stilwerk Magazin | Living intensified | 02/2019

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STILWERK MAGAZIN AUSGABE 2 | 2019 € 5,50


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EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser, Living Intensified. So heißt unser neuer Claim. Warum? Die Sache ist die, wir müssen uns ändern. Alle und in jeder Hinsicht. Dinge, die wir gelernt haben und meinen zu wissen, werden morgen nicht mehr zutreffen oder tun es zum großen Teil schon heute nicht mehr. Unsere Erfahrung ist richtig – für uns. Aber sicherlich nicht mehr für unsere Kinder und nachfolgenden Generationen. Unser statisches Wissen macht uns oft eher naiv und blind für die immerwährende Veränderung. Daher müssen wir uns, unsere Gedanken und Erfahrungen immer wieder hinterfragen, denn die Dinge, die wir kennen und denen wir vertrauen, verschwinden schneller als Schnee in der Frühlingssonne. Insofern es noch Schnee in der Frühlingssonne gibt. Je mehr wir zu wissen glauben, desto mehr sind wir verwundbar. Je mehr wir uns auf unsere Erfahrung berufen, desto höher ist das Risiko zu versagen. Je weniger offen wir uns zeigen, desto betäubter sind wir. Aber: Je mehr Achtsamkeit und Aufmerksamkeit wir uns leisten und je mehr wir neu dazulernen, umso mehr verstehen wir und verändern uns, unsere Sichtweisen und unser Handeln. Je mehr wir uns verändern und verstehen, desto intensiver fühlen wir die Veränderung. Und je mehr wir fühlen, umso mehr leben wir. Also Living Intensified. Haben Sie viel Freude beim Erleben dieser Ausgabe unseres stilwerk Magazins.

Niculai Constantinescu

Ihr Alexander Garbe


INHALT

66 LIEBLINGSSTÜCKE 08 Ideen, die das Leben jetzt ganz intensiv schöner machen SONNENWENDE 10 Der Solar-Kiosk von Graft versorgt ärmere Länder mit Energie EIN BAD IM WALD Auf geht’s, Bäume umarmen! Das Immunsystem freut sich

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BITTE MERKEN: LUCY MARTENS Die Dokumentarfilmerin gibt Leuten eine Stimme, die man sonst nicht hört

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VON BLINDEN-UNIS UND DOSENÖFFNERN „Human Centered Design“ will für die Menschen da sein – auch für die mit Handicap

CAPTAIN FUTURE Future Candy-Gründer Nick Sohnemann über den Arbeitsplatz von morgen

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VON WEGEN, MATERIALERMÜDUNG! Von Algen bis Abfällen: Das Kollektiv Hyloh ist ständig auf der Suche nach guten Materialien

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PURE SOUL PRODUCTS Schön & gut: Nachhaltige Hingucker für Zuhause

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ZIEMLICH AUFGERÄUMT Der neue Luxus heißt: wenig besitzen. Warum das so ist und was eine Japanerin damit zu tun hat

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INSPIRING SPACES Im stilwerk wohnen? Kein Problem. Wir haben heute ein Hotel-Projekt von morgen in Szene gesetzt

66

GUTES KÖRPERGEFÜHL Weibliche Kurven als Designstoff? So gut kann Feminismus aussehen

86

LOCAL HEROES: BERLIN Andreas Murkudis und seine Concept-Stores – in denen man jetzt auch wohnen kann

88

LOCAL HEROES: DÜSSELDORF „Kit“ – warum die aufregendste Kunst hier unter der Erde stattfindet

90

LOCAL HEROES: HAMBURG „Fuck Yeah“ – ein Sexshop wie eine Kunstgalerie

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LOCAL HEROES: ROTTERDAM „Fenix Food Factory“ – ein Rotlichtviertel wird zum Foodie-Paradies

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BAZON BROCK Unser Kolumnist über die Intensivität des Weniger im Mehr

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CAN TOUCH THIS Mit seinem Sinnen-Design nahm Patrick Palčić im letzten Jahr am Lucky Strike Junior Designer Award teil.

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ZU HAUSE IN DER WELT Digitale Nomaden arbeiten da, wo wir Urlaub machen. 3 Kurzbesuche

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AUROVILLE 32 Was genau steckt eigentlich hinter der größten Kommune der Welt? ARCHITEKTUR-RECYCLING 34 Das aufregende zweite Leben von ausgedienten Flugterminals und Co. BEST OF BAUHAUS Drei gute Anlässe, einen Geburtstagstusch auszubringen

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BIN DANN MAL WEG Co-Working-Spaces machen mobil. Unter anderem fürs Arbeiten am Meer

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IMPRESSUM 96


EINFACH UND MUTIG

EIN AUTHENTISCHES FAHRERLEBNIS VERPACKT IN EINEM EINZIGARTIG MINIMALISTISCHEN DESIGN. Die Husqvarna VITPILEN 701 ist eine progressive Art und Weise den modernen Urban Lifestyle zu erleben. Gezeigte Fahrszenen bitte nicht nachahmen, immer Schutzkleidung tragen und die anwendbaren Bestimmungen der Straร enverkehrsordnung beachten! Die abgebildeten Fahrzeuge kรถnnen in einzelnen Details vom Serienmodell abweichen und zeigen teilweise Sonderausstattung gegen Mehrpreis.

Foto: R. Schedl

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Als freie Journalistin schreibt JUDITH JENNER über Design, Architektur, Reisen sowie kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen in ihrer Heimatstadt Berlin. Besonders interessieren sie die Menschen, die hinter innovativen Startups, neuen Produkten und Gebäuden stehen. Für uns hat sie mit HYLOH über die Materialien der Zukunft gesprochen.

NATALI MICHAELY ist zu je 50 Prozent Sizilianerin und Schleswig-Holsteinerin. Unsere Textchefin arbeitet als freie Autorin/Textchefin für u. a. „Couch“, „Gala“ und „B’eat“. Anders ist nicht nur die Schreibweise ihres Vornamens: Natali liebt französische Chansons und Sixties-Raritäten – mit Charts kann man sie jagen.

Wellnessangebote gibt es viele, aber der Wald ist einer des besten Therapeuten überhaupt, findet Journalistin STEPHANIE NEUBERT. Für die aktuelle Ausgabe hat sie in den Wäldern um Berlin das so genannte „Forest Bathing“ getestet und für gut befunden. Also rauf auf’s Rad und ab in den nächsten Wald!

ANDREA RICHTER hat als Autorin ein Faible für bewegte und bewegende Bilder – von Renaissance bis Popkultur, am liebsten schräg. Für das NDR Fernsehen und Deutschlandradio berichtet sie über politische Kunst und porträtiert mit Vorliebe Künstlerinnen. Für uns hat sie die Dokumentarfilmerin Lucy Martens getroffen.

ROLAND RÖDERMUND mag Füchse und wie man sieht Lakritzeis. Er ist freier Journalist und textet u. a. für „Barbara“, die Agentur loved und coschreibt gerade als Ghostwriter an einer Biografie. Am allerliebsten ist er draußen unterwegs und berichtet hinterher auf seinem Outdoor/Reise-Blog www.stadtlandflow.de darüber.

SILKE ROTH ist freie Journalistin aus Hamburg. Irgendwann tauschte die frühere Moderedakteurin ihre High Heels gegen ein Surfbrett ein. Heute schreibt sie für Magazine wie Gala und JWD. an den Stränden zwischen Portugal und Kalifornien. Für uns beschäftigte sie sich mit dem Phänomen des Aufräumens und interviewte Nick Sohnemann.

ANNIKA THOMÉ ist ein typischer Zwilling. Sie liebt ihr Normalo-Leben in Berlin. Aber für eine gute Story steigt sie auch gern mal ins Rhönrad. Oder in die Steigbügel. Dann fängt sie wie ein waschechter Gaucho irgendwo in Argentinien Rinder mit dem Lasso ein. Für unsere Strecke Recycled Architecture hat sie nochmal umgesattelt.

MANUEL ALMEIDA VERGARA ist Modekolumnist der „Frankfurter Rundschau“, freier Autor – und Mensch. Da freut er sich natürlich, wenn der Mensch im Fokus des Designprozesses steht. Für die aktuelle Ausgabe hat er aufgeschrieben, wie das Human Centered Design seine Adressaten effektiv und kompromisslos einbindet.

AUTOR/INNEN

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Verena Berg

BAZON BROCK bezeichnet sich selbst als Denker im Dienst und Künstler ohne Werk. Er ist emeritierter Professor am Lehrstuhl für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal. Seit 2011 betreibt er die „Denkerei/Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maßnahmen der hohen Hand“ mit Sitz in Berlin.

Dirk Dunkelberg

ANDREA BIERLE, die u. a. für den ZEIT-Verlag arbeitet, erlebte besonders intensive Momente bei der Besteigung des Kilimandscharos. Um sich lebendig zu fühlen, muss die freie Journalistin allerdings nicht an ihre körperlichen Grenzen kommen– manchmal reicht dafür schon ein bisschen Sonne im Gesicht.


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NEUE LIEBLINGE von stilwerk intensiv empfohlen.

SCHON MAL WAS VON PUNK-BEAUTY GEHÖRT? Merken Sie sich: Terrorists of Beauty. Ihre Allround-Talente sind Blockseifen. Das junge Hamburger Label bricht mit den Gesetzen der Schönheitsindustrie: Durch radikal natürliche Rezepturen ersetzt man Shampoo, Gesichtsreiniger und Duschgel. Vier Varianten alle plastik- und palmölfrei, bio-zertifiziert, vegan, unisex und handmade in Germany. So geht Eco-Avantgarde im Badezimmer. terroristsofbeauty.com

WIE MAGIE IM ZIMMER An- oder ausgeknipst? Das spielt bei der Leuchte „Dipping Light“ von Marset wirklich keine Rolle. Für den Verlauf-Effekt taucht Designer Jordi Canudas seine Kristallkugel abgestuft in Farbe und setzt sie dann auf einen Messingsockel. Ab einem Durchmesser von 12,5 cm und einer Höhe von 22,2 cm erhältlich. marset.com

GEIG‘ MIR NICHTS VOR, BRUDER! Im Schatten ihres großen Bruders, Star-Geiger David Garrett, muss Elena Bongartz alias Ada Brodie nicht stehen. Die Hamburgerin legt mit ihrem dritten Album „The Grand Tale“ ein Werk hin das wunderbar rund, unabhängig und jazzig klingt. Live aufgenommen in den legendären Boogie Park Studios in Hamburg-Ottensen, wo schon Udo Lindenberg Rotweinflecken am Flügel ließ. adabrodie.com

ORDNUNGSHÜTER

FIRST CLASS MINIBAR

Nie mehr Lärm und Chaos im Büro! Begrenzungselement „Paravan“ von Arper gliedert offene Räume herrlich architektonisch. Die einzelnen Elemente sind dazu lärmabsorbierend. Für die Ordnung im Kleinen gibt es „Paravan Mood“: Organizer, White Boards, Ablagen, Tischtrennwände und Zeitschriftenhalter, minimalistisch und genial. arper.com

Seit 2006 möbeln die jungen Kölner Tüftler von bordbar gebrauchte Servierwagen aus Flugzeugen in aufwendiger Handarbeit auf. So entstehen Möbeltrolleys für Garten, Pool oder eben überall dort, wo man kühle Getränke haben möchte. Der Trolley mit cooler kommt mit Glastür und hat Platz für 18 Liter ohne ratternde Geräusche. bordbar.de


BLÜHT JEDE SAISON

SAUBERER BEGLEITER LIVING INTENSIFIED _________ 9

Mit Dr. Bronner’s chemielosem „BioLavendel Hand-Hygienespray“ in der Tasche bleiben Hände frei von Bakterien und Viren, wenn kein fließendes Wasser in der Nähe ist. Es hinterlässt keine Rückstände, pflegt die Haut und sorgt für einen angenehmen Duft. Aus fairem Handel und mit 100 Prozent recycelter Plastikflasche. drbronner.de

Vase „Halle“ hatte sich Anfang der Dreißigerjahre Keramikerin Marguerite Friedlaender ausgedacht. Der Korpus ist von der Form des Kreises abgeleitet. Das Urmodell schmücken nun geometrische Streifen in den Bauhaus-Grundfarben Blau, Gelb, Rot und Schwarz. Alles handbemalt und auch schön ohne Blumen. In drei Größen, auf jeweils 100 Stück limitiert. kpm-berlin.com

SAME SAME BUT DIFFERENT Pulverbeschichteter Rundstahl, das Ganze per Hand gebogen, damit arbeiten die Hamburger Lokalhelden Victor Foxtrot. Ihre Leuchtenund Möbeldesigns wirken fragil und sind trotzdem stabil. Tisch „Same Same“ wurde aus zwei identischen Teilen zusammengeschraubt. Die außergewöhnliche Platte ist aus poliertem Nero Marinace-Granit und unempfindlich. victorfoxtrot.de

MACHT GUTE LAUNE

CRÈME DE LA CRÈME Man fragt sich ja bei solch feinen Drops, warum Bonbons aus der Mode gekommen sind und im Regal stiefkindlich behandelt werden. Dabei steckt mindestens soviel Liebe und Handwerk drin wie in Pralinen. Bestes Beispiel ist die „Caramel Range“ von Cavendish & Harvey. In drei Sorten erhältlich, gefüllt mit feinstem Karamell, dazu dunkle belgische Schokolade und aromatischer Arabica-Kaffee. shop.cavendish-harvey.de

Dürfen wir vorstellen: „Dita“ und „Olivia“ von Pulpo. Zwei Tischspiegel, welche die Dinge einfach mal bunt sehen. Erhältlich in sieben Farbtönen von Kobaltblau bis Limonengelb. Egal, welche Laune Sie haben, öfter mal reinschauen macht glücklich. Designt von Davide Monopoli mit Fuß aus schwarzem Echtstein. pulpoproducts.com

WOLLE WIE COUTURE Man nehme: Eleganz, Neugierde, jahrelange Expertise und einen Hauch Extravaganz. Heraus kommen dann spannende KaschmirKreationen, die selbst im Sommer zu Lieblingsteilen werden. Genau diese kreiert Iris von Arnim seit 40 Jahren. Die Hanseatin steht für Handwerk und vor allem Persönlichkeit. Alles Eigenschaften, die auch in ihren Kollektionen fest verankert sind. irisvonarnim.com


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KRAFT DER SONNE Wie in der Savanne Afrikas ein modernes Kiosk-Konzept mit Solarenergie funktioniert.

Text: Foto:

Silke Andreas

Man schätzt Design für seine Ästhetik, seine Cleverness und Funktionalität. Aber kann der Anspruch daran auch sozial sein? Aktuell zeigt die Ausstellung „Social Design“ (noch bis 27. Oktober, mkg-hamburg.de) hierzu die spannendsten Projekte von renommierten Kreativen, darunter auch die Arbeiten des deutschen Architekturbüros Graft. Mit einem Kiosk für Solarenergie ist Graft seit 2012 in Produktion und mittlerweile an 230 Standorten vertreten – ausgehend von der Tatsache, das weltweit rund 1,5 Milliarden Menschen in Gegenden ohne Strom leben. Allein in Afrika sind es über 800 Millionen. Die Design-Hilfe der Berliner ist so einfach wie genial: ein Spätkauf für Energie. Der Kiosk leistet rund um die Uhr kleine Dienstleistungen wie das Aufladen von Mobiltelefonen, einen verlässlichen Internetzugang oder sogar die Übertragung von Fußballspielen. Nebenbei werden bezahlbare

Roth Spiess

Medikamente, kalte Getränke und Solarlampen verkauft. In nur fünf Sonnenstunden hat sich die Konstruktion selbst aufgeladen und kann bis zu drei Tage am Stück genutzt werden. Natürlich ist diese Energie unabhängig vom Stromnetz und wird mit Sonnenkollektoren, Transformatoren und guten Batterien generiert. Jede Kilowattstunde, die im „Solarkiosk“ produziert wird, ersetzt die Verbrennung von Kerosin, Kerzen und fossilen Brennstoffen, die CO2-Emissionen produzieren. Nachhaltigkeit steht auch beim Grundgerüst im Vordergrund: ein Bausatz, dessen Teile aus recycelten Materialien und lokalen Ressourcen wie Bambus, Holz, Lehm und Stein bestehen. Lediglich die elektrischen Details werden in Deutschland gefertigt, um die Qualität zu garantieren. Gutes Design, das auch noch Gutes tut, darf eben kein Privileg für Wohlstandsstaaten sein. 


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Besuchen Sie im September unsere Ausstellung im stilwerk Hamburg


HALLO, DR. WALD In Japan gehört Shirin Yoku – zu Deutsch: heilsames Waldbaden – offiziell zur Gesundheitsvorsorge für gestresste Großstädter.

