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Der Botschafter Xherdan Shaqiri im Abschiedsinterview No sex, please: die neue Keuschheitswelle

Open Airs: Dunkle Wolken über dem Schweizer Festival-Himmel

Nr. 276 | 1. bis 14. Juni 2012 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Dazu passend: Leichtes T-Shirt, 100%Baumwolle, für Gross und Klein.

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50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Surprise Rucksäcke (32 x 40 cm); CHF 89.– rot

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Titelbild: Keystone (Peter Schneider)

Editorial Mirupafshim, Xherdan!

Ein schönes Beispiel dafür ist Christoph Birrer, Punk aus Olten. Birrer landete nach seinem Rausschmiss als Maler erst einmal auf der Strasse, wo er sein Geld, das er fortan als Taglöhner verdiente, mit Betteln aufbesserte. Irgendwann entdeckte er den Strassenfussball und seine organisatorische Ader. Diesen Monat wird er mit Unterstützung von Surprise Strassensport bereits zum zweiten Mal ein eigenes Strassenfussballturnier auf die Beine stellen. Näheres zum Turnier finden Sie auf Seite 7, mehr zum Organisator in unserem Porträt auf Seite 28.

BILD: ZVG

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Die nationalen Fussballmeisterschaften sind gespielt, die Cuptrophäen vergeben. Nun steht die Europameisterschaft vor der Tür. Für einmal wollen auch wir König Fussball die Referenz erweisen. Denn wir sind überzeugt, dass er mehr kann, als bloss für Unterhaltung und Ablenkung zu sorgen.

FLORIAN BLUMER REDAKTOR

Auf der Strasse war als kleiner Junge auch Xherdan Shaqiri, Sohn von Einwanderern aus dem heutigen Kosovo. Allerdings nicht zum Betteln, sondern zum Fussballspielen. Mit zehn Jahren stiess er zur Nachwuchsabteilung des FC Basel und setzte da zu einem märchenhaften Aufstieg vom Einwanderersohn aus ärmlichen Verhältnissen zum Fussballstar mit Spitzensalär an. Der kosovarische Botschafter bezeichnete Shaqiri als «unseren besten Botschafter», auch unter Schweizern gilt er als Vorbild guter Integration. Dabei kommt er als Kosovo-Albaner aus einer Einwanderergruppe, über die man – von wenigen hochgejubelten Ausnahmen abgesehen – noch heute vor allem Negativschlagzeilen liest. Doch die Mehrheit auch der albanischen Einwanderer ist weder Messerstecher noch Sozialhilfebetrüger und auch nicht Fussballnationalspieler. Sondern schon eher wie das kosovarische Ehepaar, das sich 1991 in Augst BL niederliess und seine vier Kinder mit den Löhnen eines Hilfsarbeiters und einer Putzfrau durchbrachte – und auch dann keine Sozialhilfe beanspruchen wollte, als der Vater seinen Job verlor. Ein Fall, der es nie in die Medien geschafft hätte, weil er einer von tausenden ist. Hätte, hiesse das Ehepaar nicht Shaqiri. Ihr Sohn Xherdan wechselt nun zum europäischen Spitzenclub FC Bayern München. Vor seiner Abreise hat er sich noch die Zeit genommen, uns ein ausführliches Interview zu geben. Im Gespräch betonte er, dass man sich als Migrant anpassen müsse und dass er sich weiterhin nach Kräften für die Schweiz einsetzen wolle. Da es zur Integration aber immer zwei braucht, die aufeinander zugehen, wollen wir den Spiess für einmal umdrehen – und verabschieden uns mit Dank und Glückwünschen in der Sprache seiner Eltern: Mirupafshim, Xherdan. Shumë faleminderit për golat magjike dhe fat të mirë në Gjermani! Mit sportlichen Grüssen Florian Blumer

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@vereinsurprise.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 276/12

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10 Xherdan Shaqiri Star mit Strassenvergangenheit Noch nie hat ein Schweizer Fussballer in so kurzer Zeit so viel erreicht: Erst 20-jährig wechselt Xherdan Shaqiri diesen Sommer zum grossen FC Bayern München, mit einem U21-Vizeweltmeistertitel und fünf nationalen Titeln mit dem FC Basel im Gepäck. So kometenhaft sein Aufstieg war – die Bodenhaftung hat der Sohn kosovarischer Einwanderer dennoch nicht verloren. Im Interview erklärt er, weshalb und erzählt, was ihn mit Surprise-Strassenfussballern und -Verkäufern verbindet.

BILD: DOMINIK PLÜSS

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Inhalt Editorial Es lebe der Fussball! Basteln für eine bessere Welt Fanhut, werbefrei Aufgelesen Wegwerf-Essen Zugerichtet Amour fou Strassensport Wir werden eingeladen Starverkäufer Muruts Afewerki Porträt Liederweib Open Airs Grenzen des Wachstums Le mot noir Den Hund kastrieren? Poetry Slam Die Anfänge Kulturtipps Müslüm macht glücklich Ausgehtipps Tschuttibildli Verkäuferporträt Fussball-Punk Projekt Surplus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

14 Kunstmesse Grosses Business statt Biogemüse BILD: LUCIAN HUNZIKER

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Der Basler Werkraum Warteck pp ist aus der alternativen Szene entstanden. Im Juni findet hier zum 17. Mal die «Liste», die weltweit wichtigste Messe für junge Kunst statt. Zwei Welten prallen aufeinander: international und auf den grossen Erfolg aus die eine, lokal und niederschwellig die andere. Es scheinen Gegensätze zu sein, aber wer nachfragt, erfährt: Das grosse Kunstbusiness und der Werkraum sind eng verbunden.

BILD: ZVG

17 Keuschheit Küssen verboten Die evangelikale Familie Wilson aus den USA hat sieben Kinder und alle wollen in die Ehe gehen, ohne ihren Partner vorher auch nur geküsst zu haben. Keusch sein ist sexy oder wird heute zumindest entsprechend attraktiv verkauft. Auch in der Schweiz gibt es junge Menschen, die Sex vor der Ehe ablehnen. Das ist nicht immer bloss eine persönliche Entscheidung, sondern hat oft auch einen politischen Hintergrund.

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2. Verzieren Sie den Streifen mit den Farben Ihres Teams (weisses Kreuz auf rotem Grund ist diesen Sommer leider nicht aktuell) oder mit Bildern Ihrer Lieblingsband.

3. Ritzen Sie die Randlinien mit einer Scherenspitze und einem Lineal ein und schneiden Sie die kurzen Linien bis zur Randlinie ein. Falzen Sie den Rand auf der einen Seite nach unten, auf der anderen nach oben und schneiden Sie das letzte Stückchen an einem Rand an beiden Längsseiten ab.

4. Formen Sie einen Zylinder, noch ohne ihn zusammenzukleben, und messen Sie den Durchmesser. Zeichnen Sie zwei Kreise auf ein neues Stück Papier, eines mit dem eben gemessenen Durchmesser, einen drumherum. Je grösser der Radius des zweiten Kreises, desto breiter Ihre Hutkrempe. Schneiden Sie den dadurch entstandenen Ring aus.

5. Stülpen Sie den Ring über den Zylinder und kleben Sie die beiden Teile sowie den Zylinder zusammen.

6. Schneiden Sie noch einen Kreis vom gemessenen Durchmesser des Zylinders aus und kleben ihn oben drauf. Optional können Sie auch mit Heissleim oder Teppichklebeband noch eine Perücke hineinkleben, die es zum Beispiel in den Farben Ihres favorisierten Teams zu kaufen gibt. Hut an!

Basteln für eine bessere Welt Der Sommer steht vor der Tür, und damit auch die Festivalsaison und die Fussball-EM. Sie werden also viel Zeit unter der glühenden Sonne verbringen und Ihren klugen Kopf bestimmt vor einem Sonnenstich schützen wollen. Als Do-it-yourself-Weltverbesserer wollen Sie dies natürlich nicht mit einem geschenkten Hut tun, der Sie zum Gratis-Werbeträger für eine Biermarke oder ein Finanzinstitut macht! Wir empfehlen: Machen Sie ihn sich selbst. SURPRISE 276/12

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM

1. Schneiden Sie einen etwa 50 mal 20 cm langen Streifen aus dickem Papier der Farbe Ihrer Wahl aus. Zeichnen Sie an den beiden Längsseiten einen 1.5 cm breiten Rand ein und rechtwinklig dazu alle 1.5 cm eine Linie.


Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Hühner für den Abfall Nürnberg. Niemand wirft freiwillig 235 Euro in den Müll, sollte man meinen. Doch genau das macht jeder Deutsche im Durchschnitt pro Jahr, indem er Lebensmittel wegwirft – originalverpackt und vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums. Insgesamt landen so 20 Millionen Tonnen Nahrungsmittel im Abfall. Besonders krass ist es beim Fleisch: Ein Deutscher kauft durchschnittlich 61 Kilo pro Jahr, isst aber nur 44 Kilo – und wirft somit, rein rechnerisch, 17 Hühner auf den Müll.

«Exit» für Islamisten Hannover. Mit dem Ausstiegsprogramm «Exit» will Niedersachsen der Radikalisierung junger Muslime begegnen. «Wir wollen damit keinen Kampf gegen den Islam führen. Denn nicht von ihm gehen Gefahren aus, sondern von radikalen Splittergruppen», erklärt Innenminister Uwe Schünemann. Die Islamische Religionsgemeinschaft steht dem Projekt trotzdem kritisch gegenüber: Es bestehe derzeit eine Tendenz zur Einschüchterungspolitik, die eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden sei.

Junkfood für Kinder Berlin. Kinder essen heutzutage durchschnittlich nur die Hälfte der empfohlenen Tagesmenge an Gemüse und Früchten, dafür zweieinhalb Mal so viele Süssigkeiten wie empfohlen. Zur Fehlernährung trägt die Lebensmittelindustrie erheblich bei, wie eine aktuelle «foodwatch»-Studie zeigt. 1500 Produkte wurden untersucht, die als besonders geeignet für Kinder angepriesen werden. Resultat: Drei Viertel davon sind süsse oder fettige Snacks, die Kinder nur in geringem Mass essen sollten.

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Zugerichtet Wankendes Lügengebilde Man könnte sich Luca* gut als Designer des edel renovierten Zürcher Obergerichts vorstellen, wie er so dasitzt auf der Anklagebank aus dunklem Nussholz. Eine XL-Hornbrille verschafft ihm den Durchblick, das Barthaar hat er drei Tage nicht rasiert, sein marineblauer Cordsamt-Anzug ist von lässiger Eleganz. Der 31-jährige Italiener weiss, welche Signale das Äussere aussendet. Er hat sich schon als CIA-Agent ausgegeben. In Wirklichkeit ist er Call-Center-Agent. Um den ihm angemessen erscheinenden Lebensstil zu berappen, konnte er die 24-jährige Telefonistin Vanessa überzeugen, ihm 45 000 Franken auszuleihen. Bald war eine weitere Tranche von 25 000 nötig. In einer Novembernacht trafen sie sich auf einem Parkplatz, um das Kreditgeschäft zu besprechen. Neun Monate waren sie zu diesem Zeitpunkt verbunden. Fast ebenso lange sass er danach in Untersuchungshaft. Er soll sie vergewaltigt haben, sagt sie. Es war einvernehmlicher Sex, sagt er. Die erste Instanz hatte ihn freigesprochen, die Staatsanwaltschaft zog das Urteil weiter. Die Fakten, und seien sie noch so intim, müssen erneut auf den Verhandlungstisch. «Sind Sie beim Analverkehr zuerst mit dem Finger in den After, bevor Sie mit dem Penis rein sind?», fragt der Staatsanwalt, ohne mit der Wimper zu zucken. «Ja, um sie locker zu machen, Vanessa war steif vor Kälte», sagt Luca ungeniert, als sei er Schauspieler in einem provokanten Stück auf der Pfauenbühne. Aber es geht nicht um Provokation, es geht um Sachlichkeit. Sachlichkeit allerdings ist eine komplizierte Sache. Was auf dem Parkplatz vor sich ging, wissen nur der Be-

schuldigte und die Geschädigte. Gab es irgendein Quäntchen Widerstand vonseiten der Frau? Ein Nein will er nicht gehört haben. Sie dagegen vernahm, wie er mit starrem Blick sagte: «Wenn ich dich hier vergewaltigen würde, würde dich niemand hören.» Ob diesem Satz sei sie solcherart in panische Angst verfallen, dass sie sich nicht weiter zur Wehr setzen konnte. «Wie würden Sie den Sex in jener Nacht beschreiben?», fragt der Richter den Angeklagten. «Es war schön.» – «Und für die Frau?» – «Für sie war es auch schön.» Nach dem Sex hatte sie ihm ein Geburtstagsgeschenk überreicht, ein Kamasutraspiel. Gleichennachts schickte sie ihm eine SMS: «Amore, ich liebe Dich.» Doch tags darauf erfuhr sie, dass der Casanova weitere Liebschaften führte. Das Motiv für die Anschuldigung sei Rache für das gebrochene Herz und den Berg Schulden, den Luca ihr hinterlassen habe, argumentiert der Verteidiger, und fordert einen Freispruch. Es sei ihm nicht nachzuweisen, dass er sich vorsätzlich gegen ihren Willen hinweggesetzt habe, stellt auch das Obergericht fest, und spricht den mehrfach vorbestraften Luca frei. Ihre Signale konnte er als Zustimmung interpretierten. Für die Untersuchungshaft erhält er eine Genugtuung von 10 700 Franken. Vielleicht habe er dieses Mal Glück gehabt, mahnt der Richter, und gibt Luca «etwas Unjuristisches» mit auf den Lebensweg: «Ich bitte Sie, Ihr Verhalten gegenüber Frauen zu überdenken.» Auf der Parkbank draussen wartet Lucas neue Freundin. Hand in Hand spazieren sie ins Niederdorf. ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 276/12


