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Land der Jahreszeiten

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Bewusst unterwegs

Bewusst unterwegs

Ich musste erst aus Südtirol wegziehen, um zu erkennen, was mir hier am meisten gefällt: das Spiel aus Frühling, Sommer, Herbst und Winter

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Irgendetwas fehlte. Ich wusste nicht genau, was es war. Aber ich wusste, dass da etwas war, vielmehr: dass etwas nicht da war. Dass ich etwas vermisste, sehr sogar. Doch was? Anfangs, nein, da vermisste ich nichts. Was vermisst man als junger Mensch schon, wenn man von der in dem Alter als durchaus erdrückend empfundenen Klischeeidylle eines Alpenparadieses ausbricht und in eine große, dreckige, laute Großstadt zieht? Dass es in dieser großen, dreckigen, lauten Großstadt weit oben im Norden im Winter kaum Sonne gibt – geschenkt. Anfangs. Denn als anständiger junger Mensch feiert man nachts und schläft tagsüber natürlich. Wozu Sonne? Aber irgendwann, je älter man wird, schlägt’s aufs Gemüt. Und irgendwann verstand ich: Hier, in dieser Großstadt im Norden, freute man sich einen langen, dunklen Winter lang, Tag für Tag, jede Stunde, auf das klein bisschen schönen Sommer, der hoffentlich bald kommen würde und nie bald kam. Und mitten im kurzen – stets sehr kurzen! – Sommer fürchtete man schon wieder den nächsten viel zu schnell eintretenden langen, dunklen Winter. Ein Winter mit Schnee zwar, aber ohne Berge. Und Sonne. Was nützt einem das? Schnee? Ohne Berge. Ohne Sonne. Völliger Irrsinn.

Ich verstand bald: Es ist das Wechselspiel der Jahreszeiten, das Südtirol, meine Heimat, so lebenswert macht. Wenn im März oben auf der Plose noch die Skier geschwungen werden, man unten in Brixen zwischen blühenden Zweigen bereits – ach, die Sonne scheint ja so schön! – den ersten Sommerdrink des Jahres bestellt. Wenn sich im Herbst oben am Berg, bei den Törggelehöfen des Eisacktals, die Blätter in frohes, heimeliges Gelb und Rot färben. Wenn man sich Ende des Winters auf den Frühling, Ende des Frühlings auf den Sommer, dann auf den Herbst, dann wieder auf den Winter freut.

Jede Jahreszeit zeigt sich stolz und ganz in ihrem Element. Der Lauf des Lebens, oft auch der Arbeit draußen in der Natur, folgt dem Lauf des ewigen Jahreszyklus. Das beschert Zufriedenheit. Jede der Jahreszeiten wird voll ausgekostet. Das weiß man ja vom Leben: Die Dinge, auf die man wartet, die nicht ständig zur Verfügung stehen, sind die reizvollsten, die genussintensivsten. Es sind diese kleinen Momente, zu beobachten in der Natur, beim Sport, im Kulinarischen, die dieses Jahreszeitenglück mit geballter Wucht präsentieren: Wenn der Winter noch mit dem Frühjahr ringt und man bei einer Wanderung oben am Gitschberg die ersten bunten Blumentupfer aus dem weißen Teppich, unter dem alles ruhte, brechen sieht. Wie auf einem Aquarell. Wenn man im heißen Sommer auf einer Bergtour über die Lüsner Alm plötzlich das erste Herbstlüftchen spürt. Wenn es im späten Oktober, die Kastanien im Ofen, plötzlich schneit, die Kinder mit großen Augen an den Fensterscheiben klebend, in Gedanken schon den Schneemann bauend, am nächsten Vormittag, wenn am wolkenlosen Himmel wieder die Sonne scheint. Zum Frühlingsbeginn ein letzter Tag auf der Piste, ja, zugegeben, der Schnee nach zehn Uhr schon etwas nass und klebrig, aber was soll’s. Ein letztes Glas Skihütten-Sekt, dann die letzten Schwünge, in Gedanken schon beim ersten Ausflug zu den Schrüttenseen und beim ersten Sprung in den kühlen Bergsee.

Vor wenigen Jahren bin ich aus der großen, lauten, dunklen Stadt zurück in die Berge gezogen. Ob ich für immer bleibe? Wer weiß. Wenn, dann sind es vier Glückselemente, die mich festhalten, die mich nicht mehr gehen lassen: Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Text — LENZ KOPPELSTÄT TER

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