Filip

Stephanie Zrnzevic,

Die medizinische Wirkung von Kiefer und Co. auf Körper und Geist wird in Japan seit Jahrzehnten erforscht. Studien ergaben: Schon nach einer Stunde zwischen grünen Riesen und Vogelgezwitscher sinken nicht nur die Stresshormone im Körper, sondern auch Blutdruck und Pulsfrequenz. Wir werden ruhiger und entspannter, fühlen uns erfrischt und emotional stabiler. Darüber hinaus hat Waldbaden einen positiven Einfluss auf Schlaf und Immunsystem. Doch worin unterscheidet es sich von einem normalen Spaziergang? Es geht darum, den Wald und sich selbst zu spüren – mit allen Sinnen, langsam und ohne konkretes Ziel. Die Schuhe ausziehen und den Boden spüren, die Augen schließen, der Umgebung lauschen, tief durchatmen. Diese für unsere Zufriedenheit so wichtige Verbindung mit der Natur ist uns schon lange verloren

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Neubert unsplash

gegangen. Heute verbringen wir 90 Prozent unserer Lebenszeit in Gebäuden, in immer größer werdenden Städten. Hinzu kommt, dass wir mit einem noch nie dagewesenen Tempo dauerhaft reizüberflutet durchs Leben hetzen und unserem Gehirn keine Pausen gönnen. Im Wald legen wir unsere Rollen ab und können wieder wir selbst sein. Seit einiger Zeit ist der Trend auch in Deutschland angekommen, etwa im Kur- und Heilwald auf Usedom. Hier lernen Gäste, wie sie mit körperlichen oder meditativen Übungen den Wald als Therapiezentrum nutzen. Experten empfehlen dazu, die Natur grundsätzlich mehr in den Alltag zu integrieren. Also statt sich mittags teilnahmslos vor dem Computer ein Sandwich reinzuschieben, lieber raus in den Park gehen. Nur eine halbe Stunde am Tag kann die Selbstheilungskräfte enorm motivieren! 

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Text: Foto:


foto: Gregor titze

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UNTERWEGS IN ANDEREN WELTEN


Sie reist in Kriegsgebiete oder dreht in Flüchtlingslagern, um denen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Im neuen Werk der Deutschen Filmemacherin Lucy Martens geht es weitaus friedlicher zu: 12 Anführer indigener Stämme erzählen, warum wir unsere Welt anders schätzen lernen sollten. Ein Treffen mit einer Frau, die verdient, gehört und gesehen zu werden.

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Text: Fotos:

Andrea Tinko

Im siebten Stock des stilwerk Designcenters ist eine große Leinwand aufgebaut, erwartungsvolle Blicke richten sich auf die blonde Frau davor. Sie trägt legere Jeans, darüber ein schlichtes weißes Hemd, am Handgelenk silberne Armbänder. Das lange Haar umrahmt ihren strahlenden Blick. Sie lächelt, als sie das Publikum auffordert, den nachfolgenden Film mit dem Herzen zu sehen. Als Meditation. Einer der Zuschauer runzelt die Stirn. Lucy Martens hat für ihre Dokumentation „The Twelve“ zwölf Länder bereist, um dort die Ältesten indigener Stämme nach dem Zustand unserer Erde zu befragen. Die Antworten, die sie von den „zwölf Weisen“ bekam, sind wenig überraschend, auch wenn wir sie vielleicht anders formulieren würden. Dass unsere Mutter Erde krank sei, dass sie leide unter unserer Gier, unserem Drang, die Natur immer weiter auszubeuten und damit in nächster Zukunft völlig zu zerstören. Der Film zeigt eindringliche Szenen von unberührter Natur, von Menschen mit bemalten Gesichtern und Federn am Ohr, von lachenden Kindern fernab von Smartphone und Playstation. Ein quasi-paradiesischer Zustand, der umso stärker wirkt, als er mit nur wenigen Bildern von vermüllten städtischen Brachen irgendwo in Südamerika kontrastiert wird. Ihr Werk sei durch Crowdfunding finanziert worden, erzählt die Dokumentarfilmerin, die „The Twelve“ im Rahmen einer Pre-ShowTour bekannt machen will. Einen Verleih wird der Film nicht bekommen. Die in London lebende Filmemacherin hofft, dass die Botschaft der Indigenen so möglichst viele Menschen erreicht. Der irritierte Zuschauer von eben guckt nun gebannt auf die Leinwand, als die Kamera, verstärkt von eindringlichen Klaviertönen und Geigen, die zwölf Weisen nach New York begleitet. 2017 zelebrierten sie im Gebäude der Vereinten Nationen, weitestgehend unbemerkt vom politischen Tagesgeschäft, ein Ritual, das durch Gesänge, Tänze und dem Verbrennen von Räucherwerk unsere Erde heilen soll. „The Twelve“ überrascht angesichts der Filmografie von Lucy Martens. Die 39-Jährige wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet für ihre intensiven Reportagen. Etwa „Women, War &

Richter Czetwertynski

Peace“, eine eisenharte, hochpolitische Arbeit über die Gewalt, der Frauen in bewaffneten Konflikten ausgesetzt sind. Oder die BBC-Dokumentation „Out of the Ashes“ über das afghanische Cricket-Team, das aus den Flüchtlingslagern zur Weltmeisterschaft reist. Ein Film, der auf eine sehr realitätsnahe und gleichzeitig humorige Art Menschen zeigt, die versuchen, nach Jahren des Krieges zu einer Art Normalität zurückzufinden. In vielen ihrer Werke geht es um Brutalität und Gewalt, um bewaffnete Konflikte, Hunger und Tod. Die Entscheidung, Dokumentationen zu drehen habe sie getroffen, nachdem sie eine Reportage über die chinesischen Sterbezimmer gesehen hatte, erzählt Martens. Damals sei sie gerade 18 gewesen, kurz nach dem Abitur in Hamburg. Nach dem Film-Studium in London und drei Jahren in Dubai reiste sie für eine Arbeit über Friedensaktivisten nach Palästina, es folgten Produktionen für PBS in den USA, die BBC und Organisationen in Somalia oder Syrien. „The Twelve“ scheint eine radikale Abkehr von den grausamen Bildern der Krisenregionen zu sein, ein visueller Gegenentwurf zu unserer perspektivlosen Selbstzerstörung. Doch der Film betört nicht nur durch wunderschöne Bilder, er schürt auch die leise Hoffnung, es könne doch noch einen Ausweg aus der menschengemachten Katastrophe geben. Tief beeindruckt sei sie von der Spiritualität der Indigenen gewesen, berichtet die Filmemacherin, die Arbeit habe sie stark verändert, sie selbst sei dadurch offener geworden für die Natur und die Dinge jenseits von Himmel und Erde. Doch nicht jeder sei so empfänglich für spirituelle Ideen wie etwa die Kalifornier, erzählt sie. In Hamburg fragt ein jüngerer Mann im T-Shirt zaghaft, ob wir es uns nicht zu einfach machen würden, wenn wir glaubten, dass zwölf Naturvolk-Leader unseren Planeten retten könnten? Und eine ältere Dame erkundigt sich besorgt, ob die Medizinmänner und -frauen denn wenigstens Nachfolger hätten – sie seien ja alle schon etwas älter? Lucy Martens lächelt. Der Film, sagt sie, sei eine Aufforderung, bei sich selbst anzufangen und dadurch mitzuwirken an der Veränderung.


Beauty-Treatment der etwas anderen Art: Für ihre Arbeit lebte Lucy Martens zwei Monate lang bei indigenen Völkern

Ängste und Unsicherheiten kennt die 39-Jährige durchaus. „Aber eher im Privaten, niemals auf meinen Reisen“

„The Twelve“ ist ein eher leiser Film. Aber er hat eine große Intensität, nicht zuletzt, weil er uns die Intensität eines Lebens mit der Natur aufzeigt. Was bedeutet dir die Natur? Ich habe erst durch meine Arbeit wirklich verstanden, wie sehr wir mit der Natur verbunden sind und dass wir sie schützen müssen. Früher war Natur immer ein bisschen schwierig für mich – in der Stadt kann man sich ja sehr gut ablenken. Heute finde ich Ruhe in ihr.

war das Licht im Auto kaputt und sie haben nur mein Portemonnaie und meinen Pass mitgenommen. Nachdem sie verschwunden waren, wollten wir schnell weg, aber das Auto ist liegen geblieben, und wir mussten zu Fuß weiter. Das war ein Schock. Ich habe in der Situation eigentlich nur abgeschaltet und mir gesagt, wir müssen da jetzt durch. Ein Bus mit einer Gruppe afghanischer Männer hat uns nach Kabul gebracht. Die deutsche Botschaft dort war nicht sehr hilfreich, weil ich kein Arbeitsvisum hatte. In dem Moment wollte ich nur noch zurück, aber später bin ich wieder hingefahren.

Du hast für eine Doku zwei Jahre mit Indigenen zusammengelebt. Wie war das? Wir waren bei den Lakota in South Dakota. Es ging um einen Medizinmann, der vor seinem Tod sein Wissen noch an die nächste Generation weitergeben wollte. Allerdings war er Alkoholiker und drogenabhängig und alle seine Kinder auch. Er hat etwa versucht, ihnen die Funktion der Schwitzhütte und bestimmte Lieder zu erklären. Und er wollte sie eigentlich noch auf einen Vision Quest schicken; das ist, wenn man bis zu vier Tage allein auf einem Berg sitzt und Visionen bekommt. Doch der Krebs war schneller. Der Film hieß „The Sacred and the Profane“, weil der Medizinmann auch diese profane Seite hatte – er war spirituell, aber aggressiv. Ein schwieriges Thema und auch sehr traurig. Ich wollte zeigen, dass den Indigenen nichts

bleibt außer Alkohol, wenn man ihnen ihr Land wegnimmt und ihre Tradition. Das ist eine leise Form von Genozid. Du hast viele Filme in Krisenregionen gedreht, Afrika, Naher Osten, Afghanistan. Was zieht dich dort hin? Ich dachte, wenn ich Geschichten von dort erzähle, kann ich Brücken bauen und auf Konflikte und Ungerechtigkeiten in diesen Ländern aufmerksam machen. Ich wollte dort hin, um zu verstehen, was es bedeutet, in einem Kriegsgebiet zu leben. Gerade Afghanistan war wie auf dem Mond landen. Es war so weit weg damals, weil es kaum Internet gab. Insofern war es wie eine Befreiung – ganz weit weg zu sein von dem, was man kennt. Zu spüren, wieviel herzlicher und gastfreundlicher die Menschen dort sind und wie sehr die Familie geschätzt wird, fand ich berührend. Die Nachrichten sind immer sehr einseitig. Dokumentarfilme können Geschichten erzählen über Menschen, deren Stimme man nicht so oft hört. Was war die gefährlichste Situation, in der du je bei den Drehs warst? Als ich das erste Mal in Afghanistan war, wurden wir überfallen. Wir waren zu spät losgefahren und es dunkelte schon, als von allen Seiten bewaffnete Männer auftauchten. Zum Glück

Du wirkst sehr stark. Bist du jemand, der immer auf volles Risiko geht? Ja, ich mag Herausforderungen und gehe auch oft Risiken ein. Ich habe immer das Gefühl, das schon alles gut gehen wird. In London fahre ich meist ohne Helm und ohne Licht – ziemlich bescheuert. Und natürlich habe ich auch Ängste oder Unsicherheiten, die wir alle haben. Nur wenn es ums Reisen geht, habe ich wenig Angst. Du bist für deine Filme oft wochenlang im Ausland. Wie sieht dein Zuhause aus? Das verändert sich immer wieder. Zurzeit lebe ich in London bei einer Familie, die mich aufgenommen hat. Ich brauche


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Gut geerdet: Um sich zuhause zu fühlen, braucht die Filmemacherin nicht viel. Am wichtigsten: nette Leute um sich herum

Mit Kindern verbindet Lucy Martens die Neugier auf alles, was neu und unbekannt ist

nur ein Zimmer, wo ich die Tür zumachen und meine Ruhe haben kann. Und nette Menschen um mich herum. Für mich ist zu Hause, wo Freunde sind und wo ich gerade bin. Ich glaube, solange man keinen Lebenspartner oder Kinder hat, ist alles im Transit.

allmählich daran, dass ich nicht überall mitmachen kann. Verzicht kann auch etwas Positives haben.

Gibt es Dinge, die dich immer begleiten? Ich habe eine Playlist, die mich irgendwie erdet. Und immer etwas Smartes dabei für besondere Anlässe, eine Kette oder ein Kleidchen, das ich ins Gepäck stopfe. Aber eigentlich hänge ich nicht so sehr an Sachen, weil ich immer wahnsinnig viel verliere. Wie wichtig sind dir Besitz und Geld? Geld ist mir schon wichtig, weil es Freiheit bedeutet. Zurzeit arbeite ich mit der Le Ciel Foundation zusammen. Da wir eine ziemlich neue Organisation sind, müssen wir Fundraising betreiben. Wir haben uns jetzt zweieinhalb Jahre kein Gehalt ausgezahlt, arbeiten alle Fulltime und machen nebenher Jobs, um zu überleben. Das war zeitweise sehr hart, aber auch eine interessante Erfahrung: total pleite zu sein und nachdenken zu müsen, was man wirklich braucht. Man lernt, Geld anders zu schätzen. Dok-Film ist ja auch kein Job, mit dem du reich wirst. Aber ich brauche nun einmal Geld, um mobil zu sein. Doch ich gewöhne mich

Dein Film ist auch Kapitalismuskritik. Glaubst du, dass es eine Form von Konsum gibt, die uns weiterbringt, statt die Erde zu zerstören? Ich glaube, das Geld und Konsum nichts Schlechtes sind, wenn man bewusst konsumiert. Das Problem mit dem Kapitalismus ist, dass Leute, die Geld haben, immer mehr anhäufen, und andere gehen leer aus. Geld muss im Fluss sein. Ich glaube dass Bewusstseinserweiterung das Wichtigste ist. Weil man dann auch sein Umfeld anders sieht und vielleicht anfängt, sein Konsumverhalten zu ändern und zu merken, dass man keine 14 Handtaschen braucht. Das A und O ist, dass wir bei uns selbst anfangen. Hast du Ziele für dein Leben? Ich möchte irgendwann bei mir angekommen sein, so weit, dass ich sagen kann, es ist ok, wer ich bin. Dann ist eh alles gut. Und ich möchte weiter an Projekten arbeiten, die etwas bewirken. Ich habe mittlerweile so viel gesehen, dass ich merke, es muss nicht immer die Reise nach außen sein; die Reise nach innen ist auch total spannend und wichtig. 


DOSENÖFFNER FÜR ALLE


Der Mensch im Zentrum jedes Entwurfs  – das sollte eigentlich Gestaltungsprämisse sein. Der Alltag aber ist voll von Gegenständen, die schlicht daran vorbei entworfen wurden. Es sei denn, sie entstanden mithilfe des Human Centered Designs. Über ein Designprinzip, das auch Menschen mit Handicap das Leben erleichtert.