Surprise Strassensport Team Olten spielt Doppelpass

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

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Samstag, 16. Juni, 10 Uhr: APA Streetsoccer Turnier, Schützi Olten. Um 16 Uhr Promispiel EHC Olten vs. Club Suisse 4 Football (u.a. mit Andy Egli, Roger Wehrli und Thomas Bickel). Sonntag, 17. Juni, 11 bis 17 Uhr: Surprise Strassensport Sommerturnier, Schützi Olten. Weitere Infos zu Surprise Strassensport: www.strassensport.ch

BILD: ZVG

Hilfe zur Selbsthilfe ist das Ziel von Surprise Strassensport. Im Fussballerjargon heisst das: Wir spielen den Spielern mit dem Liga-Angebot eine wunderbare Passvorlage. Um diese zu verwerten, müssen sie jedoch selbst den Hintern hochbekommen. Christoph Birrer vom Team Olten hat den Ball nicht nur angenommen. Er spielt nun einen herrlichen Doppelpass. Bereits zum zweiten Mal unterstützt ihn Surprise Strassensport mit Infrastruktur und Know-how bei der Organisation eines eigenen StreetSoccer-Turniers. Dieses Jahr wird es am Samstag, 16. Juni, soweit sein. Am Tag darauf laden nun Birrer und seine Mitspieler vom Team Olten erstmals Surprise Strassensport zum Sommerturnier auf die Schützi Olten ein. Eine Premiere, just zu unserer 10-Jahre-Jubiläumssaison! (Mehr zu Christoph Birrer und seinem Turnier im Porträt auf S. 28.) Doch trotz aller Freude wird auch am Sonntag mehr geschwitzt als gefeiert. Das Auftaktturnier hat gezeigt: Die Karten wurden für diese Saison neu gemischt. Mit den Schwarzwaldbrasilianern und Züri Hoch 1 feierten in beiden Kategorien Teams ihren allerersten Turniersieg. Mal sehen, welches der rund 18 Teams diesmal für eine Überraschung sorgt! Nach der langweiligen Super-League-Saison sind beim Surprise Strassensport Spannung und Torspektakel garantiert. Und wenn die Sieger am Samstag und Sonntag gekürt sind, kann man abends auf der Leinwand gucken, was bei der Europameisterschaft auf dem Rasen so läuft. (ojo) ■

BILD: RUBEN HOLLINGER

Surprise Strassensport wird von Liga-Fussballer Christoph Birrer und seinem Team nach Olten eingeladen. Wir freuen uns auf diese Turnierpremiere in der Jubiläumssaison!

Starverkäufer Muruts Afewerki Eva Schmassmann nominiert Muruts Afewerki als Starverkäufer: «Muruts Afewerki, der vor der Migros Eigerplatz in Bern Surprise verkauft, ist stets freundlich und hilfsbereit. Wenn es am nötigen Fränkli für den Einkaufswagen fehlt, hilft er gerne aus. Als kürzlich die Einkaufswagen völlig verklemmt waren, hat er mir sogleich geholfen. Bei ihm gebe ich gerne das Rückgeld vom Einkauf wieder für die neue Ausgabe von Surprise aus.»

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Porträt Das Liederweib Dorothea Walther ist das letzte hauptberufliche Liederweib im deutschsprachigen Europa. Seit über 25 Jahren bringt sie ihr Publikum zum Mitsingen und Nachdenken. VON MONIKA BETTSCHEN (TEXT) UND HANSUELI SCHÄRER (BILD)

füllung. Sie litt an Kinderlähmung und war dadurch anders als die anderen Kinder. Heute leidet sie an den Spätfolgen dieser Krankheit und auch eine Krebserkrankung brachte Schmerzen und Zweifel in ihr Leben. Doch Jammern und Klagen mag sie nicht. Lieber nimmt sie auch leidvolle Erfahrungen an und wandelt diese in Kreativität um. Mit 20 Jahren heiratete Walther in der Hoffnung, in der Ehe endlich Geborgenheit zu finden. Mit 33 stand sie alleine da mit drei kleinen Buben an der Hand. «Meine Realität war schlicht brutal», erinnert sie sich. «In meinem Leben habe ich 13 verschiedene Berufe ausgeübt, um meine Familie über Wasser halten zu können.» Bis zu dem Tag, der ihrem Leben eine neue Wendung gab, war Dorothea Walther eine Frau auf der Suche. Sie erinnert sich noch gut, wie eines Tages ein Mann im Trödlerladen, den sie damals führte, nach einem Koffer für eine Drehorgel fragte. Er wollte eines seiner mechanischen Musikinstrumente in ihrem Geschäft ausstellen. «Ich war fasziniert von diesem wunderschönen

Liederweib? «Ja, dieser Name hat schon manchen braven Bürger verunsichert», schmunzelt Dorothea Walther, von Beruf, eben, Liederweib. «Mir gefällt dieses althergebrachte Wort, es ist wunderbar kraftvoll und gar nicht artig, wie es von der Frauenzunft ja auch heute noch so oft erwartet wird.» Ausserdem sei «Liederweib» ein historisch belegter Begriff. Liederweiber haben die fahrenden Bänkelsänger quer durch die Lande begleitet, haben Liederblätter verkauft und dem Publikum die Melodien vorgesungen. Wer in die Lebensgeschichte der Bühnenkünstlerin Dorothea Walther eintaucht, begibt sich auf eine Zeitreise durch die Jahrhunderte. Denn die Kunstform, der sie sich mit Haut und flammendrotem Haar verschrieben hat, reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück. In einer Zeit, als die Menschen noch nicht lesen und schreiben konnten, brachten Bänkelsänger und Liederweiber Neuigkeiten von nah und fern in Liederform unters einfache Volk. Ihre Erzählungen liessen sie von Künstlern auf «Der Sprechgesang der Bänkelsänger gilt als Vorgänger sogenannten Moritatenschildern illustrieren. der Musikrichtungen Hip-Hop und Rap.» Dichtkunst, Musik, Malerei und Sprechgesang verdichteten sich zu einem fesselnden Gesamtkunstwerk, das Jung und Alt auf den Marktplätzen begeisterte. Objekt. Ich begann irgendwann, den Schwengel zu drehen, und ver«Die Arbeit der Gaukler war der Vorläufer für Kunstformen, die bis in spürte das starke Bedürfnis, dazu zu singen. Es war Liebe auf den erdie heutige Zeit hinein populär sind», sagt Walther und verweist auf die sten Ton.» Mit dem Besitzer der Orgel gründete sie die Berner BänkelMoritatenschilder als Vorgänger von Comic, Film und Fotografie. «Aber sänger und trat mit ihnen in den folgenden Jahren in ganz Europa auf. auch den Sprechgesang finden wir in Musikrichtungen wie Rap und Doch mit der Zeit meldete sich der Wunsch, ganz auf eigenen Beinen Hip-Hop. Diese funktionieren nach dem gleichen Prinzip.» Und das Erzu stehen. Walther nahm all ihren Mut zusammen und begann mit 42 zählen von Geschichten voller Liebe, Leidenschaft und Grauen habe ab Jahren ihre Karriere als Liederweib. Das war vor einem Vierteljahrhundem 20. Jahrhundert die Boulevardpresse übernommen. Wie elegant dert. Heute wohnt die Bühnenkünstlerin mit ihrem zweiten Ehemann sich beim Liederweib ein Bogen vom Gestern ins Jetzt spannen lässt. in Bern nahe jenem Quartierladen, in dem ihre Leidenschaft für die «Das ist auch wichtig, denn das Kulturgut der Bänkelsänger und LieDrehorgel begann. «Damit schliesst sich ein Kreis», stellt Walther zuderweiber droht in Vergessenheit zu geraten.» Heute gebe es für diese frieden fest. In ihrer einladenden Wohnung kommt noch eine weitere Kunstform keine Lobby, die sich deren grosser Bedeutung wirklich anLeidenschaft zum Vorschein: Das Liederweib ist eine Sammlerin wunnehmen würde, hält Walther fest. An Gaukler-Festivals werde dieses derbarer Kuriositäten und Engelfiguren. Unter den Fundstücken befinKulturgut zwar noch gepflegt. Und daneben gebe es auch zahlreiche den sich auch antike Lochkarten für ihre wertvollen Drehorgeln, die Vereine. Aber diesen sei oft mehr daran gelegen, lediglich die Tradition sehr schwer zu finden sind. Hüte, Federn und andere Accessoires zu bewahren. Als letztes Liederweib Europas sieht Dorothea Walther es nimmt sie gerne mit auf die Bühne. Die Drehorgel kurbelnd, laut sindeshalb als ihre Lebensaufgabe, den Bänkelgesang nicht nur zu bewahgend und mit Moritatenschildern der Künstlerin Joy Fuchs im Hinterren, sondern in die Zukunft zu führen. Sie tut dies, indem sie alte Liegrund, gibt sie alles, um ihr Publikum zum Mitsingen und Nachdenken der geschickt mit neuen Texten kombiniert. Die Inhalte reichen von zartzu animieren. «Mal hatte der Bänkelgesang die Funktion, zu unterhalbitter bis bitterböse. Zeitgeist und Frausein prägen ihre Programme. «Ich ten, mal war er politischer Natur», erzählt sie. Während des Ersten bin mit Kunsthochschulen im Kontakt, um dieses Wissen weitergeben Weltkriegs etwa besangen Kriegsveteranen ihre Misere. «Die Texte wazu können.» Die Musikhochschule Linz zeige bereits Interesse. «Ich hofren derart brisant, dass sie der Obrigkeit zur Zensur vorgelegt werden fe, dass ich noch genug Zeit und Energie habe, um dieses Ziel zu erreimussten.» Doch die Gassenkünstler fanden ein Schlupfloch. «Sie lieschen, sagt die 66-jährige Künstlerin, die ihren Werdegang vor einem sen nur die ersten Strophen prüfen. Die letzten Zeilen enthielten sie der Jahr in einem Buch veröffentlicht hat. Kontrolle vor. Das Publikum wusste, dass die Pointe zum Schluss kam Dorothea Walther liebt es, auf der Bühne zu stehen. Doch das war und wartete jeweils ungeduldig darauf.» Während das Liederweib von nicht immer so. Das Leben hat ihr schon so manchen Stein in den Weg der Aufmüpfigkeit ihrer beruflichen Vorgänger berichtet, glimmt ein gelegt. Im Luzernischen in einem streng protestantisch geprägten Funken Schalk in ihren Augen. Was für ein aussergewöhnliches WeibsHaushalt aufgewachsen, sehnte sie sich stets nach Nestwärme und Erbild! ■ SURPRISE 276/12

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Xherdan Shaqiri Auf dem Sprung Mit Meistertitel und Cupsieg 2012 in der Tasche zieht Xherdan Shaqiri (20) demnächst von Basel nach München, wo er ab der nächsten Saison für den Champions-League-Finalisten FC Bayern spielen wird. Davor hat der Vorzeige-Secondo mit uns über Familie, Geld und seine Zukunft geredet – und verraten, was ihn mit Surprise-Verkäuferinnen und -Strassenfussballern verbindet.

VON FLORIAN BLUMER UND RETO ASCHWANDEN (INTERVIEW) UND DOMINIK PLÜSS (BILDER)

Surprise betreibt unter dem Label «Strassensport» eine eigene Fussballliga für Menschen in sozialen Schwierigkeiten und eine Nationalmannschaft, die jeweils an die Strassenfussball-WM fährt … … Ich wusste gar nicht, dass es das bei Surprise gibt. Es ist natürlich schön, wenn man eine solche Hilfe erhält, wenn man auf einen schlechten Weg gekommen ist; wenn man sich dann durch Sport beweisen und einen anderen Weg einschlagen kann. Die Leute, die am Bahnhof stehen und Surprise-Hefte verkaufen, sind mir schon aufgefallen, als ich noch bei den Junioren war.

