Ausgesetzt Auf den Spuren verschleppter Tierarten
Irvine Welsh – der «Trainspotting»-Autor im Interview
Resten essen: Foodsharing.de rettet Lebensmittel vor dem Müll
Nr. 294 | 15. bis 28. Februar 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.
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Titelbild: Lucas Mösch, WOMM
Editorial Fehl am Platz BILD: ZVG
Menschen scheinen zu wissen, wer wohin gehört. Sie holen exotische Tiere in heimische Gefilde und schicken ausländische Menschen zurück in ihre Herkunftsländer. Tiere haben einen festen Platz in der Natur. Sie gehören nach Australien, Europa, in die USA oder sonstwo hin. Das ist sinnvoll, weil sie bestimmte Dinge fressen – nicht zuletzt auch andere Tiere. Und das tun sie am besten dort, wo die Natur dafür vorgesorgt hat. Nun gibt es aber Leute, die denken, der Europäische Star würde sich auch im New Yorker Central Park ganz gut machen. Oder sie haben einen Gecko daheim und schmuggeln ihn ins Schmetterlingshaus, wenn sie seine Gesellschaft nicht mehr DIANA FREI wünschen. Die menschgemachte Tiermigration folgt den unglaublichsten Wegen. REDAKTORIN Und es ist nicht unbedingt so, dass es den Ankömmlingen in ihrer neuen Heimat nicht gefallen würde. Im Gegenteil. Oft vermehren sie sich frisch-fröhlich und probieren so manche Delikatesse aus der neuen Flora und Fauna wie die Urlauber im Ferienparadies: Lesen Sie den Text von Barbara Klingbacher auf S. 10 und tauchen Sie in eine Tierwelt vor verschobenen Kulissen ein. Menschen dagegen möchte man am liebsten dort lassen, wo sie bei ihrer Geburt auf die Landkarte gesetzt worden sind. Doch auch Menschen migrieren. Im Gegensatz zu den Tieren meistens aus eigenem Antrieb, wenn auch oft aus einer Not heraus. Und im Gegensatz zu den Tieren ist es bei ihnen weniger problematisch, weil sie keine Einheimischen wegfressen. Dafür geraten sie unter Umständen durch hiesige Gesetze unter Druck, wie unser Autor Stefan Michel ab S. 16 schreibt. In den meisten Kantonen muss das Sozialamt der Migrationsbehörde heute melden, wenn ein Migrant Sozialhilfegeld erhält. Dem, der nicht für sich selber aufkommen kann und daran selbst schuld ist, kann laut Artikel 62 des Ausländergesetzes die Aufenthaltsbewilligung entzogen werden. Das Problem ist nicht dieser Artikel, sondern die Tatsache, dass Migrationsämter begonnen haben, ihn als Mittel der Drohung zu benützen – und bei Weitem nicht bei nur Leuten, die er betrifft. Artikel 62 ist zum Instrument geworden, um Leute, die unverschuldet in der Sozialhilfe gelandet sind, psychologischem Stress auszusetzen. Das ist fehl am Platz. Wir bezweifeln, dass sich kaputte Seelen besser einleben, und unserem natürlichen Gleichgewicht würde es gewiss nicht schaden, wenn die Einheimischen nicht unnötig die Zähne fletschen würden. Herzlich Diana Frei
Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@vereinsurprise.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 294/13
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10 Foodsharing Teilen statt vertrocknen lassen BILD: ISTOCKPHOTO
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Inhalt Editorial Verschleppt und ausgewandert Die Sozialzahl Vom Schuften und Sterben Aufgelesen Faire Einkommensunterschiede Zugerichtet Sternhagelvoll Mit scharf Verfressene Käufer Starverkäufer Rado Bugar Porträt Bildersammler Irvine Welsh Wiedersehen mit «Trainspotting» Fremd für Deutschsprachige Karriere im Konjunktiv Tim Burton Wiederbelebter Hund Kultur Brautkauf ab Bild Ausgehtipps Techno-Mockumentary Verkäuferinnenporträt «Such dir Arbeit, Blackie!» Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP
Das Brot ist hart und das Joghurt hat ein Eigenleben entwickelt, also ab in den Abfall. So weit muss es nicht kommen. Wenn schon Autos und Musik geteilt werden, geht das doch auch mit Lebensmitteln, sagen sich die Gründer der Internet-Plattform foodsharing.de. In verschiedenen deutschen Städten versorgen sich die Teilnehmer gegenseitig mit Nahrungsmitteln, die der eine nicht mehr braucht und die dem anderen noch schmecken. Ein Modell mit Zukunft.
12 Eingeschleppte Tierarten Papageien in Brooklyn BILD: ISTOCKPHOTO
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Exotische Tiere werden oft für das heimische Terrarium oder Aquarium gekauft und schliesslich in einem Weiher freigelassen oder sogar in einen Zoo geschmuggelt. Die Papageien, Geckos oder Pythons bringen in ihrer neuen Heimat zwangsläufig das natürliche Gleichgewicht durcheinander und sind auch Grund für das Verschwinden von Tierarten vor Ort. Das ist aber nicht nur als biologisches Phänomen bedenklich. Es offenbart vor allem eine menschliche Naivität, wenn es um Mutmassungen darüber geht, wem es wo am besten gefallen könnte.
BILD: REUTERS/LISI NIESNER
16 Sozialhilfe Schaffen oder abfahren Wer jahrelang gearbeitet hat, bevor er durch einen Schicksalsschlag auf dem Sozialamt landet, hat Anspruch auf Unterstützung. Sollte man meinen. Für Ausländer gilt das nur bedingt. Wer ohne Schweizer Pass Sozialhilfe bezieht, erhält Briefe vom Migrationsamt: Wer nicht arbeiten kann, hat in der Schweiz nichts verloren. Umsetzbar ist diese Drohung kaum, die Betroffenen aber versetzt sie in Panik.
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Die Sozialzahl Tiefe Renten, früher
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Wir werden älter und ält er. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Schweize rinnen und Schweizern wir d auch in den kommenden Jahrze hnten weiter ansteigen. Be kan nt ist, dass Männer und Frauen unterschiedliche Sterbl ich kei tsrisiken aufweisen. Frauen im Rentenalter leben heute in der Schweiz rund drei Jah re länger als Männer. Diese durchschnittliche Differenz nim mt aber seit geraumer Zeit ab. Weniger bekannt ist, dass sich auch unterschiedlich e Sterblichkeitsrisiken und Lebens erwartungen nach Bil du ngsstand, Beruf oder Einkomme n beobachten lassen. Diese schichtspezifischen Unterschied e haben sich trotz der allgemeinen Verbesserung der Lebens bedingungen und dem breiten Zugang zum Gesundheits system kaum abgesc hwächt. Die unterschiedlichen Ste rblichkeitsrisiken treten besonders deutlich bei den Männ ern zutage. Wer im Ga stgewerbe oder in der Industrie arbeite t, trägt ein deutlich höher es Risiko, die Pensionierung nicht zu erleben, als Ingenieure oder Akademiker. Nahezu 15 Pro zent der Angestellten in Restaurants und Hotels sterben vor ihrem 65. Geburtstag. Be i Leh rern und Professoren sind es nu r 6,6 Prozent. Ein ähnliches Bild erg ibt sich, wenn man die Lebenserwartung nach dem ein mal erreichten Bildungs sta nd betrachtet. Wer in Rente geht, aber früher keine Beruf sau sbildung absolvierte, hat heute in der Schweiz noch eine durchschnittliche Lebenserw artung von 16 Jahren. Wer einst die Maturaprüfung ablegte oder eine Berufslehre abs chloss, darf mit mehr als 17 Jahren rechnen, wer gar an ein er Universität oder Fachhochschule sei ne Ausbildung machte, mit rund 19 Jahren. Dieser sogenann te soziale Gradient ist auch bei den Frauen feststellbar. Hie r beträgt die Spanne in der Lebenserwartung zwischen Frauen ohne Ausbildung und Ak ademike-
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nur schwer zu rinnen zwei Jahre. Diese Unterschiede sind dlichen Einschie unter mit allem erklären. Sie haben vor Lebensgenen hiede versc n, kommens- und Vermögenslage lschaftgesel er gross ger weni wohnheiten und mehr oder licher Anerkennung zu tun. nach sozialer Die Differenzen in den Lebenserwartungen Wer das ge. nzen eque Schicht haben sozialpolitische Kons der Schweiz in darf setzlich festgelegte Rentenalter erreicht, ren, einer aufhö zwei Rechte in Anspruch nehmen. Man kann Rente eine mmt Erwerbsarbeit nachzugehen, und man beko mmbesti eine auf ausbezahlt. Dagegen besteht kein Anrecht nalRente es gleich te Anzahl Jahre im Ruhestand. Ein für alle r ich länge ihre ter hat damit zur Folge, dass die einen deutl Diese UngleichPension geniessen können als die anderen. dlich hohen Renheit geht zumeist auch mit einer unterschie n keine berufliche tenauszahlung einher. Wer in seinem Lebe auch mit einem ist zume muss , kann Qualifikation erwerben bekommt dann und sein den zufrie tiefen Lohneinkommen ausbezahlt. Rente rnde siche enz auch nur eine kaum die Exist viert, kann absol g ildun Ausb Wer aber eine breit anerkannte im Renauch wird und en mit einem guten Einkommen rechn am nicht hren rbsja Erwe tenalter trotz deutlicher weniger im iten ichhe Ungle len Hungertuch nagen müssen. Die sozia späin eit lichk Deut Erwerbsleben setzen sich damit in aller Schweiz in den teren Lebensphasen fort. Wenn wir in der m der Altersnächsten Jahren über eine grundlegende Refor soziales und ein vorsorge diskutieren, muss darum auch über Erhöhung des flexibles Rentenalter gesprochen werden. Eine ungerecht. Rentenalters für alle wäre in hohem Masse SURP RISE. CH) CARL O KNÖP FEL (C.KN OEPF EL@V EREIN M WOM FUS, BILD : SIMO N DREY
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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Gauck liest Strassenzeitungen Berlin. Der Chefredaktor des Strassenfeger wurde von Joachim Gauck zum Interview auf Schloss Bellevue empfangen. Der deutsche Bundespräsident zeigte sich dabei als entschiedener Gegner von Vertreibungen aus dem öffentlichen Raum: Bürger, die sich durch den Anblick von Menschen aus einem anderen Milieu gestört fühlten, «tun mir einfach nur leid», so der Präsident. Artikel in Strassenzeitungen finde er «zum Teil richtig anregend». Deshalb reiche es ihm auch nicht, dem Verkäufer einfach Geld zu geben, die Zeitung aber nicht zu nehmen. Das hören wir gern, Herr Präsident!
Schmidt raucht und gratuliert Hamburg. Der Bundespräsident gilt ja in Deutschland als moralische Instanz – übertroffen nur noch von Ex-Kanzler Helmut Schmidt (94), den die Deutschen in einer Umfrage zum «grössten lebenden Vorbild» gewählt haben (und in einer anderen zum «coolsten Kerl»). Und dieser Helmut Schmidt, bekannt dafür, dass er überall raucht, wo’s verboten ist, gratuliert aktuell in einer Geburtstagskampagne Hinz&Kunzt zum Jubiläum, mit den Worten: «Glückwunsch zu 20 Jahren Durchhalten. Willen braucht man. Und Zigaretten.»
Abzocker machen unglücklich Nürnberg. «Was gehen uns eigentlich die Gehälter der Manager an? Nichts» – titelte die Weltwoche im Hinblick auf Minders Abzockerinitiative. Ökonomie-Professor und Glücksforscher Karlheinz Ruckriegel wäre da wohl anderer Meinung. Denn als Grund, warum die Menschen in Skandinavien viel zufriedener sind als bei uns, gibt er an, dass dort mehr Vertrauen untereinander herrsche und die Einkommensunterschiede fair, begründet und nicht so gross sind.