Text: Fotos:

Anice

LIVING INTENSIFIED _________ 19 Links Drinnen und draußen: Einem umfassenden Handbuch folgend werden alle Renovierungsarbeiten an der Gallaudet University durchgeführt Oben Drunter und Drüber: Klare Linien und starke Farben führen die Studierenden intuitiv durch das Gebäude Rechts Form und Förmlichkeit: Organische Linien bestimmen das Interieur

Manuel Hoachlander,

Almeida Hoachlander

Davis

Vergara Fotography

Eigentlich ist das ja gar nicht so schwer. „If it Needs a Sign, it’s Probably Bad Design“, steht hübsch gereimt auf der Webseite von Donald Norman – „wenn es ein Hinweisschild braucht, ist es vermutlich schlechtes Design.“ Norman ist emeritierter Professor für Kognitionswissenschaften an der University of California und Professor für Informatik an der Northwestern University. Er schreibt Bücher, Essays und Kritiken zu gutem, genauso gern aber auch zu schlechtem Design. Und er hat schlicht keine Lust mehr, sich von unglücklich gestalteten Gegenständen den Tag verderben zu lassen. Ziehen sie hier, drücken sie dort, hier auf-, dort zuschrauben… – und trotzdem dreht und wendet der Nutzer immer wieder in die falsche Richtung. „Woher kommen meine Probleme mit Türen, Lichtschaltern und Wasserhähnen?“, fragte sich Donald Norman einst. „Während wir uns alle selbst die Schuld geben, bleibt die eigentliche Ursache – schlechtes Design – verborgen.“ Für ihn liegt der Schlüssel im Entwurfsprozess. Die Lösung: „Human Centered Design“ (HCD). Human Centered Design als eigener Terminus – das hört sich erstmal absurd an. Eben weil es so redundant klingt. Unsere Bedürfnisse ins Zentrum jedes Entwurfs zu stellen, sollte Gestaltungsprämisse sein. Der Alltag aber ist voll von Türen, die sich nicht öffnen lassen, Licht, das nicht angeht, Wasser, das zu heiß ist. Die kleinen Ärgernisse des Alltags mögen verkraftbar sein – Beispiele für gute Planung sind sie aber nicht. Als Gegenprogramm ist Human Centered Design also in erster Linie nutzerorientierte Gestaltung. Als komplexes System knüpft es das Design an Solzialwissenschaften und Kulturtheorie. Einen wirklichen Konsens gibt es in der Branche nicht, in der Praxis wird HCD allerdings meist in die fünf Arbeitsschritte „Empathize“, „Define“, „Ideate“, „Prototype“ und „Test“ gegliedert. Forschungsmethoden, um tatsächliche Nutzerbedürfnisse zu identifizieren, sind genauso Teil des Entwurfsprozesses wie die kulturwissenschaftliche Reflexion. Das hört sich erstmal schwer nach Dieter Rams an. „Gestaltung ist Denkarbeit“, sagte der legendäre Industriedesigner einmal. Nur dass HCD eben nicht allein auf die Gedankenwelt des Gestalters vertraut, die Ideen von Designer oder Architekt sind diesem System lange nicht genug. Es geht vielmehr um partizipative Gestaltung, die sich über sämtliche Disziplinen hinweg skalieren lässt. Der Mensch als Adressat – sei es als Nutzer eines Dosenöffners oder als Bewohner eines neuen Stadtviertels – wird in den Gestaltungsprozess konsequent einbezogen. Besonders interessant wird diese Facette gerade dann, wenn die Bedürfnisse vielschichtig und anspruchsvoll sind. Lange bevor Human Centered Design als Schlagwort in Architekturbüros und Designstudios die Runde machte, wendete Seiichi Miyake das Prinzip der direkten


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„Dabei wird Taubheit nicht als Behinderung begriffen – sondern als eine Kultur der vier anderen Sinne.“

Einbeziehung an. Akribisch studierte der Japaner Eigenschaften und Bedürfnisse eines blinden Freundes, bevor er 1965 sein Blindenleitsystem erfand. Nur zwei Jahre nach der Entwicklung wurde eine ganze Blindenschule in Okayama mit Miyakes Leitsystem ausgestattet, heute finden sich die Noppen und Rillen, die Menschen mit beeinträchtigter Sehkraft den Weg weisen, auf Bahnhöfen und in öffentlichen Gebäuden auf der ganzen Welt. HCD ist also letztlich ein Zugeständnis an die Vielfalt der Menschen. Eben weil es durch den Fokus auf verschiedene Lebensrealitäten die Individualität zum Ideal erhebt. Nach dem System des Human Centered Designs etwa wurden auch umfassende Renovierungsarbeiten an der Gallaudet University in Washington durchgeführt. Gaullaudet ist seit ihrer Gründung 1857 die einzige Universität, die sich ganzheitlich an gehörlose und gehörgeschädigte Studierende richtet. Bei vielen von ihnen kommen Probleme mit dem Sehen, der Mobilität oder der Bewegungsfähigkeit hinzu. Zur Erarbeitung neuer Raumkonzepte gründete Hansel Bauman 2006 das „DeafSpace Project“. Gemeinsam mit einer möglichst diversen Gruppe Studierender entwickelte der Campus-Architekt Richtlinien, die „sozialräumliche Muster gehörloser Erfahrungswelten

entschlüsseln“, wie er es etwas sperrig umschreibt. Entstanden ist letztlich ein Handbuch, nach dem alle weiteren baulichen Veränderungen und Erweiterungen an der Schule erarbeitet und umgesetzt werden. Lichtkonzepte und Bodenmaterialien, über die via Vibration mit den Studierenden kommuniziert werden kann, sind genauso Teil des renovierten Studentenwohnheims wie harte Oberflächen, die Echos stärker zurückwerfen und so sehbeeinträchtigten Studierenden die Orientierung erleichtern. Gut gestaltete Rampen für Rollstuhlfahrer sind ohnehin in jedem Gebäude der Universität Standard, starke farbliche Kontraste und klare Raumkonzepte sollen alle Studierenden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter intuitiv durch die Gebäude führen. Die Einzigartigkeit des Menschen versteht Architekt Bauman denn auch nicht als Herausforderung, sondern als Chance, wenn er sagt: „Hörgeschädigte stellen die Idee eines universellen Designs infrage – und antworten mit einem radikal inklusiven Gestaltungsprozess.“ Noch so ein sperriger Satz. Dabei geht es doch viel einfacher: „Gutes Design ist im Grunde viel schwerer zu erkennen als schlechtes Design“, sagte Donald Norman einmal. „Eben weil gutes Design unseren Bedürfnissen so sehr entspricht, dass es unsichtbar wird.“


Linke Seite Hören und Handeln: Harte Oberflächen werfen Echos stärker zurück und erleichtern Hörgeschädigten so die Orientierung Leben und Lernen: Einige Vorlesungsräume und das Studentenwohnheim folgen dem Human Centered Design

AUCH DER PREISGEKRÖNTE AMERIKANISCHE ARCHITEKT UND DESIGNER TODD RAY FOLGT DEN GRUNDSÄTZEN DES HCD Herr Ray, warum braucht es den Terminus „Human Centered Design?“ Eigentlich geht es bei der Gestaltung doch immer um den Menschen. Das sollte es zumindest. Aber Menschen sind eben nicht gleich, und Human Centered Design ist ein Aufruf an alle Designer, sich dieser Realität zu stellen.

um etwa taubstummen Menschen eine sichere Kommunikation mittels der Zeichensprache zu garantieren, ohne dass sie etwa von hartem Licht geblendet werden. Oder wir beziehen Echos ein, die bestimmte Materialien und Proportionen verstärken oder schwächen können, um blinden Menschen die Orientierung im Raum zu erleichtern.

Wie stellen sie sich als Architekt denn selbst dieser Vielfalt, wenn sie neue Projekte angehen? Quantitativ geht es in einer ersten Phase darum, die Grundbedürfnisse und Wünsche der künftigen Nutzer klar zu erfassen. Qualitativ wollen wir immer eine sensorisch reichhaltige Architektur entwickeln – visuell, auditiv, haptisch, olfaktorisch, nach Möglichkeit sogar gustatorisch. Verschiedene Geschmäcker und Eigenschaften unserer Klienten dafür einzubeziehen, ist die Basis für all unser entwerferisches Handeln. Primäres Ziel unserer Architekturen ist, möglichst vielen Menschen die Navigation, das Verstehen und die Zugänglichkeit zu den Räumen zu erleichtern. Das kann bedeuten, dass wir mit viel warmem Tageslicht arbeiten,

Ähnlich werden auch die Renovierungsarbeiten an der Gallaudet University durchgeführt, an denen sie als Architekt beteiligt sind. Das ist ein gutes Beispiel für erfolgreiches Human Centered Design, weil sich die Arbeiten speziell an den besonderen Bedürfnissen gehörloser oder gehörgeschädigter Studierender orientieren. Dabei wird Taubheit nicht als Behinderung begriffen – sondern als eine Kultur der vier anderen Sinne. Das hört sich nach richtigem Denksport an. Laufen sie bei so viel Theorie nicht Gefahr, das zu vernachlässigen, was für gutes Design unabdingbar ist? Sie meinen sicher die Attraktivität

der Räume oder Produkte. Es ginge wohl zu weit, hier über die Frage zu sprechen, was Schönheit eigentlich ist. Fest steht aber, dass sich das Konzept der Schönheit historisch betrachtet in Korrespondenz mit Philosophie, Technologie und Wirtschaft ohnehin immer wieder verändert hat. Ich glaube, dass Schönheit gerade heute kein exklusives Ideal mehr ist oder sich allein über Oberfläche und Form definiert. Beim Human Centered Design geht es also eher um den Inhalt, um den Entstehungsprozess – und nicht nur um das hübsch gestaltete Produkt. Richtig. Die Welt ist doch voll von Gebäuden und Dingen, die einfach nicht funktionieren. Vom Schulgebäude bis zum Pizzaschneider. Das mögen alles schöne Sachen sein. Aber ich finde es richtig ärgerlich, wie oft Gestalter von den Nutzern erwarten, sich ihren Ideen anzupassen – statt sich umgekehrt intensiv mit den Nutzern auseinanderzusetzen, um ihnen etwas Funktionelles zu geben, das im besten Fall noch richtig schön anzusehen ist. 


CAN TOUCH THIS Natali Nikolaus

Kann man Zeit riechen? Man kann. Zumindest, wenn man es mit der Uhr „Es liegt was in der Luft“ zu tun hat. 12 kleine Löcher verteilt um eine runde, langsam rotierende Kupferplatte. Stündlich wird ein anderer Duft ausgeströmt, der sich im Raum verbreitet: 15 Uhr riecht wie Pfirsich, 17 Uhr wie Wald. Nette Spielerei, könnte man denken, doch damit würde man dem Werk von Patrick Palčić wohl nicht gerecht werden. Der gebürtige Stuttgarter beschäftigt sich als Produktdesigner mit allen fünf Sinnen, am liebsten aber dem Geruchssinn. „product and olfactory design“ steht auf seiner Website – für Menschen mit Sehbehinderung, aber auch solche, die Design intensiver erleben möchten. Palčićs Buchstabentafel „alphabetum tactus“ (Fotos) erlaubt es, Wörter plastisch sichtbar zu machen und so zu ertasten.

Michaely Brade

Die einzelnen Lettern lassen sich zu Begriffen zusammenstecken: Das Wort „Berlin“ etwa erinnert mit etwas gutem Willen an den „Telespargel“, den Berliner Fernsehturm. Auf spielerische Art können Blinde so kommunizieren; oder Sehende sich wieder wie ein Baby fühlen und die Welt ertasten. Mit seinen Arbeiten nahm der 35-Jährige, der neben seinen schwäbischen auch kroatische und slowenische Wurzeln hat, am Lucky Strike Junior Designer Award teil, der Newcomer-Arbeiten für deren Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit prämiert. Mit der Auszeichnung will die Raymond Loewy Foundation vielversprechenden jungen Designer*innen einen Einstieg ins Berufsleben ermöglichen. Der Preis zählt zu den begehrtesten Nachwuchspreisen in Deutschland. Mehr Infos zum diesjährigen Wettbewerb: stilwerk.com/raymondloewyfoundation 

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Text: Fotos:


Reduced to the Max.

Eine Hommage an den afrikanischen Straßengrill. Einfach, robust, hoch effizient. Schnörkellose Sachlichkeit und ein puristisches Design, das sich an der Funktion orientiert. Zeitgemäßes Grillen mit Feuer, reduziert aufs Maximum.


„Travel is intesified living – and one of the last great sources of legal adventure.“ Rick Steves

ZU HAUSE IN DER WELT Mit dem Zitat oben beschreibt der Unternehmer und KultReiseführer-Autor Rick Steves das Lebensgefühl digitaler Nomaden: Sie reisen um die Welt, um das Dasein intensiver zu spüren. Aber bitte nicht mit Backpacker-Urlaub verwechseln! Menschen wie Natasha, Martijn und Greg, die wir auf den nächsten Seiten vorstellen, haben den Laptop und den nächsten Job-Auftrag immer im Gepäck. Freie Fahrt für eine neue Generation von Abenteurern.


Text: Foto:

Martijn

Doolaard,

One

Year

Andrea on

a

Bike,

Copyright:

gestalten

Bierle 2017

Zelt mit Aussicht: In Bulgarien hat Martijn den Strand ganz für sich alleine – und genießt diese magischen Momente


Ein ziemlich abgefahrenes Erlebnis: Seine Fahrradreise durch 18 Länder verarbeitete Martijn in einem Bildband

Rechte Seite oben Mehr schieben als fahren: Die größte Herausforderung für das Rad-Abenteuer sind in Myanmar die nicht vorhandenen Straßen Rechte Seite unten Zurück in der 1. Welt: In Singapur mit seiner spektakulären Architektur endet Martijns erste große Radreise. Inzwischen ist er wieder auf Tour

@_espiritu.libre_ espiritu-libre.com

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One Year On a Bike, Martijn Doolaard & Gestalten, www.gestalten.com


MARTIJN DOOLAARD, 36 JAHRE

Vor vier Jahren tauschte der Grafikdesigner seinen Bürostuhl gegen den Fahrradsattel und machte sich auf den Weg von Amsterdam nach Singapur. Was er auf 16 000 Kilometern durch 18 Länder erlebte, schildert der RadNomade in dem Bildband „One Year on a Bike.“ Seit 2017 ist er wieder auf Tour, diesmal von Vancouver nach Patagonien. Inzwischen arbeitet Martijn von unterwegs und hat kein Budget- oder Zeitlimit für seine Rückkehr.

Was befindet sich in deiner Satteltasche? Alles, um hundertprozentig unabhängig zu sein. Ich kann eine Mahlzeit kochen, bei eisigen Temperaturen mitten in der Wüste übernachten und auch mein Fahrrad reparieren, wenn etwas kaputt geht. Meine Kamera ist wichtig, um die Naturschönheiten einzufangen. Unentbehrlich sind Smartphone und Laptop, um meine Arbeit zu erledigen, zu navigieren und mit der Welt verbunden zu bleiben. Auf deinem Blog ist zu lesen, dass du dich mehr und mehr überall zu Hause fühlst. Nimmt die Bedeutung von Heimat ab, wenn man so lange unterwegs ist? Je länger man reist, desto flexibler wird das Zuhause. Ich liebe es, in die Niederlande und zu meiner Familie zurückzukehren, denn das ist ein großer Teil von mir. Ich bin mit drei Brüdern aufgewachsen, wir gingen jeden Sommer

campen und fischen. Ich denke, dass meine Wertschätzung für die Natur daher kommt. Aber ich muss nicht dort bleiben, um alt zu werden. Das Leben ist zu kurz und die Welt zu groß dafür. Wo hat es dir bisher am besten gefallen? Jedes Land hat seine eigene Schönheit. Ich mag die abgelegene, raue Natur von Peru und Kirgistan. Was Küche, Strände und tropisches Leben betrifft, sind Indien, Thailand und Mexiko meine Favoriten. Und nirgends habe ich so gastfreundliche Menschen getroffen wie im Iran. An welchem Ort hast du die letzte Nacht verbracht? Am Salar de Uyuni in Bolivien, dem größten Salzsee der Welt. Es war Vollmond, mein kleines Zelt stand in einer weiten, weißen Landschaft. Es gibt nichts als Salz, einen flachen Horizont und den Himmel. Du fühlst dich sehr, sehr klein. Die Farben und die Stille sind überwältigend. Ein Traum für jeden Traveller. Aber sicherlich erlebst du auch Momente, die dich an deine Grenzen bringen… … da gibt es einige. Zum Beispiel die Durchquerung Turkmenistans: 500 Kilometer durch die Wüste, es gibt wenig Essen und Wasser und ständig Gegenwind. Und dann wurde ich unterwegs noch krank, musste aber wegen meines fünftägigen Transitvisums weiterradeln. Auch die Regenzeit in Peru hat mich auf eine harte Probe gestellt: täglich Regen, schwierige Straßen, große Höhen und nicht viel zu sehen, da die Berge vom Nebel bedeckt wurden.

Bist du immer auf dem Rad unterwegs oder verweilst du auch mal irgendwo? Manchmal fühle ich mich sehr wohl und bleibe eine Weile. In Mexico City gefiel es mir so gut, dass ich fünf Monate blieb, Freunde fand und Projekte startete. Und in San Francisco traf ich eine Frau und verlängerte auf fünf Wochen. Dann reisten wir zusammen an Orte in den USA. Irgendwann verloren wir den Kontakt… Wie schade! Ja, das war hart, ist aber unvermeidlich für diese Art von Lebensstil. Auf der anderen Seite sind es gerade die Flexibilität, Freiheit und die unerwarteten Begegnungen und Erlebnisse, die das Leben unterwegs so besonders machen. Langweilig ist es nie. 

Fotos: Martijn Doolaard, One Year on a Bike, Copyright: gestalten 2017

Warum erkundest du die Welt mit dem Rad und nicht mit dem Auto oder – wie es zum Klischee vom Holländer passt – mit dem Wohnwagen? Mit dem Fahrrad zu reisen, bedeutet für mich Intensität und Einfachheit. Man erlebt Orte sehr stark, spürt den Wind, die Hitze, die Kälte… ist mit allen Sinnen dabei. Fährt man durch ein Dorf, schaut man den Leuten in die Augen und unterhält sich. In einem Auto ist man abgeschotteter von solchen Erfahrungen. Ein weiterer Vorteil dieser Art der Fortbewegung: durch den intensiven körperlichen Einsatz wird man sehr fit und kann essen, was man will – es wird sofort verbrannt.


LIVING INTENSIFIED _________ 28 Diese Seite Unbeschwert wie Rios bunter Stadtteil Santa Teresa mit seinen prächtigen Mosaiken fühlt sich Natasha in Brasilien Rechte Seite Natasha liebt Bäume für ihre Stärke und Schönheit – und zeigt ihnen ihre Zuneigung, wie hier im spanischen Tarifa

generationgenerous.com @generaousnomad


NATASHA ATHANASIADU, 39 JAHRE

Natasha hat das Weltenbummler-Gen quasi in die Wiege gelegt bekommen: Die Tochter eines Vaters mit türkisch-russischen und einer Mutter mit italienischlibanesischen Wurzeln wurde in London geboren und wuchs in Athen auf. Seit 2011 lebt die Gründerin des nachhaltigen Taschenlabels Generation Generous ohne festen Wohnsitz und entwickelt von ihrem digitalen Arbeitsplatz aus Geschäftsmodelle für mehr Umweltverantwortung und Menschenrechte.