Ihr Vater arbeitete als Hilfsarbeiter auf dem Bau, ihre Mutter als Raumpflegerin. Als Fussballspieler verdienen Sie in einem Jahr ein Mehrfaches davon, was Ihre Eltern in ihrem ganzen Leben verdienen können. Was hat sich dadurch verändert? Es ist sicher eine Erleichterung, auch für meine Eltern. Bis vor ein paar Jahren haben sie immer gearbeitet, so viel sie konnten, um mich und meine drei Geschwister aufziehen und uns ein normales Leben ermöglichen zu können. Das war bestimmt ein Stress für sie. Ich denke, wenn man wie mein Vater den Job verliert und vier Nasen zu Hause hat, für die man sorgen muss, dann macht man sich schon Gedanken. Ich sehe das noch heute, wenn wir einkaufen gehen. Mein Vater zögert manchmal immer noch, das teurere Produkt zu nehmen. Er ist sich einfach gewohnt, sparen zu müssen.

War es nicht auch schwierig für Ihren Vater, dass sich, zumindest Die deutsche Fussball-Legende Günter Netzer sagte einmal, Sie in finanzieller Hinsicht, die Rollenverteilung in der Familie umgeseien einer der letzten «echten Strassenfussballer». Auch Nationalkehrt hat? trainer Ottmar Hitzfeld benutzte diese Bezeichnung. Sind Sie tatsächlich ein «Strassenfussballer»? Ich bin sicher ein Instinktfussballer, einer, der «Ich bezweifle, dass ich es geschafft hätte, wenn ich von der Strasse kommt. Ich habe das Fussballaus einem reichen Elternhaus kommen würde.» spielen auf der Strasse gelernt, mit meinen Brüdern. Da gab es natürlich auch das eine Nein, ich denke nicht. Ich sagte ihm: Bis vor Kurzem hast du mich fioder andere Mal Schürfungen. Wir waren nicht gerade eine reiche Fananziert, ab jetzt finanziere ich dich. So habe ich ihm auch eine schöne milie und von daher weiss ich auch, wie es auf der anderen Seite ist. Das Wohnung gekauft. Dadurch, dass ich gekämpft habe, kann ich nun meiwar eine grosse Hilfe für mich. ner Familie vieles zurückgeben. Inwiefern eine Hilfe? Es heisst, Mode sei Ihnen wichtig. Sie kaufen gerne mal eine schöDass ich mit dem Erfolg nicht abgehoben bin. Dies liegt sicher daran, ne Uhr, Sie fahren einen Mercedes. Was bedeutet Ihnen Geld? dass ich aus einer bescheidenen Familie komme. Sicher half auch, dass (Überlegt.) Eigentlich nicht viel. Im Grossen und Ganzen ist mir Geld der Ehrgeiz noch stärker da ist, wenn man nicht aus einem reichen Elüberhaupt nicht wichtig. Klar, man braucht’s zum Leben. Aber wichtig ternhaus kommt. Ich weiss nicht, ob ich es dann geschafft hätte. Ich beist für mich, dass ich eine Familie habe, die gesund ist. Die Familie ist zweifle es fast. mir das Wichtigste. Es gibt viele Kinder von Migranten in der Schweiz, die SchwierigKönnten Sie sich vorstellen, mit dem Lohn zu leben, den Ihr Vater keiten haben, ihren Weg zu finden. Gab es bei Ihnen auch Situaals Hilfsarbeiter hatte? tionen, in denen Sie mehr kämpfen mussten als andere? (Überlegt.) Ja. Natürlich gewöhnt man sich daran, wenn man mehr Als ich von den Junioren des SV Augst zum FC Basel wechselte, kamen Geld zur Verfügung hat. Aber ich könnte auch mit einem solchen Lohn die meisten Mitspieler aus guten Verhältnissen und ich hatte weniger leben. Geld in der Hosentasche als sie. Ich konnte es mir zum Beispiel nicht jedes Mal leisten, nach dem Spiel eine Bratwurst zu kaufen. Haben Sie immer daran geglaubt, dass Sie es schaffen werden als Profifussballer? Oder gab es Momente, wo Sie dachten, es Fühlten Sie sich dadurch ausgeschlossen? war doch nur ein Bubentraum? Ausgeschlossen nicht, aber es war ab und zu schon komisch für mich. Als ich zum ersten Mal die Gelegenheit bekam, unter den Augen von Auf der anderen Seite entwickelt man dadurch den Ehrgeiz und den Christian Gross zu spielen, dem damaligen Trainer der ersten MannWillen, zu kämpfen und so etwas zu erreichen.

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Shaqiri über sich und seine Geschwister: «Wir wussten schon immer ziemlich genau, was wir wollten.»

schaft des FC Basel, gab mir mein U21-Trainer das Feedback, dass mein Auftritt nicht gut war. Da machte ich mir schon Gedanken, ob ich überhaupt noch einmal eine Chance erhalten würde. Mein Glück war, dass es dann einen Trainerwechsel gab (Im Juni 2009 löste der junge Thorsten Fink Christian Gross ab, der zehn Jahre Trainer des FCB war, die Red.). Ich bekam eine neue Chance, und die habe ich genutzt. Als Sie vor Kurzem den Integrationspreis der kosovarischen Botschaft erhielten, bezeichnete Sie Botschafter Naim Malaj als «unseren besten Botschafter». Denken Sie, dass Sie etwas am Bild ändern konnten, wie Kosovaren in der Schweiz wahrgenommen werden? Kosovaren hatten ja nicht immer einen guten Ruf, und das ist immer noch so. An diesem Abend kamen auch viele hohe Leute zu mir und sagten: Du tust sehr viel für uns. Das hat mich berührt. Von daher hoffe ich, dass ich schon ein bisschen etwas bewegt habe. Ob sich das einmal ganz ändert, wird sich mit der Zeit zeigen. Denken Sie, Sie hätten auf die schiefe Bahn geraten können, wenn Sie den Fussball nicht gehabt hätten? Nein, das glaube ich nicht. Dafür habe ich zu gute Eltern. Ich glaube, die Eltern spielen eine sehr wichtige Rolle. Sie müssen die Kinder auf die richtige Bahn bringen. Aber meine Geschwister und ich haben selber auch immer geschaut, dass wir anständige Kollegen hatten, die nichts Schlimmes machten. Wir wussten schon immer ziemlich genau, was wir wollten.

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Ylfete Fanaj, Kantonsrätin in Luzern mit albanischen Wurzeln, sagte anlässlich der Preisverleihung, dass die Schweizer nun einfach noch lernen müssten, wie man Ihren Namen richtig ausspricht, nämlich «Schatschiri». Finden Sie das auch? Nein. Wenn mich jemand in der Schweiz fragt, wie ich heisse, sage ich selbst auch «Schakiri». Wir sind hier daran gewöhnt. So lange die Leute den Namen nicht ganz schlimm aussprechen, ist es kein Problem. (Lacht.) Woran denken Sie beim Begriff Heimat? An den Ursprung, woher man kommt. Wo fühlen Sie sich zu Hause? Zu Hause fühle ich mich hier, das ist klar. Ich bin Schweizer Bürger, habe mich hier integriert und eingelebt. Von daher bin ich voller Schweizer. Aber natürlich, wenn ich im Kosovo bin, kommt dann mehr die kosovarische Seite heraus. Sie verlassen jetzt Ihre Heimat Schweiz und wechseln zum FC Bayern München. Fiel Ihnen diese Entscheidung schwer? Mein Ziel war immer, in ein Land zu gehen, wo ich mich weiterentwickeln kann. Das ist sehr wichtig für einen jungen Spieler. Und für mich war immer klar, dass Deutschland die Nummer eins ist, auch wegen der Sprache. Mit dem FC Bayern komme ich zum besten Verein in Deutschland. Ich glaube, ich werde mich dort zu einem Topspieler entwickeln können – und hoffentlich viele Titel gewinnen. SURPRISE 276/12


Es bedeutet aber auch, dass Sie zum er«Am Anfang wird es sicher eine Herausforderung sein, nicht sten Mal von zu Hause weggehen. Wie ist mehr mit meinen Eltern zusammenzuleben. Aber ich freue das für Sie? mich auch, auf eigenen Beinen zu stehen.» Für meine Mutter ist es sicher speziell. Ich wohne immer noch praktisch mit meinen Eltern zusammen, auf dem selben Stock im gleichen Haus. Aber zum Glück ist München nicht so weit weg, so können Antworten Sie darauf? sie mich jederzeit besuchen. Auch für mich wird das am Anfang sicher Mit Autogrammkarten schon. Aber es ist nicht so, dass ich eine SMS eine Herausforderung, mit der Küche zum Beispiel. Aber ich freue mich schreiben würde, wenn eine Nummer draufsteht. (Lacht.) auch darauf, mal auf eigenen Beinen zu stehen. Ist das nicht auch schwierig, die richtige Frau zu finden, wenn Werden Sie ganz alleine wohnen in München? man so in der Öffentlichkeit steht? Am Anfang wird sicher mein Bruder mitkommen. Ich glaube, es wird jeDas wird sicher ein wichtiger Punkt sein in meinem Leben, hier die richderzeit jemand mit mir dort sein, entweder aus der Familie oder Kolletige Entscheidung zu treffen. Ich werde von meiner zukünftigen Frau wisgen. Und wenn ich doch einmal alleine sein werde, dann kann man in sen müssen, dass sie mich nicht als «Shakiri», sondern als Xherdan liebt. München wirklich viel unternehmen. (Lacht.) Worauf freuen Sie sich besonders in München? Beim FCB herrscht eine sehr familiäre Atmosphäre, bis hin zum Ich freue mich auch auf die Stadt. Die Leute sind wirklich anständig und Trainer und zum Präsidenten. Erwarten Sie, dass bei den Bayern München ist eine wunderschöne Stadt, in der man viel machen kann, ein rauerer Wind weht? auch gut essen. In München hast du alles, was du brauchst. Auch um Ich glaube, in der Bundesliga weht tatsächlich ein ganz anderer Wind deine Leistung zu bringen. als in der Schweiz, schon wegen der Medien … Eine Lederhose haben Sie schon? … Alleine in München gibt es drei verschiedene BoulevardzeiNein, die habe ich noch nicht, aber ich glaube, die bekommen wir vom tungen … Club. (Lacht.) … Genau. Man muss sich darauf einstellen, dass man vielleicht ein, zwei Tage vor dem Spiel nicht einfach mit Kollegen in einer Bar sitzen Was werden Sie vermissen, wenn Sie dort sind? kann. Und wenn du mal einen kleinen Fehler machst, musst du damit Den Club, die Kollegen, die ich hier habe, natürlich das Umfeld, die rechnen, dass das dann in der Zeitung steht. Spieler, die ich schon lange kenne. Und die tollen Fans, die wir in Basel haben. Ich werde aber sicher ab und zu als Fan hier im Stadion sein. Ich Haben Sie dafür einen Coach, jemand, der Ihnen sagt, was Sie sawerde also nie ganz weg sein. gen sollen und was nicht? Nein. Ich denke, wenn man sich verstellt, dann sagt man irgendwann Gibt es etwas, dass Sie den Schweizern zum Abschied sagen auch etwas Falsches. Aber wenn man immer sich selber bleibt, dann wollen? passiert das auch nicht. Ich möchte allen danken, die mich unterstützt haben, den tollen Leuten in der Schweiz, die mich immer respektiert haben. Ich werde weiter verIhr Vater musste Sie damals überreden, vom SV Augst zu den suchen, dies im sportlichen Bereich zurückzugeben, zum Beispiel wenn FCB-Junioren zu wechseln. Was hat er jetzt gesagt? ich in der Nationalmannschaft spiele. Es kann natürlich nicht immer alÜberreden musste er mich diesmal nicht. (Lacht.) Aber auch jetzt habe les gut sein, was ich mache, aber ich will immer das Beste geben. Ich ich natürlich meine Eltern in die Entscheidung einbezogen. Ich wollte möchte Danke sagen für die tolle Zeit, und dass ich natürlich immer im auch von ihnen wissen, wie sie das sehen. Aber für mich war klar: Wenn Herzen Schweizer sein werde. ■ der FC Bayern auf mich zukommt, muss ich nicht gross überlegen. Sie betreiben eine Facebookseite, auf der Sie viele Reaktionen erhalten. Wie waren diese, als Ihr Wechsel zum FC Bayern bekannt wurde? Es gab allgemein sehr wenig Leute, die auf mich zukamen und sagten: Bleib doch hier. Fast zu wenige! Die meisten freuten sich sehr für mich. Aber ich habe ja auch drei Jahre in der ersten Mannschaft des FC Basel gespielt, habe gewartet mit einem Wechsel ins Ausland. Ich glaube, dass die Leute dies sehen und deshalb meinen Entschluss respektieren. Von Albanern hingegen gibt es auf Ihrer Facebookseite immer noch scharfe Kommentare, in denen Sie als Verräter bezeichnet werden, weil Sie für die Schweiz spielen. Diese Leute wissen einfach nicht, was Sache ist. Ich hatte gar nie ein Angebot von Albanien erhalten. Also war für mich immer klar, dass ich für die Schweiz spielen werde. Aber wenn solche Dinge auf meine Facebookseite geschrieben werden, muss ich meistens schmunzeln. Das ist kein Problem für mich. Und die vielen Posts von verliebten Mädchen? Das ist natürlich schön. Auch dass ich so viele Briefe bekomme. SURPRISE 276/12

Xherdan Shaqiri Der 20-jährige schweizerisch-kosovarische Doppelbürger Xherdan Shaqiri kam wenige Monate nach seiner Geburt mit den Eltern in die Schweiz. Mit zehn Jahren wechselte er vom Baselbieter Dorfverein SV Augst zu den Junioren des FC Basel. Dort stiess er als 17-Jähriger in die 1. Mannschaft und legte eine Blitzkarriere hin: In kurzer Zeit stieg er zum Leistungsträger im Team auf und feierte mit diesem in drei Jahren drei Meister- und zwei Cuptitel. Mit dem U21-Nationalteam wurde er Vize-Weltmeister und der A-Nationalmannschaft rettete er beinahe die EM-Teilnahme. Nun wechselt er zum FC Bayern München, einem der renommiertesten Fussballclubs der Welt. Um Abschiedsworte für seinen Schützling gebeten, sagt sein Trainer beim FC Basel, Heiko Vogel: «Neben dem, dass er ein unglaublich begnadeter Fussballer ist, ist Xherdan für mich erst einmal ein ganz fantastischer Mensch. Er hinterlässt menschlich wie sportlich eine grosse Lücke.» Und Vogel ist überzeugt: «Wenn er sich etwas Zeit gibt, wird er sich auch bei den Bayern durchsetzen.» (fer)

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Sein R端ckzugsort wird bald vom internationalen Kunstmarkt beansprucht: Michel Pfister.