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Zugerichtet Hammer und Schnaps «Ich weiss gar nichts mehr, ich war sternhagelvoll.» Robert B.* ist 43 und sieht aus wie tot. Hohle Augen, eingefallene Wangen, die schmalen Lippen bleich, als wenn alles Blut schon aus ihm gewichen wäre. Die Erinnerung ist weg. Weg, dass er seinem Nachbarn Adrian mit einem Hammer die Wohnungstür eingeschlagen, dass er ihm damit vor dem Gesicht rumgefuchtelt hat, weg der Satz: «Dich Sauhund mach ich tot.» Roberts Gedächtnis ist ein schwarzes Loch. Aber etwas hat sich festgesetzt in der unterbelichteten Erinnerungshöhle, ein Schmerz, ein Verlust, ein Verrat und dann eine schreckliche Wut, die hat er nicht vergessen, die kann er noch erzählen: «Weil meine Verlobte, die Sandra, nicht nach Hause gekommen ist in dieser Nacht, und weil Adrian bereits früher gequatscht hat, dass sie schon mal mit ihm geschlafen hat.» Röbi und Adi haben manchmal zusammen ein Bierchen getrunken und grilliert. «Da hab ich schon gemerkt, dass er auf meine Freundin scharf ist, die Kleine sieht ja auch gut aus.» Die «Kleine», Sandra, ist von den Highheel-Stiefeln bis zum pechschwarz gefärbten Nest auf dem Kopf ungefähr einsfünfundneunzig. Aber das bleiche Gesicht ist aufgequollen wie ein in die Milch gefallenes Semmeli. Vor der Verhandlung stakste Sandra durch die Gänge des Bezirksgerichts und brüllte vor der Herrentoilette nach Röbi. «Bist Du am Saufen da drin, oder was?» Als Sandra nach jener Nacht von Adrian kam, war Robert noch ganz ruhig. «Aber dann hab ich mir eine Flasche Schnaps reingepfiffen», und dann setzte die Wut ein und die Kontrolle aus. Robert nahm den Hammer
und klopfte an Adrians Türe. Robert ist kein Totmacher, er ist ein Trinker. Alkohol und die Droge haben Robert kaputtgemacht, seine Leber und sein Leben. Er hatte keine Chance auf ein anderes, er kannte es nur so. Ein Vater war nicht da, die Mutter Trinkerin. Drehtürpatientin. Kam, wurde entgiftet, ging, trank, kam. Die Liebhaber kamen und gingen auch, und am Ende brachte einer die Mutter um, erzählt der Verteidiger. Robert hat keinen umgebracht, er hatte Glück, der Hammer fiel ihm aus der Hand, die Treppe runter, ausser Reichweite. Er sei kein gefährlicher Typ, sagt der Verteidiger, schon gar kein konstruktiv planender. Robert muss trinken, um sich am Leben zu halten. Zweieinhalb Liter Hochprozentiges am Tag. Und eines solchen Tages wird er sich zu Tode gesoffen haben. Die meiste Zeit ist er kaum erreichbar, Bewusstseinsstörung, Dämmerzustand. «Sehen Sie, er schläft fast», sagt der Verteidiger. Robert öffnet die Augen. Und bekommt etwas sehr Schönes zu hören. Dass er nämlich im Grunde seines Wesens ein gemüthafter, warmherziger Mensch sei. Er habe fast immer in einer Beziehung gelebt. Und niemals habe er eine Frau geschlagen. Für einen Moment herrscht im Gericht ergriffenes Schweigen. Dann fordert der Verteidiger Freispruch, und falls doch eine Strafe ausgesprochen würde, dann soll sie zugunsten einer ambulanten Massnahme aufgeschoben werden. Doch für die Richterin ist noch unklar, ob Röbi überhaupt therapiefähig ist. Sie ordnet ein neues psychiatrisches Gutachten an. * persönliche Angaben geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 294/13
Überfluss Das grosse Fressen Der heutige Konsument ist überfordert: Den (Werbe-)Geboten der Überflusswirtschaft folgend, kauft er viel zu viele Lebensmittel. Davon isst er so viel, bis er krank wird, den Rest, etwa ein Drittel, wirft er weg. Es wird Zeit, sich zu wehren.
Wer in den Neunzigerjahren, als der Neoliberalismus so richtig in Mode kam, zum Beispiel in Basel Volkswirtschaft studierte, bekam mantraartig vorgebetet: weniger Staat, mehr Markt, weniger Staat, mehr Markt, weniger Staat … Und er lernte, wie alle, die sich mit Mikroökonomie befassen, die «more is better»-Annahme kennen: Sie besagt, dass ein Konsument lieber mehr von einem Gut hat als weniger. Logisch eigentlich. Aber verheerend, wenn ein Wirtschaftssystem auf dieser Erkenntnis aufbaut. Denn mehr ist für den Menschen ganz offensichtlich nicht immer besser: In der Schweiz ist mittlerweile fast jede dritte Person stark übergewichtig, weltweit leidet etwa jeder siebte Mensch an einer Krankheit oder Störung, die von übermässigem Essen herrührt. Gott sei Dank, könnte man mit einem Schuss gesundem Zynismus sagen, werden nur zwei Drittel der gekauften Lebensmittel auch wirklich gegessen. Der Rest, in der Schweiz jährlich rund 100 Kilo pro Person, landet auf dem Müll (siehe auch Kasten und Bericht über Foodsharing auf Seite 10). Doch auch dies ist keine richtig gute Nachricht. Das heisst, für die Umwelt nicht. Für Industrie und Wachstumswirtschaft ist es natürlich genau umgekehrt: Je mehr Nahrungsmittel gekauft werden, desto mehr verdienen Produzenten, Transporteure und Detailhändler. Irgendwo klemmt’s, in der schönen Ideologie der freien Marktwirtschaft. Wenn dem Produzenten die edle Aufgabe zufällt, unter Ausreizung der Gesetzesbestimmungen so viel wie möglich abzusetzen, egal wovon, und auch der Staat möglichst die Finger aus dem Spiel lassen soll, dann bleibt die Verantwortung am Konsumenten hängen – das Angebot regelt die Nachfrage, nennt sich dies in der Theorie. Klingt gut, doch die Praxis zeigt: Der Konsument ist damit hoffnungslos überfordert. Kein Wunder, sieht er sich doch auch einer millionenschweren
Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch
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Werbemaschinerie gegenüber, die ihn mit allen Tricks der Tiefenpsychologie und Hirnforschung bearbeitet, damit er so viel wie möglich kauft. Seit Anfang Jahr gibt es zwar ein neues Gesetz zum Schutz vor irreführender Werbung, doch dieses ist so zahnlos, dass auch der Konsument um seine letzten Zähne fürchten muss: So dürfen Nimm2-Lutscher weiter mit «Fruchtsaft und Vitamine» beworben werden, auch wenn sie 75-mal mehr Zucker als Fruchtsaft enthalten. Und letztes Jahr machten die Getränkeproduzenten derart Druck auf die Gesundheitsförderung Schweiz, dass diese einen Bericht wieder vom Netz nahm, der davor warnte, dass Süssgetränke dick machen. Was tun? Hoffen, dass die Wirtschaftskrise endlich auch in der Schweiz voll durchschlägt? Tatsächlich hat die Fettleibigkeit in Italien in den letzten Jahren erstmals wieder abgenommen und die Lebensmittelverschwendung ging europaweit zurück. Die Krise führte jedoch genauso dazu, dass die Italiener weniger Früchte und Gemüse und dafür mehr billige, ungesunde Industrienahrung zu sich nahmen. Dem armen Konsumenten bleibt wohl nichts anderes übrig, als sich aus seiner vom Wirtschaftssystem zugedachten Rolle herauszuwinden und die Industrie auszutricksen, indem er sich der «more is better»-Illusion verweigert. Die in unserem Bericht beschriebenen Teilnehmer der Foodsharing-Plattform machen’s vor: Sie behaupten, weniger sei manchmal mehr und weigern sich, weiter kiloweise Lebensmittel in den Abfall zu schmeissen. ■
BILD: ZVG
VON FLORIAN BLUMER
Starverkäufer Rado Bugar Kathrin Kopp aus Basel nominiert Rado Bugar als Starverkäufer: «Mein Starverkäufer ist Rado Bugar, der in Basel am Marktplatz oder in der Freien Strasse beim Heftverkauf anzutreffen ist. Er ist so freundlich, höflich und unaufdringlich. Ich als Strassenmusikerin habe mich mit ihm angefreundet und hoffe, dass er trotz seiner stillen Art viele Hefte verkaufen kann.»
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Porträt Alte Schule Für den Berner «Ändu» Schwertfeger ist Tätowieren noch ehrliches Kunsthandwerk, für dessen Beherrschung man erstmal durch eine Lehre sollte – mit «Hinterhof-Scratchern» und Cüpli-Studios hat der ehemalige Breaker und Jugendarbeiter nichts am Hut. VON FLORIAN BLUMER (TEXT) UND CORINNE FUTTERLIEB (BILD)
Tattoo-Studios in Bern – Ändu übernahm es später von ihm. Ein Kellergewölbe mit schwarz-weiss kariertem Boden, ein alter Coiffeursessel als Sein erstes Tattoo stach sich Ändu als Siebtklässler. Von Liebe entTätowierstuhl, ein alter Taucherhelm auf der Theke, ein alter Rettungsflammt griff er zum Rapidographen, dem Tintenstift aus dem Techniring an der Wand – Ändus Reich im Altstadtkeller ist mit viel Liebe zum schen Zeichnen, und «güfelete» sich «REGI» auf den linken Handrücken. Detail eingerichtet. Oder anders gesagt: ein verdammt stylisher Laden. Er setzte damit ein Vorhaben um, das er bereits als sechsjähriger Knirps Und dort hinein spazieren heute «vom Gerichtspräsidenten über den gefasst hatte – damals im «Heimeli», der Badi von Kirchlindach bei Bern, Urologen bis zum dürnige Seema», wie Ändu es beschreibt, Menschen als er den Dreimaster auf dem Arm eines Mannes erblickt hatte. ausnahmslos aller Schichten und Schattierungen. Die älteren Kunden Heute ist Ändu – wie er sich kurz und simpel auch auf seiner Visihätten in der Regel ihre eigenen Vorstellungen, was sie wollten, die «Vitenkarte nennt – 39, Inhaber eines Tattoo-Studios, in welchem er vier va- und MTV-Zuschauer» würden eher «nachäffen, was sie bei den weiteren Tätowierern einen Arbeitsplatz bietet, und zu «REGI» sind ein schwarzen Rappern oder Rihanna gesehen haben». Der «gemeine Hippaar Tätowierungen dazugekommen: Stammestattoos von Urvölkern, traditionelle japanische Motive, «Traditionals» im europäisch-amerikanischen Stil der 20er«Jeder will sich ja abheben – lustigerweise sehen dann doch bis 50er-Jahre und zwei weitere Frauennamen. alle wieder gleich aus.» Es seien einige darunter, die er sich heute sicher nicht mehr machen lassen würde, sagt Ändu lachend, ein paar seien allerdings «so scheisse, dass sie schon wiester» stehe momentan total auf Federchen, Fixie-Velofahrer müssten alder geil sind». Nie, sagt er, würde er sich ein Tattoo weglasern lassen – le den Kettenkranzabdruck auf der Wade haben – «Jeder will sich ja absie alle sind Teil seiner Geschichte und gehören zu ihm. heben», sagt Ändu und lacht, «lustigerweise sehen dann doch alle wie«Biudli sammle», nennt Ändu selbst das Prinzip, nach welchem er der gleich aus.» Bei Jüngeren darf’s gerne auch mal ein Adidas-Logo seit über zwei Jahrzehnten nach und nach seinen Körper mit Tätowieoder ein Gucci-Schriftzug sein. rungen überzieht. Diese Geduld haben nicht mehr alle seine Kunden: Ändu wundert sich zuweilen, was die Leute alles wollen – und sticht «Es kommen Leute rein, die verlangen gleich eine Ganzkörpertätowiees meist trotzdem. «In diesem Business bist du halt auch ein bisschen rung und sagen: Bis dann und dann will ich so und so aussehen.» Früeine Nutte», meint er pragmatisch. Die Grenze zieht er bei politischen her sei es auch ein Privileg der Tätowierer gewesen, Tattoos an den Tattoos: «So Nazischeiss wird hier bestimmt nicht gemacht.» Auch Bésichtbaren Stellen wie Unterarme, Hände und Gesicht zu tragen. Heute, béporträts sticht er keine – «total bescheuert» findet er die Vorstellung, sagt Ändu, kämen Leute ins Studio rein, die als Erstes einen Schriftzug dass ein 50-jähriger Vater das Gesicht seiner unterdessen vielleicht 25auf die Stirn wollten. Es seien jegliche Grenzen gefallen: «Von den Gejährigen Tochter als Kleinkind auf der Schulter trägt. nitalien bis zum Gesicht – es gibt keine Stelle mehr, die tabu wäre.» Als Künstler sieht sich Ändu nicht unbedingt, dafür hält er sich für Ändu liess sich seine ersten Tattoos machen, als besorgte Eltern ihre zu bodenständig: «Als Künstler musst du meines Erachtens irrer sein: Kinder noch warnten, dass man damit Probleme bei der Jobsuche beDu kannst auf den Tresen scheissen, wenn das Konzept dazu stimmt. komme. Für Ändu war aber schon damals klar: «Wenn mich jemand Beim Tätowieren folgst du klaren Regeln.» Doch diese Regeln von Grund nicht nimmt, wie ich bin, dann gehöre ich auch nicht dorthin.» So war auf zu lernen, sind heute viele nicht mehr bereit, klagt Ändu. Es gäbe auch nur gerade beim Vorstellungsgespräch für die Stelle als Jugendarviele «Hinterhof-Scratcher» und solche, die zu Hause irgendetwas machbeiter in einem Jugendcafé zum Schluss noch die Frage gekommen, ob ten, was sie im Internet oder in einer Tattoo-Reality-Soap auf MTV geer gedenke, noch viele Tätowierungen zu machen? «Jaa», habe er gesehen hätten. Ein Dorn im Auge sind ihm aber ganz besonders die «Tatantwortet, wie er in seinem typisch unaufgeregten, breiten Berndeutsch too-Migros», wie er sie nennt, die neuerdings auf den Markt drängen: erzählt, «so lang i läbe, so lang wird i mi äuä tätowiere.» Sie sehen aus wie Arztpraxen für Schönheits-Operationen und werden Ein Exot war Ändu mit seinen Tattoos schon in seiner Teenagerzeit in von Leuten geführt, die mit Businessplan auftreten und ihre Shops mit der HipHop-Szene gewesen, als Breakdancer bei den legendären «Bern Cüpli-Apéros eröffnen. Als ein erster solcher Shop in Bern aufmachte, City Breakers», die weltweit Furore machten. In den USA lernte Ändu standen die alteingesessenen Tätowierer zusammen und gaben dem dann die Graffiti-Legende «Seen» kennen – der, siehe da, auch tätowierEindringling zu verstehen, dass er hier nicht erwünscht sei. te. Zurück in Bern ging Ändu bei einem befreundeten Tätowierer «in die Mit der neuen Konkurrenz werden die Street-Shop-Tätowierer in ZuLehre» – eine damals noch eher informelle, aber durchaus ernsthafte kunft wohl leben müssen. Bis anhin tun sie das allerdings recht gut: ÄnAngelegenheit: Monatelang tätowierte er Äpfel und andere Früchte, bis dus Geschäft läuft wie geschmiert, auch ohne aufwendige Werbekamer sich an menschliche Haut heranwagen durfte. Zehn Jahre lang arbeipagnen. Noch scheint auch der Gerichtspräsident für sein Tribal-Tattoo tete er vor allem abends und am Wochenende, auf der Gemeinde, als Jueher auf den passionierten Kunsthandwerker im Altstadtkeller zu vergendarbeiter, als Betreuer in einem Asylheim, um tagsüber tätowieren trauen als zu riskieren, dass er womöglich mit einem «Moët et Chanzu können. Sein Freund «Lärsu» Weber führte damals eines der ersten don»-Schriftzug auf dem Unterarm aus dem Cüpli-Rausch erwacht. ■ SURPRISE 294/13
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BILD: ISTOCKPHOTO
Foodsharing Verschenken statt wegwerfen Autofahrer haben es mit Carsharing vorgemacht, bewusste Konsumenten ziehen nun mit Foodsharing nach. Statt noch geniessbare Lebensmittel einfach wegzuwerfen, werden sie 端ber eine neue Internetplattform getauscht oder verschenkt.