Wo steckst du gerade? Auf Bali. Ich liebe die besondere Art der Leute, die hier herkommen; es ist eine Gemeinschaft unter Gleichgesinnten. Deshalb möchte ich noch eine Weile bleiben. Bevor ich nach Indonesien kam, verbrachte ich drei Monate in Brasilien. Da ich die Hitze mag, reise ich dorthin, wo gerade Sommer ist: Mexiko, Südafrika, Marokko, Indien, Taiwan, Portugal …

Fotos: Natasha Athanasiadu

Von Ort zu Ort ziehen – ein Traum? Ich fühlte mich immer wohl, wenn ich in Bewegung war und empfand die ganze Welt als mein Zuhause. Aber es dauerte, bis ich den Schritt wagte, auf einen festen Standort zu verzichten. Mein Verstand war irgendwie anders programmiert. Westliche Gesellschaften lehren uns nicht, wie wir dem Hamsterrad entkommen können.

Gab es ein Schlüsselerlebnis? Rund zehn Jahre lang habe ich für Großhandelsunternehmen gearbeitet, die Massenmode in Asien produzieren. Mein Job war es, vor Ort die Produktion zu überwachen und sicherzustellen, dass alles termingerecht abläuft. Ich liebte das Herumreisen, kam aber in Konflikt mit meinen Werten. Schließlich wird billiges Zeug unter miserablen Bedingungen in Ländern hergestellt, in denen es viel Armut gibt. Diese Erfahrung machte mich zu einer Aktivistin für ethische Mode. Inzwischen habe ich ein eigenes Business, das es mir ermöglicht, überall dort zu leben, wo es einen WLANAnschluss gibt. Beschreib doch mal einen ganz normalen Tag als digitale Nomadin. Meist stehe ich gegen sieben Uhr auf und widme mich meiner Morgenroutine: Meditation, Tagebuch schreiben, Yoga oder Wassersport, Frühstück. Dann setze ich mich an meinen Laptop, wobei ich mich derzeit vor allem auf mein neues Coaching-Angebot konzentriere, mit dem ich bald starte. Generell achte ich darauf, die Balance zu halten zwischen Arbeit, sozialen Kontakten, Gesundheit und spirituellem Leben. Dazu gehört auch, nicht zu schnell den Ort zu wechseln, sondern sich auf ihn einzulassen. Mein Motto: Find the flow and ride it! Auf deinem Instagram-Account „generaousnomad“ bist du fast immer im Bikini zu sehen … Das ist tatsächlich das einzige Teil, von dem ich mehr als drei Stück habe.

Ansonsten steckt mein ganzes Hab und Gut in einem 40-Liter-Rucksack; dazu kommt noch meine Kitesurf-Ausrüstung. Die ist immer dabei, denn der Ozean ist meine zweite Heimat. Welches Land hat dich bisher am meisten überrascht? Kenia. Die Menschen dort sind so begierig darauf, Veränderungen für ihr Land zu schaffen. Ihre Weltanschauungen haben mich beeindruckt. Hat sich deine eigene Sicht auf die Dinge verändert, seitdem du reist? Man wird sensibler, wenn man zum Beispiel mit eigenen Augen sieht, wie die giftigen Abwässer an den Produktionsstätten der Textilfabriken ungefiltert in die Flüsse geleitet werden. Ich möchte dazu beitragen, dass diese Zustände transparenter werden und ein Umdenken stattfindet. Wir müssen weniger konsumieren und mehr recyceln – nur so können wir die Welt retten. Wo würdest du gern langfristig leben? Ich weiß nicht, ob ich das herausfinden will. Seit ich ohne festen Wohnsitz bin, geht es mir fantastisch. Es ist ein Gefühl der Erfüllung, Freude und Sinnhaftigkeit. Ich muss nicht mehr einem bestimmten Weg folgen, kann dort leben, wo es mir gerade gefällt und habe unterwegs einige meiner besten Freunde kennengelernt. Natürlich, der Anfang war herausfordernd. Man muss mit der Unsicherheit umgehen können, sich umstellen. Aber sich zu reduzieren, befreit. 


LIVING INTENSIFIED _________ 30 Diese Seite Ob beim Yoga, auf dem SUP-Brett oder beim Arbeiten – Greg gelingt es gut, in Balance zu bleiben Rechte Seite Rute ohne Rolle: Fliegenfischen nach japanischer „Tenkara“-Tradition; so angelt Greg am liebsten


GREG LIVERNOIS, 49 JAHRE

Seit über sechs Jahren hat Greg keinen festen Wohnsitz. Die Orte, an denen er seinen Van abstellt, bestimmen seine Auftraggeber. Der Individualist arbeitet nämlich dort, wo er Kost und Logis bekommt und das ist meist im sonnigen Kalifornien. Auch er ist mit Laptop ausgestattet, verdient sein Geld aber vor allem durch sein handwerkliches Können – ein Talent, das im digitalen Zeitalter sehr gefragt ist und Greg die Möglichkeit gibt, ein unabhängiges Leben ohne Bindung zu führen.

Wie kam es dazu, dass du Wohnung gegen Van getauscht hast? Es war keine bewusste Entscheidung, sondern ist eher passiert. Während ich bei einem Seminar in Philadelphia war, beschloss mein Vermieter, sein Haus zu verkaufen. Ein Kumpel, der zu dieser Zeit eine Wohnanlage in Nevada verwaltete, stellte mir kostenlos ein Apartment zur Verfügung. Von da ging es irgendwann weiter nach Washington zu einer befreundeten Familie, dann zu meinem Bruder nach Denver, Colorado. Überall, wo ich war, konnte ich mich nützlich machen – gleichzeitig genoss ich die Zeit, die ich mit Freunden und Familie verbrachte. Und dabei hast du Gefallen am unabhängigen Lebensstil gefunden …

Ja, ich entdeckte mehr und mehr das Abenteuer und fand es bereichernd, mich frei zu bewegen. Ich stellte aber auch fest, dass ich an Dingen festhielt, die ich gar nicht brauchte. Innerhalb eines Jahres verkaufte oder verschenkte ich den Großteil meiner Sachen. Was ist geblieben? Meine Werkzeuge. Außerdem habe ich eine Notfallausrüstung in meinem Minivan, Campingausstattung, ein Jagdmesser, drei Schlafsäcke für unterschiedliche Temperaturen, eine Kühlbox. Die funktioniert übrigens auch als Tisch, denn ich kaufe inzwischen Dinge, die einen doppelten Zweck erfüllen und praktisch sind für unterwegs. Wie knitterfreie Hosen und Hemden. Die wähle ich nach Farben aus, die möglichst zu allem passen.

Fotos: Greg Livernois

Wie reagiert dein Umfeld auf dein Nomadentum? Unterschiedlich. Die einen sind neugierig, andere neidisch, weil sie sich nach dieser Art von Freiheit sehnen, wieder andere finden mich seltsam oder reagieren mit Aggression. Einmal wurde ich im Van sogar zusammengeschlagen. Allerdings schlafe ich selten im Auto, da die meisten Leute mir ihr Haus öffnen und zumindest eine Couch anbieten. Du wirst bald 50 – sind diese ständigen Wechsel nicht ziemlich ermüdend? Das ist manchmal schon anstrengend. Auf der anderen Seite kann ich mir schwer vorstellen, wieder einen festen Wohnsitz

zu haben. Mein nächstes Ziel ist ein Mercedes Sprinter Van, den ich zum Schlafen umfunktionieren und in dem ich wohnen kann. Was war ein besonders schöner Moment on the road? Einmal wurde ich durch eine Straßensperrung gezwungen, durch das Death Valley zu fahren. Es war nachts, also konnte ich nichts sehen. Ich übernachtete im Van – und wurde vom wohl schönsten Sonnenaufgang in der Wüste geweckt. Überwältigend fand ich auch die Burney Falls, die spektakulären Wasserfälle. Dort kann man wunderbar angeln. Apropos, meine Fliegenfisch-Rute ist auch immer an Bord. Die ist seit dem Film „Aus der Mitte entspringt ein Fluss“ mit Brad Pitt salonfähig geworden. Verrätst du uns deine Lieblingsgewässer zum Fischen? Dazu zählen Bridgeport und Trinity River in Kalifornien, The Platt River und Rio Grand in Colorado sowie San Juan River in New Mexico. Weißt du schon, wo du als nächstes wohnen wirst? Seit einigen Jahren verbringe ich die Sommer immer am Lewiston Lake in Nordkalifornien.Dort helfe ich einer Freundin, das Saisongeschäft zu managen. Ich vermiete Boote, leite den AngelShop, bringe Dinge wieder in Schuss und gebe gelegentlich Unterricht im Fliegenfischen. 


GOLDFIEBER Auroville – Stadt der Morgenröte. Schon der Name der Kommune in Indien klingt wie eine Verheißung. Aber hält der Ort rund 50 Jahre nach seiner Gründung, was die Utopie verspricht?

Text: Foto:

Roland Marco

Manchmal muss man weit reisen, um bei sich anzukommen. „Hier fühle ich mich frei“, sagt Maria Groeger. „Ich habe gelernt was mir jenseits der materiellen Welt wichtig ist.“ Und was ist das? Zum Beispiel Kreativität, Meditation, Harmonie. Fünf Mal, zuletzt zwei Monate lang, lebte die ehemalige Lehrerin aus Münster, 66, in der geheimnisvollen Stadt an der südindischen Koromandelküste: Auroville. Den lieblichen Namen kennt man. Ebenso Bilder der riesigen Goldkugel, dem Meditationszentrum Matrimandir. Doch was genau ist Auroville – Sektenzentrum, Ashram, Künstlerdorf?

Rödermund Saroldi

Eher Sehnsuchtsort oder Spielwiese für Freigeister und Aussteiger und mit knapp 3000 Bewohnern die größte Kommune weltweit. Soziale, moralische, kulturelle, ja alle Unterschiede zwischen Menschen sollen hier aufgehoben werden. Die Gemeinde im Dschungel ist weder politisch noch religiös einem Staat verpflichtet, wird aber seit ihrer Gründung 1968 von der UNESCO und der indischen Regierung gefördert. Im Prinzip kann hier jeder für eine unbestimmte Zeit herkommen und etwa an Healing- oder Yoga-Workshops teilnehmen. Für Aussteiger, die dauerhaft in der


Gemeinschaft leben und arbeiten wollen, gibt es ein Probe-Jahr. Die Bewohner, hauptsächlich Inder, Franzosen und Deutsche, haben ihre Berufe und Familien hier, sie organisieren sich in Gremien, um demokratisch über das Leben in ihrer Stadt zu verhandeln. Denn sie glauben an Auroville als eine bessere Welt. „Anfangs fand ich es komisch, dass die Läden in europäischer Hand sind, das Personal aber meist indisch ist“, sagt Maria Groeger. „Aber die indische und die europäische Mentalität ergänzen sich, genau wie die westliche Philosphie und indische Spiritualität.

Gäbe es Auroville nicht, hätten viele Inder hier gar keine Arbeit.“ An einigen Stellen hapert es noch, die Stadt der Morgenröte ist noch lange kein geldfreier Ort, wie ursprünglich geplant. Und natürlich gibt es auch hier Konflikte im Zusammenleben. High Speed Internet, Motorräder, französische Küche und Cafés mit italienischem Cappuccino klingen ziemlich weltlich, aber im Paradies auf Erden gehören sie auch zur Tagesordnung. Vielleicht ist Auroville einfach ein guter Kompromiss zwischen Himmel und Erde. 


RECYCLED ARCHITECTURE


DA GEHT NOCH WAS

Riba | Daniel Hopkinson

Marode, alt, vergessen – manche Bauwerke sind erst auf den zweiten Blick schön. Zum Glück gibt es Menschen, die nicht nur das Hochhaus, den Bahnhof, die Flughafenhalle, den Betonklotz sehen. Sondern ihr wahres Potential. Und ihnen ein aufregendes zweites Leben schenken.


Annika

„I love you, will you marry me“, hat jemand auf eine der Brücken gesprüht, die die graubraunen Beton-Kolosse verbinden. Wer genau hinguckt, kann noch den Namen entziffern: An eine „Clare“ war der Heiratsantrag gerichtet. Der Mann, der 2001 mit einer Sprühdose in der Hand irgendwo im neunten Stock zwischen den Flanken der brutalistischen Wohnblöcke hangelte, um besagte Clare für sich zu gewinnen, soll schlimme Höhenangst gehabt haben. Geheiratet haben die beiden nie, das Graffiti aber blieb. Wie die Hoffnung, die die heruntergekommene Platte gleich hinter dem Hauptbahnhof von Sheffield von Anfang an umwehte. Die Wohnklötze von Park Hill entstanden Ende der 1950erJahre, entworfen von Jack Lynn und Ivor Smith, angelehnt an Corbusiers bekannte „Unité d’Habitation in Marseille. Aus dem Bahnhofsghetto sollte eine respektable, aber bezahlbare Wohngegend werden. Es gab Stahl, es gab Arbeit, es gab eine Perspektive. Doch irgendwann verkamen die „streets in the sky“. Aus der vertikalen Stadt mit den breiten Außenfluren wurde wieder ein sozialer Brennpunkt. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt: 1998 wurde Park Hill unter Denkmalschutz gestellt. Ein Wendepunkt. Die Regierung beauftragte das Planbüro Urban Splash, spezialisiert auf Abrisskandidaten, sich der 995 Wohnungen anzunehmen. Utopia was back on. Es gibt Bauwerke, die erst auf den

zweiten Blick schön sind. Die mehr sind als das, was sie einmal sein sollten. In Europas größtem denkmalgeschützten Gebäude ist die erste Phase der Umgestaltung abgeschlossen. Neun Jahre hat sie gedauert. Jetzt ist Park Hill Wohnraum, Büro, Park und Pub in einem. Ein riesiger Concept Store für die perfekte Work-LifeBalance. 260 Wohnungen sind bereits modernisiert. Bis Juni 2021 sollen 200 weitere fertig sein. Ihre Größe bleibt gleich, nur dass aus vier Zimmern drei werden, aus drei Zimmern zwei. Und es gibt mehr Licht: gläserne Fahrstühle, größere Fenster. Wo einst Braun und Beige den Ton angaben, verlaufen jetzt Metall-Paneele in Ochsenblut bis Limettengrün. Park Hill nach dem PantoneMake-over – die Junkies sind weg, die Hipster kommen. Dazu Kunstgalerien und Kaffeeröstereien. Es soll 350 Studentenzimmer geben, der Kindergarten hat ein neues Anti-Mobbing-Konzept. Ja, selbst das Graffiti auf der Brücke ist jetzt ein Neon-Schriftzug, der im Dunkeln leuchtet. „I love you, will you marry me“ – Urban Art, inspiriert von der Künstlerin Tracey Emin, für alle, die mit dem Gedanken spielen einzuziehen. Ein Hauch Arbeiterklasse ist trotzdem geblieben. „Corbusier mit weniger Sonne, aber mehr Seele“, sagt David Bickle vom Architektenteam „Hawkins\Brown“, das 2013 mit Park Hill für den Stirling Prize nominiert war. Apropos Leuchtschriftzüge – oder einfach nur Züge: Die

„Corbusier mit weniger Sonne, aber mehr Seele.“

Daniel Hopkinson

Thomé

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Text:


Köpfe hinter Londons St Pancras International Station verstehen definitiv nicht nur Bahnhof. Sondern auch etwas von Kunst. Letztes Jahr hing hier, direkt unter der Uhr der Grand Terrace an dem berühmten Dach aus Glas und Eisen des Bauingenieurs William Barlow befestigt, die Installation „I Want My Time With You“. Diesmal von Tracy Emin höchstpersönlich. 20 Meter lang, neonpink, in der Handschrift der Künstlerin. „Ich kann mir nichts Romantischeres vorstellen, als jemanden am Bahnhof wiederzusehen, den ich liebe. Umarmt zu werden und die Worte ,I want my time with you’ zu hören“, sagt Emin über ihr bisher größtes Leuchtzeichen. Der Schriftzug sei zudem ein politisches Statement für alle, die aus Europa – noch sollten wir vielleicht aus dem restlichen Europa schreiben – in London ankommen. Konzerte, Workshops, Ausstellungen, Lesungen und politisches Zeichen: Aus dem 150 Jahre alten Bahnhof selbst ist Performance Art geworden. Und man kommt von hier aus trotzdem noch in unter zweieinhalb Stunden nach Paris. Oder nach Hogwarts: Die Plattform 9 3/4 aus den Harry-Potter-Bänden existiert hier nämlich wirklich. Von wegen Endstation für ein altes Gemäuer. 5500 Kilometer Luftlinie in Richtung Westen verbreitet sich Hektik. Auf dem Runway des TWA Flight Centers am JFKFlughafen von New York ist die Hölle los. Aber heute schweben

Sam Lane Photography

Die verstehen nur Bahnhof? Von wegen. Londons St Pancras International Station ist Kunst und politisches Statement. Hier ist für alle Platz

keine Flugzeuge, sondern Models darüber. Denn Louis Vuitton, die Marke, die einst mit Reisekoffern anfing, stellt hier ihre CruiseKollektion 2020 vor. Ohne Anschnallzeichen, ohne Tomatensaft, nur die Jetsetter sitzen wie gehabt in den ersten Reihen. Flugzeuge docken hier schon seit 18 Jahren nicht mehr an. Aber das Terminal einfach abzureißen, kam nie in Frage. 1962 erstmals eröffnet, entworfen von dem finnisch-amerikanischen Architekten Eero Saarinen für die Trans World Airlines, sieht es aus wie ein gigantischer Vogel mit ausgebreiteten Schwingen. Saarinen entwarf es damals nach rein formalen Gesichtspunkten, ohne Rücksicht auf das ideale statische Tragverhalten der Betongewölbe. Jetzt startet das Terminal noch einmal neu durch: als Hotel. Ab 249 Dollar pro Nacht kann man den Flugzeugen der anderen Terminals nun vom Bett aus bei Start und Landung zusehen. Zu hören ist nichts, die 512 Zimmer sind komplett schalldicht. Und man kann hier nicht nur gut zwischenlanden, sondern gleich urlauben: Es gibt Geschäfte, sechs Restaurants – eins davon ein Ableger vom „Paris Café“ des Michelin-Sternekochs Jean-Georges – sieben Bars, eine Rooftop-Schenke und zwei Filialen der hippen Chicago-Cafés „Intelligentsia“. Eine davon in einem restaurierten Flieger, einem Lockheed Super Constellation Jet, der auf dem Gelände steht.