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Kunstmesse High Heels im Gitterrost Der Werkraum Warteck pp ist aus einer alternativen Bewegung heraus entstanden. Heute gehört die wichtigste internationale Messe für junge Kunst genauso zur Identität des Hauses wie Biogemüse und Klangmeditation.

VON DIANA FREI (TEXT) UND LUCIAN HUNZIKER (BILDER)

Schiffscontainern bei einer Transport- und Lagerfirma in Münchenstein gelagert. In der Woche vor Messebeginn wird das Warteck in die Liste transformiert: Alle Stellwände rein ins Haus, Möbel und Einrichtungen raus in die Container. Fabian Nichele ist Bühnenkünstler und Tänzer und hat mit Cîrqu’enflex seine eigene Compagnie; seit fast 20 Jahren hat er hier seinen Proberaum. Für die Kunstmesse wechselt er seinen Beruf und wird zum Koordinationschef für den Umbau. Genauso wie die Schreiner zu Wurstverkäufern werden, der Velomech und der Schlosser früher regelmässig beim Aufbau geholfen haben und bildende Künstler Tickets verkauften. «Wenn Cîrqu’enflex unterwegs ist auf Tournee, dann sind es auch Lastwagen und Container, die rechtzeitig ankommen müssen», sagt Nichele, «da gibt es klare Parallelen.» Es müssen 600 Quadratmeter Stellwände aufgestellt werden, wobei es nur in einem Teil des Hauses einen Lift gibt.

Der Name «Warteck» ist auf der ganzen Welt bekannt. Für die Basler ist es eine Biermarke. Für chinesische Galeristen, amerikanische Kunstsammler und französische Kuratoren dagegen ist es die «Liste», die «Young Art Fair», die jeweils parallel zur Art Basel stattfindet. Aber an einem normalen Montag im Werkraum Warteck pp, wie das Gebäude heisst, ist davon nichts zu ahnen. Aus dem Quartiertreffpunkt – nicht gewinnorientiert, mit niederschwelligem Angebot für die Quartierbewohner – dringt Kindergeschrei. Hier gibt es eine Barfussdisco, ein Generationentheater und Bewegungskurse für Fremdsprachige. Im Eingang liegen Flyer für die Klangmeditation im «Stillen Raum» auf, und im ersten Stock befindet sich eine Depotstelle für Biogemüse. Die Räume haben lustige Namen, weil das hier mal eine Brauerei war, und so gibt es den «Malzrumpf», den «Maischomat» und das «Tagessilo». Die Schreiner sehen Spannplattenabfälle Der Werkraum Warteck pp beherbergt rund 40 Projekte im handFür die Galeristen sind vermutlich die grossen hellen Räume, die werklichen, sozialen und künstlerischen Bereich, und eins davon ist die leicht zugänglich sind, am interessantesten. Die Schreinerei im Parterre Liste, die weltweit wichtigste Kunstmesse für junge Kunst. Sie findet seit ist ein solcher, und hier sind zurzeit noch Nino Crimi und Corsin Bösi17 Jahren statt, und seit etwa 16 Jahren ist sie auch vom grossen Bruger anzutreffen, zwei junge Männer, die den Betrieb gemeinsam führen. der, der Art Basel, wohlgelitten und geschätzt. Die Galerien, die hier verSie selber werden an der Liste den Food Corner managen und wissen treten sind, wollen einmal zur Top Ten weltweit gehören und natürlich noch nicht, was in ihrem Raum gezeigt werden wird. auch den Sprung an die Art schaffen. Aber die Galeristen gehören noch Ein bisschen schade finden es Crimi und Bösiger manchmal, wenn nicht zu jenen in den nahegelegenen Messehallen, die seit Jahren in ihdie Ausstellungsflächen für «Trash-Kunst» gebraucht werden. Und dabei ren angestammten Kojen sitzen und Sprüngli-Pralinen zu Mittag essen. meinen sie «Trash» recht wörtlich: Da waren zum Beispiel die HolzDie Liste ist längst zur inoffiziellen Vorselektion der Art geworden, und so kommt es, dass im Juni zwischen Schlosserei und Schreinerei Performances Für die Kunstmesse wechselt der Tänzer seinen Beruf stattfinden und Damen in High Heels versuund wird zum Koordinationschef für den Umbau. chen, nicht im Gitterrost stecken zu bleiben, wenn sie die Feuertreppe zu den Galerien hinaufsteigen. «Das Haus wird richtig intensiv genutzt, wenn einmal pro stückchen vor ein paar Jahren, die aussahen wie Spanplattenabfälle am Jahr so viele Menschen hierherkommen», sagt Peter Bläuer, der GrünBoden. Corsin Bösiger gefällt eher mal eine gute Videoinstallation. «Und der der Liste. vor etwa vier Jahren gab es eine japanische Galerie mit sehr schönen Bläuer war von Anfang an klar, dass man im Warteck nicht einfach Bildern mit Geisha-Motiven, sehr detailreich. Das hat mir sehr gut geeinfahren und schnell mal ein paar Räume mieten kann, und er ist auch fallen.» nicht der Typ dazu. Seine Idee für eine Kunstmesse wurde im Plenum Die Schreiner sind sich einig: «Die jungen Galerien hier, das ist ein genauso wie alle anderen diskutiert, und heute ist auch er ein «Wargrosser Unterschied zu jenen, die seit 20 Jahren an der Art sind. Es gibt tecki» geworden, wie die Mieter sich selber nennen. Leute, die gleich selber anpacken, wenn sie etwas brauchen, und man merkt: Die haben handwerkliches Verständnis.» Das Haus in zehn Schiffscontainern Schräg über der Schreinerei, recht versteckt, ist Michel Pfisters Atelier. Der Werkraumgedanke verbindet die Leute von der Velowerkstatt mit «Für mich liegt der Umzug dieses Jahr sehr ungünstig», sagt er, der undenen vom Figurentheater, aber er macht auch das grosse Kunstbusiüberhörbar im Bündnerland aufgewachsen ist und schon länger als die ness möglich. Schliesslich ist man im Werkraum Warteck pp, und pp Liste zum Warteck gehört. Er ist bildender Künstler, macht Skulpturen steht für «permanentes Provisorium», hier sollen Projekte möglich geund Kunst am Bau. Ende Mai hat er einen Ausstellungsaufbau in der Nämacht werden. Für die Liste wandelt sich das Haus komplett, sein Inhalt he von St. Gallen und Ende Juni Abgabe eines Wettbewerbs für Kunst am wird ausgetauscht. Die Stellwände, die all die Ateliers, Probe- oder KursBau in Chur. Die Termine sind festgelegt, ob es einem passt oder nicht. lokale in Ausstellungsräume verwandeln, sind übers Jahr in zehn Michel Pfister, so scheint es, ruht in sich selbst, wenn er sagt: «DieSURPRISE 276/12

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Die Schreiner räumen ihre Werkstatt aus und sorgen stattdessen für Verpflegung.

Galeristen in aller Welt kennen das «Warteck» nur als Kunstmesse.

teckis» hätten eine Entwicklung durchgemacht, findet Koordinationsleiser Raum ist mir unglaublich wichtig. Er ist eine Rückzugsmöglichkeit. ter und Cîrqu’enflex-Mann Fabian Nichele, und natürlich sei dieser ErHier schöpfe ich Ideen.» Lange, biegsame Holzlatten liegen auf dem Bofolg nicht für alle gleich locker zu verarbeiten. den, ein Bündner Bergpanorama, das in Binningen BL installiert war, Viele hier sind künstlerisch tätig und räumen ihre Werke weg, damit steht an der Wand, ein Schlagzeug neben einem Beistelltisch, Fauteuils andere mit Kunst einziehen können, die die Welt weit mehr interessiert im Brockistil. Hier hat sich einer eingerichtet. Und gleichzeitig arbeitet er zurzeit an x Orten zugleich, die Daten auf dem Stick, mit A3-Mappe pendelnd zwischen Viele sind künstlerisch tätig und räumen ihre Werke weg, Atelier, daheim und der Schule, wo er als damit andere mit ihrer Kunst einziehen können. Werklehrer arbeitet: «Ich bin flexibel, weil ich weiss, dass ich bald umziehen muss.» als ihre eigene. Das sei manchmal schon eigenartig, findet Michel PfisDen alljährlichen Auszug aus seinem Atelier macht der Bündner ter, und natürlich hat er schon gedacht: «Da hätte ich nun ohne Weiteschon seit Beginn mit. Damals war das Warteck noch ein Haufen von res auch etwas hinstellen können.» Aber jeder muss seinen eigenen Weg Leuten, die ihren Weg suchten und sich im Haus wie im Berufsleben erst finden, um zu bestehen, und Pfister hat seinen gefunden. Die Liste, die einrichteten. Bei Michel Pfister fehlten isolierte Fenster, ein Ölofen musgross geworden ist und bedeutend, doch, die passt noch immer zum ste her, man half einander, es war alles Improvisation. Im Plenum traf Haus, das mitgewachsen ist. man sich regelmässig und redete über das Haus, «wie es weitergeht mit Steht man vor dem Haus, blickt man auf einen grossen Situationsdem Essen oben» zum Beispiel: Anfänglich bekochte man sich noch plan, der alle Projekte des Hauses aufführt, unterteilt in Rubriken: Gegegenseitig, später zog mit dem Don Camillo ein Restaurant ein. werbe/Handwerk, Bildende Kunst/Text, Musik etc. Liste, The Young «Ich kann mich auch gut daran erinnern, als Peter Bläuer kam und Art Fair, ist ganz zuletzt unter «Weiteres» aufgeführt. Ein Projekt unter seine Idee für eine Kunstmesse vorstellte. Wir haben das als spannenvielen, die die Identität des Werkraumes ausmachen. Entsprechend sades Projekt aufgenommen», sagt Pfister. gen die «Warteckis»: Würde sich Peter Bläuer nur für die Kunst und nicht für die Menschen im Haus interessieren, wäre die Liste nie zu Erfolg ist nicht für alle leicht zu verarbeiten dem geworden, was sie ist. Und das wäre sie auch nicht, wenn diese Unterdessen haben sich alle fix eingerichtet, Pfister hat Familie und Menschen vor bald 20 Jahren nicht Ja gesagt hätten zu seiner Idee, Brotjob hinzugewonnen und die Projekte laufen, Cîrqu’enflex tritt nun möchte man anfügen. auch in Stadttheatern auf, und es sind ein paar weniger geworden, die ■ an der Liste Tickets verkaufen und Stellwände anmalen. Viele «War-

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Keuschheit Kreuzzug der Unbefleckten In den USA boomt die voreheliche Enthaltsamkeit. Und hierzulande tobt der Kulturkampf zwischen Befürwortern und Gegnern des Sexualkundeunterrichts in den ersten Schuljahren.

