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Südtirol für Anfänger

FOLGE 4:

Eine schrecklich aktive Familie

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ls unsere Kinder noch klein waren, breiteten wir jeden Samstag eine dieser altmodischen Südtirol-Landkarten auf dem Küchentisch aus. Dann suchten die Kinder per Fingerzeig irgendein zufälliges Ziel aus und los ging’s. Wo der klebrige Kinderfinger auch landete – der Ort, an dem wir uns dann wiederfanden, war jedes Mal spektakulär. Wie treue Leserinnen und Leser dieser Kolumne aber bereits wissen, teilt sich diese Welt in zwei Arten von Leuten: Normalsterbliche – und Menschen aus Südtirol. Diese Regel gilt doppelt oder dreifach für ihre Sprösslinge.

So könnte es zum Beispiel durchaus sein, dass Sie beim Skifahren eine einheimische Familie treffen, die Sie kennen, und gemeinsam ein paar Abfahrten genießen. Tun Sie das gerne! Aber glauben Sie unter keinen Umständen, Sie könnten auch nur mit dem kleinsten der Kinder mithalten. Ich habe den Fehler selbst gemacht. Gewiss, es ist verlockend. Die Kleine kann ja noch nicht mal richtig laufen! Wie schnell kann sie denn auf Skiern sein? Glauben Sie mir: Sie haben keine Chance.

Südtiroler Kinder lernen übrigens auch wandern, noch bevor sie überhaupt anfangen zu laufen. „Unmöglich!“, höre ich Sie sagen. Doch, so ist es: Berg-Babys lernen das sozusagen per Osmose, während sie stundenlang in bequemen Rückentragen stecken und zum Takt des sicheren, rhythmischen Schrittes ihrer wandererfahrenen Eltern langsam einnicken.

Ich erinnere mich daran, wie wir unsere Kinder in der Rückentrage mitnahmen, aber die Zeit ging irgendwie viel zu schnell vorbei: Bald waren die Kids ein-

fach zu schwer zum Tragen – und leider auch alt genug, um Meutereien gegen das Wandern anzuzetteln. Ich nannte es den Walk of Shame. Gerade mal 600 Meter weit vom Beginn der Tour, mit verbissenem Gesichtsausdruck und hochrotem Kopf schleppen Sie sich den Hügel hinauf und müssen so tun, als hätten Sie nicht eine schreiende Dreijährige am Schienbein hängen. Wohl wissend, dass Sie es mit diesem kleinen Klotz am Bein keine zehn Meter schaffen werden. Die Kleine hingegen weiß aus unerklärlichen Gründen leider genau, dass sie noch schwerer wird, wenn sie sich ganz starr macht. Und Sie beide wissen, dass Kinder weit mehr Ausdauer beim Schreien aus vollem Halse haben, als die Belastbarkeit Ihrer Nerven reicht. Beneidenswerte Eltern mit wanderfreudigen Sprösslingen im Schlepptau überholen Sie und versuchen, nicht zu starren. Nicht zu schmunzeln. Nicht zu urteilen. Die „Es gibt zwei Arten Südtiroler Kinder scheinen währendvon Leuten: dessen einfach nur verwirrt beim völNormalsterbliche –und Menschen lig unverständlichen Anblick von anderen Kindern, die nicht mit Mama und Papa wandern wollen. aus Südtirol.“ Mit einer anderen typischen Familienaktivität hier in Südtirol hatten meine Kids hingegen überhaupt kein Problem: dem Rodeln. Als New Yorkerin denke ich beim Wort „rodeln“ übrigens an Kinder, die kleine Plastikscheiben einen verschneiten Hügel hochziehen – und zwar einen sanften Hügel, nicht das, was man in Südtirol als Hügel und überall sonst als Berg bezeichnet. Diesen Hügel rutschen Stadtkinder nun mit viel Geschrei und Karacho hinunter, bis er am Ende flach ausläuft und sie stehen bleiben. Das Ganze wiederholen sie etwa 80 Mal, bis ihre Nasen rot und rotzig sind. In Südtirol hingegen bedeutet „rodeln“ erst mal: hochwandern. Interessanterweise haben meine Kinder dagegen erstaunlich wenig einzuwenden. Denn was anschließend kommt, lieben sie heiß und innig: Man stapelt die eigenen Kinder vor sich auf ein profes-

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