Max Touhey


Eero Saarinens aerodynamisches TWA Flight Center ist jetzt ein Hotel


DIE KUNST DES WEGLASSENS Für alle, die auf monolithische Betonklötze stehen, ist auch ein Besuch des Met Breuer an der Upper East Side von New York ein Muss. Entworfen von Bauhaus-Pennäler Marcel Breuer und in nur drei Jahren fertiggestellt, ist das Monument von 1966 seit ein paar Jahren – und zumindest noch bis 2020 – Außenstelle des Metropolitan Museums. Die Architekturkritikerin Ada Louise Huxtable beschrieb das Breuer-Haus einmal als „befremdliche, kopflastige Masse aus umgedrehten Pyramiden. Eine Form, für die man sich nur langsam erwärmt. Wie der Geschmack von Oliven oder warmem Bier“. Seine einfachen Materialien – Beton, Granit, Bronze und Holz – sollten dem Gebäude eine naturnahe Textur geben. „Breuer mochte diese harte Würde von alternden Materialien“, sagt John H. Beyer vom Architektenbüro Beyer Blinder Belle, das für die Umgestaltung zuständig war (übrigens auch für das TWA Flight Center von Saarinen). „Das fast Wichtigste beim Restaurieren ist zu entscheiden, was nicht gemacht werden darf. Und wir haben sehr viel nicht gemacht. Aber das, was wir justiert haben, vermittelt ein Verständnis für den Raum, so wie Breuer ihn geschaffen hat.“ Beinahe aufgegebene Bauwerke liefern einen rohen, ehrlichen Kontext für Kunst. Und manchmal ist es andersherum, dann ist die Kunst der Kontext. Zur Eröffnung der Met-Filiale ließen die Betreiber den mit dem Pulitzer-Preis gekrönten Komponisten John

Luther Adams ein neun Minuten und neun Sekunden langes Stück komponieren. Das, so hatte man vorher gemessen, sei genau die Zeit, die Leute durchschnittlich bräuchten, um die acht Blocks vom Met Fifth Avenue zum Met Breuer zu laufen. Das Ergebnis kann man sich auf der Webseite des Museums anhören. Über den fast unheimlich wirkenden Klangteppich sagt Adams: „Das sind alles Geräusche, die ich auf der Strecke zwischen den beiden Museen aufgenommen habe. Stimmen, ein Presslufthammer, Spatzen oder das Hupen eines Taxis – ich habe nichts dazugetan, nur gefiltert und neu angeordnet, um das große Ganze aufzuzeigen, das uns ständig umgibt, ohne dass wir es bemerken.“ Mehr als neun Minuten und neun Sekunden sollte man sich für New Yorks High Line nehmen. Denn hier ist der Weg das Ziel. 2,33 Kilometer, um genau zu sein. Lange lag die Hochbahntrasse, auf der früher Güterzüge verkehrten, brach. Jetzt ist sie ein Park, ein Secret Garden. Ein verwilderter Rückzugsort mitten in der City. Die Täuschung trügt natürlich: Das, was aussieht, als hätte es ein halbes Jahrhundert wild wuchern dürfen, wurde von den Landschaftsarchitekten bei James Corner Field Operations und Piet Oudolf akribisch zusammengestellt. Und selbst das Gras ist nicht nur schnödes Gras. Cheyenne Sky, Goldtau, Shenandoah Red Switch Grass, Moorflamme, Präriegras – 31 Arten bezwingen die Ritzen der High Line, die von der West 34th Street bis zur Gansevoort Street im Meatpacking District verläuft. Höher gelegt wurden die Schienen ursprünglich einmal, weil der Güterverkehr

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Max Touhey

Abgehoben: Jeder kann die Lounge des TWA Centers mieten. Louis Vuitton zeigte hier gerade die neue Cruise-Kollektion


Š2018 Steelcase Inc. Alle Rechte vorbehalten. Die hier verwendeten Markennamen sind Eigentum von Steelcase Inc. bzw. ihrer jeweiligen Inhaber.

™

SILQ

Innovation. Neu definiert.

steelcase.com/eu-de/produkte/arbeitsstuhle/silq/


Fotos: The High Line, Copyright Phaidon

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Früher fuhren auf New Yorks High Line Güterzüge, jetzt ist die Hochbahntrasse ein Park


auf der Straße zu viele Todesopfer einforderte, was der 10th Avenue den Spitznamen Death Avenue einbrachte. Die Stadt ließ die Strecke 1929 daher durch eine Hochbahntrasse ersetzen. Heute gibt es nur wenige Gärten, die so umjubelt, so oft kopiert werden wie dieser. 98 Prozent der jährlich anfallenden Kosten können durch Spenden aufgefangen werden. Der profilierte New Yorker Stadtplaner Dan Barasch plante daraufhin, eine Lowline, einen unterirdischen Park, in einem alten U-Bahn-Schacht auf Manhattans Lower East Side anzulegen. Um die Pflanzen des U-Parks gedeihen zu lassen, sollten Kollektoren Sonnenlicht einfangen und durch Glasfaserkabe in die Erde leiten. Das Projekt scheiterte jedoch. „Kunstprojekte im New Yorker U-Bahn-System sind eine politische Herausforderung“, musste Barasch eingestehen. Seine erste architektonische Liebe war übrigens eine halb verfallene Mühle in Mississippi,

die er als Teenager entdeckte und die später zu Luxusapartments umgebaut wurde. Schönheit in Ecken, in denen sie niemand vermutet, kommt an. Wie das Graffiti von Park Hill. Ein Replikat der Brücke schaffte es bis auf die Architekturbiennale in Venedig. Dann landete der Antrag auf Bierflaschen. Urban Splash ließ Kissen und T-Shirts damit bedrucken. Einer der Musiker der Arctic Monkeys trug den Slogan sogar auf der Bühne bei einem Konzert in Amerika. Der Mann, von dem das Graffiti stammt, der mit der Höhenangst, ist derweil mittellos. Vor ein paar Jahren soll er eine E-Mail an die Hausverwaltung geschrieben haben. „Sie verdienen so viel Geld mit meinem Graffiti, und ich habe kein Zuhause. Können sie mir eine Wohnung geben?“, hat drin gestanden. Auf eine Rückmeldung wartet er angeblich immer noch. Sheffields Antwort auf Corbusier ist wohl zu teuer geworden. 


HAPPY BIRTHDAY, BAUHAUS Die Legende wird 100. Drei spannende Gelegenheiten zum Mitfeiern. Michaely

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Natali

Daniel Hofer

Text:

Foto: Daniel Hofer

Zum 100. Geburtstag ging es dem KünstlerTrio Olff Appold, Kai Brüninghaus und Jürgen Sandfort darum, die Bauhaus-Historie mit neuen Bildwelten und Techniken mitreißend darzustellen. Zusammen mit Originalmöbeln und Formzitaten kann man die Wanderausstellung „Re:Form – Eine Hommage an 100 Jahre Bauhaus“ im Berliner (ab 17. Juni) und Düsseldorfer (ab 19. August) stilwerk anschauen. stilwerk.com

thonet

Olff Appold, Model: Sarah/Louisa Models

Wie wär’s mit einer Radtour in Sachen Design? Dann ab nach Lauenförde. Hier hat die Firma Tecta, die die meisten lizensierten Bauhaus-Entwürfe produziert, auf der grünen Wiese einen ziemlich aufsehenerregenden Bau errichtet. In den Glashäusern des Kragstuhlmuseums finden sich über 1000 Exponate des „hinterbeinlosen Stuhls“. Freischwinger und Co. bestaunen, dann wieder ab auf den Sattel – perfekt. tecta.de/kragstuhlmuseum

Ein Trend auf den Möbelmessen war auch in diesem Jahr Rohrgeflecht. Wer lieber in einen Klassiker investieren will: Das Unternehmen Thonet feiert aktuell 200-jähriges Jubiläum mit diversen Sondereditionen, etwa einem Bauhaus-Entwurf von Ludwig Mies van der Rohe. thonet.de


Heimhuder Str. 16 | 20148 Hamburg +49 (0) 40 41 333 00


OUT OF OFFICE Die Arbeitswelt verändert sich und mit ihr klassische Bürosituationen. Wenn feste Arbeitszeiten und Büros hinfällig werden, braucht es smart designte Lösungen. Wer reisen möchte oder im Home-Office nicht vorankommt, nimmt sich dort einen Co-Working Space, wo er gerade ist. Flexibel und mit allem ausgestattet, was der moderne Arbeitsnomade braucht. Keine schlechten Aussichten … Text: Foto:

Guy

Silke

with

KAPSTADT, SÜDAFRIKA „Nova Pod“, ist ein solarbetriebener Working Space auf Rädern. Wer den Traum von Vanlife haben möchte, aber bitte mit allen Extras, die ein Top Manager braucht, ist hier richtig. Meeresblick inklusive. Hinter dem zwei auf fünf Meter großen Mobil-Büro steckt „WorkandCo“ aus Kapstadt. Innen ist der Wagen mit Küche, schnellem WLAN und Minibar ausgestattet. Je nach Buchung kann der Wagen an fünf Locations geparkt werden. workandco.co.za

Roth Camera



BRÜSSEL, BELGIEN

Fotos: Jeroen Verrecht

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Die Co-Working-Spezialisten Fosburg & Sons haben den ehemaligen Sitz einer ZementFirma umgestaltet. Auf neun Etagen und insgesamt 7000 Quadratmetern gibt es Platz für 600 Arbeitsplätze. Man bucht Gemeinschaftsräume „Suiten“ oder Einzelbüros „Studios“ per Monat oder Tageskarte. Um das Interieur kümmerte sich Designbüro Going East. Perfekt abgestimmt mit der organischen Architektur und den 756 Fensterfronten. Der Stil: Gemütlich, einladend und minimalistisch. Die Lobby, das Restaurant und die Bar sitzen im achten Stock mit Panoramablick. fosburyandsons.com


Fotos: Jacek Kolodziejski & Beza Projekt

WARSCHAU, POLEN Mit dem Auftrag, einen modernen Arbeitsplatz zu kreieren, gestaltete Beza Projekt den Co-Working Space „Nest“. Die Mischung aus Club-Atmosphäre und Mad-Men-Serienset ist einzigartig. Auf sechs Stockwerken wurde warmes, detail- und texturreiches Interieur mit runden Ecken, in sattem Aquamarine und Terrakottafarben verteilt. Die Fläche spaltet sich in Lounges, eine kinderfreundliche Zone, offene Büroflächen sowie Konferenz- und Eventräume. Im Open Space stehen extra zugeschnittene Büromöbel, die sich miteinander kombinieren lassen. Außerdem Schreibtische, Schränke und beidseitig nutzbare Bücherregale. Für die Säulen designte Kasia Korzeniecka farblich abgestimmte Tapeten in Marmoroptik. thenest.pl


LIVING INTENSIFIED _________ 50 Fotos: Line Klein

KOPENHAGEN, DÄNEMARK In das alte Gerichtsgebäude im Stadtteil Nørrebro zog mit den kreativen Köpfen Oliver Bernhard (ein ehemaliger DJ) und Fashionunternehmer Peter Madsen eine sehr farbenfrohe Bürocommunity ein. Sie engagierten Interieur-Spezialistin Natalia Sanchez, die das über 150 Jahre alte Haus mit Mid Century Design, zeitgenössischer Kunst und viel Farbe füllte. Der „Nomad Workspace“ ist sowohl Arbeitsraum als auch Membership Club. Die Rezeption, Meetingräume, das voll ausgestattete Fotostudio und das Café stehen Mitgliedern wie Gästen zur Verfügung. nomadworkspace.com


ARKANSAS, USA

Fotos: Chroma Fotography by Mark Jackson

Natürlich sind amerikanische Großstädte wie New York, San Francisco und Los Angeles, prädestiniert für moderne Office-Alternativen. Überraschenderweise legen die Kreativen von Brand Bureau und die Architekten von Modus Studio mit viel Lässigkeit in der beschaulichen Südstaatenstadt Bentonville nach. Aus einem ehemaligen Industriegebäude gestalteten sie den verspielten Work- und Freizeitspot „The Holler“. Holz, Erdfarben und Pflanzen fügen hier Food Corner, Arbeitsplätze und ein gigantisches Shuffleboard sehr natürlich zusammen, alles auf einer knapp 1000 Quadratmeter großen Fläche. alocalhangout.com


CAPTAIN FUTURE

Nick Sohnemann ist Innovationsberater und forscht mit seiner Agentur Future Candy erfolgreich in den Arbeitsräumen deutscher Unternehmen. Wir wollten von ihm wissen: Wie sieht der Arbeitsplatz der Zukunft aus?

Interview: Foto:

Silke Future

Roth Candy


LIVING INTENSIFIED _________ 53

Herr Sohnemann, wie sieht der perfekte Arbeitsplatz der Zukunft aus? Es gibt sicherlich nicht den einen perfekten Arbeitsplatz oder das Office 2050. Eine Sache, die wir klar beobachten, ist, dass Offices zukünftig für die verschiedenen Nutzungssituationen funktionieren müssen. Einer unserer Kunden, ein großer deutscher Konzern, setzt zum Beispiel im Büro auf Zonen. Eine Arrival Zone, dort kann man je nach Wetterlage etwa auch die Klamotten bei der Ankunft wegpacken. Gleich nebenan eine Work Zone, Meeting Zone sowie die Energy Zone zum Lunchen. Alle Bereiche sind den Anforderungen entsprechend gebaut, haben unterschiedliche Sound-Voraussetzungen, Lichtsettings, Möbel. Diese markanten Szenarien eines Arbeitstags wird man in Zukunft in Unternehmen abbilden. Klingt wie das Ende von Einzelbüros. Welche Technologien erwarten uns dort? Alles was sich um Remote Work dreht, ist ein spannendes Feld. Heißt im Grunde nichts anderes, als dass man die Möglichkeit hat, an Meetings teilzunehmen, ohne zu reisen. Sinnlose Geschäftsreisen kann man durch neue Technologien vermeiden. Man schaltet sich auf den Bildschirm eines fahrenden Roboters, der in einem New Yorker Office steht, während man selbst das Ganze gemütlich von Hamburg aus steuert. Augmented Reality sollte man sich auch merken. Das ist wiederum die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Excel-Tabellen und komplexe Informationen können durch eine Datenbrille direkt auf den Schreibtisch als räumliches Bild geholt werden. Welche Voraussetzungen sollten für so eine Future-OfficeBewegung jetzt in Unternehmen geschaffen werden? Unternehmen sollten allgemein innovativer werden. Die Fähigkeit entwickeln, schneller zu reagieren, und Services finden, um auf Konsumentenbedürfnisse einzugehen. Doch um ehrlich zu sein, ist das Entscheidende wohl, dass Unternehmen attraktivere Arbeitgeber werden. Wir sind im Jahr 2019 –

„Ein hohes Energielevel ist alles.“ „Schuster bleib bei deinen Leisten“Mentalitäten sind für junge Leute unattraktiv. Wir haben in Deutschland fast Vollbeschäftigung und Menschen können sich aussuchen, wo sie arbeiten. Passen sich Arbeitgeber nicht mit ihrem Employee Branding, Vertrauensarbeitszeiten und modernen Büros an, verlieren sie in der Zukunft ihre Mitarbeiter. Und was sind die entscheidenden Skills für die Arbeitnehmer von morgen? Ein hohes Energielevel. Vielleicht gibt es keine 40-Stunden-Wochen mehr, weil man die Arbeit auch in 20 Stunden erledigen kann und deshalb noch einen zweiten oder dritten Job macht. Wir leben in Zeiten der Projektwirtschaft. Das merken Unternehmen, aber eben auch Arbeitnehmer. Teamfähigkeit, Kreativität und Leidenschaft sind Basisvoraussetzungen. Aber typischerweise werden Teams in Firmen sich aus Arbeitnehmern mit Spezialwissen und besonderem Talent zusammensetzen. Das Verlangen nach Expertenwissen bedeutet für die Arbeitnehmer, dass sie sich kontinuierlich weiterbilden müssen. Denn die künstliche Intelligenz wird einfachen Jobs und Arbeiten den Garaus machen. Der Arbeitsplatz der Zukunft sieht also so aus: Es wird generell weniger Strukturen geben und viel Flexibilität abgefordert. Das wird eine sehr spannende Challenge. Warum zündete die Idee von CoWorking Spaces und mobilen Arbeitsplätzen in Deutschland erst in den letzten Jahren?