VON STEFAN MICHEL

Eine Geschichte über etwas, das nicht passiert? Über Menschen, die versprechen, etwas nicht zu tun? Klingt mässig spannend. Es sei denn, es geht um Sex, genauer um vorehelichen Sex. Was in der abendländischen, postmodernen Gesellschaft ausgestorben schien, erlebt in den USA gerade seine Renaissance: die Enthaltsamkeit bis zur Hochzeitsnacht. Von den Anführern der Bewegung selbstbewusst als «zweite sexuelle Revolution» ausgerufen. Mutmasslich jede achte Frau in den Vereinigten Staaten gelobt, ihr erstes Mal für ihren künftigen Ehemann aufzusparen und erhofft sich dasselbe von ihm. SURPRISE 276/12

Vorbilder und Anführer dieser Bewegung sind die Wilsons aus Colorado. Vater Randy hat die «Father-Daughter Purity Balls» erfunden, Vater-Tochter-Reinheitsbälle. Dort gelobt die Tochter ihrem und dem himmlischen Vater, bis zur Hochzeit unbefleckt zu bleiben. Ihr Erzeuger verspricht, sie dabei zu beschützen und zu unterstützen, bis er sie in die Obhut ihres Bräutigams gibt – mit der Jungfräulichkeit als kostbarstem Geschenk, das eine Frau zu bieten hat. So steht es in der Urkunde, die Vater und Tochter unterschreiben. Und dann tanzen die festlich gekleideten Mädchen mit ihren Vätern. Innig, feierlich, so sieht das für die Anhänger der Reinheitsbewegung aus. Beklemmend wirken die Ballszenen auf viele andere. Selig lächeln-

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de Zwölfjährige in den Armen ihrer Väter, den Herren über ihre Sexualität, bis ein anderer übernimmt. Zu sehen sind die Bilder im Film «Virgin Tales» der Schweizerin Mirjam von Arx (siehe Interview). Sie hat die Familie Wilson und die Purity-Bewegung zwei Jahre lang begleitet: eine Grossfamilie durchdrungen von christlich-konservativen Werten, mit beeindruckendem Zusammenhalt und offener Gesprächskultur. Die Eltern und ihre sieben Kinder sind hübsch, eloquent, sympathisch und keinesfalls lustfeindlich. Mutter Lisa schwärmt in den höchsten Tönen, wie wunderbar Sex sei, wenn man ihn ausschliesslich mit dem Mann fürs Leben teile. Voreheliche Keuschheit als todsicheres Rezept für ein phantastisches Liebesleben. Den Sexverzicht, an den sich die Töchter wie die Söhne halten, ist für die Wilsons ein Akt der Selbstbestimmung. Sex ist wie eine Briefmarke Die Schweiz ist von einem solchen Jungfräulichkeitsboom weit entfernt. Genaue Zahlen kennt niemand, statistisch lassen sich die temporären Sex-Abstinenten nicht nachweisen. Einer von ihnen ist Michael Mannhart, 26 Jahre alt, Jusstudent. Er hält seiner künftigen Ehefrau, die er noch nicht kennt, die Treue und engagiert sich in der Organisation Young & Precious. Die internationale Bewegung von jungen Christen stellt nach eigenem Wortlaut «ihre wertvolle Jugendzeit Jesus Christus zu 100 Prozent zur Verfügung, damit Er sie wertvoll macht für ihr Umfeld». Mannhart sagt: «Die Sexualität ist ein Geschenk Gottes, das ich für eine Person aufbewahre. Wenn ich mit dieser zusammen bin, will ich nicht an frühere Partner erinnert werden, vergleichen, wie es mit ihnen war, und auch nicht verglichen werden.» Die Enthaltsamkeit bis zur Hochzeit hat vor allem in christlich-konservativen Kreisen Anhänger. Michael Mannhart ist Mitglied einer Freikirche, wie auch viele andere, die sich für Young & Precious engagieren. Die Organisation sei offen für Menschen jeder Konfession, betont er. Daniel Linder, Sprecher der besonders unter Jugendlichen populären Freikirche ICF, erklärt: «Die Sexualität ist ein Gut, das nicht leichtfertig verschenkt werden sollte. Sie ist nicht einfach ein mechanischer Akt, sondern es passiert auch eine seelische Verbindung. Beides kann, wie eine Briefmarke auf einem Couvert, zwar wieder gelöst werden, das nächste Mal ‹klebt› sie aber schon nicht mehr so gut, bis zuletzt gar nicht mehr.» Josef Lingenhöle, Gynäkologe und Vorstandsmitglied der christlichen Lebensrechtsorganisation Human Life International, hält fest: «Sexualität, Fruchtbarkeit und Liebe gehören zusammen. Alles andere entspricht nicht der Natur des Menschen.» Dabei könnte man es bewenden lassen. Eine Minderheit bevorzugt, mit dem Sex zu warten, bis sie verheiratet ist. Die Mehrheit wartet nicht auf die Hochzeit, sondern auf den Moment, der ihr der richtige scheint. Die beiden Gruppen kommen sich kaum in die Quere.

Unicef-Studie 2006 feststellte. Aber ein wirksames Gegenmittel sind sie nur in der Theorie. Wer darf wie aufklären? Während in den USA die Enthaltsamkeit boomt, streitet man sich in der Schweiz darüber, ob man schon im Kindergarten und in der Primarschule mit Kindern über Sexualität reden darf. Die Petition «Schutz vor der Sexualisierung der Volksschule» wurde über 90 000 Mal unterschrieben. Die Lancierung der Volksinitiative mit dem gleichen Ziel ging dann allerdings gründlich schief, weil sich zeigte, dass ein Komiteemitglied in den Neunzigerjahren wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern eine unbedingte Gefängnisstrafe verbüsst hatte. Die Initiative gerät überdies in Konflikt mit der Kantonshoheit über den Schulstoff, will sie doch gewisse Bildungsinhalte per Verfassung verbieten. Stein des Anstosses war der Basler Sexkoffer, eine Sammlung von Unterrichtsmaterialien, von Büchern über Präservative bis zu Plüschvaginas und Holzpenissen. Die Lehrkräfte können aus dem Koffer das Material auswählen, das ihnen für ihre Klasse passend scheint. Die Ver-

«Sexualität, Fruchtbarkeit und Liebe gehören zusammen. Alles andere entspricht nicht der Natur des Menschen.»

Die Nebenwirkung der Enthaltsamkeit Doch das Enthaltsamkeitsversprechen hat eine Schattenseite, wie eine Reihe von Studien zeigt. Die Mehrheit der Jugendlichen in den USA, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben, brechen es. Und sie benutzen seltener Kondome oder andere Verhütungsmittel als die «Nichtversprecher». Die Infektionsrate von sexuell übertragbaren Krankheiten ist unter ihnen dagegen nicht höher. In den USA wird an vielen Schulen die Enthaltsamkeit als die einzige wirklich funktionierende Methode gegen Teenager-Schwangerschaften und sexuell übertragbare Infektionen vermittelt. Es tobt eine heftige Debatte darüber, ob dies im Sinne der Gesundheit sei. Die Zahlen zeigen, dass weder Keuschheitsgelübde noch Abstinenzunterricht die gewünschte Wirkung entfalten. Es wäre zu weit gegriffen, sie für die hohe Rate an Teenager-Schwangerschaften verantwortlich zu machen – die USA haben die höchsten Werte unter allen Industriestaaten, wie eine

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fechter der Initiative sind der Meinung, dass Kinder im Kindergarten und in der Schule zu früh mit dem Thema Sexualität konfrontiert werden und überdies mit pornografischen Lehrmitteln. Das Vorrecht der Eltern, ihre Kinder aufzuklären, werde ausgesetzt und die Schüler zu sexuellen Handlungen an sich selbst und Gleichaltrigen, ja sogar Gleichgeschlechtlichen angeleitet. Die Christen und ihr Einfluss Rainer Kamber von Sexuelle Gesundheit Schweiz, dem Dachverband der Familienberatungsstellen, hält dagegen: «Dort, wo heute überhaupt in Kindergärten und auf der Unterstufe Sexualität thematisiert wird, geht es darum, ein positives Körperselbstgefühl und das Bewusstsein der Kinder dafür zu stärken, welche Grenzen andere Menschen und sie selber nicht überschreiten dürfen. Es versteht sich von selber, dass das nicht zu machen ist, ohne auch auf die sexuellen Aspekte von Übergriffen einzugehen. Dies wird selbstverständlich auf eine dem kindlichen Alter angepasste Weise getan.» Auf jeder Schulstufe sei Sexualkundeunterricht immer in erster Linie Unterricht in Sozialkompetenz, Selbstbestimmung, Körperbewusstsein, argumentiert Kamber. Pro Schuljahr sind in der Primarschule heute nur wenige Lektionen Sexualkunde vorgesehen. Da sich daran auch kaum etwas Grundlegendes ändern wird, hält Kamber die Debatte über die Sexualisierung der Volksschule für einen «Verhältnisunsinn». Sex und Schulkinder – das Thema hat das Potenzial für Grabenkriege, auch in der besonnenen Schweiz. Hier die Mehrheit, die der Meinung ist, man müsse mit den Schulkindern über Sexualität reden, bevor sie sich im Internet selber aufgeklärt haben. Dort die Verfechter traditioneller Werte, welche die aus ihrer Sicht verfrühte Aufklärung in der Schule als Grund dafür sehen, weshalb die Kinder und Jugendlichen nicht mehr verantwortungsvoll mit ihrer Sexualität umgehen können. Die Regisseurin Mirjam von Arx stellt zur Debatte, ob das ein Versuch bekennender Christen sei, die Trennung zwischen Kirche und Staat auszuhöhlen. Ob dem so ist, sei dahingestellt. Aber die Diskussion darum wird auf jeden Fall zeigen, wie weit die Grundwerte der Menschen in der Schweiz auseinanderliegen. ■

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Keuschheit «Mich stört die Indoktrinierung» Mirjam von Arx hat die evangelikale Keuschheitsbewegung in den USA porträtiert. Tendenzen in diese Richtung gebe es auch in der Schweiz, ist sie überzeugt.

INTERVIEW VON STEFAN MICHEL

Was fasziniert Sie am Thema der vorehelichen Keuschheit? Mein ursprüngliches Thema war die Entjungferung – ein komplexes Thema, das körperliche, geistige und auch politische Dimensionen hat. Zudem gibt es nicht viele Ereignisse im Leben, die alle Menschen teilen, egal wo und wie sie leben. Wie und mit wem man das erste Mal erlebt, hat viel mit kulturellen Umständen zu tun. Was ist die politische Dimension der sexuellen Abstinenz vor der Ehe? Der aktuelle amerikanische Wahlkampf zeigt es: Es wird niemand republikanischer Kandidat, der nicht für den Abstinenzunterricht eintritt und sich dezidiert gegen den Schwangerschaftsabbruch und die gleichgeschlechtliche Ehe ausspricht. Dahinter stehen politische Motivationen, verknüpft mit patriarchalen und konservativen Wertvorstellungen. Die Menschen, die die Keuschheit propagieren, sehen darin nicht nur körperliche, sondern auch geistige Reinheit. Allen voran sind es evangelikale Christen, welche die Keuschheit bis zur Ehe fordern. Ist das ihr Hauptziel oder nur eines von vielen Themen, das sie bearbeiten? Es ist eines von verschiedenen Zielen, die sie verfolgen, aber eines, das sehr attraktiv sein kann. Mit ihm können sie die Jungen ansprechen, sie einbinden und formen. Wenn man es attraktiv genug gestaltet, fördert es auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Die «Purity Balls» und die Rituale, welche Wilsons privat abhalten, wirken tatsächlich recht attraktiv. Was steckt dahinter? Die Wilsons und ihre Freunde, die allesamt gleich denken wie sie, haben eine Reihe von Ritualen und eine wohlige Blase um sich herum geschaffen. Mit der Aussenwelt kommen sie kaum noch in Kontakt und haben auch kein Interesse an ihr. Stattdessen bestärken sie sich gegenseitig immer wieder darin, wie schön sie es haben. Und sie reden nicht davon, dass sie auf etwas verzichten, sondern davon, wie toll es ist, mit dem Sex zu warten. Die Botschaft an die Töchter lautet: Du bist eine Prinzessin und wirst deinen Prinzen finden. Sex ist also gar kein Tabu? Sie sind überhaupt nicht prüde. Sie sagen: Wenn du mit deinem Ehemann zum ersten Mal Sex hast, dann ist es der genialste Sex, den du haben kannst. Das ist auch wieder attraktiv für Girls wie für Jungs. Angesichts der perfekten Familie Wilson wartet man förmlich darauf, dass eines der Kinder das Enthaltsamkeitsgebot verletzt. Als ich anfing, mit dem Wilsons zu drehen, dachte ich auch: Bei sieben Kindern muss doch mindestens eines ausbrechen. Mittlerweile bin ich SURPRISE 276/12

mir gar nicht mehr sicher. Sie fühlen sich sehr wohl in ihrer Blase. Man weiss aber, dass die Mehrheit aller Jugendlichen, die ein Keuschheitsgelübde bis zur Hochzeit ablegen, dieses bricht. Warum sollen Teenager Sex haben? Mir ist es ja egal, ob ein Teenager keusch bleibt oder nicht. Das ist nur Sache des Teenagers. Was mich stört, ist die Indoktrinierung, und noch viel mehr, dass man ihnen nicht mehr das Wissen vermittelt, sich zu schützen, wenn sie dann doch nicht warten wollen. In Ihrem Film stellen Sie einen Bezug her zwischen der Purity-Bewegung und einer ablehnenden Haltung gegenüber der Trennung von Kirche und Staat. Gehen Sie da nicht etwas weit? Ich dachte am Anfang auch: Da huldigen ein paar Leute einem Keuschheitskult. Dann merkte ich, wie viele es sind und was ihre Motivation ist. Die Trennung von Kirche und Staat akzeptieren sie nicht. Toleranz schaffe nur Probleme, sind sie überzeugt. Im Moment sieht es so aus, als ob auch in der Schweiz religiöse Gruppierungen stark in die Politik eingreifen wollten. Sie sprechen die Initiative zum «Schutz vor Sexualisierung in der Volksschule» an. Geht es da letztendlich auch um die Aufhebung der Trennung von Kirche und Staat? Das ist sehr plakativ formuliert. Solche Initiativen helfen sicher mit, religiöse, rechtskonservative Werte in die Schulen hineinzubringen. Man muss im Minimum diskutieren, wie weit man das zulassen will.