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VON JOËL BISANG
netseite genutzt werden, soll dies künftig dank einer entsprechenden App auch via Smartphone möglich sein. Weil nicht nur die Endverbraucher, sondern auch Produzenten, Betriebe und Supermärkte massenhaft Lebensmittel wegwerfen, wollen die Foodsharing-Aktivisten vermehrt auch Unternehmen zum Mitmachen bewegen. Zum Beispiel den Bäcker, der am Abend seine Brötchen noch nicht vollständig verkauft hat: Anstatt das Brot einfach in den Müll zu entsorgen, bietet ihm Foodsharing die Möglichkeit, auch auf die Schnelle noch Leute zu finden, die Verwendung dafür haben. Bestehende Angebote gemeinnütziger Organisationen wie die Tafeln in Deutschland oder Tischlein deck dich in der Schweiz, die Lebensmittel bei den Grossverteilern einsammeln und an Bedürftige verteilen, sollen damit aber keinesfalls Konkurrenz erhalten, betont Beck: «Foodsharing.de ist ein Angebot für alle und richtet sich nicht an bestimmte Zielgruppen.» Ohnehin gelte es von der Idee «die Reichen geben den Armen ihre Reste» wegzukommen, wenn man von Foodsharing spreche. Das Ziel sei vielmehr, dass wieder bewusster eingekauft werde. Ganz nach dem Motto: «Lieber mal etwas weniger, damit nicht ein grosser Teil der Ware wieder weggeschmissen werden muss.» Die Macher von foodsha-
«Geteilt» wird heute via Internet so ziemlich alles – von Mitfahrgelegenheiten über Fotos bis zu Übernachtungsmöglichkeiten in der eigenen Wohnung. Haben Nahrungsmittel bisher nicht dazu gehört, hat sich dies vor Kurzem geändert. Auf www.foodsharing.de können Private, Organisationen und Unternehmen seit zwei Monaten Lebensmittel, die nicht mehr gebraucht werden, kostenlos anderen Nutzern anbieten. Wer zu viel eingekauft oder gekocht hat oder vor dem Urlaub den vollen Kühlschrank leeren will, findet via Foodsharing möglicherweise Abnehmer aus der näheren Umgebung. Laut UNO-Welternährungsorganisation werfen Konsumenten in Europa und Nordamerika pro Kopf jedes Jahr rund 100 kg Lebensmittel in den Müll. Dies entspricht einem Drittel der gesamten Nahrungsmittelmenge, die auf dem Weg von den Produzenten in die Haushalte in den Abfall wandert (siehe Kasten). Es handelt sich dabei nicht etwa um ungeniessbare Ware – der allergrösste Teil der weggeworfenen Lebensmittel wäre problemlos noch essbar. Mit der neuen Plattform wollen die Initianten von www.foodsharing.de nun das Bewusstsein für dieses Problem erhöhen, zugleich wollen sie aktiv Abhilfe schaffen. Nicht, indem sie moralisierend den Mahnfinger heben, son«Wir wollen nicht nur die schlimmen Zustände anprangern, dern indem sie Konsumenten und Unternehsondern ein alltagstaugliches Instrument bieten, das alle men ein Instrument in die Hand geben, um Interessierten problemlos nutzen können.» ganz konkret etwas gegen die Verschwendung zu unternehmen. «Wir wollen nicht nur die ring.de wehren sich zudem dagegen, dass immer nur reflexartig mit schlimmen Zustände anprangern, sondern ein realistisches, alltagsdem Finger auf die Grossverteiler und die Produzenten gezeigt wird, taugliches Instrument bieten, das alle Interessierten problemlos nutzen wenn nach den Ursachen für die verbreitete Lebensmittelverschwenkönnen», sagt Ulrike Beck, Sprecherin und Vorstandsmitglied des Verdung gefragt wird. «Klar ist die Industrie mitverantwortlich und ein eins Foodsharing, im Gespräch. Die Menschen müssten Nahrungsmitgrosser Teil des Problems», hält Beck fest. »Mit foodsharing.de wollen teln grundsätzlich wieder mehr Wertschätzung entgegenbringen und wir aber auch zeigen, dass jeder und jede Einzelne in der Verantworlernen, wirtschaftlicher mit ihnen umzugehen. tung steht.» In der Praxis funktioniert Foodsharing so: Unter www.foodsha■ ring.de legen die Nutzer nach der Anmeldung mit Name und E-MailAdresse sogenannte Essenskörbe mit einer Beschreibung der Lebensmittel an, die sie zu verschenken haben. Interessierte können sich mit wenigen Klicks alle Körbe auf einer Landkarte anzeigen lassen und erMythos Mindesthaltbarkeit halten so einen Überblick über die Angebote in der eigenen NachbarHaushalte kaufen regelmässig mehr Nahrungsmittel ein, als sie tatschaft. Wer einen Essenskorb einstellt, entscheidet zudem, ob die Übersächlich konsumieren. Was nicht gegessen wird, landet im Müll. Eine gabe der Ware an seiner Haustür oder an bestimmten, von den Betreibern wichtige Rolle spielt dabei das Mindesthaltbarkeitsdatum, das auf alfestgelegten «Hotspots» stattfindet. Als Grundsatz gilt dabei in jedem len verpackten Lebensmitteln angegeben ist. Entgegen der Auffassung Fall, dass nichts angeboten werden soll, was man selber nicht mehr vieler Konsumenten sagt dieses Datum relativ wenig über die Geessen würde. niessbarkeit eines Produktes aus. Es bezeichnet lediglich den Zeitraum, in dem ein Produkt bei korrekter Aufbewahrung seine besten «Lieber mal weniger» Eigenschaften behält. Viele Waren sind deshalb auch später noch über Die Idee zu foodsharing.de stammt ursprünglich von den beiden längere Zeit problemlos und ohne spürbaren Unterschied geniessbar. deutschen Journalisten Valentin Thurn und Stefan Kreutzberger, die Weil Verbraucher die Produkte, die das Mindesthaltbarkeitsdatum sich bereits seit Längerem mit der Problematik der Lebensmittelverüberschritten haben, häufig unverzehrt wegwerfen und neue kaufen, nichtung auseinandersetzen (etwa im Dokumentarfilm «Taste the nützt das Datum in erster Linie den Supermärkten. Waste» und dem Buch «Die Essensvernichter»). Finanziert wurde die Nach Schätzungen der UNO-Welternährungsorganisation (FAO) Seite, die Mitte Dezember 2012 an den Start ging, mittels Crowdfunwird in den Industrieländern Nordamerikas und Europas pro Kopf ding. Mit ihrem Projekt übernehmen die Gründer eine Vorreiterrolle; jährlich eine Nahrungsmittelmenge im Umfang von rund drei ZentBeispiele für Internetplattformen, auf denen gewöhnliche Konsumennern ungebraucht weggeworfen, davon zwischen 90 und 115 Kiloten kostenlos Nahrungsmittel tauschen oder verschenken können, gibt gramm von den Endverbrauchern. Der andere, weitaus grössere Teil es gemäss ihren Angaben keine – weder im deutschsprachigen Raum aller weggeworfenen Nahrungsmittel wird bereits in der Produktion noch anderswo. Und das sinnvolle und einfach nutzbare Angebot und im Zwischenhandel ausgesondert. Darunter beispielsweise Früchscheint einen Nerv getroffen zu haben: Seit dem Start haben schon te oder Gemüse, die sich aufgrund ihres Aussehens nicht oder nur über eine Tonne Lebensmittel beziehungsweise über 400 Essenskörbe schlecht verkaufen lassen. Viele Produkte bleiben zudem unverkauft über foodsharing.de kostenlos ihre Besitzer gewechselt, und rund 8000 in den Supermärkten liegen. Zum Vergleich: In den ärmsten Regionen Nutzer haben sich auf der Seite angemeldet. Bereits haben sich laut der Welt, das heisst in den Ländern südlich der Sahara und Süd- bzw. Sprecherin Beck auch Interessenten aus der Schweiz und aus ÖsterSüdostasiens, beträgt die jährlich weggeworfene Nahrungsmittelmenreich gemeldet. In einem nächsten Schritt ist nun eine mobile Version ge 120 bis 170 Kilogramm pro Kopf, woran die Endverbraucher einen der Plattform geplant. Konnte Foodsharing bisher nur über die InterAnteil von gerade mal sechs bis elf Kilogramm haben. SURPRISE 294/13
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Eingeschleppte Tierarten Auf fremdem Terrain Das Tier macht keine Freude mehr? Die dümmste Idee ist, es freizulassen.
VON BARBARA KLINGBACHER
Im Juni 2009 demonstrierten 500 Thunerinnen und Thuner für ein friedliches Nebeneinander und ein Bleiberecht für exotische Ausländer. 400 Ballone liess man in den Himmel steigen, schwarze wie weisse, und an vorderster Front marschierte die SVP mit. Dabei ging es um: Schwäne. Ein Züchter hatte 1984 drei australische Trauerschwäne vom Zürcher Zoo geschenkt bekommen und den Jungtieren die Flügel nicht mehr gestutzt, so dass sie frei fliegen konnten. Nun gilt die Freisetzung einer exotischen Tierart eigentlich als Offizialdelikt, doch erst 2008, als der Bestand auf zehn Stück angewachsen war, verfügten die Behörden, die Tiere seien illegal und müssten weg. Da waren sie aber schon vielen Thunern ans Herz gewachsen, die nicht nur demonstrierten, sondern auch wütende Leserbriefe verschickten, den Verein «Thunersee – Schwanensee» gründeten und eine Petition mit 6000 Unterschriften einreichten. Fremde Vögel gehören zu den häufigsten Neozoen, wie Tierarten heissen, die der Mensch eingeschleppt hat. In der Schweiz gilt die asia-
Schlagzeilen machen jeweils die Piranhas. Den südamerikanischen Raubfisch hat man schon aus dem Rhein, dem Neckar, der Erft, der Alster, der Themse und der österreichischen Drau gezogen, ja sogar im harmlos wirkenden Greifensee herrschte einst Piranha-Alarm – allerdings entpuppte sich das 29 Zentimeter lange Exemplar dort nur als naher Verwandter des Fleischfressers. Doch Piranhas sind, selbst wenn sie immer mal wieder von Aquariumbesitzern ausgesetzt werden, eigentlich kein Problem, weil sie sich hierzulande nicht vermehren können. Der wahre Killer ist ein anderer: der Carassius auratus auratus – der Goldfisch. Wenn es ein Symbol fur die Sisyphusarbeit der Artenschützer gibt, dann ist es der Dunkelhölzliweiher hoch über Zürich. Max Ruckstuhl, der Leiter der Stadtzürcher Fachstelle Naturschutz, erinnert sich noch genau an einen langen, kalten Tag im Jahr 2004, den er dort verbrachte. Lauter einheimiIn der Schweiz gilt die asiatische Rostgans als Problem, in London sche Tiere wie Erdkröten, Grasfrösche, Bergterrorisieren 30 000 Halsbandsittiche die Anwohner eines Parks. molche und Libellenlarven hätten sich in dem eigens dafür angelegten Kleinod tummeln sollen, theoretisch jedenfalls. Praktisch waren da: Goldfische, und zwar tische Rostgans als Problem, in London terrorisieren 30 000 HalsbandHunderte. Vielleicht war einst nur ein Paar ausgesetzt worden, aber die sittiche die Anwohner eines Parks, in Mecklenburg-Vorpommern plünFische hatten sich explosionsartig vermehrt und den Tümpel leergefresdert eine Kolonie straussähnlicher Nandus die Felder, im New Yorker sen. Insektenlarven, Amphibienlaich, alles weg. Stadtteil Brooklyn leben neun verschiedene Papageienarten; all diese Damit war der Dunkelhölzliweiher keine Ausnahme: In beinahe jeVögel gehen auf einige wenige ausgesetzte oder entflohene Tiere zudem Schweizer Teich oder Tümpel schwimmen die chinesischen Zuchtrück, die sich vermehrt haben. fische, manchmal sogar in Brunnen. Im Dunkelhölzli aber beschloss man, gegen die Invasoren zu kämpfen. An jenem Tag im Jahr 2004 wurDer Leguan im Papiliorama den die Fische elektrisch betäubt, mit Netzen abgefischt und auf TroDoch nicht jede Invasion ist ein Versehen. Dass Amerikas Vogelwelt ckeneis schockgefroren. Danach pumpte man den Teich bis auf den so stark von gebietsfremden Arten geprägt ist, verdankt der Kontinent Grund aus, saugte das letzte Restchen Schlamm ab, auf dass kein eineinem Mann namens Eugene Schiefferlin. Der Arzneimittelhersteller ziger Goldfisch entkommen möge. Die tiefgekühlten Tiere, fünf Kilo Gehatte es sich in den Kopf gesetzt, Amerika mit allen Vögeln zu besiedeln, samtgewicht, landeten als Häppchen bei den Bären im Tierpark Landie Shakespeare in seinen Werken erwähnt. Am erfolgreichsten war er genberg, neben dem restaurierten Weiher stellte man Tafeln auf, die mit dem Europäischen Star. 1860 setzte Schiefferlin 60 Stück im Central darauf hinwiesen, dass es nicht nur falsch, sondern auch strafbar sei, Park aus, heute leben 200 Millionen in den USA. Davon werden jährlich Goldfische auszuwildern. fast zwei Millionen vergiftet oder abgeschossen, weil sie Krankheiten übertragen, Ernten verwüsten und den Flugverkehr behindern. SVP-Demo für exotische Ausländer 2009 räumten die Behörden zehn Schwarzschwänen ein Bleiberecht Genützt hat das alles nichts. Bald nach der Sanierung bevölkerten auf dem Thunersee ein, wenn sie flugunfähig gemacht würden. Die Geneue Goldfische den Dunkelhölzliweiher. Max Ruckstuhl glaubt inzwischichte aber hatte den Halter zermürbt, und er fürchtete, die Schwäne schen nicht mehr an ungewollte Haustiere. Zu rasch tauchten sie in jekönnten sich so nicht gegen Feinde und die Strömung wehren. Und so dem neuen Teich auf, ausserdem existieren Auffangstationen, die solche sind die schwarzen Schwäne vom Thunersee verschwunden. 2010 liess Goldfische weitervermitteln könnten. Beschwören wurde er es nicht, die Stadt als Erinnerung zwei geschnitzte Schwäne aufstellen, doch die sagt Ruckstuhl, «doch es ist möglich, dass manche Leute die Teiche ganz Wunden waren nicht verheilt. Nach wenigen Tagen wurde dem schwargezielt beleben wollen». Denn wer nicht genau hinschaue, dem erscheizen der Hals abgesägt, den weissen hat später jemand rot-schwarz bene so ein Weiher voller einheimischer Lebewesen gar farblos und leer. pinselt. SURPRISE 294/13
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Schildkröten müssen weltweit als Kinderspielzeug herhalten.