Bei uns gilt das alte Prinzip „Never Change a Running System“. Die Businessmodelle, die heute funktionieren, sind alle vor 20 Jahren entwickelt worden und man fährt bislang noch gut damit. Ein weiterer Grund ist, dass es viele mittelständische Familienunternehmen gibt, die lieber Dividenden ausschütten, als in neue Technologien zu investieren. Deutschland ist sehr kulturpessimistisch. Das sieht man daran, dass es wenige digitale Tech-Unternehmen aus Deutschland gibt. Man hat Angst, der First Mover zu sein und möchte lieber, dass der Mitbewerber Neuheiten testet. Diese Haltung ist unserem Wohlstand geschuldet. Welche Nationen sind uns in Sachen Innovation im Office voraus? Wir denken nicht in Nationen. Man unterscheidet mehr nach ländlichen Regionen und Städten. Es gibt A-Cities und B-Cities. Hamburg, muss man ehrlicherweise sagen, ist eine klare B-Stadt und eher auf dem Level von Kopenhagen und Prag – hier kopiert man die Vorreiter. A-Städte sind London, Los Angeles, Madrid und Paris. Sie ziehen durch ihre Größe viele Innovatoren an und treiben voran. Sehr spannend ist gerade China. Als Land ist es nicht auf dem Stand der europäischen Union. Aber durch Hotspots wie Shanghai, Beijing und Sheng Zen hat es treibende Kräfte. Bis 2025 sollen im ländlichen Westchina viele Orte an schnelles Internet, Straßensysteme und digitale Strukturen angeschlossen werden. Allein, dass die Regierung die Modernisierung Chinas zentral steuert, ist irre. 


MATERIAL GIRLS Ein Stuhl soll gut aussehen und bequem sein? Moment! Fragt man das Kollektiv Hyloh, ist das Wichtigste an einem Produkt das, woraus es besteht. Die Material-Experten beraten Firmen zur Optimierung ihrer Herstellungsprozesse. Eins ihrer wichtigsten Themen: Nachhaltigkeit.

Materialexperimente, gesehen von Hyloh auf der Architekturbiennale 2018 in Venedig. Baumwolle von Simone Pheulpin, schwarzer Ton und Porzellan von Rafael Perez

Judith

Jenner

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Text:


„Nachhaltigkeit bedeutet, dass künftige Generationen das haben, was sie brauchen. So wie wir momentan konsumieren, ist es nicht nachhaltig, weil wir zu viel nehmen und zu viel verschwenden.“ Wenn Fiona Anastas, Elodie Ternaux und Sarah D’Sylva einen Stuhl ansehen, interessiert sie weniger seine Bequemlichkeit. Sie sehen das Holz, aus dem er geschaffen ist, mit welcher Art Schrauben die Sitzfläche mit den Beinen verbunden ist und welche Art von Stoffgleitern den Boden schonen, auf dem er steht. Die drei Frauen haben 2017 mit anderen internationale Designern und Material-Profis das Kollektiv Hyloh gegründet. Was sie eint, ist die Frage nach dem Stoff, aus dem Alltagsgegenstände wie Kaffeemaschinen, Armbanduhren oder Möbel gemacht sind. „Wenn wir unsere Entdeckungen und Informationen teilen, können wir einfach noch besser arbeiten“, sagt Fiona Anastas. Den Namen Hyloh leiteten die „material minds“ vom altgriechischen Begriff „Hylo“ ab, der übersetzt so viel wie Stoff oder Materie bedeutet. „Material ist alles, nichts existiert ohne Grund. Uns fasziniert nicht allein dessen konstante Weiterentwicklung, sondern auch die Verbindung zum Menschen – und das aus sensorischer, emotionaler und wertschöpfender Perspektive“, erklärt Elodie Ternaux. Statt in einem gemeinsamen Büro sitzen die Mitglieder von Hyloh in der halben Welt verstreut. Fiona Anastas arbeitet entweder direkt beim Kunden oder in einem Co-Working Space in Brooklyn. In Video- oder Telefonkonferenzen tauscht sie sich mit ihren Kollegen in Australien, China, Deutschland oder Frankreich aus. Persön-lich treffen sie sich auf Design-Messen; etwa in Mailand oder Amsterdam,

wo Hyloh dieses Jahr im Rahmen des „FRAME Labs“, einem Kongress des gleichnamigen Design-Magazins, unterschiedliche Zukunftsszenarien und Materialwelten präsentierte. Klimaschutz spielte nicht nur dort eine wichtige Rolle. „Nachhaltigkeit bedeutet, dass künftige Generationen das haben, was sie brauchen. So wie wir momentan konsumieren, nehmen und verschwenden wir viel zuviel“, sagt Fiona Anastas. Ihrer Ansicht nach gibt es keine wirklich nachhaltigen Materialien; der Begriff würde die Problematik nur vereinfachen. Und wie kann man dann gegen den Klimawandel anwirken? Die überzeugendste Strategie sehen die Hylohs in der Formel: „reducing, refusing and reusing“. Mit ihr könne man auch das restaurative Design revolutionieren. „Wenn wir eine Kreislaufwirtschaft anstreben, müssen wir Abfall als Ressource betrachten“, erläutert Kollegin Sarah D'Sylva. „Dank verbesserter RecyclingTechnologien ist es heute ja möglich, Abfälle wie der zu einem vergleichbaren Rohstoff umzuwandeln. Oder alternativ in einen neuen Werkstoff mit einer besonderen Ästhetik.“ Beispiele dafür sind das Textil-Recycling-Material BlockTexx, Ecor Panels aus Papierfasern oder das Material Seaqual aus 100 Prozent recycelten Polyesterfasern, die teils aus Kunststoffabfällen aus der Schifffahrt stammen. Klingt wie die Lösung aller Probleme, doch noch benötigt die Infrastruktur für Recycling und Wiederaufbereitung viel Investition und Entwicklung. „Bis diese Lücke geschlossen ist, sollten sich Verbraucher für Produkte aus recycelten Materialien entscheiden, die sich reparieren und wiederaufarbeiten lassen. Oder für Marken, die Rücknahmeprogramme anbieten“, empfiehlt Sarah. Auf diese Weise sei zumindest eine regenerative Schleife garantiert. Inter-essante Entwicklungen sehen die Material-Experten von Hyloh bei biologisch abbaubaren Materialien. Das Versprechen klingt verlockend: Wie Kartoffelschalen oder Kaffeesatz werden sie kompostiert und bauen sich rückstandsfrei ab, ja liefern der Umwelt sogar Nährstoffe. Eine verbindliche Norm soll garantieren, dass sich die Materialien tatsächlich vollständig zersetzen und nicht als Mikropartikel in der Erde oder den Meeren bleiben. Dafür braucht es allerdings eine entsprechende Kompostieranlage, was logistische Herausforderungen mit sich bringt. Zu den Trends der Zukunft zählen die Profis von Hyloh nicht nur gewachsene Stoffe, sondern auch althergebrachte Herstellungsweisen wie Fermentierung. Dazu geht es auch darum, neue Verwendungsmöglichkeiten für traditionelle Materialien wie Hanf oder Rattan zu erkunden. Was technische Materialien und Herstellungsverfahren angeht, sehen sie Fotovoltaik, Graphen oder 3D-Druck auf dem Vormarsch. Ihren Kunden rät Hyloh auf dem Hintergrund von Studien, komplette Herstellungsverfahren zu überdenken, um zu einem nachhaltigeren und runderen Produkt zu gelangen – zum Beispiel, indem Klebstoffe eliminiert werden oder geschichtete Monomaterialien zum Einsatz kommen. Mit Erfolg, die Liste der Auftraggeber ist breit gefächert. Sie kommen etwa aus der Unterhaltungselektronik, dr Architektur, der Einrichtungs-, Verpackungs- und Kosmetik-branche. Für die Zukunft prognostiziert Fiona Anastas: „Materialien wird man zunehmend so wählen, dass ihre Haltbarkeit im Einklang mit ihrer vorgesehenen Lebens-dauer steht. Dazu sollen sie die Werte einer Marke verkörpern. Insgesamt werden sie uns aber weiterhin so voranbringen, wie sie es immer getan haben.“ Fragt man Hyloh, so sind Materialien nichts weniger als der Motor der Menschheit. 


PURE

SOUL

Die Meere zu schĂźtzen, Produkte nachhaltiger zu gestalten und vermeintlichen Abfall zu neuen Materialien zu verarbeiten, diesen Ansatz verfolgen immer mehr Designer und Hersteller. Wir stellen Unternehmen vor, die das Thema Nachhaltigkeit zu ihrem Erfolgsrezept gemacht haben und zeigen, dass Klimaschutz unheimlich gut aussehen kann.

Text: Foto:

Judith Petr

Jenner Krejci


PRODUCTS

In Japan entdeckte Designerin Julia Lohmann Seegras und experimeniert seitdem mit Algen als Material für Alltagsgegenstände. Während einer Residenz am Victoria and Albert Museum baute sie das Department of Seaweed (Institut für Meeresalgen) auf. Sie entwickelt unter anderem Stoffe und Leuchten aus dem natürlichen Material. von JULIA LOHMANN


In Kooperation mit der britischen Designerin Georgina Wright entwickelte Kvadrat die Möbelbezugsstoffe REVIVE 1 + 2. Sie bestehen zu 100 Prozent aus recyceltem PET, das aus Plastikflaschen gewonnen wurde. Für die Herstellung werden weniger Energie und Chemikalien genutzt als für die Produktion von neuem Polyester. von KVADRAT

Produktfotos: Plasticiet | Kvadrat | Mater | Kinnasand | Bolon | cc Tapis | Houe

Sieht aus wie Stein, ist aber wiederverwerteter Kunststoff: So lässt sich das Material beschreiben, das die Designer Marten van Middelkoop und Joost Dingemans entwickelt haben. In der Praxis kann es sowohl für den Innenausbau als auch für Möbel wie das PLSTCT SHELF 2018 verwendet werden. von PLASTICIET

Plastikmüll aus Ozeanabfällen bietet den Grundstoff der OCEAN COLLECTION. Der Originalentwurf stammt aus den 50er-Jahren von der dänischen Designerin Nanna Ditzel. Die Outdoor-Möbel zeichnen sich durch ihre leichte Struktur mit wiederholten Lamellen und Metallrahmen aus. von MATER


Die Designerin Rikako Nagashima nutzt für ihre GardinenKollektion SCRAP CMYK vermeintliche Druckfehler und Spuren des Offsetdrucks als Designelemente. Der Grundstoff besteht vollständig aus recyceltem PET. von KINNASAND

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Sein 70. Firmenjubiläum feiert BOLON mit der Kollektion DIVERSITY mit drei unterschiedlichen Mustern in zwölf Farbkombinationen. Nachhaltigkeit liegt in der DNA des Unternehmens: Mit Flickenteppichen aus PVC-Ausschuss begann seine Erfolgsgeschichte. Bis heute bilden Industrieabfälle die Basis der in Schweden hergestellten Böden. von BOLON

An Mineralgestein erinnern sowohl die Form als auch das Muster des von Patricia Urquiola designten Teppichs FORDITE. Im Gegensatz dazu steht die weiche Textur des in Nepal handgewebten Teppichs aus Baumwolle, Himalaya-Wolle, Seide und Aloe. von CC TAPIS

Als erster Stuhl weltweit entstand FALK aus recycelten dänischen Haushaltsabfällen. Mit Hilfe des Plastic-Moulding Verfahrens entstand ein leichter, sowohl zu Hause als auch im Büro einsetzbarer Stuhl mit flexibler Rückenlehne. Das schlichte Design mit den fließenden Linien stammt von Thomas Pedersen. von HOUE


JETZT WIRD AUFGERÄUMT

Text: Foto:

Es war Anfang des Jahres 2019, als eine Japanerin plötzlich beim Streaming-Dienst Netflix aufflackerte und ganz Deutschland in die Welt von „Aufräumen mit Marie Kondo“ holte. Auf den ersten Blick eine amerikanische Show, mit echten Menschen inszeniert, die den „Wir entrümpeln“-Effekt über acht Folgen durchspielt. Ratgeber-Sendungen mit prominenten ShoppingCoaches, Fitness-Trainern oder Schuldenberatern sind ein dankbares Format. Doch die Tipps der Ordnungskaiserin Marie Kondo flimmern nicht einfach als Entertainment über den Bildschirm. Die Serie wird zum Riesenerfolg: An nur wenigen Netflix-Usern gehen die Kondoschen Tipps zur Selbststrukturierung vorbei. An regnerischen Sonntagen beschließen nun Paare, Familien und Wohngemeinschaften, den heimischen Kleiderschrank von Grund auf neu zu sortierten. Marie Kondos Aufräumstrategie ist der Ordnungsratgeber, auf den Normalsterbliche anscheinend gewartet haben. Sie dringt genau zur richtigen Zeit in die dunklen Ecken des persönlichen Umfelds, die längst nicht mehr ohne fremde Hilfe zu bewältigen sind. Un-schuldig und fast ein wenig schüchtern klopft Kondo in den einzelnen Folgen an die Türen von kalifornischen Haushalten. Sauber gebügeltes Outfit, euphorisch, warmherzig und stets eine

Silke

Jeremie

Roth Souteyrat

Übersetzerin an der Seite. Ihre Mission ist einfach: erst ausmisten, dann aktiv und mit geordnetem Geist neue Wege gehen. Marie Kondo ist 34 Jahre alt und hat ihr Leben dem Chaos gewidmet. Weniger ihrem eigenen, das hatte sie bereits im Vorschulalter durchsortiert, nein, vielmehr dem von konsumgeplagten Amerikanern. Etwa einer Witwe, die es nach dem Tod ihres Mannes nicht übers Herz bringt, seine Sachen zu entrümpeln, gestresster Eltern, die ihre Beziehung und das Haus vernachlässigen, oder eines Künstlerpaares, das für den ersten Besuch der Schwiegereltern gewappnet sein möchte. Was schnell klar wird – Kondo räumt nicht nur materielle Dinge aus dem Weg. Psychologisch gräbt sie das Leben ihrer Kunden um, wühlt Konflikteauf, lässt Tränen zu und hilft. Wie sie das macht? Mit spielerischen, fast religiösen Ritualen. Beispielsweise einem Ruhemoment in dem man sich für das bedankt, was man besitzt. Für die schützenden Wände, die warmen Räume, die Menschen, die darin leben, den Dienst, den das Kleidungsstück jeden Tag erbracht hat. Danke, ihr Socken, ihr Schuhe, du gute Haustür! Dann stellt sie klar: „Wir sortieren nicht nach Umgebung, sondern nach Kategorien.“ Phase eins betrifft die Kleidung, Phase zwei alle Bücher, Phase drei Küche, Bad und Garage, in Phase vier ist der

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Im Haus, am Strand, im Leben und Geist – die Welt ist im Clean-up-Wahn. Woher kommt die neue Entsorgungskultur und was bringt sie mit sich? Ein geordneter Überblick mit einer aufgeräumten Hauptdarstellerin: Marie Kondo.



