1 minute read
All das strotzt vor energie und Kraft
Das hessische Staatsballett beeindruckt mit den Choreografien »Force Majeure« und »Boléro« in Darmstadt
»Höhere Gewalt« – nicht erst seit der Coronavirus-Pandemie ist dieser Begriff fester Bestandteil von Verträgen. Dem kanadischen Choreografen-Paar David Raymond und Tiffany Tregarthen ist das aufgefallen, und sie haben zu dem Thema ein Stück entwickelt. Für »Force Majeure«, so der französische Titel, arbeiten die beiden Künstler aus Vancouver, die früher mit ihrer Landsfrau Crystal Pite bei Kidd Pivot zusammenarbeiteten – allerdings nach der Residenz der Company im Frankfurter Mousonturm –, erstmals mit dem Hessischen Staatsballett und einem Live-Orchester zusammen. Die Musik der Französin Angèle David-Guillou, die sich bei der Premiere im Staatstheater Darmstadt unter der Leitung von Johannes Zahn aus dem Graben des Großen Hauses erhebt, klingt dramatisch und erzählend wie ein Film-Soundtrack. Dazu entstehen Bilder, die sorgfältig komponierten Gemälden ähneln, sich auflösen in Szenen, in denen die 13 Tänzer*innen getrieben werden von unsichtbaren Kräften. Sie landen am Boden, werden hochgekickt, als würde die Eruption, die gleich zu Beginn aus einem Loch in der Mitte einen Haufen Kleider herausschießen ließ, nun auch sie ergreifen. Gedanken an den Klimawandel ploppen auf. Auch als ein verdorrtes Bäumchen wie zu einer Untersuchung auf einen Leuchttisch gelegt wird. Das Ensemble beugt sich wie bei einem Konzil darüber, verharrend im mystisch-gelblichen Licht (James Proudfoot). Dann wird das Objekt ausgetauscht, ein Mann, wie unter Lava gekrümmt erstarrt, nimmt seinen Platz ein. Lebewesen als Opfer größerer Mächte. Eine graue, raue Steinwand ragt im Hintergrund bedrohlich in die Höhe.
Advertisement
All das strotzt vor enormer Kraft und Energie, brennt sich ein, ohne dass sich alles erklären muss. Kostümwechsel spielen eine Rolle, die Bewegungssprache wirkt nicht fremd und ist doch voller überraschender Momente.
In dieser Hinsicht ähnlich und doch ganz anders geht es nach der Pause weiter. Eine Boléro-Interpretation, entworfen von dem Israeli Eyal Dadon, ergänzt das 45 Minuten lange Auftaktstück zu einem Doppelabend. Wohl bekannt ist das Werk des französischen Komponisten Maurice Ravel; dass Töne fehlen bei dem ersten von zwei Durchgängen, fällt schnell auf. Tatsuki Takadas Solo könnte auch alleine stehen bleiben, so famos setzt er es um. Weich gleitet der Japaner im bläulichen Nebel durch die manchmal ganz kleinen, dann wieder raumgreifenden Bewegungssequenzen; locker sitzendes Hemd und Hose unterstreichen das Fließende daran. Dann wiederholen sich Musik und Tanz, die eine jetzt ohne Auslassungen, der andere ergänzt durch weitere 15 Performer, die Gesehenes aufnehmen, Kontrapunkte setzen. Jedes Detail aus dem 15 Minuten dauernden Ohrwurm erhält eine Entsprechung, die es hervorhebt und charakterisiert. Ein gemeinsames Trippeln hier, ein Ausfallschritt mit gespreizten Armen und puppenhaft erhobenen Händen dort, ein Rütteln, das den ganzen Körper erfüllt. Anfängliche Deutungen verändern sich, erhalten neuen Sinn. In beiden Choreografien dominiert die Düsternis. Sie selbst jedoch sind Lichtblicke in einer Zeit, in der die höhere Gewalt sich nicht mehr so einfach aus dem Alltag verdrängen lässt.