Gestoppt wurde der Boom erst durch das amerikanische GesundAm liebsten möchten die Kuratoren nicht darüber reden, um ja nieheitsministerium. Weil man 270 000 Salmonellenerkrankungen auf die manden auf die Idee zu bringen, aber manche Halter denken, ihr abgeHaltung von Wasserschildkröten zurückführen konnte, durften ab 1975 liebtes Haustier hätte es im Zoo besonders gut. In der Zürcher Masoalanur noch Tiere verkauft werden, deren Panzerdurchmesser grösser als halle hat man eine Vogelspinne und Springmäuse gefunden, im Basler zehn Zentimeter war – damit die Kinder sie nicht mehr in den Mund Zolli gibt es überzählige Schildkröten, im Palmenhaus der Stadtgärtnestecken konnten. Ab den Siebzigerjahren dachten dann Millionen von rei Zürich wurden Wellensittiche eingefangen, die den Pflanzenbestand europäischen, mexikanischen, australischen und japanischen Eltern, so zerrupften, ins Papiliorama in Kerzers hat jemand Geckos, einen 60 Zenein Schildkrötchen sei ein billiges, pflegeleichtes Haustier. Und als noch timeter langen Leguan und exotische Vögel geschmuggelt. Wie verheedie Comicfiguren «Teenage Mutant Ninja Turtles» in Mode kamen, wollrend das sein kann, zeigt sich gerade im Schmetterlingshaus. Dort sind te jedes Kind eine fünflibergrosse Schildkröte haben. Was kaum jemand nämlich nur Vögel angesiedelt, die für Schmetterlinge keine Gefahr sind – Kolibris, die zu klein sind, um Insekten zu fressen, chinesische Zwergwachteln, die Manche Halter denken, ihr abgeliebtes Haustier hätte es im Zoo nicht fliegen können, und der Nektarvogel, besonders gut. Doch dort wird es oft gnadenlos gejagt. der sich, wie sein Name verrät, nur von Nektar ernährt. Ausgesetzte Tiere bedrohen die wusste: Die Tiere schnappen gerne nach Kinderfingern, und ihr Leben Zootiere aber nicht nur, indem sie sie auffressen, sondern auch, weil sie dauert meist länger als die Freude an ihnen. Weit über 50 Jahre alt kann Krankheiten und Parasiten einschleppen. Haustierhalter sollten sich also so eine Schildkröte werden, 30 Zentimeter lang und zwei Kilogramm keine Illusionen machen: Ihr ehemaliger Liebling wird gerade im Zoo schwer. Von den 10 000 Stück, die jährlich in die Schweiz eingeführt gnadenlos gejagt. wurden, landeten unzählige in einem Gewässer. Dort verdrücken die Fleischfresser seltene Insekten und machen der einzigen einheimischen Spielzeug beisst Kinderfinger Schildkrötenart, der kleineren Europäischen Sumpfschildkröte, die SonWenn man irgendwo auf der Welt eine Wasserschildkröte in freier nenplätze streitig. Heute gilt das Reptil als Prototyp einer invasiven TierNatur entdeckt, so ist es mit grösster Wahrscheinlichkeit eine amerikaart. Urs Jost, der Präsident der Schildkröten-Interessengemeinschaft nische Rotwangenschmuckschildkröte. Kaum ein anderes Tier hat sich Schweiz, findet die Bezeichnung «invasiv» allerdings falsch. Die Tiere so erfolgreich über alle Kontinente verbreitet, und das, obwohl die könnten hier zwar überleben, sich aber nicht ausbreiten. Damit die Trachemys scripta elegans einst nur in der Mississippiregion vorkam. Jungtiere im Gelege heranreifen, müsste es nämlich fast drei Monate Doch dann begann man, das Tier als drei Zentimeter grosses Spielzeug lang über 28 Grad warm sein. Und der Import von Rotwangenschmuckfür Kinder zu züchten, Verkaufspreis: ein Dollar das Stück. In den USA schildkröten ist inzwischen verboten. Sie seien, sagt Jost, ein Problem, wurden in den 1960ern jährlich zwölf Millionen davon verkauft.
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Chinesische Goldfische sind heute wirklich überall anzutreffen.
das hier von selbst aussterbe. Spätestens in ein Die lokale Tierwelt der Everglades ist in den Mägen des burmesischen paar Jahrzehnten. Tigerpythons verschwunden. Was passieren kann, wenn das falsche Tier am richtigen Ort landet, zeigt das Beispiel der Everglades bei Florida. Dort gibt es heute 99 Prozent weniger Waschbävor im Raum Bern ein Königspython abhanden gekommen war – der geren und 90 Prozent weniger Opossums und Luchse als noch vor 15 Jahfangene war keiner davon. ren; Kaninchen oder Füchse würden überhaupt keine mehr gefunden. 2010 berichtete Dot Faszczewski, eine Bewohnerin von Long Island, Die lokale Tierwelt ist in den Mägen des burmesischen Tigerpythons sie sei auf einem Spaziergang von einer Horde wilder Beagles angegrifverschwunden, der eigentlich in Südostasien heimisch ist. fen worden. «Es war wie in einem Werwolffilm», sagte sie der New York Post und später in die Fernsehkameras. Denn, das muss man hier auch Tigerpython als Würgeplage festhalten: Menschen und Medien lieben Geschichten, die vom EinMehr als 100 000 Stück haben Reptilienfans seit den Neunzigerjahren bruch des Wilden in die Zivilisation handeln, von weissen Alligatoren in die Vereinigten Staaten importiert, und viele überforderte Halter entin der New Yorker Kanalisation und von Giftspinnen in Yuccapalmen. sorgten ihre Schlange, die mehr als fünf Meter lang werden kann, Und so erschütterte die Nachricht von den blutrünstigen Beagles, die schliesslich in den Everglades. Das Klima dort ist ideal für den Tigerpywohl Nachfahren von ausgesetzten Jagdhunden seien und nun Long Isthon, der sich rasant ausbreitete. Schätzungen gehen von bis zu 150 000 land terrorisierten, halb Amerika. Verwandte riefen an, um zu fragen, Stück aus, die 39 vom Aussterben bedrohte und 41 gefährdete Tierarten ob die Familie unverletzt sei, Feriengäste wollten Buchungen storniefressen, darunter kleinere Säugetiere und Vögel, aber auch Hirsche und ren, um nicht zerfleischt zu werden. Nachdem sich Einwohner gemelAlligatoren. Um die Würgeplage zu bekämpfen, töten Schlangenjäger jedet hatten, die nie auch nur einen wilden Hund gesehen hatten, brachdes Jahr mehrere Hundert der Tiere, ausserdem ist es seit diesem te die New York Post zerknirscht die Folgestory: Die «Horde», so stellte Frühling illegal, Tigerpythons in die USA einzuführen. Allerdings kann es sich heraus, bestand aus gerade mal vier Beagles, die das lokale man damit nur verhindern, dass weitere Gegenden verseucht werden. Hundeheim problemlos einfangen konnte. Zwei davon fanden sofort In den Everglades wird man die Schlangen nicht mehr los. ein neues Zuhause; der eine Besitzer berichtete, sein blutrünstiger Auch hierzulande finden Schlangen den Weg vom Terrarium in die Beagle habe sich gleich in der ersten Nacht zum dreijährigen Sohn ins Natur. Und zwar zahlreicher, als man glauben möchte: Im Berner TierBett gekuschelt. ■ park Dählhölzli wurde vor einiger Zeit ein Königspython abgegeben, den der Wildhüter im Wald eingefangen hatte. Die Medien starteten einen Dieser Text ist ursprünglich im NZZ-Folio 05/12 zum Thema «Haustiere» erschienen. Aufruf: Der Besitzer könne die Schlange abholen, wenn er mit einem FoNZZ-Folio hat uns den Text freundlicherweise zum Nachdruck zur Verfügung geto beweise, dass es seine sei. Es meldeten sich fünf Personen, denen zustellt, Barbara Klingbacher ist Folio-Redaktorin. SURPRISE 294/13
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Je nach Situation kann der Familienzusammenhalt bei Ausländern für den Staat lohnenswert sein. (Symbolbild)
Sozialhilfe Beine machen per Brief Die Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht zeigt in einem Bericht: Ausländern, die Sozialhilfe beziehen, droht der Staat mit Ausschaffung – selbst wenn sie nichts für ihre Notlage können. «Das stimmt nicht», sagen die Migrationsbehörden. Betroffene, ein Rechtsanwalt und zwei Beratungsstellen legen ihre Fälle auf den Tisch.
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VON STEFAN MICHEL
vor ihrem gewalttätigen Ehemann fliehen musste. Das Migrationsamt wollte von ihr wissen, weshalb sie nicht ohne Sozialhilfe auskomme – ein Wink mit dem Zaunpfahl. Wo soll sie hin? Zurück in das Land, in dem sie seit Jahren nicht mehr war, oder zurück zum prügelnden Mann? Die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) zeigt in einem Fachbericht an sieben Beispielen, wie die Behörden mit Migrantinnen und Migranten verfahren, die Sozialhilfegeld in einer bestimmten Höhe erhalten haben. Dass sie wegen Krankheit oder Unfall arbeitsunfähig wurden oder vor häuslicher Gewalt flohen, war kein Hindernis, um amtlichen Druck auszuüben. Rechtsanwalt Spescha kennt weitere Fälle und sagt: «Wiederholt werden ohne Prüfung der persönlichen Umstände die Leute verwarnt. Auch wenn sie nichts dafür können oder ihnen ihre Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung aus Gründen der Verhältnismässigkeit sowieso nicht entzogen werden könnte. Einfach auf Vorrat oder aufs Geratewohl zu verwarnen, ist aber eine missbräuchliche Verwendung dieses Rechtsinstruments.» Erika Schilling ist überzeugt: «Das hat System. Mit der Androhung der Wegweisung sollen die Leute angetrieben werden, möglichst schnell eine Stelle zu finden – und es wirkt. Nur, ist das wirklich die Rolle des Migrationsamtes?»