«Im Moment sieht es so aus, als ob auch in der Schweiz religiöse Gruppierungen stark in die Politik eingreifen wollten.» Mirjam von Arx

Wollen Sie mit Ihrem Film die Schweiz wachrütteln? Jede Religion buhlt um ihre Leute. Aber sie soll das offen deklarieren. Wichtiger ist mir, dass wir diskutieren, wie in den Schulen aufgeklärt werden soll. Für Ihren Film ist die Diskussion über den Sexualkundeunterricht ein Glücksfall. Wir waren mitten im Schnitt, als letztes Jahr die Petition lanciert wurde. Ich denke, der Film stellt dar, wo solche Initiativen im Extremfall hinführen können. Am Dokumentarfilmfestival in Nyon zeigte sich: der Film emotionalisiert total. Es gab Leute, die weinten, Leute, die wütend waren, erschüttert, durcheinander, und es ging sofort eine grosse Diskussion los. Meine Hoffnung ist, dass der Rest der Schweiz mitdiskutiert, bevor eine kleine religiöse Gruppierung bestimmt, wie die Schweizer Jugend aufgeklärt wird. ■

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BILD: REUTERS/VALENTIN FLAURAUD

Open Airs Wenn der Veranstalter den Blues singt Die Bandgagen steigen, die Konkurrenz wird immer grösser, die Publikumszahlen hingegen stagnieren: Schweizer Open-Air-Veranstalter stehen vor einem schwierigen Festivalsommer. Ein Blick hinter die Bühne. VON RETO ASCHWANDEN

Festivalfreunde haben in der Schweiz die Qual der Wahl. Den Sommer über finden hierzulande weit über tausend Open Airs (und einige Indoor-Festivals) statt. Das reichhaltige Angebot an hochkarätigen Bands aus allen Sparten bietet für jeden Geschmack etwas. Das Publikum in anderen Ländern kann von einer derartigen Auswahl nur träumen, hiesigen Veranstaltern bereitet die Situation allerdings zunehmend Alpträume.

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Allein von 2010 auf 2011 stieg die Zahl der Festivals um 8,3 Prozent von 1084 auf 1174. Die Besucherzahl nahm im selben Zeitraum bloss um 0,9 Prozent auf gut 4,5 Millionen zu, wie der Branchenverband Swiss Music Promoters Association (SMPA) ermittelte. Ausgereizt scheinen auch die Eintrittspreise: Diese betrugen laut SMPA letztes Jahr durchschnittlich 84.50 Franken pro Tag, gerade mal 20 Rappen mehr als noch 2008. Die wachsende Zahl an Festivals führt zu grösserer Konkurrenz. Schon vor einem Jahr sagte der Chef von Good News, der grössten Schweizer Konzertagentur, die zum Ringier-Konzern gehört, gegenüber SURPRISE 276/12


der Zeitung «Sonntag»: «Der Schweizer Festivalmarkt ist übersättigt.» Das Gerangel um attraktive Acts treibt die Gagen hoch – umso mehr, als die Musiker versuchen (müssen), die Einnahmeverluste aus den eingebrochenen CD-Verkäufen durch höhere Konzerterlöse zu kompensieren. Über Geld reden die Veranstalter zwar normalerweise nicht gerne, anlässlich einer Podiumsdiskussion beim Branchentreff M4Music diesen März sprachen einige von ihnen aber Klartext. Dany Hassenstein, der die Bands fürs Paléo in Nyon bucht, erklärte, die Gagen hätten sich in den letzten fünf Jahren verdoppelt: «Wir können nicht mehr weitermachen, ohne die Ticketpreise zu erhöhen.» Roman Pfammatter vom Walliser Open Air Gampel und Vorstandsmitglied der SMPA bestätigte: «Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zu den Eintrittspreisen.» Was die einzelnen Bands kassieren, gilt als Geschäftsgeheimnis, trotzdem kann man davon ausgehen, dass die US-Rocker Foo Fighters letztes Jahr beim Greenfield in Interlaken gut eine halbe Million kassierten. Bei den letzten Schweizer Festivalauftritten von Bob Dylan und Metallica wurde gemunkelt, es seien Startgelder von einer Million bezahlt worden.

tionsschluss nur das Paléo in Nyon und die Bad Bonn Kilbi, ein Festival im freiburgischen Niemandsland für Angefressene, die Geheimtipps und Obskuritäten schätzen. Für die Open Airs auf dem Gurten, in St. Gallen, Zürich, Frauenfeld etc. gibt es zumindest noch Tageskarten. Ein Flop kann den Bankrott bedeuten Die Veranstalter können nur kräftig Werbung machen und hoffen. Roman Pfammatter von der SMPA sagt: «Leute, die sowieso kommen, sind wichtig. Entscheidend sind aber die Unschlüssigen, die müssen wir unbedingt haben. 2000 bis 3000 Zuschauer weniger als budgetiert können ein Festival ins Verderben reissen, so eng sind die Margen heute.» Gerade das ältere Publikum sei eine Herausforderung: «Ein bisschen Regen und die bleiben zu Hause.» Für die Veranstalter kann das existenzbedrohend werden. Letztes Jahr holte die Firma Taifun Music Bob Dylan ans Summer Sound nach Sursee und schrammte in der Folge nur haarscharf am Konkurs vorbei. Tatsächlich pleite ging Free & Virgin. 40 Jahre lang hatte sich die Agentur als Nummer zwei im Schweizer Markt halten können. Doch nachdem das Metalfestival Sonisphere letzten Sommer in Basel floppte, machte die Firma bankrott. Vorläufig ausgespielt hat die Musik auf dem Hoch-Ybrig. Über Jahre traten dort die erfolgreichsten Schweizer Bands auf. Doch nachdem letztes Jahr nur noch 6000 statt wie in den Vorjahren 12 000 Zuschauer aufmarschierten, gab der Veranstalter auf. Zwar konnte die Firma durch einen Verkauf gerettet werden, das Open Air findet dieses Jahr aber nicht statt. Einige Veranstalter reagierten auf die zunehmende Konkurrenz mit stilistischer Spezialisierung. Bis vor ein paar Jahren wurden die meisten Schweizer Festivals nach dem Motto «Für jeden etwas dabei» programmiert. Seither hat sich das Angebot ausdifferenziert. Traditionsveranstaltungen wie die Open Airs in St. Gallen und auf dem Gurten in Bern bieten zwar immer noch einen bunten Musikmix, daneben aber eta-

Abgehalfterte Zugpferde Neben den Gagen stiegen in den letzten Jahren auch die Kosten für die Sicherheit und die Infrastruktur, denn das verwöhnte Publikum möchte weder am Eingang noch vor den Toiletten lange warten müssen. Mit Sponsoring lassen sich kaum noch zusätzliche Einnahmen generieren, denn auch hier stehen die Festivals untereinander in Konkurrenz. Zudem goutieren die Besucher Werbung nur bis zu einem gewissen Mass: «Zu grosse Sponsorenpräsenz kommt beim Publikum nicht gut an», so Hassenstein vom Paléo – dabei würden die Tickets ohne Sponsoren ein Drittel mehr kosten. Immer schwieriger wird auch das Engagement zugkräftiger Bands. Stephan Thanscheidt, als Booking-Chef von FKP Scorpio zuständig für das Greenfield-Programm, sprach bei M4Music von einem «grossen Headliner-Sterben»: Für die Festivals seiner Firma gäbe es weltweit bloss etwa 15 Bands, «2000 bis 3000 Zuschauer weniger als budgetiert können die als Hauptacts in Frage kommen. Grund: ein Festival ins Verderben reissen, so eng sind die Margen Durch die Branchenkrise fällt es neuen Rockheute.» bands immer schwerer, zu Superstars aufzusteigen. In den letzten zehn Jahren hätten laut blierten sich verschiedene Spartenveranstaltungen. Das Greenfield in Thanscheidt nur gerade Arcade Fire und die Kings Of Leon einen Status Interlaken setzt auf Rock der härteren Sorte und schuf sich damit kurzerreicht, um im Hauptabendprogramm vor 20 000 Leuten aufzutreten. zeitig eine Marktnische. Seit drei Jahren aber buhlt das Metalfestival SoEin Blick auf die diesjährigen Programme bestätigt diese Einschätnisphere um eine ähnliche Klientel. Zudem präsentiert das Z7 in Pratzung. Beim Greenfield gehören Die Ärzte zu den Hauptacts, in St. Galteln mit dem Metalfest und dem Extremfest gleich zwei Festivals innert len Die Toten Hosen – die Musiker beider Bands werden demnächst 50. Monatsfrist und Ende Juni lockt der Earshaker-Day die Headbanger Auch beim Paléo sind die Hauptattraktionen Veteranen aus den 80ernach Basel. Auch die Hip-Hop-Fans haben die Wahl: entweder Ende JuJahren: The Cure, Sting und Lenny Kravitz. Letzterer spielt diesen Somni zum Touch the Air nach Wohlen oder dann Anfang Juli ans Open Air mer neben dem Paléo auch in Locarno und auf dem Gurten. Zählt man Frauenfeld. Wohlgemerkt: Dabei handelt es sich nicht um Kleinkonzerauch seinen Auftritt am Stimmenfestival im deutschen Lörrach, einen te für Liebhaber, sondern um Grossevents mit Tageskapazitäten von bis Fussmarsch von der Schweizer Grenze entfernt dazu, soll der angejahrzu 25 000 Besuchern. Selbst für jene, die der Kinder wegen nicht mehr te Ami-Rocker diesen Sommer hierzulande gleich vier Mal als Publiein Wochenende lang im Schlamm baden können, gibt es mittlerweile kumsmagnet fungieren. Möglichkeiten. Die Lilibiggs-Konzerte mit Acts wie Andrew Bond, LiStars im Herbst ihrer Karriere als Zugpferde für Sommerfestivals – nard Bardill und Schtärneföifi bringen landauf, landab Festivalfeeling das kann nicht funktionieren. Ein Blick auf den laufenden Vorverkauf für die ganze Familie – und gelten in der Branche als eine der grossen bestätigt dies: Herbert Grönemeyer etwa sang noch 2007 im Stade de Erfolgsgeschichten der letzten Jahre. Suisse in Bern vor 40 000 Zuschauern, letztes Jahr am selben Ort kamen Vielleicht ist dies das Modell für die Zukunft: Statt Altstars für übernoch 25 000. Heuer tritt er am Montreux Jazz Festival und am Moon and sättigte Erwachsene organisieren die Veranstalter Kinderbands für Stars in Locarno auf. In Montreux fasst der Saal um die 3000 Leute, die Knirpse, die ihre ersten Konzerterfahrungen machen. Immerhin gibt es Piazza Grande in Locarno 12 000 – für beide Auftritte waren bei Redakhier kein Nachwuchsproblem. tionsschluss noch Tickets erhältlich. 2008 spielte Madonna in Düben■ dorf vor der Rekordkulisse von 72 000 Menschen, heuer ist es fraglich, ob sie die 40 000 Plätze im Letzigrund füllen kann. Dasselbe gilt für den Auftritt von Bruce Springsteen. Das liegt einerseits daran, dass diese Musiker nicht mehr so ziehen wie einst. Andererseits offenbart das verhaltene Interesse auch die Übersättigung des Publikums. Denn auch die traditionellen Festivals bekunden Mühe. Ausverkauft waren bis RedakSURPRISE 276/12

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BILD: ANDREA GANZ

Le mot noir To be or not Kürzlich beim Tierarzt. «Sie müssen ihren Hund kastrieren lassen», schüttelt der Doktor den Kopf. «Vielleicht bildet sich der Tumor dann zurück.» «Sollten wir dieses Geschwür nicht lieber operieren?», bleibe ich skeptisch. «Wir kastrieren, und wenn die Hormone sich beruhigen, dann sicher auch der Rest.» «Und was ist mit Medikamenten?» «Können wir versuchen, aber kastrieren ist einfacher.» «So einfach ist das aber nicht», bremse ich den Doktor. «Nein?» «Nein, erstens ist jetzt die Hauptsaison für Freilandsex und zweitens war er auch noch nie kastriert!» «Kein grosser Eingriff, ein bisschen schnipseln und schon kann er wieder in den Wald», nickt der Doktor mit dem Kopf. «Und was soll ich mit den zehn Prozent machen, die dann noch auf der Wiese stehen?», frage ich. «Tofu?» «Was hat er denn für Hob-