„Aufräumen mit Marie Kondo“: Bevor sie ihre eigene Netflix Serie bekam, war die Japanerin bereits Bestseller-Autorin. Sie brachte sogar ihre kleinen Töchter (2 und 3) zum Wäscheaufrollen

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Stücken die wiederkehrende Frage stellt: „Does it spark joy?“ (zu Deutsch: „Spüren sie noch Herzklopfen oder ein bestimmtes Glücksgefühl?“). Wenn der Gegenstand nichts auslöst, muss er gehen. Nach getaner Arbeit der Serien-Protagonisten sind die Müllsäcke voll und mancher Zuseher den Tränen nahe. In den USA spricht man mittlerweile sogar von einem Verb: "to kondo". Klar Schiff machen und anschließend in der Leere glücklich sein. In einer US-Zeitschrift wurde Kondo als Zen-Version von Aristoteles beschrieben, weil sie das Glück zum Ziel des guten Lebens erklärt. Doch warum passt die Sehnsucht nach dem Urzustand, den alten Werten, so gut in unsere Zeit? Warum ist Chaos der erklärte Feind? Weil die moderne Welt im Off- und Online-Modus ein nicht einsehbares Durcheinander ist. Wo früher vom kreativen Chaos gesprochen wurde, rümpfen Kreative heute die Stirn. In Agenturen dominiert die „Clean Desk Policy“. Abends wird der Schreibtisch sauber verlassen, persönliche Dinge haben hier nichts zu suchen. Kein Kaffeebecher, keine Fotogalerie, keine Handcreme. Apple-Store-Ästhetik ist das Maß aller Dinge. Nichts stört die geistigen und digitalen Ressourcen, um am nächsten Tag frische Ideen aufs Papier zu bringen. Im minimalistischen Schweden begegnet man der Disziplin einer Marie Kondo und der neuen Nüchternheit mit einem noch radikaleren Trend: „Death Cleaning“. Autorin Margareta Magnusson schrieb in ihren Ratgebern zum ersten Mal über das

Netflix

Papierkram dran, und zuletzt geht es den sentimentalen Dingen an den Kragen. Alles muss schnell gehen: Zuerst wird ein großer Haufen gemacht, dann weggeschmissen. Sachen, die bleiben, bekommen einen ausgewählten Platz. Was in den Kleiderschrank zurück soll, wird mit Geduld und Selbstdisziplin nach spezieller Falttechnik aufgerollt. Danach wird alles so gestapelt, dass man glaubt, man baue einen Tempel, der in sich so stabil ist, dass er niemals wieder umfallen wird. Spätestens jetzt springt man als Zuschauer auf, reißt Schubladen heraus und probiert mit zu rollen – Hosen, Socken, T-Shirts, Erinnerungsstücke. Ihre „Konmari“-Methoden, hat die Japanerin längst zur Marke gemacht. Ihre Art, Überblick und Freude in der Ordnung zu sehen, lässt sie sich teuer bezahlen. Sie lebt nicht mehr in Japan, sondern mit zwei Kindern und Ehemann in Los Angeles. Sie schult Google-Mitarbeiter, bildet Clean-up-Coaches aus und hat bereits über sieben Millionen Bücher verkauft  – übrigens in 27 Sprachen, auch wenn Kondo selbst nur Japanisch und gebrochenes Englisch spricht. Wer sich für den Unterbau des Manifests interessiert, findet Hinweise in der Netflix-Serie selbst. Ein Hauch Shintoismus weht hindurch, wenn sie Pullovern einen Geist zuspricht oder auf Bücher klopft, bevor sie entsorgt werden. Kondo selbst hat einige Jahre in einem Shinto-Schrein gearbeitet. Die japanische Religion könnte auch der Grund dafür sein, dass sie bei sentimentalen


»Bei TEAM 7 lieben wir den Dreiklang aus Natur, Design und Technologie.« Hardi Möller, Storeleiter TEAM 7 stilwerk Düsseldorf


ÂťWer Ruhe im Raum hat, der hat Ruhe im Kopf.ÂŤ Wilfried Lembert, Inhaber minimum einrichten stilwerk Berlin


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Ausmisten und Ordnen, als würde man morgen sterben. Nun ist Magnusson 85 Jahre alt und hat allein deshalb Grund, darüber nachzudenken. Doch in Skandinavien findet die Methode besonders bei Menschen unter 40 Zuspruch. Das schwedische Wort „Döstädning“ steht für eine Kombination aus den Wörtern „sterben“ und „Sauberkeit“. Ansammeln von Dingen in Schubladen ist verboten. Auch wenn es morbide klingt, berichten die meisten darüber, wieviel leichter und befreiter es sich nach „Döstädning“ lebt. Bewusster Verzicht und materielle Rückbesinnung sind also keine Altersfrage. Detox-Behandlungen, Clean-Eating-Gastronomie und die Verbannung von Plastik begegnen uns täglich. Milchprodukte, Fleisch und Strohhalme waren bis vor kurzem noch salonfähig. Heute lunchen Hipster in veganen Bistros, trinken Hafermilch und rühren ihren Gin Tonic mit essbaren Stäbchen. Wo früher wilde Strandpartys gefeiert wurden, sammelt man heute Plastikmüll ein. Beach Clubs waren gestern, man trifft sich diesen Sommer am Strand zu Clean-up-Aktionen. Wer seinen materiellen Besitz runterschraubt und Bedürfnisse auf das Mindeste reduziert, lebt im Luxus von morgen. Möchte man diese Entwicklung im großen Ganzen verstehen, rät es sich, sich wieder beim bekannten Streaming-Dienst umzusehen. Die Dokumentation „Minimalism: A Documentary About the Important Things“ wurde bereits 2016 gedreht und beleuchtet

einprägsam Gründe und Folgen des amerikanischen Konsumverhaltens. Mehr zu besitzen, galt als Gleichung für ein besseres Leben; Status, Karriere und Geld untermauern den amerikanischen Traum. Regisseur Matt D'Avella stellt die Theorie in Frage. Dafür begleitet er die beiden bekennenden Minimalisten Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus auf ihrer Reise durch die USA. Sie sind für ein Jahr auf Promotion-Tour mit ihrem Buch „Everything that remains“ (Alles, was bleibt) unterwegs – natürlich mit wenig Gepäck. Während der Film zeigt, wie die beiden ihre Philosophie vor wenig Interessierten verbreiten, werden immer wieder harte Fakten eingestreut: Warum leben Industrienationen heute im größten Wohlstand und sind unzufriedener denn je? Warum bekommen wir nach acht Wochen ein schlechtes Gewissen, wenn wir uns nicht mit etwas Materiellem belohnen? Man erkennt schnell, wie sinnlos das Leben wird, wenn man sich an Besitz bindet. Nach einer Stunde und 19 Minuten möchte man als Zuschauer alles loswerden, was nicht glücklich macht. Ein großes Ziel für jeden Einzelnen, ein noch größeres für Amerika. Unwahrscheinlich bleibt es dennoch nicht. Sollte der amerikanische Traum in den nächsten Jahren umgeschrieben werden, nehmen sich Marie Kondo und ihre Übersetzer dem Phänomen sicherlich an. Aber zuerst muss jeder bei sich selbst wühlen. Die Ordnung der Dinge beginnt im Kleinen. 

Joshua Weaver

Links Weniger ist mehr: „The Minimalists” alias Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus haben nach eigenen Angaben schon mehr als 20 Millionen Menschen geholfen, mit weniger Besitz viel glücklicher zu sein. Ihr Podcast „The Minimalists“ zählt zu den beliebtesten im Bereich Gesundheit

Reef

Rechts Better Beach Alliance: Surflabel Reef und die internationale Surfrider Foundation machen gemeinsame Sache. Statt Hang Loose säubern sie ihren Lieblingsspot auf Teneriffa


TODAY Kreativdirektion: Set Fotografie:

Design

Christian

+

Müller Roman

Styling:

und

Stefan Christian

Heyer Müller Dachsel

Ein Stuhl wartet auf einer Dachterrasse auf Gäste; ein Sessel in einem Flur auf neue Besitzer. Lange gedulden müssen sich die Designmöbel, die wir bei unserem Fotoshooting in einem alten Gebäude im Umbau inszeniert haben, nicht mehr: 2021 wird hier das künftige stilwerk Hotel „Bergblick“ in Hamburgs Süden stehen. Denn selbst wenn leere Räume sichtlich sehr inspirierend sein können – auch die drei neuen Hotels, mit denen stilwerk sein Design-Portfolio um den Bereich „Hospitality“ erweitert, sollen kreative Entspannungsoasen werden. Wer sich hier einbucht, kann sich mit anderen Gästen vernetzen und sich beim Probewohnen in ausgesuchtem stilwerk Mobiliar fürs eigene Zuhause inspirieren lassen. Check? Check in!


WE CURATE INSPIRING SPACES

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LIMIIERTE

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VON

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HOCKER HOCKER SPIEGEL GARDEROBE LEUCHTE SERVIERWAGEN

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LIVING INTENSIFIED _________ 69

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STUHL „GAIA“ VON KFF CHROM-GARDEROBE „CAOT RACK“ VON MATER SESSEL „PAIPAÏ“ IN MINTGRÜN VON LIGNE ROSET STEHLEUCHTE „THEIA“ VON MARSET SAMTSESSEL „VUELTA 72“ IN ROSÉ VON WITTMANN OUTDOOR-SESSEL „MBRACE“ VON DEDON

SOFA TISCHE LEUCHTEN

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BOBOIS WITTMANN FOSCARINI



LIVING INTENSIFIED _________ 72


TEPPICH

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FREISCHWINGER KLAPPTISCH LEUCHTE

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VON

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Renner Hainke Wirth Zirn Architekten

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Renner Hainke Wirth Zirn Architekten


MEHR ALS ZUHAUSE Koffer abstellen, und eintauchen in ein innovatives Woh(l)ngefühl: In den künftigen stilwerk Hotels wohnt man nicht  –  man lebt intensiver. Text:

Natali

Michaely

Der gemütlichste und zugleich kommunikativste Ort einer Wohnung? Die Küche. Von hier aus ziehen verführerische Düfte durch die Räume, hier wird geredet, gefeiert und gelacht. Und alles meist herrlich spontan und ohne den Anspruch, die perfekte TischDeko zum steifen Hauptdarsteller des Abends zu machen. Schon zu Urzeiten scharten sich alle ums Feuer. Und so soll es auch in den künftigen stilwerk Hotels sein: die Küche als Dreh-und Angelpunkt des Wohnens, des Zusammenseins.

KOMMUNIKATION MACHT KREATIV Wie im Hotel Travemünde nahe der Strandpromenade, das bis 2021 fertiggestellt sein wird. Der helle Neubau soll im Stil eines Wochenendhauses entstehen, mit inspirierendem Interior Design. Ein Hotel, in dem man „lebt“ – dafür sorgen allein die 80 individuell gestalteten Zimmer und ein parkähnlicher Garten. Das Herzstück des Hauses jedoch ist die gemeinsame Wohnküche, die der Gast direkt beim Hereinkommen betritt. Der großzügige Raum soll Platz für Begegnung, Kreativität und Entspannung bieten. Hier kommen alle an einen Tisch – Erholungssuchende und Personal. Doch das private Wohngefühl macht hier noch lange nicht Halt. Mit Relax-Orten wie dem Kaminzimmer, der Dachterrasse mit Meerblick oder dem Innenhof mit der Winter-linde will das Hotel zusätzlich Begegnungen zwischen seinen temporären Bewohnern fördern. Und es will zeigen, dass Design eine wichtige Plattform für kulturellen und gesellschaftlichen Austausch bieten kann. Sich unter Freunden zuhause fühlen und Inspiration tanken – so die Idee der stilwerk Macher hinter dem Konzept, das von Spine Architects und Stephen Williams Associates architektonisch umgesetzt wurde.

MEHR DAVON Auch bei den weiteren Projekten steht das „Design erleben“Konzept an erster Stelle. Unter anderem entsteht in einem historischen Speicher im Rotterdamer Hafen eine neue stilwerk Destination mit einer 3500 Quadratmeter großen, offenen Ladenfläche mit Hospitality-Bereichen wie Serviced Apartments, Co-Working Spaces, Gastronomie und Markthalle. Ein Hideaway mit besonderer Naturanbindung wird dazu bis 2021 in den Harburger Bergen fertiggestellt, eins der beiden Hamburger Vorhaben. Charakteristisch für den Ort: die Ruhe, die Weite und der Panoramablick auf die Elbe. Von Wellness bis Remote Working –  in dem Full-Service-Hotel werden die Bewohner auf Zeit die kreative Entschleunigung finden, die sie suchen. Federführendes Architekturbüro für den visionären Umbau eines alten Hotelgebäudes, das mit einem Glasaufbau aufgestockt wird, ist, wie auch in Rotterdam, Renner Hainke Wirth Zirn Architekten. Auch in historischen Mauern – in einer Stadtvilla von 1874 im Hamburger Stadtteil Rotherbaum – entsteht das stilwerk Hotel Heimhude. Das Haus wird in diesem Jahr konzeptionell umgestaltet, der besondere Charme von alt und neu bleibt erhalten und in den 24 Zimmern mit Zugang zum großzügigen Garten ist das ZuhauseGefühl garantiert. Und wenn man sich von „seinem“ Sessel auf Zeit auf „seinem“ Sofa oder dem behaglichen Teppich so aufgenommen fühlt, dass man gar nicht mehr nach Hause will? Kein Problem. Hat der Gast ein Möbelstück gefunden, das ihn nicht mehr loslässt, so kann er sich vom Hotelpersonal beraten lassen, das den Kontakt zum Händler in den stilwerk Designcentern herstellt. Wohlfühlen zum Mitnehmen sozusagen – und das nicht allein in der Küche. 


SCHÖNER KÖRPERKULT „Schönheit ist überall ein willkommener Gast“, sagte schon Goethe. Gerade sind weibliche Formen als Interieur- oder Schmuck-Designs sehr präsent. Ein Trendbericht über die neue, weibliche Selbstliebe zwischen Marrakesch und Hamburg. Silke Laurence

Wenn die gebürtige Belgierin Laurence Leenaert durch ihr lichtdurchflutetes Designstudio in Sidi Ghanem, dem ehemaligen Industrieviertel von Marrakesch schlendert, ist sie genau dort angekommen, wo sie immer sein wollte. 2013 kam sie nach Marokko, mit einer Nähmaschine und 400 Euro in der Tasche. Sie lebte mehrere Monate bei einer Beduinenfamilie in der Wüste. „Tagsüber wurde ich in die Kunst des Keramikbrennens eingeführt, abends habe ich in die Sterne gestarrt“, erzählt sie. Seither ist viel passiert: Laurence hat mit LRNCE ihr eigenes Label gegründet, bemalt Vasen mit asymmetrischen Gesichtern, lässt Teppiche und Kissen mit grafischen Mustern und abstrakten Körperformen besticken und Körbe nach ihrem Ästhetikgefühl flechten. Expressiv, aber immer sinnlich. Die Nachfrage nach ihrem markanten Stil ist riesig. Körper auf Interieur, ausgerechnet aus einem Land, in dem weibliche Attribute traditionell verhüllt werden? „Ich bin nach Marrakesch gezogen, weil ich hier weit

Roth Leenaert

weg bin von allem, was man angeblich sein und fühlen soll. Ich glaube, die Weltlage ist ernst, aber wir sollten weniger darstellen wollen und einfach sein. Aus dieser Freiheit entsteht mein Design.“ Das Selbstbewusstsein, mit weiblichen Körpermerkmalen zu spielen, beschäftigt viele Kreative. Die Stärkung der Frauenrechte steht aktuell politisch und kulturell im Mittelpunkt des Weltgeschehens. Dies wiederum inspiriert Künstler zu plakativen Designs. Auf der Sommerkollektion von Jil Sander ziehen sich filigrane Zeichnungen von Frauensilhouetten über grobe Strickpullover. Schmuckdesignerin Carolin Loebbert aus Hamburg hängt mit ihrem Label Facets die Hommage an die Weiblichkeit sogar als Ursprung ihrer Kunst auf. „Die neue Generation von Power-Frauen ist sinnlich, unabhängig und stolz. Die Frauen leben und lieben jede ihrer Facetten. Ein Detailreichtum, der sehr faszinierend ist“, so Loebbert. Man kann ihr nur zustimmen. 