Herr Z.* ist seit fast 20 Jahren in der Schweiz und arbeitete auf dem Bau, bis er einen Unfall hatte. Die IV bescheinigt ihm, dass er nur noch 60 Prozent arbeiten kann. Oder 100 Prozent in einem Büro. IV-Renten werden erst ab 40 Prozent Arbeitsfähigkeit oder weniger ausbezahlt. Darum erhält die Familie Z. Geld von der Sozialhilfe. Frau Z. arbeitet in der Reinigung, Herr Z. absolviert Einsatzprogramm um Einsatzprogramm und sucht seit Jahren nach einer Stelle. «Ich habe kein Diplom, das in der Schweiz anerkannt ist. Wie soll ich einen Bürojob finden? Trotzdem suche ich weiter», beschreibt er seine Situation. Herr Z. ist aufgebracht. Seit einigen Jahren schon treffen regelmässig Briefe vom Migrationsamt ein, in denen er aufgefordert wird, eine Arbeit zu finden, damit er keine Sozialhilfe mehr beziehen muss. Er und seine beiden Kinder haben die Niederlassungsbewilligung C, Frau Z. die Aufenthaltsbewilligung B. B-Bewilligungen müssen jedes Jahr verlängert werden. Die Ehefrau erhält sie nur noch für sechs Monate. Und immer wieder werden ihr «schwerwiegende ausländerrechtliche Massnahmen» in Aussicht gestellt, sollte die Familie weiterhin auf Sozialhilfe angewiesen sein. «Sie tun das, um uns Druck zu machen. Aber wir brauchen keinen «Gut gemeinte» Ermahnung Druck. Wir tun, was wir können», stellt Z. mit einer Mischung aus Marc Schmid, Sprecher des Migrationsamts des Kantons Zürich, stellt Selbstbewusstsein und Verzweiflung klar. Dass Frau Z. und ihre Kinder die Ermahnungen in ein anderes Licht. «Wir geben der Person die Zeit die Schweiz verlassen müssen, wie das Migrationsamt immer wieder und die Möglichkeit, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Ein Jahr androht, ist aus Gründen der Verhältnismässigkeit so gut wie ausgenach der Ermahnung schauen wir, ob sich die Situation geändert hat. schlossen. Trotzdem schickt die Behörde regelmässig mahnende Briefe Bezieht die betreffende Person weiterhin Sozialhilfe und ist sie selbstund verfügte zuletzt eine offizielle Verwarnung. verschuldet fürsorgeabhängig, prüfen wir den Widerruf der BewilliJuristin Erika Schilling berät regelmässig Menschen in dieser Situagung. Beim Entscheid über den Widerruf der Bewilligung werden stets tion. «Einige meinen schon nach dem ersten Brief, sie müssten ausreisen, wenn sie nicht schnellstmöglich aus der Sozialhilfe herauskommen. Sie geraten in ei«Das hat System: Mit der Androhung der Wegweisung sollen nen riesigen Stress.» Schilling arbeitet auf der die Leute angetrieben werden, möglichst schnell eine Stelle Beratungsstelle für Migrations- und Integrazu finden.» tionsrecht des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks. Seit zwei Jahren nehmen die Anfragen die persönlichen Verhältnisse sowie der Grad der Integration der ausvon Ausländerinnen und Ausländern, die unter behördlichem Druck ländischen Person berücksichtigt. Ist der Widerruf der Bewilligung nicht stehen, zu. Ein Trend, den auch Rechtsanwalt Marc Spescha feststellt: angemessen, so kann die betroffene Person verwarnt werden.» Schmid «Es fällt mir und meinen Kollegen auf, dass sich solche Fälle seit rund stellt in Abrede, dass das Zürcher Migrationsamt Personen ermahne, die zwei Jahren häufen.» keine Schuld an ihrer finanziellen wirtschaftlichen Notlage trügen: «Schon vor der Ermahnung prüfen wir, ob ein Selbstverschulden vorGefährliche Sozialhilfe liegt.» Von den sieben Fällen im Bericht der SBAA haben sich vier im Etwa zwei Jahre ist es auch her, seit in den meisten Kantonen das Kanton Zürich zugetragen. Bei dreien davon kann der Person kein VerSozialamt der Migrationsbehörde melden muss, wenn ein Migrant Soschulden angelastet werden. zialhilfegeld erhält. Wer nicht für sich selber aufkommen kann und darDass im Kanton Zürich Personen verwarnt wurden, die unverschulan selbst schuld ist, braucht gute Gründe, um in der Schweiz bleiben det in ihre schwierige Lage geraten waren, zeigt auch ein Entscheid des zu dürfen. Artikel 62 des Ausländergesetzes (in Kraft seit 2008) beRegierungsrats. Im Protokoll vom 18. August 2010 steht: «Auf Fürsorgestimmt: «Die zuständige Behörde kann Bewilligungen, ausgenommen fälle ist eine Verwarnung dann nicht zugeschnitten, wenn die davon Bedie Niederlassungsbewilligung, und andere Verfügungen nach diesem troffenen unverschuldet fürsorgeabhängig sind und es nicht in ihrem Gesetz widerrufen, wenn die Ausländerin oder der Ausländer (…) oder Einflussbereich liegt, sich aus der Sozialhilfeabhängigkeit zu befreien. eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, auf Sozialhilfe angewieEine Verwarnung macht nur Sinn, wo eine Steuerungsmöglichkeit des sen ist.» Betroffenen besteht.» Vom Migrationsamt ermahnt werden allerdings nicht nur jene, die Wie der Zürcher Migrationsamtssprecher Schmid äussern sich auch aus eigenem Verschulden sozialhilfeabhängig wurden. Aktenkundig ist Vertreterinnen und Vertreter der Migrationsämter St. Gallen, Thurgau, beispielsweise ein Fall, in dem eine Frau mit ihren zwei kleinen Kindern SURPRISE 294/13
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Aargau, Bern und Basel-Stadt. Niemand, der unverschuldet sozialhilfeabhängig geworden sei, werde ermahnt oder verwarnt. Das heisst aber nicht, dass Migrantinnen oder Migranten keinen mahnenden Brief vom Migrationsamt erhalten. Einzig eine förmliche Verwarnung haben sie nicht zu befürchten. Anders jene, die allein wegen Unverhältnismässigkeit nicht ausgewiesen werden: Sie können verwarnt werden, obwohl der Bewilligungsentzug rechtlich nicht möglich ist. Der Migrationsdienst des Kantons Bern lässt dazu verlauten: «Schliesslich wird auch darauf hingewiesen, dass bei sich verändernden Umständen eine Wegweisung allenfalls nicht mehr als unverhältnismässig beurteilt wird (…).»
lichen Mittel ein, und das ist die formlose Ermahnung. Wir wollen möglichst früh etwas Positives bewirken. Das neue Ausländergesetz setzt stark auf die Integration, und finanziell selbsttragend zu sein, ist ein wichtiges Element.» Dass dieses Drängen auf finanzielle Selbständigkeit den Staat mehr kosten kann, als wenn man die unverschuldeten Sozialfälle mit Migrationshintergrund in Ruhe liesse, zeigt folgendes Beispiel aus dem Bericht der SBAA: Ein Mann, der seit 1980 in der Schweiz arbeitete und lebte, wurde nach einem Arbeitsunfall pflegebedürftig. Seine weniger lang in der Schweiz lebende Frau übernahm die Pflege, neben der Betreuung der beiden Kinder des Paars. Als die Migrationsbehörde die Meldung erhielt, die Familie werde von der Sozialhilfe unterstützt, verfügte sie die Ausweisung der Frau. Da dem schwerkranken Mann die Ausweisung nicht zugemutet werden könnte, müsste für ihn eine Pflegeinstitution gefunden werden, was einiges teurer wäre als die Pflege in der
Schmerzhafter Leerlauf Für Erika Schilling ist es zur Routineübung geworden, Ermahnungen wegen Sozialhilfeabhängigkeit zu beantworten. Sie legt Kopien ihrer Stellungnahmen an das Migrationsamt auf den Tisch. «Nach meinen Stellungnahmen kommt «Viele versuchen um jeden Preis, aus der Sozialhilfe herauses vielleicht in 45 Prozent der Fälle trotzdem zukommen. Sie arbeiten mehr als 100 Prozent und vernachzu einer Verwarnung. Was danach passiert, ist lässigen dafür ihre Kinder.» nicht ganz klar. Es kann sein, dass im folgenden Jahr versucht wird, die Bewilligung zu von der Sozialhilfe unterstützten Familie. Nebenbei würde durch die entziehen. In den anderen Fällen wird stillschweigend verlängert, und Trennung der Familie nicht nur grosses Leid verursacht, sondern auch ein Jahr später kommt der nächste warnende Brief.» Ein bürokratischer das Recht auf Familie verletzt, welches die Schweiz mit ihrer UnterLeerlauf, der schmerzt. schrift unter die Europäische Menschenrechtskonvention zu schützen Und in vielen Fällen wirkt er. Denn die wenigsten haben die Gelasgarantiert. senheit zu sagen: «Da passiert sowieso nichts.» Spescha beschreibt: Für Familie Z. hatten die Briefe der Behörden Folgen: Frau Z. wech«Viele versuchen daher um jeden Preis, aus der Sozialhilfe herauszuselte die Stelle, weil ihr mehr Lohn versprochen wurde. Doch jetzt arkommen. Sie arbeiten mehr als 100 Prozent, vernachlässigen dafür ihre beitet sie auf Abruf und verdient weniger als vorher. «Nur wegen dem Kinder oder sind auf Freiwillige angewiesen, die diese hüten.» Schilling Druck des Migrationsamts hat sie die Stelle gewechselt», hält Herr Z. erzählt von einem Mann, der seit über 30 Jahren in der Schweiz lebt, fest. Er kann sich an die Abstimmung über das neue Ausländergesetz erund seiner Frau, die seit 14 Jahren hier ist, beide mit Niederlassungsbeinnern: «Ich meinte, es gehe darum, Kriminelle ausschaffen zu können. willigung. «Bereits nach dem ersten Brief gaben sie ihre Wohnung auf, Jetzt trifft es Menschen wie uns, die alles tun, um ihr Leben verdienen um Geld zu sparen. Der Mann zog zum erwachsenen Sohn, die Frau zur zu können. Ist es das, was die öffentliche Meinung in der Schweiz für Tochter. Nach Jahrzehnten der Ehe konnten sie nicht mehr zusammen richtig hält?» wohnen!» Der behördliche Druck wirkte, auch wenn er blosse DrohkuWie viele Menschen ohne Schweizer Pass, aber mit grossen finanlisse war: Die Niederlassungsbewilligung kann nach 15 Jahren allein ziellen Problemen vom Migrationsamt brieflich gemahnt werden, lässt wegen Sozialhilfebezug an sich nicht mehr widerrufen werden. sich nicht ermitteln. Zürich meldet für 2012 276 Verwarnungen wegen Viele Migrantinnen und Migranten fühlen sich nach dem ersten Brief Sozialhilfebezug, Basel 25 Verwarnungen allein wegen Sozialhilfeabvom Migrationsamt ihrer Existenz in der Schweiz nicht mehr sicher. hängigkeit sowie 28 weitere wegen Sozialhilfe zusammen mit VorgänMenschen, die seit Jahrzehnten in der Schweiz leben, sind regelrecht gen wie Schulden oder Straffälligkeit. Der schriftlichen Verwarnung gegeschockt, wenn sie erfahren, dass sie ausgewiesen werden könnten. hen fast immer Briefe und oft auch persönliche Kontakte sowie eine Tatsächlich können in Einzelfällen auch Niederlassungsbewilligungen Frist von einem Jahr voraus. Die Zahl derjenigen, die mit Post vom Mientzogen werden. Es braucht dafür aber dauerhafte Sozialhilfeabhängrationsamt aufgeschreckt werden, liegt deshalb mit Sicherheit über gigkeit in erheblichem Mass. der Zahl der Verwarnten. Auch wenn es sie laut den MigrationsbehörUmso mehr ist es fraglich, was Migrationsämter mit Ermahnungen den nicht gibt – die vorschnellen Ermahnungen schaden mehr, als sie bezwecken, die einer näheren juristischen Prüfung nicht standhalten. nützen. Für Camillus Guhl vom Migrationsamt Thurgau steht fest, dass man im ■ Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten handeln muss, wenn ein Mensch mit Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung über längere *Name der Redaktion bekannt. Zum Schutz der Familie wurde der Fall Zeit Geld von der Sozialhilfe bezieht: «Wir greifen mit dem kleinstmögleicht verfremdet.
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Irvine Welsh «Sucht ist nicht nur die Droge selbst» Irvine Welsh wurde als Autor des Romans «Trainspotting» bekannt. 1996 von Danny Boyle verfilmt, wurde die schonungslose Junkieballade zum Kultfilm, mit dem Ewan McGregor seinen Durchbruch hatte. Nun hat Irvine Welsh mit «Skagboys» die Vorgeschichte von «Trainspotting» verfasst und sich damit auf eine Wiederbegegnung mit den kaputten Figuren am Rand der schottischen Gesellschaft eingelassen. Das internationale Netzwerk der Strassenzeitungen INSP konnte mit dem Autor, der selber drogenabhängig war, ein exklusives Gespräch über seine Kernthemen führen: Arbeitslosigkeit, Drogen, Kriminalität.
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«Das Schlimmste ist, dass es nach dem Entzug keinen neuen Weg gibt. Keine Alternative im Leben, keine Möglichkeiten, etwas aus sich zu machen.»
VON BILLY BRIGGS, INSP
Herr Welsh, war es schwierig für Sie, die Figuren aus «Trainspotting» nach so langer Zeit für «Skagboys» wiederzubeleben? Irvine Welsh: Schon, aber ich hatte viel Material übrig, das ich immer schon verwenden wollte. Es war irgendwie seltsam, weil ich die Figuren ja ein paar Jahre vor der Geschichte von «Trainspotting» zeige, ein paar Jahre jünger. Bei «Trainspotting» war ich 28 und schrieb über 24-Jährige. Bei «Skagboys» war ich ein 50 Jahre alter Typ, der über das Leben von 22-Jährigen schrieb.
in ihnen. Wenn du die Figuren an düstere Orte stellst, müssen sie auf der Suche nach dem Lichtschalter sein, statt einfach in die Dunkelheit zu schlingern. Es macht sie viel interessanter, wenn es eine Art von Veränderung gibt oder zumindest die Möglichkeit, dass sich etwas ändern kann. Sie waren selber drogenabhängig. Wie kamen Sie da heraus? Wenn ich zurückblicke, sehe ich, was dahinterstand. Sucht ist nicht nur die Droge selbst. Jede Art von Abhängigkeit hat einen Hintergrund. Ich hatte Probleme – Todesfälle in der Familie, zerbrochene Beziehungen. Ich hatte kein emotionales Vokabular, um meine Gefühle zu artikulieren. Heute weiss ich zum Beispiel: Wenn mich meine Frau verlassen würde, wäre das Allerletzte, das mir einfiele, mir Drogen zu beschaffen oder auch nur, mich in einer Bar sinnlos zu betrinken. Damals kannte ich einfach nichts anderes.