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bys?», will der Tierarzt wissen. «Er ist ein intakter Rüde, raten Sie!» «Der Tumor ist ja einer von den guten», klopft mir der Tierarzt auf den Arm. «Sie kastrieren – oder lieber ich – und die Sache ist vom Tisch.» «Es geht doch um was anderes. Seine Persönlichkeit», werfe ich ein. «Er ist halt nicht der Typ für Kreuzworträtsel!» «Sind wir heute hartnäckig», tätschelt der Arzt den Hund. «Sehen Sie es doch mal aus Ihrer Warte. Sie hätten viel mehr Ruhe!» «Sehe ich aus, als ob ich Ruhe brauche?», knurre ich. «Immer», grinst der Arzt, «letztes Mal zum Beispiel!» «Die Tollwutimpfung?» «Da haben Sie gewirkt wie …» «Was?» «Ein Gnu, das sich zum Sterben in den Busch schleift! Nicht mal die Vitamine wollten Sie.» «Das waren nur die High Heels», erinnere ich mich dunkel. «Das Meeting bei der Bank.» «Aha, noch andere Gnus?» «Wenn Sie als Gewinner rauslaufen wollen, müssen sie eben grösser sein als die.» «Haben Sie denn gewonnen?», zieht der Arzt die Braue hoch. «Es lief ganz gut, bis nachher im Wald dieses Boxerweibchen kam.» «Sehen sie, mehr Ruhe! Und lästige Konkurrenz schütteln Sie mit dem Kastrieren locker ab. Nie wieder rumstreiten, das ist doch was!» «Darf ich mal auf die Waage?», sage ich. «Vielleicht fällt mir dann was ein.» «Die Meerschweinchen waren aber leichter», linst der Arzt auf die Anzeige. «Also wir nehmen ihm sein Hobby und dafür bleibt der Tumor drin, sehe ich das rich-

tig?», überlege ich. «Ist das Einfachste», sagt der Arzt. «Er ist ja nicht mehr der Jüngste. Und bis der Tumor böse wird, ist der Hund längst tot.» «Ich brauche eine zweite Meinung. Ihre Sprechstundenhilfe», schüttle ich den Kopf. «Die weiss doch sicher mehr.» «Von mir aus», knurrt der Arzt zum Hund. «Das High-HeelGnu will dich nicht kastrieren lassen, was sagen wir denn dazu?» Später beim Abendessen daheim. «Wie ist es gelaufen», wollen meine Freundin Barbara und ihr Mann wissen. «Der Tumor kommt raus und der Hund wird kastriert», verteile ich gut gelaunt Salat. «Aber was wird mit seiner Persönlichkeit?» «Nur für sechs Monate. Dann ist er wieder ganz der Alte.» «Wie, er wird nur für ein halbes Jahr kastriert?» «Ein kleiner Schwamm, wird einfach eingeimpft», sage ich. «Also das ist ja toll», strahlt Barbara zu ihrem Mann herüber. «Kriegen wir die Nummer von dem Arzt?»

DELIA LENOIR (LENOIR@HAPPYSHRIMP.CH) ILLUSTRATION: IRENE MEIER (IRENEMEI@GMX.CH) SURPRISE 276/12


Poetry Slam Schnaps und Wahnsinn Poetry Slam, der Wettbewerb für Bühnendichter, ist populärer denn je. Etrit Hasler, Schweizer Slammer-Urgestein, erzählt in zwei Teilen, wie sich sein Metier von der chaotischen Subkultur zum massentauglichen Kulturgut mauserte.

Vor Jahren habe ich mir geschworen, nie mehr zu erklären, was Poetry Slam ist. Das war noch zu der Zeit, als bei jeder Veranstaltung irgendein künstlich hippes Jugendradio auftauchte und immer dieselben drei Fragen stellte: «Was ist ein Poetry Slam?» «Wieso machst du das?» Und natürlich: «Wie kommst du auf deine Ideen?» Nun, falls Sie tatsächlich das letzte Jahrzehnt unter einem Stein verbracht haben, fragen sie Wikipedia, aber die Zeiten, in denen ich diese drei Fragen beantworten musste, sind zum Glück vorbei. Inzwischen füllen Poetry Slams das Casinotheater Winterthur, den Zürcher Schiffbau und die Rote Fabrik, Slampoeten räumen Kultur- und Kleinkunstpreise im gesamten deutschsprachigen Raum ab und ein paar von uns können sogar davon leben. Aber dazu später. Die Geschichte des Poetry Slam in der Schweiz beginnt Ende der Neunzigerjahre mit zwei Wahnsinnigen aus Luzern, Matthias Burki und Yves Thomi, die in Deutschland über die noch brandneue Slamszene gestolpert waren und beschlossen, diese Idee auch in die Schweiz zu bringen. Sie gründeten den Verlag «Der gesunde Menschenversand» und organisierten Veranstaltungen, vorerst hauptsächlich mit deutschen Slampoeten, denen sie Figuren aus der Schweizer Musik- und Literaturszene entgegensetzten – Boni Koller, Suzanne Zahnd und natürlich den ersten Star-Slammer der Schweiz: Tom Combo. Zu sagen, das Konzept hätte eingeschlagen wie eine Bombe, wäre gleichzeitig unter- und übertrieben. Von der klassischen Literaturszene mit Verachtung gestraft («Das ist ja ganz nett, aber mit Literatur hat das doch nichts zu tun», beschied mir einmal ein damals halbwegs bekannter und heute zum Glück wieder in der Versenkung verschwundener Schweizer Autor), fristete Poetry Slam insbesondere in den Grossstädten ein völliges Nischendasein. Wobei: Auch der mieseste Slam zog noch 30 Zuschauer an, und das war um Längen mehr als eine durchschnittliche Lesung. In der Provinz jedoch startete Poetry Slam richtig durch: Veranstaltungen in Frauenfeld, Wohlen, Chur und St. Gallen zogen plötzlich über 100 Zuschauer an und entwickelten sich tatsächlich sehr bald zu den «Rockkonzerten der Literatur». Insbesondere banden sie eine ganze Generation hauptsächlich männlicher Jungschriftsteller an sich, von denen einige auch recht schnell zu nationalem Erfolg kamen: Jürg Halter (alias Kutti MC), Daniel Ryser aka Dani Göldin, Simon Libsig und nicht zuletzt meine Wenigkeit – wobei ich statt kommerziellem Erfolg 2005 eine Wahl ins St. Galler Stadtparlament erntete. Im Nachhinein wird diese Ära gern etwas verklärt, was wohl damit zusammenhängt, dass seinerzeit die meisten von uns die nichtexistenten Gagen mit ausgiebigen Bezügen von Gratisgetränken kompensierten. Dass ein Slammer schon sturzbesoffen war, bevor er die obligate SURPRISE 276/12

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VON ETRIT HASLER

Etrit Hasler, Schweizer Poetry-Slam-Pionier.

Siegerflasche Whisky in die Hand gedrückt bekam, war keine Seltenheit. Das will ich nicht glorifizieren. Aber so chaotisch, wie die meisten Veranstaltungen waren, musste man schon betrunken sein, um das durchzustehen. Zu häufig traten wir in Bars auf, in denen sich das Publikum keinen Dreck dafür interessierte, was da auf der Bühne geschah. Wir mussten schon froh sein, wenn nicht schon beim ersten Dichter faules Obst geflogen kam. Wir mussten unerfahrenen Veranstaltern erklären, dass es wirklich nicht möglich sei, vor 150 Menschen ohne Mikrofon und Anlage aufzutreten. Und am Schluss stritten wir untereinander, wer auf dem Sofa des Veranstalters und wer auf dem Boden schläft. Ja, es gab diese Momente des kreativen Wahnsinns, die zur Legende wurden, so wie der Auftritt dreier Slampoeten am Lehrerseminar Kreuzlingen, der beinahe in eine Massenschlägerei ausuferte, weil einer der Auftretenden Hans Magnus Enzensbergers «Schaum» vortrug, das die ausserhalb des Kontexts leicht falsch zu verstehende Zeile «Grüss Gott! Heil Hitler!» enthält. Nach dem Gastspiel wurde das Schulreglement angepasst, um Auftritte von Nicht-Semischülern zu verbieten. Diese Zeiten vermisse ich manchmal ein bisschen. Aber meistens bin ich auch ganz froh, dass sie vorbei sind. Der zweite Teil folgt in der nächsten Ausgabe.

Etrit Hasler trat 2000 bei seinem ersten Poetry Slam auf und gilt als ein «solches Urgestein, dass man Mineralwasser durch ihn filtern könnte», wie ihm die amtierende U20-Championess Lisa Christ letzthin beschied.

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Kulturtipps

Ein Vater mit Kratzern im Bild.

«Süper-Immigrant» Müslüm: «Ich bin der böse fremde Mann.»

Buch Drama der Versäumnisse

CD Müslüm liebt dich

In «KönigsSohn» erzählt Roswitha Quadflieg von der Unfähigkeit zu lieben und vom Elend, das aus dieser Leere entsteht.

Sein «Samichlaus» stieg auf Youtube in kurzer Zeit zum meistgesehenen Dialekt-Videoclip aller Zeiten auf. Nun schenkt uns der «Süper-Immigrant» ein ganzes Album. Es ist eine Glücksdroge.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON FLORIAN BLUMER

Dreissig Jahre lang war Roswitha Quadflieg Buchkünstlerin. Sie gestaltete Werke der Weltliteratur, die gerade wegen der Originalgrafiken bibliophile Kostbarkeiten sind. Jedes Kind kennt zudem ihre Illustrationen von Michael Endes «Die unendliche Geschichte». 2003 schloss sie ihre Druckwerkstatt und wandte sich dem Schreiben zu. Schon in ihrem ersten Roman, «Der Tod meines Bruders», machte die Tochter des Schauspielers Will Quadflieg die eigene Familiengeschichte zum Thema. Und auch in ihrem neusten Werk «KönigsSohn» tut sie dies auf eine Weise, die einen frösteln lässt, wenn man von den Bezügen zur Realität weiss. Doch geht es Quadflieg um mehr: Sie will begreifen, indem sie die Wirklichkeit noch einmal erfindet. So wie die Geschichte von Wolfgang Amadeus Dahlke, der an seinem Geburtstag seinen Vater, den weltberühmten Sänger Dolf König, zu sich zum Essen einlädt. Doch das Gespräch, das zur Abrechnung wird, findet ohne Gegenüber statt, verhallt im Leeren. Der Vater ist nicht wirklich anwesend – so wie er es niemals war. Der uneheliche Sohn, eine gescheiterte Existenz, kennt ihn nur aus Zeitungsartikeln. Die Versuche, dem Vater nahe zu sein, sind gescheitert. Zweimal hat ihn dieser davongejagt. Zeitgleich erleben wir den gealterten Dolf König am Ende seiner Karriere, wie er in einer Gaststätte der schwerhörigen, zunehmend betrunkenen Mutter des Wirts von seinem Leben, seinen Erfolgen auf der Bühne und bei den Frauen erzählt. Wie in einer musikalischen Fuge erklingen zwei Stimmen, die dasselbe düstere Motiv variieren. Und beide stossen sie auf taube Ohren, weil sie nicht zu denen reden, die ihnen wirklich zuhören würden. Das hat in seiner Unerbittlichkeit und Unausweichlichkeit eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann – bis zum bitteren Ende. An diesem tritt das Alter Ego der Autorin hinzu, erweitert das Drama um eine dritte Stimme, die nicht weniger an Versäumtem scheitert. Und ihre zu späte Einsicht fasst auf so lapidare wie erschreckende Weise zusammen, worin der Roman uns, die Lesenden, wohl am tiefsten treffen kann: «Hätte man überhaupt viel mehr miteinander reden sollen?» Roswitha Quadflieg: «KönigsSohn». Stroemfeld Verlag 2012. 21.90 CHF.

Müslüm ist ein Phänomen. Die Kunstfigur des türkischstämmigen Berner Secondos Semih Yavsaner ist ein Prolet und Macker. Er hat keinen Geschmack, dafür einen dicken Schnauz, eine haarige Warze mitten im Gesicht und unkontrollierte Testosteronschübe. Dennoch wird er heiss geliebt, besonders von Teenagern: Sie umringen ihn, wenn sie ihn im Schwimmbad erkennen und belagern sein Haus für eine Unterschrift. Denn Müslüm ist auch cool, unverschämt und lustig. Und seine Liebe zu allen Kreaturen, insbesondere den Unterjochten und Bedrückten, ist noch überbordender als sein Hormonhaushalt. «An alle Liebenden und Liegengebliebenen» hat er denn auch als Widmung unter seine Lieder geschrieben. Müslüm ist die Stimme der Ausländer aus der Unterschicht. Und die Schweizer haben den tolpatschigen «Süper-Immigranten» ins Herz geschlossen. Seinen Verehrerinnen und Verehrern schenkt der ehemalige «Mann mit dem Telefonscherz» auf Radio 105 (siehe Youtube!) nun ein Album, das direkt ins Herz geht: Herzerweichend der Song, in dem er beklagt, dass die Leute ihn, den «ausländer, weit weg von der heimat in ainem fremden Land», anschauen wie einen Orang-Utan. Herzergreifend die Geschichte der «echengschtabigiraffe» («Nackenstarre-Giraffe»), die einen bösen Wärter hat, der ihr Viagra ins Futter mischte. Herzbrecherisch schliesslich die Liebeslieder, denn Müslüm ist «solo wie ain tschigolo», aber liebessüchtig «sowie eine psüchopat» und hat «immer depressione», wenn er alleine ist. Mehr für den Kopf sind die Songs «Chonsumier» und «1.8 Promille», die Yavsaners gesellschaftskritische Seite durchscheinen lassen. Allen Tracks gemeinsam ist aber, dass sie zuerst einmal in die Beine gehen und für Glückshormonausschüttungen im ganzen Körper sorgen. Im Titelsong heisst es: «Chom chom chom in maine praxis, wen du chomplexe hasch oder chrank bisch». Leidenden an Welt- und anderem Schmerz empfiehlt «Dochtor» Müslüm seine Musikmixtur aus melancholisch-fröhlichem Türken-Pop, in einigen Songs angereichert mit einer Dosis Ska oder Hip-Hop. Spätestens bei Track 3 besteht kein Zweifel mehr: Es wirkt.