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N I C H E B E AU T Y COM


Vier stilwerk Destinations – vier Local Heroes. BERLIN Ü ANDREAS MURKUDIS Potsdamer Straße 81, 77, 98 10785 Berlin

STILVOLL IM DREIECK Text: Fotos:

Silke Thomas

Betritt man die ehemaligen Druckereihallen in der Potsdamer Straße 81, gehen die Augen auf Entdeckungsreise. Ein Land der schönen Dinge erstreckt sich auf 1000 Quadratmetern entlang sieben Meter hohen Wänden. Andreas Murkudis hat 2011 seinem Stilempfinden hier eine Heimat gegeben. Es reihen sich Designerroben an handgemachte Seifen, japanische Bürsten und feinstes italienisches Leder. Alles persönlich kuratiert und platziert. Ist so ein Geschäftsmodell in der heutigen Zeit rentabel? „Es geht nicht um den Mainstream-Geschmack, ich muss hinter den Produkten stehen“, sagt der 58-Jährige, der Einkäufer und Geldgeber zugleich ist. Entscheidend ist, dass Qualität und Preis sich rechtfertigen. Wir nehmen für ein Interview Platz. Sind Sie ein Sofa-Mensch, Herr Murkudis? „Unbedingt. Wenn im Flugzeug alle emsig arbeiten, frage ich mich, ob das wirklich produktiv ist. Neue Konzepte überlege ich mir auf meinem Eames-Stuhl oder auf der Couch, dort kann man unglaublich frei denken.“ An neuen Ideen mangelt es ihm nicht, an Risikobereitschaft schon gar nicht. Er wechselte schnell von seinem BWL-Studium zur Kunstgeschichte. Kündigte seinen Museumsjob, um Bruder Kostas, Ex-Designer von Helmut Lang, bei seinen Fashion-Shows zu helfen. Dass er heute drei grundverschiedene, erfolgreiche Stores betreibt, hat er

Meyer

Roth Ostkreuz

wohl seinem Drang nach stetiger Veränderung zu verdanken. „Die meisten Concept Stores sind leider ohne Konzept. Da stehen Dinge drin, die wahllos zusammengewürfelt sind. Meist haben die Läden in der Umgebung ähnliche Produkte und kopieren sich gegenseitig. In der Hausnummer 77 dann der Möbelladen – keine Kopie, wieder ausgewählte Designer. Jüngster und spannendster Zugang im Murkudischen Reich ist Hausnummer 98. Ein perfektes Apartment mit möbliertem Wohn- und Arbeitsbereich. Hier findet man ein Coco-Mat-Bett, entworfen von Kostas und Andreas, das Bad ist ausgekleidet mit Marmor von Agape. Designs von E15, Vincent Van Duysen und Serax schmücken Wohnraum und Küche. Dazu hat der Chef persönliche Bücher und gesammelte Kunstwerke über die Fläche gestreut. „Ein verlängerter Arm meiner eigenen Wohnung.“ Verkaufen soll das Apartment übrigens nicht, es ist eher ein Vorschlag, wie Dinge zusammen Sinn ergeben. Noch einmal nachgefragt – ist das wirtschaftlich? „Nein, aber soll es auch nicht. Luxus ist keine Frage des Preises, es geht eher um Firmen, die es sich erlauben, in Deutschland und Italien zu fertigen und somit auf Langlebigkeit setzen.“ Na dann, auf Berlin und den Luxus! 


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Vier stilwerk Destinations – vier Local Heroes. DÜSSELDORF Ü KIT – Kunst im Tunnel Mannesmannufer 1b 40213 Düsseldorf

TALENTE AUS DER TIEFE

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Suchte man in Deutschland eine Riviera, ähnlich der Côte d’Azur, würde die Wahl sicherlich auf die Düsseldorfer Rheinuferpromenade fallen. Das mediterrane Klima und die rheinische Lebensfreude verschmelzen hier zum lebhaft-mondänen City Spot. Was oftmals vergessen wird, ist, dass Düsseldorf nicht nur der schöne Lifestyle prägt, sondern auch Kunsthistorie. Ein Blick in die Tiefe lohnt sich. Kurfürst Carl Theodor legte bereits 1773 die Basis für die renommierte Düsseldorfer Kunstakademie. Studenten wie Joseph Beuys, der dort später Professor war, Felix Droese, Jörg Immendorff oder Blinky Palermo wurden hier ausgebildet. Sigmar Polke, Yves Klein und Gerhard Richter wirkten in der Stadt. An Orten großer Kunst mangelt es nicht. Anfang der 90er-Jahre waren es dann Akademiestudenten, die den gesetzten Galerien ihren eigenen Off-Space entgegensetzten: in Zwischenräumen der unterirdischen Autotunnel entlang des Rheinufers. Normalerweise aufgeschüttet durch Sand, ist dort fortan kreativer Austausch angesagt. 2006 baute die Stadt alles sicherheitsgetreu aus und dockte die „Kunst im Tunnel“ (kurz KIT genannt) an die Kunsthalle an.

Silke Ivo

Roth Faber

Gudrun Peters war von Anfang an als als künstlerische Leitung dabei und stand bereits auf der Baustelle, als das Gebäude nur ein riesiges Loch ohne Dach war. Heute ist das KIT ein markanter Glaskubus samt Café. Nach unten geht es mit einer Treppe in einen 888 Quadratmeter großen Raum. Drei bis viermal jährlich finden Ausstellungen statt. Frau Peters, wie funktioniert ein Ausstellungsraum in der Tiefe? „Phantastisch. Die Fläche ist U-Boot-ähnlich mit schrägen Betonwänden, fast ohne Tageslicht. Der Boden neigt sich nach unten, die Decke nach oben. Im letzten Jahr zählten wir 42 000 Besucher und alle waren begeistert.“ Aber was ist der Unterschied zum großen Mutterschiff, der Düsseldorfer Kunsthalle? „Unser Auftrag ist es, den Nachwuchs zu fördern. Das können Studenten von allen möglichen Akademien der Welt sein. Ihnen die Chance zu geben, zum ersten Mal einen eigenen Katalog aufzulegen, ist einfach eine großartige Freude.“ Ein bisschen stolz sei man natürlich, wenn man Talente wie die Malerin Vivian Greven schon im frühen Stadium ihrer Karriere entdeckt und ihnen eine Plattform geben kann, sehr groß zu werden, fügt sie hinzu. Kann man unterirdisch gut verstehen. 


Installationsansicht „Von mir aus“, KIT – Kunst im Tunnel, 2019

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Vier stilwerk Destinations – vier Local Heroes. HAMBURG Ü Fuck Yeah Sexshopkollektiv Caffamacherreihe 47 20355 Hamburg

GANZ SCHÖN POPPIG

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Roland Janusz

Sexshop – ein Wort, viele unsexy Assoziationen: Dolly-BusterDVDs, fleischfarbige Genital-Imitate, Männer, die verstohlen Kabinen aufsuchen … Man kann aber auch einfach denken: „Fuck Yeah“! Der kleine Laden im Hamburger Gängeviertel ist ganz anders. Eher wie ein Sofa-Café, in dem auch bunte Skulpturen und Accessoires verkauft werden. Erst beim zweiten Hinsehen ist klar, dass die Teile zwischen unverputzten Wänden und in Holzregalen Sextoys sind. Nicht hautfarbene, sondern in Lila Metallic oder weißrotblau wie ein Retro-Sneaker. Keine geäderten PlastikPimmel oder „Lustgrotten“, eher Hightech-Joy-Sticks oder handgefertigte kleine Kunstwerke. Bilder von nackten Körpern sucht man vergeblich, ein Produkt mit explizitem Produkt-Design ist überklebt mit „Sorry:)“-Post-It. „Wir möchten ein Shop für alle Identitäten, alle Körperformen und alle Spielarten von Sex sein“, sagt Fränky Stäbler. Vor über einem Jahr gründete sie zusammen mit Zarah Henschen, Rosa Schilling und Florian Gnau „Fuck Yeah“ als Kollektiv. Kurz danach konnten die vier mit einer Crowdfunding-Kampagne den Laden

Rödermund Beck

eröffnen, den sie als gleichberechtigte Inhaber*innen führen. „Fuck Yeah“ begreifen sie als sexpositiv, queer-orientiert und feministisch. „Das heißt ja nicht, dass alles nur für Frauen ist. Und hier kauft auch nicht nur die linke Szene“, sagt Rosa Schilling. Gerade lässt sich ein junger Mann im Jacket zu veganer und nachhaltig produzierter Gleitcreme beraten. Eine Studentin fragt sich für alle hörbar, ob Prostata-Massage auch was für ihren Freund sei. „Man kommt sich hier schon ziemlich nah. Aber nur, wenn man will!“, sagt Schilling dazu. Sie und die anderen „Fuck Yeahs“ wollen den entspannten Umgang mit Sex und Sexshops nicht nur mit dem Verkaufen revolutionieren: Es gibt ein begleitendes Bildungsprogramm – etwa den Upcycling-Workshop, wo aus alten Fahrradschläuchen Peitschen oder Fesseln entstehen. Oder „Sex und Sprache“. Und für Berührungsängste gibt es den Webshop, dafür werden alte Kartons aus der Nachbarschaft recycelt: Die heiße Ware kommt im alten Amazon- oder Ottopaket – sexy für die Umwelt, diskret im Versand. Oder wie man hier sagt: „eco-fucking-friendly“. 


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Vier stilwerk Destinations – vier Local Heroes. ROTTERDAM (ab 2021) Ü Fenix Food Factory Veerlaan 19D 3072 AN Rotterdam, Niederlande

LOKAL FRISCH FAIR

Text: Fotos:

Fenix

Silke

Wenn Food Trucks und Snack-Buden auf einem leergeräumten Fabrikgelände aufpoppen, ist das heute nichts Besonderes mehr. Craft Beer, Burger und Pulled Pork gehören zum Bild einer Großstadt wie Parks und Museen. Im Hafen von Rotterdam haben sich 2014 junge Unternehmer zusammengetan, um aus einer leerstehenden Speicherhalle einen Ort für lokale Produkte und Hersteller zu machen. Ein Konzept, das spannender und anders ist als normale Markthallen. Schon alleine die Location spricht für sich: In Katendrecht an der Wilhelminakade wurden früher Hafenarbeiter spartanisch einquartiert und Matrosen belebten das einstige Rotlichtviertel. Heute hat sich die schmuddelige Ecke zum Wohngebiet gemausert. Dreh- und Angelpunkt am Pier ist die Fenix Food Factory. An sechs Tagen in der Woche treffen sich Touristen und Locals, um draußen auf einfachen Holzpaletten das hauseigene Bier und den Blick auf die Skyline von Kop Van Zuid zu genießen. Innen versteckt sich ein nachhaltig durchdachter Foodie Tempel. Alles wurde der Liebe zum Produkt und kurzen Herstellungsketten gewidmet.

Food

Roth Factory

Gekauft wird von Herstellern aus der Region Rotterdam. Den direkten Einblick in die ansässige Brauerei, Käserei und Kaffeerösterei gibt es auch. Das feste Angebot reicht von einer kleinen Buchhandlung bis zur Metzgerei. Gut 6000 Besucher zieht es wöchentlich hier her. Was sicherlich auch daran liegt, dass jeden Samstag zu den zwölf ansässigen Kleinunternehmen weitere Marktstände dazukommen. Überall kann probiert und gekostet werden. Austausch ist hier Programm, auch zwischen den Produzenten, die sich unternehmerisch helfen und ständig mit ihren Angeboten kooperieren. Bier aus unverkauftem Brot, Käse mit Bier oder Brot mit Bierkruste – der Kreativität sind wirklich keine Grenzen gesetzt. Zum nachbarschaftlich lokalen Geschäftsprinzip gehört auch, dass man die rund siebzig Mitarbeiter so bunt durchmischt wie die Stadt Rotterdam eben selbst ist. Alt, jung, zugewandert, alteingesessen, aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Der größte Hafen Europas ist eben ein Schmelz-tiegel, der stets offen für Kulturen und Innovationen bleibt. 


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Chefredaktion: Alexander Garbe Redaktion: Rabea Ebeling Tatjana Groß Stefan Heyer Elena Recke Silke Roth Art Direktion: Stefan Heyer Chefin vom Dienst: Rabea Ebeling Bildredaktion: Stefan Heyer Textchefin: Natali Michaely Korrektorat: Karoline Schulz Reinzeichnung: Stefanie Schwarzbach Autoren/innen: Andrea Bierle Bazon Brock Judith Jenner Natali Michaely Stephanie Neubert Andrea Richter Roland Rödermund Silke Roth Annika Thomé Manuel Almeida Vergara

Konzept und Realisation: stilwerk Center-Management GmbH Geschäftsführung: Tatjana Groß Große Elbstraße 68 22767 Hamburg Druck: Beisner Druck GmbH & Co. KG 21244 Buchholz Vertrieb: PressUp GmbH Postfach 70 13 11, 22013 Hamburg Wandsbeker Allee 1, 22041 Hamburg Heftpreis: € 5,50 Erscheinungsjahr: 2019 Standorte: stilwerk Hamburg Große Elbstraße 68 22767 Hamburg hamburg@stilwerk.de stilwerk Berlin Kantstraße 17 10623 Berlin Berlin@stilwerk.de stilwerk Düsseldorf Grünstraße 15 40212 Düsseldorf Duesseldorf@stilwerk.de Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird nicht gehaftet. Titel und Vorspänne stammen i.d.R. von der Redaktion. Datenschutzbeauftragter im Sinne der DSGVO: Christian Mehnert, stilwerk Center-Management GmbH, Große Elbstraße 68, 22767 Hamburg, datenschutz@stilwerk.de

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Herausgeber & verantwortlich im Sinne des Presserechts: Alexander Garbe stilwerk Center-Management GmbH Große Elbstraße 68 22767 Hamburg Tel. +49 40 288 094 60 magazin@stilwerk.de www.stilwerk.com

STILWERK MAGAZIN LIVING INTENSIFIED 2 | 2019


»Wir fertigen jeden Lautsprecher — individuell und handgemacht.« Thomas Carstensen, Gründer & Geschäftsführer Inklang stilwerk Hamburg


LEBEN REFORMIEREN DURCH ENTRÜMPELN BEI GUTER BELEUCHTUNG Text: Foto:

Bazon

Brock, Verena

Das Leben intensivieren? Durch Wohnen intensivieren? Durch Kleidung, Essen und andere Kulturgenüsse? Die Spannbreite des Programms „Intensivieren des Lebens“ in häuslichen wie in öffentlichen Szenarien ist extrem. So meinte Hermann Göring, der Genusssüchtige unter den vier Nazi-Größten, als er im Mai 1945 zum Ende des Tausendjährigen Reiches befragt wurde: „Wenigstens zwölf Jahre anständig gelebt!“ – das hieß CarinhallProtzerei, täglicher dreifacher Wechsel der ordensbekleckerten Uniform, Machtgenuss im Kommandieren, Champagner-Sause und Selbstbespiegelung im Film. Demgegenüber steigerten die Mitglieder der Weißen Rose ihre Lebensintensität durch Kampf gegen die Diktatoren. Sie fanden es sinnvoll, ihr individuelles Leben zu riskieren, um anderen das Leben zu erhalten. Kulturgeschichtlich steht das Modell „epikureisches Genießen“ gegen das Modell „stoische Pflichterfüllung“. Beide, Genuss wie Askese, sind Formen der Intensivierung des Lebens. Lassen sich die Positionen zugleich, das heißt in Übereinstimmung praktizieren? Zum Bauhaus-Jubiläum darf daran erinnert werden, wie Gestaltungsaskese zur bewussten Lebenssteigerung beitragen sollte. Licht, Luft und Wasser, gute, aber mäßige Kost und Bewegung in „Bewegungen“ sollten das Ideal der Aufklärung durchsetzen: Erleuchtung durch Beleuchtung, Souveränität durch Selbstbeherrschung, Freiheit als Einsicht in Notwendigkeiten und ein

Cronenberg

2019 Berg

gutes Gewissen durch Verpflichtung auf Modernität. Die Psychodynamik der erträumten Einheit von Genuss und Verzicht sollte jeder erkannt haben: Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen, wusste man von Luther bis Kant. Nach der Fresserei der guten Tage genießt man das Leben bei klarem Wasser und schwarzem Brot. Hinsehen und Wegsehen oder Hingabe und Ablösung, Vollstellen und reiner Tisch vermitteln wir durch die Einsicht „Alles in Maßen durch kluge Auswahl“. Lernt zu wählen mit Ziel und Sinn, das führt zur Professionalisierung des Konsumbürgers. Er wird zum Wähler mit Verstand, nur irritierbar durch gute oder schlechte Laune. Die bedeutendste Leistung des Bürgers ist das Wählen durch Auswählen. Was tut gut für das Gefühl der Sicherheit durch Besitz, was tut gut durch das Gefühl, unnötigen Ballast abgeworfen zu haben? Gibt es eine Generalmaxime der Auswahlkriterien? Jawohl: Hochwertiges währt länger. Wer Gelsenkirchener Barock kauft, sitzt schon nach kurzer Zeit im Wegwerfplunder. Wer Erstklassiges wählte, vererbt das noch an die Enkel als teure Antiquität. Bauhaus-Prinzip: Weniges von Gestaltungsrang ist mehr als gemütliche Fülle im Durchschnitt. Weniger ist mehr. Das zu erkennen, lernt man vor allem in Museen und anderen Sammlungen von Kostbarkeiten. Kurz: Bildung ist Grundlage und höchste Ausprägung des intensivierten Lebens. 

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Bazon Brock bezeichnet sich gern als Denker im Dienst und Künstler ohne Werk. Er ist emeritierter Professor am Lehrstuhl für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal, darunter das Institut für Gerüchteverbreitung und eines für theoretische Kunst, das Labor für Universalpoesie und Prognostik, das Büro für Evidenzkritik, das Pathosinstitut Anderer Zustand und die Prophetenschule. Seit 2011 betreibt er die „Denkerei/Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maßnahmen der hohen Hand“ mit Sitz in Berlin. www.denkerei-berlin.de


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