Und wie konnten Sie sich da hineindenken? Eigentlich ist es ein historisches Buch, weil sich die Situation so verändert hat. Ich musste viel über die Achtziger recherchieren, um mich wieder einleben zu können, obwohl ich das Jahrzehnt doch selbst durchlebt hatte. Ich machte Umfeldrecherchen, um die nötigen Bezüge Kann man die Sucht einfach so hinter sich lassen? machen zu können – etwa dazu, was damals im Kino und am FernseViele Menschen, die das irgendwie durchlebt haben – Leute wie ich, hen lief. Wir wissen ja, was den Figuren in «Trainspotting» passiert, alderen Probleme sich mit der Zeit gelindert haben, mussten erst mal die so war «Skagboys» eher ein Versuch, Gründe dafür zu finden und die grossen Veränderungen zu zeigen: das Ende der grossen schottischen und britischen Indu«Wenn du die Figuren an düstere Orte stellst, müssen sie auf strie, die dominanten rechten und neoliberalen der Suche nach dem Lichtschalter sein.» Ideen. Wie sich das auf die Öffentlichkeit und auf Familien ausgewirkt hat, unter welchem körperliche Sucht loswerden, und das ist nicht das Schlimmste. Das Druck die standen. Die Arbeitergesellschaft entwickelte sich zur DroSchlimmste ist, dass es nach dem Entzug keinen neuen Weg gibt. Keine gengesellschaft, in der die Haupteinnahmequellen heute aus dem UnterAlternative im Leben, keine Möglichkeiten, etwas aus sich zu machen, grund kommen – es ist das Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin. keine Arbeit. Wie findet man da einen neuen Platz im Leben, in der Welt? Du sitzt fest. Da ist man total allein. Ich sehe einen grossen UnterDie Welt, wie Sie sie kennen? schied zwischen Menschen, wie ich damals einer war, die das Glück Ich kann mich erinnern, dass in meiner Kindheit alle gearbeitet hahatten, dass ihre Welt weiter funktionierte, und anderen, mit denen etben. Nur Einzelne nicht, sie bezogen Arbeitslosengeld, lebten vom was passiert war. Die vielleicht einfach eine zu dünne Haut hatten für Staat. Die waren für all die fragwürdigen Geschäfte verantwortlich und diese Welt, die als Kind misshandelt wurden oder irgendein Trauma hathandelten mit allem, was sich handeln liess. Als der Arbeitsmarkt kolten. Es gab so viele Menschen, die grundsätzlich verzweifelt waren. Das labierte und es keine Lehrplätze mehr gab, waren auf einmal alle arging für mich viel tiefer als das Drogenproblem. Das war für mich imbeitslos und nur die Geschäfte im Untergrund waren noch da – Diebmer das Resultat, nicht der Grund. stahl, Betrug. Und vor allem Drogen, weil die Menschen verarmt und sich selber entfremdet waren. Die Nachfrage war entsprechend riesig. Sie zeigen in Ihren Büchern das Leben am Rand der Gesellschaft ganz ungeschminkt. Wie erleben Sie die Situation der ObdachloSie leben heute in Chicago. Verstehen Amerikaner den Humor sen in Chicago? und die Sprache von «Trainspotting» und «Skagboys»? Sie ist ziemlich schlecht. Zudem gibt es in Amerika viele ObdachloIch bin in Amerika eher kultig als etabliert. Den Küsten entlang bin se, die man gar nicht sieht: Menschen, die mit 30, 40 Jahren immer noch ich recht bekannt, aber im Mittleren Westen kennt mich kaum jemand. bei den Eltern leben. Gesund ist das nicht. Das ist ein Phänomen der Einige meiner besten Leser sind Amerikaner, sie sind eine sehr intelliwestlichen Welt. Man liest oft von gewalttätigen Schiessereien und so gente, kulturbewandte Gruppe. Denn wenn dir der Sprachgebrauch auf weiter, und viele Leute, die derart ausrasten, kommen aus dieser vereiner Buchseite nicht geläufig ist, ist es natürlich schwer, dich durchzusteckten Obdachlosigkeit. Auslöser ist Stress in der Familie, wenn zu arbeiten. viele Menschen zu eng zusammenleben. Verschiedene Generationen, deren Leben komplett andersartig sind. Da ist nicht genug Platz. Das ArSchreiben Sie immer noch voller Zorn, wie zu Zeiten von «Traingument der Rechten ist, dass Familien diesen ganzen Druck einfach spotting»? wegstecken und die sozialen Kosten tragen sollen, aber das funktioniert Ich weiss nicht. «Skagboys» ist wohl das politischste Buch, das ich nicht. Es wundert mich, dass das in Grossbritannien kein grösseres Theje geschrieben habe. Aber ich versuche beim Schreiben immer viel ma ist. Spass zu haben, will die Seele der Figuren finden, die Menschlichkeit
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«Scotland is shite»: Mark Renton (Ewan McGregor, mit Flasche) und seine Junkiekumpels machen einen Ausflug ins Grüne.
so viel davon in Amerika sehe. Das ist schlimm. So werden die Menschen dazu gebracht, sich vor jeder Veränderung zu scheuen. Doch wir können nicht einfach stillstehen. Die Welt ist dynamisch und nicht immer ungefährlich. Stillstehen und Nichtstun geht einfach nicht. Wir müssen uns verändern, weiterentwickeln. ■ Übersetzung: Susanne Koch www.street-papers.org/INSP
Punk, Makler, Bestsellerautor Irvine Welsh, geboren 1958, ist der Sohn eines Hafenarbeiters aus Edinburgh, Schottland. Er verliess mit 16 Jahren die Schule, schlug sich mit verschiedenen Jobs durch und war Ende der Siebziger als Gitarrist und Sänger Teil der Londoner Punkszene. Wegen kleinerer Delikte war er einige Male im Gefängnis, arbeitete dann als Immobilienmakler und absolvierte in den Achtzigern ein Management-Studium. Seit dem überraschenden Erfolg seines ersten Buches «Trainspotting» ist er als Schriftsteller tätig. Im Roman, der 1993 erschien, schilderte er das Leben einer Gruppe junger Schotten, deren Welt von Drogen geprägt ist. Das Buch provozierte mit detaillierten Beschreibungen des Heroinkonsums. In der gleichnamigen Verfilmung von Danny Boyle hat Welsh einen Gastauftritt als Drogendealer. «Skagboys», das Prequel zu «Trainspotting», erschien letztes Jahr und wurde bisher nicht ins Deutsche übersetzt. (dif)
Skagboys Mark Renton hat alles, was es braucht: Er sieht gut aus, ist jung, hat eine hübsche Freundin und einen Platz an der Uni. Aber es hat trotzdem keiner auf ihn gewartet, im England der Achtziger. Die Regierung Thatcher hat der Arbeiterschicht den Boden unter den Füssen weggezogen, und die Gewissheiten der Nachkriegsgeneration – Vollbeschäftigung, Bildung, Wohlfahrtsstaat – sind in sich zusammengefallen. Als seine Familie auseinanderbricht, gerät Marks Leben ausser Kontrolle. Die naheliegende Lösung heisst Heroin. Marks Freunden ergeht es ähnlich: «Skagboys» schildert ihren Weg von hoffnungsvollen jungen Kerlen zu den Drogensüchtigen, wie wir sie aus «Trainspotting» kennen. Das waren die Achtziger: Zeit der Drogen, der Armut, von AIDS, Gewalt, politischen Streitereien und Hass. Aber auch von speziellem Humor und vielleicht sogar ein bisschen Liebe. (dif)
www.irvinewelsh.net
Irvine Welsh: Skagboys. Vintage Publishing, Jonathan Cape 2012.
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Sie sind Schotte. Wie stehen Sie eigentlich zur schottischen Unabhängigkeitsfrage? Ich lebe jetzt in den USA und schon lange nicht mehr in Schottland. Für mich besteht da ein innerer Konflikt, weil ich als Kind schon nach London gezogen bin. Ich habe immer positiv über England und London gedacht, aber man muss die Realität sehen – und ich sehe, dass die Union zur Neige geht. Die Argumentation ihrer Befürworter ist schlecht. Ich kann die Politik, die auf Ängste abzielt, nicht ausstehen – weil ich
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Fremd für Deutschsprachige Grüner Elefant Neulich musste ich der dreijährigen Louette beim Büechli-Aluege erklären, was Phantasie heisst. Ich sagte, das sei zum Beispiel, wenn man sich etwas vorstellt, das es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Sie schien mit der Antwort zufrieden – eine Zufriedenheit, die verursacht zu haben ich sofort bereute. Na ja, sagte ich, das stimmt so nicht ganz. Schau mal, das Zimmer, in dem wir sitzen: Wenn du und ich, wenn wir beide uns jetzt ganz fest vorstellen, dass ein riesengrosser, megadicker grüner Elefant hier im Zimmer steht, dann ist er ja schon irgendwie da, oder? Sie stimmte mir zu: Ja, sie könne ihn gut sehen. Aber den Rüssel müsse er halt aus dem Fenster hängen, weil es scho e chli eng sei für ihn, hier drin. Ich war ziemlich zufrieden mit mir, sagte tschüss und stieg in den Zug. Wo ich mich in eine grossblättrige Zeitung eingrub. Diese titel-
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te «Du schaffst es nicht!» und berichtete von der Ungleichbehandlung von Arbeiterkindern im Schulsystem: Marco Maurer, Sohn einer Friseurin und eines Kaminkehrers, war in der Schule diskriminiert worden von seinem Lehrer, Herrn Dieter Proksch. Letzterer hatte Marcos Mutter klargemacht, dass die Realschule nichts für Marco sei und er auf der Hauptschule bleiben solle. Heute aber klingelt Marco Maurer beim Herrn Proksch in Bayern an der Tür – als «ZEIT»-Autor. Ich musste natürlich sofort an meinen eigenen Herrn Proksch denken, aus dem Klettgau. Mein Herr trug auch gestreifte Hemden und ein Gekräusel selbstsicherer Lachfältchen unter der Brille. Dieser Mann, von dem man nicht nur wusste, dass er jeweils recht hatte, sondern auch, dass er die Zeichnungen der Schülerinnen und Schüler entsprechend seiner Benotung an die Wandschranktüren 1– 6 klebte, teilte mir gegen Ende der sechsten Klasse mit: Ich kann dich nicht für die Sekundarschule empfehlen, leider. Ich sehe dich da einfach nicht. Da war er wieder: der grüne Elefant! Aber anders als Louette und ich konnten Marcos und mein Herr Proksch das ungewöhnliche Tier beim besten Willen nicht sehen. Er sah uns einfach nicht da. Wo? Na da, neben seiner Tochter Andrea und dem Pilotensohn Rolf, wie wir in der Bank sitzen und was Lateinisches zusammenkonjugieren, wie wir nach der Ma-
turfeier den Joint von ihnen gereicht bekommen, wie wir mit ihnen in unsere erste StudiBude ziehen. Er hätte es gern gesehen, doch da schien nichts zu machen zu sein. Aber sicherheitshalber fragte ich nochmals nach, ausgestattet mit meinen prächtigsten und anständigsten Konjunktiven: Wäre es nicht ächscht möglich, dass ich mal die Prüfung probieren würde? Und dann könnten wir ja schauen … Vielleicht könnte ich es schaffen – wenn ich sehr viel lernen würde, natürlich! Mein Herr konterte seinerseits mit einigen Konjunktiven: Ich fände es wirklich sehr schade, wenn du nachher enttäuscht und entmutigt wärest, wenn … Den Konjunktiv nun hinter sich lassend: … wenn du die Prüfung nicht schaffst. Und mit dem mir heute wohlbekannten Mantra der praktischen Schullaufbahnberatervernunft endete er: Lieber ein guter Realschüler als ein schlechter Sekundarschüler! Da liess ich den Konjunktiv dann auch liegen: Woher wissen sie denn, dass ich vorhabe, eine schlechte Sekundarschülerin zu werden? sagte ich und schwang mich auf meinen Elefanten.
SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 294/13
Tim Burton «Frankenweenie»: Es lebt! BILD: ZVG
Tim Burton ist mit «Frankenweenie» zum Stop-Motion-Trickfilm zurückgekehrt. Die Geschichte, 1984 schon als Kurzfilm produziert, dreht sich um einen kleinen Jungen namens Victor Frankenstein, der seinen Hund wieder zum Leben erweckt – ganz im Geiste der klassischen amerikanischen Monsterfilme. In 3D. INTERVIEW VON LAURA KELLY, THE BIG ISSUE
Herr Burton, wie sind Sie auf «Frankenweenie» zurückgekommen? Tim Burton: Der Kurzfilm ist schon lange her. Über die Jahre, nachdem ich an ein paar anderen Trickfilmen gearbeitet und die Originalbilder wieder angeschaut hatte, bekam ich das Gefühl, dass da mehr drin liegt. Ich begann über diese Zeit nachzudenken – Kinder, an die ich mich erinnere, gestörte Lehrer. So wurde es irgendwie vom Frankenstein-Modell zum House-of-Frankenstein-Modell, oder dem Abbottand-Costello-meet-Frankenstein-Modell – Filme mit einem ganzen Haufen von Monstern drin. Es fühlte sich wie ein vollkommen neues Projekt an. Wie autobiografisch ist der Film? Er ist vielleicht eines der wenigen Projekte, in dem alles mit eigenen Erinnerungen verknüpft ist. Jede Figur basiert auf einer Person oder einer Kombination von Leuten, die ich gekannt habe. Am Anfang stand die Liebe zum Haustier, wie ich sie als Kind hatte. Ich habe mich daran erinnert, dass ich Super-8-Filme machte, ich wollte ein verrückter Wissenschaftler sein. Ich war ein unbegabter Sportler. Sind Sie selber Victor, der kleine Junge? Ja. Ich glaube, viele Kinder fühlen sich ein bisschen als Einzelgänger. Du fühlst dich anders als alle anderen, aber du fühlst dich – ich hasse das Wort – «normal». Ich hatte immer das Gefühl, die Leute behandeln mich, als sei ich etwas eigenartig, aber ich fühlte mich nicht so eigenartig. Mir selber kamen die anderen Kinder seltsam vor. Begleichen Sie etwa eine Rechnung mit diesen Kindern? Ist da Rache dabei? Ich weiss es nicht, vielleicht ganz tief drin … Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, dass die Story für Disney ein bisschen morbid sein könnte? Ich hatte das Gefühl, sie sei ein sicherer, simpler Weg, mit dem Thema Tod umzugehen. Die Leute finden die Story heavy. Aber ich sage: Erinnert ihr euch an Bambi? Oder an den König der Löwen? Disney hat dieses Thema von Anfang an aufgegriffen. Wenn man all die düsteren Elemente von «Schneewittchen» an aus den Walt-Disney-Filmen nähme, wären sie keine Walt-Disney-Filme mehr. Es ist seltsam, dass sich die Leute nun in meinem Fall daran aufhalten. Es wurde auch viel über «Beetlejuice 2» geredet … Ja, ich glaube, dass da möglicherweise ein Drehbuch geschrieben wird. Meine Haltung dazu ist, dass ich nicht gross darüber nachdenke. Wenn mir jemand ein Drehbuch gibt und ich es mag, dann werde ich mal sehen …
«Frankenweenie», wiedererweckt zur abendfüllenden Kinoversion.
