mann zu sein.
Diese Beispiele zeigen, wie heute unsere sich in einer Krise befindenden Identitäten kulturelle Widerstände hinter sich lassen und sich zu neuen Formen der Menschlichkeit hinbewegen,hin zum Zuhören, Verstehen und Ausdrücken anderer Sprachen des Lebens, mit denen wir endlich aus den Käfigen der Geschlechter entfliehen können. Das von den Frauen nicht gelebte Weibliche Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, dass der weibliche Zugang zum Leben für die Frauen früher einfacher war oder dass er sich heute für sie freier gestaltet. Von Anfang an haben wir betont:Das Weibliche ist nicht die Frau. Das Unbehagen an der Geschlechts-Identität betrifft nicht nur die Männer von heute. Auch für die Frauen hat es eine lange Geschichte:Oft haben sie die ihnen auferlegte Identifikation mit einem gering geschätzten weiblichen Prinzip konfliktreich erlebt;oft haben sie sich darin nicht erkennen können oder wollen.
ablehnt, ein Mann, der die Rollen,die ihm übergestülpt wurden, abstreift, ein Mann ohne Autoritätsgehabe und ohne Anmaßung, die ganze Menschheit zu verkörpern. Die neuen Männlichkeiten können das Männliche von seinem Überlegenheitskomplex befreien».5
All dies ist untrügliches Zeichendafür, dass das Prinzip des Weiblichen sich auch heute in den Frauen nicht durchsetzen kann. Das gilt selbst für diejenigen, die sich im Namen der eigenen Andersartigkeit weigern, sogenannte universale Werte anzuerkennen und dominierende gesellschaftliche Vorgaben nicht annehmen wollen. Tatsächlich gibteseine bedeutende und interessante feministische 20
Der zwanglose Umgang mit den Gefühlen, das Wahrnehmen der Emotionen, die Verbindung zur Natur, die Gabe der Gastfreundschaft und des Beschenkens sind mit dem Erleben der Frauen identifiziert und eingeschlossen worden in einen häuslichenund mütterlichen Rahmen. Mit diesen ans Weibliche gebundenen und in ihrem Wert nicht anerkanntenLebenserfahrungen konnten oder wollten viele Frauen nichts zu tun haben. Denn gerade durch die Identifikation mit diesem Weiblichen wurden ihre Minderwertigkeit und Unzulänglichkeit gerechtfertigt.Allerdings sind die Frauen nicht nur Opfer gewesen, sondern manchmal auch Komplizinnen der verschiedensten Formen der Abwertung des weiblichen Prinzips. Kapitel 4enthält einige eindrückliche Zeugnisse, wie Frauen selbst häufig die Stimme des Weiblichen verwandelt, erstickt, manchmal sogar verraten haben. Wegen dieser mühseligen Geschichte sind heute nicht einmal die Frauen in der Lage, das Leben in der Fülle zu leben,die sich in ihnen regt, wie sie sich auch in den Männern regt. Der Druck, sich den kulturellen Gegebenheiten anzupassen,die sich in den Jahrhunderten eingeschliffen haben, betrifft nicht nur die Männer. Auch die Frauen müssen sich oft wenig sinnvollen Regeln unterwerfen, gerade im beruflichen Leben, um anerkannt und geschätzt zu werden.