will das nicht, denn bei einem Film wie diesem willst du einfach, dass er bleibt, was er ist. Es gibt Dinge, die sich für eine Trilogie oder Serie eignen – James Bond, denke ich mal. Ich musste bei «Frankenweenie» ein bisschen weinen. Müssen Sie jemals weinen, wenn Sie einen Film drehen? Es gab einige Produzenten, die mich zum Weinen gebracht haben. Im Ernst. Ich erinnere mich, dass ich im «Batman»-Set auf den Stufen der Gotham Cathedral sass und einfach weinte. Man ist so emotional bei gewissen Dingen. Deshalb ist es so schwierig, wenn du nach Hause gehst und dein Partner fragt: Wie war dein Tag? Du fühlst dich wie ein schizophrener Manisch-Depressiver, weil du an einem Tag so viel durchmachst. Es ist bekannt, dass Sie 1984 Disney sehr frustriert verliessen. Wie war die Rückkehr? Als ich dort war, war das wahrscheinlich die schlimmste Zeit des Animationsfilms in seiner ganzen Geschichte. Sogar die Disney Company machte ihre schlechtesten Sachen – «Fox and the Hound», «Black Cauldron». Aber ich bekam die Gelegenheit, zwei Kurzfilme zu machen – «Vincent» und «Frankenweenie». Das war eine grossartige Chance, die aber nicht zu viel führte. Heute ist Disney ein komplett anderes Unternehmen. Die Leute unterstützten mich sehr bei «Frankenweenie», obwohl er schwarz-weiss ist. ■ Übersetzung: Florian Blumer Tim Burton: «Frankenweenie», USA 2012, 87 Min. Der Film läuft in der Deutsch-
Würden Sie wirklich einen Klassiker zerstören wollen, indem Sie ein Sequel drehen? Ich habe auch etwas gegen Fortsetzungsfilme. Bei «Nightmare Before Christmas» fragte man mich: Warum machst du kein Sequel? Aber ich SURPRISE 294/13
schweiz nur in drei Vorstellungen im Zürcher Riffraff: Fr, 22. und Sa, 23. Februar, je 23 h; So, 24. Februar 12 h. www.riffraff.ch Die DVD erscheint am 16. Mai.
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Kultur
Die neue Welt ist nicht ganz so rosa, wie es sich die japanischen Einwanderinnen erträumt haben.
Ziemlich schick und richtig gut: The Animen.
Buch Erst fremd, dann Feind
Musik Wilde Tiere im Anzug
Julie Otsuka schildert das Leben japanischer Einwanderinnen in Amerika vor und nach Pearl Harbor als vielstimmigen SchicksalsChor.
The Animen aus Carouge gehören schon jetzt zu den Entdeckungen des Jahres. Sie spielen Rock ‘n’ Roll mit einem guten Schuss Soul und begeistern mit Biss und Raffinesse.
VON CHRISTOPHER ZIMMER
VON RETO ASCHWANDEN
«Picture Brides» hiessen die jungen Japanerinnen, die nur aufgrund von Fotografien der künftigen Gatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Scharen nach Amerika verheiratet wurden. Dort stellten sich die Hochglanzbilder sogleich als Täuschung heraus: Die angeblich erfolgreichen Aufsteiger entpuppten sich als japanische Underdogs, die Heirat zeigte sich nur als Weg, um billige Arbeitskräfte zu ködern. Die Flucht von den Reisfeldern endete auf den Äckern oder in den Villen Amerikas – für nicht wenige auch in den Bordellen von J-Town, dem japanischen Äquivalent von Chinatown. Japanerinnen wurden geschätzt – als Wanderarbeiterinnen, Pflückerinnen, Pächterinnen im Niemandsland oder Mädchen für alles –, denn sie waren fleissig, sauber und vor allem schweigsam. Zu gehorsamen Gattinnen erzogen, brachten sie die Sitten und Verhaltensmuster der Heimat mit, was sie zu wehrlosen Opfern machte, die ausgebeutet und nicht selten missbraucht wurden. Zugleich machte sie ihr Festhalten an der vertrauten Lebensweise auch suspekt, zu ewigen Fremden. Das rächte sich spätestens nach dem Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941. Von nun an wurden alle Japaner zu potenziellen Feinden. Das von Medienhysterie angeheizte Misstrauen endete schliesslich in Internierung und Deportation. Selbst die Kinder entgingen nicht dem Schicksal ihrer Eltern, denen sie sich im Versuch, amerikanisch zu werden, entfremdet hatten. Das Feindbild machte alle gleich. Julie Otsuka schreibt diese Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht, aus einer aussergewöhnlichen Erzählperspektive: aus der Sicht aller Frauen. Es geht ihr nicht um ein individuelles, sondern um ein kollektives Schicksal. So ist stets das «Wir» das Subjekt, das erlebt: die beschwerliche Reise, die Entjungferung gleich nach der Ankunft, die harte Arbeit, die Ehen und Geburten, das Elend der Deportation – in unzähligen Variationen. Zum Schluss treten an die Stelle dieses kunstvoll gewobenen, vielstimmigen Schicksals-Chors die Stimmen der Weissen, die verwirrt, unversöhnlich oder schuldbewusst auf die verlassenen und geplünderten Häuser der Fremden blicken, die verschwunden sind, als hätte es sie nie gegeben.
«Hi!» heisst das Debüt von The Animen – ein knapper, selbstbewusster Gruss: Hier sind wir. «Genau so soll es wirken», sagt Sänger Theo Wyser. «Und zwar mit einem Lächeln. Rock ‘n’ Roll soll Unterhaltung sein, kein grimmiges Statement. Zuerst einmal geht es um Spass und Tanz, danach kannst du immer noch über dein gebrochenes Herz singen.» Das Album allerdings eröffnen die Newcomer mit Herzschmerz. «Harder Than Stone» barmt Wyser schon in den ersten Sekunden des Albums. Allein in dieser Ballade steckt mehr Kraft als in den harten Rocksongs anderer Bands. Und dann starten The Animen erst richtig durch und bringen ihren altmodischen Rock mit Versatzstücken aus Surf, Country und vor allem Soul zum Rollen. Der Rhythmus kommt lässig aus der Hüfte geschlenkert, die Gitarrenriffs scharf und gut geschüttelt. Die Biografie der Animen ist die einer anständigen Rockband. Zwei Schulfreunde finden sich über den gemeinsamen Musikgeschmack, und weil in der Kleinstadt Carouge vor den Toren Genfs nichts los war, gründeten sie eine Band. Das Mikrofon übernahm Theo Wyser, weil kein anderer singen wollte. Gesangsunterricht hatte er nie, doch er croont und kräht so beseelt, als wäre Otis Redding in ihn gefahren. Von souveräner Beiläufigkeit sind auch die Songs, die mit Biss und Raffinesse begeistern und genauso stilsicher klingen wie ihre Macher aussehen. «Wir sind bei Konzerten ziemlich schick angezogen. Mit den Anzügen zeigen wir, dass wir die Show ernst nehmen.» Privat sei er eher schüchtern, sagt Wyser: «Aber auf der Bühne verwandle ich mich in ein wildes Tier. Ich finde es wichtig, für Konzerte ein Alter Ego zu haben. Es beschützt dich vor Kritik, aber auch davor, zu viel zu überlegen.» In den letzten anderthalb Jahren spielten The Animen knapp 40 Gigs, vor allem in kleinen Lokalen rund um Genf. Mit dem Album im Gepäck wollen sie jetzt auch die Deutschschweiz erobern. «Und wir wollen im Ausland auftreten, richtig auf Tour gehen und jeden Abend spielen», erklärt Theo Wyser, zögert kurz und schiebt dann hinterher: «Klingt das anmassend?» Nicht doch. The Animen haben die Songs, die Spielfreude und die Entschlossenheit, auch jenseits der Grenze für Furore zu sorgen. Diese Musik lässt die Endorphine tanzen.
Julie Otsuka: Wovon wir träumten. Mare 2012. 25.90 CHF.
The Animen: Hi! (Irascible) Am 22. März treten die Animen am M4Music-Festival in Zürich auf.
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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.
Von der Stützpflanze auf die Salatplatte: Leckere Linsen.
Piatto forte Reich kochen Linsen galten lange als Arme-Leute-Essen. Heute ist die Hülsenfrucht eine Delikatesse, die auch jenseits von kräftigen Eintopfgerichten bella figura macht.
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Solvias AG, Basel
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Ernst Schweizer AG, Metallbau, Hedingen
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confidas Treuhand AG, Zürich
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ratatat – freies Kreativteam, Zürich
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G.A.T.E.S., Hôteliers & Restaurateurs SA, Basel
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Claude Schluep & Patrick Degen, Rechtsanwälte, Bern
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homegate AG, Adliswil
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Sprenger & Partner Bauingenieure SIA USIC,
VON TOM WIEDERKEHR
Wer an Silvester Linsen isst, der kann im folgenden Jahr mit Reichtum rechnen – das verspricht zumindest eine italienische Tradition. Der Erfolg steht in den Sternen, sicher aber bilden Linsen ein überaus reichhaltiges Nahrungsmittel. Linsen zählen zu den Hülsenfrüchten, die für ihren hohen Nährstoffwert und Eiweissgehalt bekannt sind. Weltweit gibt es rund 70 Sorten. Die Linsen wachsen an kleinen Sträuchern, brauchen aber zwingend eine Stützfrucht, an der sie sich emporranken können. Meistens werden sie zusammen mit Hafer angebaut. Dieser Mischanbau ist für einen nachhaltigen Ackerbau sinnvoll, allerdings wenig lukrativ. Daher werden Linsen in Europa nur noch als Spezialität kultiviert. Zum Beispiel die Lentilles blondes de la Planèze de St-Flour aus der französischen Auvergne, die Lenticchie di Santo Stefano di Sessanio aus den Abruzzen oder die Lenticchie di Villalba aus Sizilien. Alle diese Sorten sind «Presidi» von Slow Food, die mit der Förderung von Anbau und Verkauf dieser Linsen die Artenvielfalt sichern. Ähnlich wie bei den Kartoffeln unterscheidet man mehlig- und festkochende Linsen. Zu den ersteren zählen die gängigen, braunen Tellerlinsen, welche erdig schmecken und eine ideale Grundlage für cremige Suppen oder Pürees bilden. Die rot-bräunlichen Berglinsen kochen fester, sind delikater im Geschmack und eignen sich als Beilage oder als Basis für einen Salat. Ganz helle Linsen sind normalerweise geschält und zerfallen daher schneller beim Kochen. Typischerweise werden sie in den indischen, vielfältig gewürzten «Dhal»-Gerichten verwendet und mit Reis gegessen. Gewürze wie Ingwer, Koriander und Kreuzkümmel führen übrigens dazu, dass die Linsen leichter verdaulich sind. Wer schon mal die kleinen, schwarzen Belugalinsen – ihren Namen verdanken sie der optischen Ähnlichkeit mit Kaviar – probiert hat, weiss, weshalb Linsen ihr Image als Arme-Leute-Essen längst überwunden haben. Der italienische Silvester-Brauch wird in gewisser Weise also erfüllt.
Arlesheim 09
Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg
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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
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IBP – Institut für Integrative Körperpsychotherapie, Winterthur
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Knackeboul Entertainment
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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
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Girod Gründisch & Partner, Visuelle Kommu-
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Paul & Peter Fritz AG, Literary Agency, Zürich
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TYDAC AG, Web-Mapping-Software, Bern
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Kaiser Software GmbH, Bern
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Balcart AG, Carton, Ideen, Lösungen, Therwil
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Lions Club Zürich-Seefeld
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Klimaneutrale Druckerei Hürzeler AG,
nikation, Baden
Regensdorf 21
Scherrer & Partner GmbH, Basel
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Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil
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Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG)
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Locher, Schwittay Gebäudetechnik GmbH, BS
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fast4meter, storytelling, Bern
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.
Bezugsquellen und Rezepte: http://piattoforte.ch/surprise
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Ausgehtipps
Dunkle Töne: Esben And The Witch.
Zürich Schauderpop Es war einmal ein dänisches Märchen, in dem eine Hexe und ihre Töchter gar schauerlich ums Leben kommen. Auf Englisch lautet der Titel dieser Geschichte «Esben and the Witch» und drei Musikanten gefiel das derart, dass sie ihre Band ebenso nannten. Das passt schon, denn auch wenn das Trio aus dem malerischen Städtchen Brighton an der englischen Südküste stammt, so bestimmen doch dunkle Töne ihre Lieder. Manche Menschen hören Anklänge der Gothic-Bands der Achtzigerjahre heraus und andere sprechen von Dream Pop, so nennt man heutzutage Bands, die ihre Lieder melancholisch durch den Äther schweben lassen. So grausam wie das Märchen klingt die Band nicht, Menschen mit Winterdepressionen sollten sich den Konzertbesuch gleichwohl gut überlegen, denn als Aufsteller taugen Songs wie «Deathwish» dann doch nicht. (ash) Do, 21. Februar, 20:30 Uhr, Rote Fabrik, Zürich.
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Yysi going: kunstvoll Pirouetten drehen auf der Kunsti.
Fast so bekannt wie Kraftwerk: Fraktus.
Auf der Kunsti Nostalgisch kurven
Im Kino Erfundene Erfinder
Trauern Sie auch manchmal den guten, alten Achtzigern nach? Dann können Sie natürlich an 80ies-Partys gehen, für ein richtig authentisches Backflash hätten wir aber noch eine andere Idee: Ab auf die Kunsti! Hier ist die Zeit stehengeblieben. Noch immer drehen kreischende Teenies ihre Runden, die von coolen Jungs in Hockeyschlittschuhen mit waghalsigen Manövern umkurvt und ausgebremst werden, unterstützt vom passenden Sound aus scheppernden Boxen. Abgerundet wird das Bild von händchenhaltend dahingleitenden Pärchen und von Knirpsen, die entweder auf dem Rücken liegen oder nach dem Rollator-Prinzip einen Pinguin über die Bahn schieben. Spass für und Jung und Alt also, für Nostalgiker, Waghalsige und Frischverliebte – und gesund ist’s auch noch, solange man die Balance hält und sich nicht über die Finger fahren lässt. (fer)
Die Musikgeschichte ist gesäumt von vergessenen Wegbereitern. Besonders tragisch ist der Fall von Fraktus. Das Trio aus Brunsbüttel erfand Anfang der Achtzigerjahre den Techno. Doch nach einem Brand bei einem Auftritt in Hamburg war Ende Feuer. Nun wird die Geschichte dieser Urväter der elektronischen Musik endlich gebührend erzählt. Im Film «Fraktus – Das letzte Kapitel der Musikgeschichte» würdigen Westbam, Blixa Bargeld oder auch Dieter Meier («Fraktus wäre heute eine so bekannte Band wie Kraftwerk oder Yello») den Einfluss des Trios. Doch Fraktus sind eine Erfindung von Rocko Schamoni, Jacques Palminger und Heinz Strunk (Studio Braun) und der Film gehört zum Genre des Mockumentarys: Alles erstunken und erlogen. (ash)
Eine Kunsteisbahn gibt’s bestimmt auch in Ihrer Nähe,
Do, 21. Februar, 21.30 Uhr, Kino Kunstmuseum, Bern;
eine alphabetische Liste der schweizerischen Eisfelder
Do, 28. Februar, 21.15 Uhr, Riffraff, Zürich;
finden Sie auf
Fr, 1. März, Bourbaki, Luzern.
www.skating.ch/rinks/rinks_alphabet.htm
Weitere Spieldaten auf den Internetseiten der Kinos.
Premierenfeiern mit Regisseur Lars Jessen und einer Einführung des Musikjournalisten Philip Anz:
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BILD: KULTURAMA, JOSEF STÜCKER
Sehen wie ein Zebrafisch: Dank der elektronischen Netzhaut.
Wer in der Fasnachtsausstellung war, der weiss: Die Nasen waren früher kleiner.
Zürich Wunderwerk Mensch
Basel Fasnacht im Museum
Es gibt Kinder, die würden am liebsten jede Woche einmal ins Kulturama gehen und sich Gebärmütter, Skelette und den Tyrannosaurus Rex ansehen. Oder einiges Neues über die menschliche Wahrnehmung lernen. Hier gab’s zum Beispiel vor Kurzem zwei grossartige «Rauschbrillen», die es auch Abstinenzlern und Kindern möglich machten, die Momente mit einigen Promille zuviel nachzuvollziehen. Zurzeit ist die Sonderausstellung «Neuromedia» eingerichtet: Die Künstlerin Jill Scott hat sich in den Forschungslabors von Neurobiologinnen und Wissenschaftlern getummelt und ihr Wissen in eine sinnlich erfahrbare Form gebracht. Nämlich vier Skulpturen mit abenteuerlichen Namen wie The Electric Retina oder Dermaland gebaut. Und ja, genau, es geht dabei darum, die Sinne zu erfassen. Zu fühlen, wie man spürt, und zu sehen, wie man guckt und all das endlich zu begreifen. Auf dem Erlebnispfad kann man ausprobieren, wie man die Welt mit einer Sehbehinderung wahrnehmen würde. Dann kann man herausfinden, was eine Landschaft mit der Haut zu tun hat. Und Fragen klären, die auch Mami und Papi nie recht beantworten können. Denn: Was ist eigentlich eine Nervenzelle genau? Auch für Erwachsene interessant. (dif) «Neuromedia», Ausstellung im Kulturama, Englischviertelstr. 9, Zürich,
Z’Basel isch Fasnacht! Die drey scheenschte Dääg für die einen, Fluchtgrund in die Berge für die anderen. Die einen, das sind die, die oft auch ganz genau wissen, was Fasnacht ist und was nicht, also was schon immer so war und darum auch heute so sein muss – und was nicht an die Basler Fasnacht gehört. Es soll an dieser Stelle natürlich nicht propagiert werden, auf dem Barfi mit grüner Perücke und Clownnase Fasching zu spielen – aber dazu aufgerufen, sein eigenes Fasnachtswissen zu hinterfragen. Guggemusige gehören eigentlich nicht an die Basler Fasnacht? Naja, immerhin seit 200 Jahren schon. Ein Waggis ist kein Waggis, wenn er keine grosse Nase hat? Ist erst seit den Fünfziger Jahren so. In der Fasnachtsausstellung im Museum der Kulturen gibt’s Nachhilfe für Fasnachtshistoriker, mit schwarz-weiss-Filmen aus den Dreissiger Jahren, Schnitzelbänggen, Laternen, Larven und Instrumenten aus vergangenen Zeiten. Exklusive Gelegenheit dazu in der ansonsten öffentlich nicht zugänglichen Ausstellung gibt’s am Fasnachtsdienstag Nachmittag. Ideal übrigens mit dem Besuch der Laternenausstellung auf dem Münsterplatz zu verbinden, die man natürlich sowieso keinesfalls verpassen sollte, wenn man zu den zitierten «einen» gehört. Allen anderen wünschen wir Pulver gut und Hals- und Beinbruch. (fer)
Di bis So 13 bis 17 Uhr, noch bis So, 17. März. Kinder- und Familiennachmittag für
Fasnachtsausstellung, Di, 19. Februar, 14 bis 18 Uhr mit öffentlichen Führungen auf
Kinder ab der 4. Primarklasse am Mi, 27. Februar, und am Mi, 13. März, 14 bis 16 Uhr.
Deutsch, Führung in Englisch am So, 17. Februar, 11 bis 12 Uhr, Museum der
Anmeldung erforderlich: Tel.: 044 260 60 03, museumspaedagogik@kulturama.ch
Kulturen, Münsterplatz 20, Basel.
BILD: CHRISTIAN REICHENBACH
www.kulturama.ch
Auf Tour In Grosshöchstetten Ein Juni-Sonntag in Grosshöchstetten, Herr Schön wartet unter der Linde auf Frau Gut, er will ihr einen Heiratsantrag machen. Und ringt nach den richtigen Worten, im betörenden Duft der Lindenblüten. Gleichzeitig findet ein Brunch statt, an dem sich die beiden Gemeinden Grosshöchstetten und Konolfingen austauschen, und der Plan ist, dass sie fusionieren. Die Würste liegen auf dem Feuer, man beschnuppert sich gegenseitig und überlegt sich, ob man einswerden will. Schön&Gut, das sind Anna-Katharina Rickert und Ralf Schlatter, und sie haben als Kabarett-Duo schon bei früherer Gelegenheit unermesslichen Wortwitz und überbordende Fantasie bewiesen. (dif) Do, 28. Februar bis Sa, 2. März und Do, 7. bis Sa, 9. März Theater Teufelhof Basel, jeweils 20.30 Uhr; danach Tournee durch die gesamte Deutschschweiz, siehe:
Man kommt sich näher. Wie man sieht. SURPRISE 294/13
www.schoenundgut.ch
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Verkäuferinnenporträt Pilar Ferreira Pilar Ferreira, 42, interessierte sich schon als Kind für Literatur. Gegen alle Widerstände entwickelte sie ihr Talent. Heute verkauft sie nicht nur Strassenmagazine in São Paolo, sondern publiziert auch Gedichte und tritt als Performance-Künstlerin auf. VON RICARDO SENRA (TEXT UND BILD)
Bevor Pilar Ferreira das Strassenmagazin Ocas entdeckte, hatte sie in einigen der reichsten Gegenden Brasiliens Villen geputzt. Schon als Achtjährige half sie ihrer Mutter, die als Putzfrau in einem exklusiven Privatklub arbeite. Und damals entdeckte sie auch ihre Freude am kreativen Arbeiten. «Nachdem ich ‹Ali Baba und die 40 Räuber› gelesen hatte, beschloss ich, selber eine Geschichte zu schreiben.» Damit eckte sie an: «Die Chefin meiner Mutter kam in mein Zimmer, sah die Blätter auf dem Fussboden und sagte, ich würde zu viel schreiben. Schreiben sei gleichbedeutend mit Faulheit. Sie zerriss alle meine Blätter und sagte: ‹Such dir Arbeit, Blackie, und bilde dir nichts ein.› Dieser Satz hat mich mein ganzes Leben lang verfolgt. Und jedes Mal, wenn ich mich heute an einem literarischen Projekt beteilige, erinnere ich mich daran.» Mit vierzehn begann Pilar Ferreira ihr eigenes Geld als Putzfrau zu verdienen. Weil sie sich gegen miese Anstellungsbedingungen wehrte, galt sie bald als schwierig und hatte Mühe, Arbeit zu finden. «Ich konnte es einfach nicht akzeptieren, wenn ich ungerecht behandelt wurde», sagt sie. Später absolvierte sie an der Universität von São Paulo einen Kurs für sozial benachteiligte Erwachsene und erwarb so einen Schulabschluss. Doch hatte sie weiterhin Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Das Geld war knapp, und schliesslich verlor sie ihre Wohnung. Als sie weinend in der Eingangshalle des Kunstmuseums von São Paulo sass, fiel ihr ein Mann auf, der einen Stapel Magazine unter dem Arm trug. «Ich sah, wie dieser Junge Magazine verkaufte. Also ging ich zu ihm rüber und fragte ihn, wie ich auch so einen Job bekommen könnte.» Der Mann hiess Cláudio und verkaufte die Strassenzeitung Ocas. Zusammen gingen sie zum Ocas-Hauptsitz in Brás, wo Pilar ihre orange Verkäuferweste und zehn Magazine in Empfang nahm. Das war an einem Montagmorgen. Am Mittwoch holte sie sich Nachschub. Am liebsten bietet Pilar Ferreira die Magazine in den Theatern, Museen, Buchläden und Universitäten von São Paulo an. An guten Tagen verkauft sie bis zu 30 Zeitungen für vier Real (rund 1.80 Franken) pro Stück. Davon darf sie je drei Real behalten. «In einem der Häuser, wo ich putzte, habe ich Englisch gelernt. Das hilft mir mit den Touristen, die ziemlich oft ein Heft kaufen.» Durch den Heftverkauf veränderte sich Pilar Ferreiras Leben: «Ich hatte endlich Verantwortung und konnte mir die Arbeitszeit selbst einteilen. Beim Verkaufen habe ich Künstler, Schauspieler, Sänger und viele andere nette Leute getroffen. Ich habe ihnen meine Gedichte gezeigt. Sie geben mir oft kostenlose Karten für Shows und Einladungen für Theatervorstellungen. All das lässt mich weitermachen.» Heute ist Pilar Ferreira nicht nur Zeitungsverkäuferin sondern auch Performance-Künstlerin, Dichterin und Romanautorin. Zuerst erschienen ihre Gedichte in Ocas. Dann wurden sie in Anthologien, auf Blogs und bei Ausstellungen veröffentlicht. Pilar spricht begeistert über ihr Buch «Nicht-Akademische Worte», das 2009 erschienen ist. «Ich bin nie auf eine Universität gegangen, aber das Leben auf der Strasse hat mich
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inspiriert, etwas zu produzieren, was meiner Meinung nach einem hohen Bildungsgrad entspricht.» Sie engagiert sich in Gruppen und Organisationen, die sich für die Rechte von Frauen und schwarzen Jugendlichen und für den Wohnungsbau einsetzen: «Für mich bedeutet das, selbst aktiv werden zu können. Die Menschen brauchen Informationen.» Sie investiert auch viel Zeit in Fotokurse, afrikanischen Tanz und Performances, die mit Lyrik unterlegt werden. «Ich liebe das», sagt sie. «Es ist eine Art erotische und sinnliche Poesie im Stil des Marquis de Sade oder von Bocages Sonetten.» Nach acht Jahren bei Ocas hat Pilar es geschafft, ein Haus zu mieten, in dem sie heute mit ihren Kindern lebt. «Wir haben Geld, um Essen und Rechnungen bezahlen zu können, was am wichtigsten ist. Das verdanke ich Ocas. Nach Reichtum sehne ich mich nicht, aber ich möchte sehr gerne irgendwann ein Haus kaufen. Und ich glaube, dass ich das mit Ocas und meiner Kunst auch schaffen werde.» ■ www.street-papers.org/INSP Übersetzung: Katrin Wolf, Bearbeitung: Surprise SURPRISE 294/13
SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin
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Josiane Graner Basel
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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.
Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–
Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.
Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.
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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden, Florian Blumer, Diana Frei (Nummernverantwortliche), Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Joël Bisang, Billy Briggs, Corinne Futterlieb, Laura Kelly, Barbara Klingbacher, Susanne Koch, Stefan Michel, Ricardo Senra Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 15000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen
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Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 294/13
Schön und gut. Die Surprise-Mütze mit eleganter Kopfwerbung ist ab sofort wieder erhältlich: In Einheitsgrösse, in den Farben Rot und Schwarz. Heizt das Hirn, gibt warme Ohren. Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.
Surprise-Mütze CHF 30.– rot
Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–
schwarz
50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.
Alle Preise exkl. Versandkosten.
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Ist gut. Kaufen! Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache. Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.
Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50 neon-orange schwarz
Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.– rot schwarz
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Macht stark.
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