Lesung Roswitha Quadflieg: Do., 14. Juni, 19 Uhr, Literaturhaus Basel.

Müslüm: «süpervitamin». Muve Recordings 2012.

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Ist Kwok Yun so liebestrunken, dass sie Ufos sieht? 01

Klimaneutrale Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

Film Im Wirbel der Globalisierung «Ufo in her eyes» ist eine chinesische Parabel über die gefährlichen Verlockungen der Globalisierung. VON SARAH STÄHLI

Die Enten schnattern es von den Höfen und die Wasserbüffel schnauben es uns entgegen: Die Globalisierung rollt mit unaufhaltsamem Tempo auf die chinesische Provinz zu – das gibt bestimmt kein Happy End. Ein leidenschaftliches und heimliches Schäferstündchen in den Reisfeldern führt zu einer fantastischen Notlüge mit Folgen. Kwok Yun ist Bäuerin aus armen Verhältnissen, ihr Liebhaber der verheiratete Schulleiter des 100-Seelen-Kaffs. Ob es die Liebestrunkenheit oder tatsächlich ein Ufo war, das Kwok Yun da am Himmel zu sehen glaubte: Ihre Erzählung löst im Dorf einen Tumult aus. Denn eines ist sicher: Der verletzte amerikanische Tourist, den sie kurze Zeit nach der Sichtung der fliegenden Untertasse vor einem Schlangenbiss gerettet hat, ist real. Und er hat Geld wie Heu. Als er dem Dorf seiner Lebensretterin eine ansehnliche Summe Geld spendet, ist nichts mehr wie früher. Vor allem die resolute Dorfvorsteherin lässt sich von der Verlockung des Geldes gehörig den Kopf verdrehen. Ein Luxushotel wird aus dem Boden gestampft und geführte Ufo-Touren sollen Touristen anlocken, dafür werden Häuser, Felder und Existenzen zerstört – ohne Rücksicht auf Verluste. Und am Ende schwingen sie alle die Amerika-Flagge. Ausgerechnet Kwok Yun aber kann mit dem rasanten Sturm der Globalisierung nicht mithalten. Als Ausweg ruft nur noch der Ausstieg aus der Gesellschaft: In einem selbstgebastelten Raumschiff geht es mitsamt Huhn, Ziege und einem aus dem Dorf vertriebenen erfinderischen Migranten in eine unbekannte Utopie. Die chinesische Autorin und Regisseurin Xiaolu Guo hat ihren gleichnamigen Roman als erfrischende brechtsche Parabel über die dunklen Seiten der Globalisierung inszeniert. In Locarno gewann Xiaolu Guo 2009 mit ihrem sehr persönlichen Film «She, a Chinese» über eine junge Chinesin, die in London ihr Glück versucht, den Goldenen Leoparden. In ihrem neuen Film überspitzt sie Geschichte und Figuren teils ins Lächerliche. Udo Kier als reicher Amerikaner etwa verkommt zur reinen Parodie und die surreal gefärbten Momente wirken geschmäcklerisch. Trotzdem: Auch in Zukunft dürfte man von Xiaolu Guo hören. Ihr Roman «A Concise Chinese – English Dictionary for Lovers» wird gerade vom chinesisch-amerikanischen Regisseur Wayne Wang («Smoke») fürs Kino adaptiert.

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Inova Management AG, Wollerau

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Grenzenlos GmbH, Binningen

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projectway GmbH, Köniz

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Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Velo-Oase Bestgen, Baar

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Otterbach

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fast4meter, storytelling, Bern

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Brockenstube des Reformierten Frauenvereins Aesch-Pfeffingen

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

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Migros Zürich, Kulturprozent

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Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG)

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Locher, Schwittay Gebäudetechnik GmbH, BS

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Weingut Rütihof, Uerikon

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AnyWeb AG, Zürich

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Niederer, Kraft & Frey, Zürich

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Musikschule archemusia, Basel

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Paulus-Akademie Zürich

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

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homegate AG, Adliswil

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Xiaolu Guo: «Ufo in her eyes», China, 110 Min., mit Shi Ke, Udo Kier u. a. Der Film läuft ab 7. Juni in den Deutschschweizer Kinos. SURPRISE 276/12

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Ausgehtipps

Europameister zum Aufkleben: Panini macht’s möglich.

Luzern Tschuttibildli tauschen «Han i, han i, han i nid …» Alle zwei Jahre lösen sie bei gestandenen Männern Nostalgieschübe aus und bringen sie dazu, wie früher mit ein paar Franken zum Kioskfräulein zu pilgern: Die Tschuttibildli. Aus früheren Zeiten ist die Geschichte überliefert, dass sich ein Junge nach einem Unfall mit dem Wohnwagen auf der Autobahn die Hände rieb, dass die Familie nun frühzeitig aus dem Urlaub zurückkehren musste – die Grossmutter hatte ihm bei der Rückkehr zehn Päckli Tschuttibildli versprochen. Nun, diese Zeiten werden nicht zurückkommen, doch ein Mosaiksteinchen Vergangenheit lässt sich mit den legendären Bildli doch zurückholen. Aber: Auch wenn man heute die Grossmutter nicht mehr dazu braucht – sich einfach für 70 Franken eine 500er-Schachtel aus dem Internet zu bestellen, macht keinen Spass, und zum Tauschen fehlt der Pausenplatz. Abhilfe schafft das Bourbaki Panorama: In der imposanten Kulisse des Rundbilds aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 kann man sich jeweils am Samstagnachmittag zur grossen Tauschbörse einfinden und dabei mit etwas Glück bestimmt auch amtierende Welt- und Europameister wie den Spanier Xavi Hernandez ergattern. (fer)

Der Cowboy aus dem Roadmovie: Tom Huber.

Jacko: Als Puppe fast menschlicher als in echt.

Kriens LU Drama auf dem Berg

Baden King of Pop

Wie Sie weiter vorn in diesem Heft lesen können, gibt es in der Schweiz mehr als genug Open Airs. Sorgfältig programmierte Festivals sind allerdings die Ausnahme. Eine solche bildet das B-Sides auf dem Sonnenberg in Kriens. Es lockt mit einer Mischung aus sicheren Werten und Geheimtipps in die Zentralschweiz. Immer wieder Freude machen Rapper Greis und Züri West, sowie der deutsche ElektropopPoet Peter Licht («Sonnendeck»). Esben And The Witch verdunkeln den Sonnenberg mit opulentem Goth-Rock, die weniger bekannten Piano Magic sorgen für dunkles Wave-Drama und die einheimischen Les Yeux Sans Visages komplettieren das Finsterrock-Triumvirat. Ebenfalls mit Hang zum Drama werkelt Tom Huber aus Zürich an Songs zwischen CowboyRomantik und Roadmovie-Feeling. Die Tanzgarantie liefern King Khan & The Shrins: Ihr Soulpunk wird dem Publikum den Schweiss auf die Stirn treiben, selbst wenn der Sonnenberg im Regen stehen sollte. (ash)

Wer Michael Jackson nochmals live auf der Bühne erleben will, muss ans Figura Theaterfestival in Baden. Hier wird das Stück «Becoming Peter Pan» gespielt, mit dem King of Pop als Puppe. Kein Wunder, wird nicht einfach Jacksons reale Biografie nachgespielt, nein: Es geht um den Entertainer als Kunstfigur. Das Porträt einer ebenso schillernden wie verstörenden Ausnahmepersönlichkeit, die ihr Leben zur grössten Show des Universums machte. Wir wissen es längst, können es aber gar nicht oft genug wiederholen: Figurentheater ist nicht einfach Kinderkram, sondern eine Kunstgattung, die Grenzen sprengt. Das Figura Theaterfestival, internationale Biennale des Bilder-, Objekt- und Figurentheaters, findet zum zehnten Mal statt. Da kann man nur sagen: Nun tanzen alle Puppen, macht auf der Bühne Licht! (dif)

Do., 14. bis Sa., 16. Juni, Sonnenberg, Kriens.

www.figura-festival.ch

Figura Theaterfestival, 13. bis 17. Juni, in allen Theatern von Baden und Wettingen und auf Strassen und Plätzen.

www.b-sides.ch

Anzeigen:

Tschuttibildli-Tauschbörse, jeden Samstag im Juni, 15 Uhr, Bourbaki, Luzern.

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Der will auch in Zukunft mit Mutter Erde kuscheln.

Im Mondschein lässt es sich länger tanzen.

Diverse Orte Die Erde kommt ins Kino

Baselland Mond über Bubendorf

Am 5. Juni ist UNO-Weltumwelttag, und da findet nun zum zweiten Mal ein regelrechter filmischer Awareness-Marathon statt. Der Verein «Plantfor-the-Planet» stellt tagsüber eine Kinderakademie auf die Beine und das Festivalteam von «Filme für die Erde» organisiert in etlichen Deutschschweizer Orten ein Schulkino. Für die Jüngeren gibt’s drei Muttertiere mit ihren Jungen zu sehen, auf die Oberstufenklassen wartet «Die 4. Revolution», ein Dok über die weltweit führenden Köpfe, die über den Möglichkeiten erneuerbarer Energie brüten. Am Abend werden alle Festivalorte live nach Rapperswil-Jona zugeschaltet, es gibt einen Bioapéro und den Film «Die Vision von Wangari Mathaai» zu Ehren des Friedensnobelpreisträgerin. (dif)

Bald wird auf den Frühsommerwiesen beim uralten Eichenhain auf dem Wildenstein wieder gespielt, gesungen, gegessen – und ums Feuer getanzt. Zwar ist das Line-up des 14. Mondsuchtfestivals noch nicht bekannt gegeben, doch so viel ist klar: Das Festival wird auch in diesem Jahr ganz ohne Verstärker auskommen. Wer das Sommerfest auf dem Hügel hinter Bubendorf kennt, weiss, dass es sich auf jeden Fall lohnt, hin zu pilgern: am besten mit Schlafsack und Mätteli, Fussball und Frisbee, Kind und Kegel. Verpflegung muss nicht mitgebracht werden, die Essstände sind sowieso zu zahlreich, als dass man sich durchs herrliche Angebot durchfuttern könnte. (mek)

«Filme für die Erde», diverse Orte in der Deutschschweiz, 18.30 Uhr Festivaleröffnung

Weitere Infos und Reiseverbindungen: www.mondsucht.ch

Mondsucht, Festival auf dem Wildenstein bei Bubendorf, 9. bis 10. Juni.

aus Winterthur, 19 Uhr Kurzfilmwettbewerb, 20.30 Uhr Hauptfilm «Die Vision der

BILD: BRIGITTE FÄSSLER

Wangari Maathai». http://filmefuerdieerde.ch

Basel Peterli vom Palette-Gärtli Ohne Garten oder Balkon, keine selbst gezogenen Cherrytomaten, keinen Peterli, keine Sonnenblumen, keine Zucchini … Das stimmt so manchen Stadtbewohner mit grünem Daumen etwas traurig, ganz besonders jetzt, wo die Zeit doch genau richtig wäre, um so richtig drauflos zu pflanzen. Deshalb: Träumen Sie nicht länger vom alten Bauernhof mit grossem Gemüsegarten auf dem Land, der ist gerade nicht in Sicht. Dafür: In der Erlenmatt vor dem alten BLG-Silogebäude können Sie sich für 50 Franken pro Saison eine oder mehrere Garteneinheiten mieten. Dreissig Paletten mit Rahmen (120 cm × 80 cm × 40 cm) aus unbehandeltem einheimischem Tannenholz warten darauf, bepflanzt zu werden. Im Pachtpreis inbegriffen ist die Mitbenützung des Regenwassertanks sowie des Grundstocks an Gartenwerkzeugen. (mek) Erlenmatt Basel, zu erreichen mit den Bussen 30, 36 und 55. Infos und Kontakt:

Jedem sein Gärtli! SURPRISE 276/12

www.perlengarten.ch

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Strassensport-Porträt «… da würden mir die Spieler davonlaufen» BILD: ASH

Christoph Birrer (30) kam über die Stadtküche Olten zur Surprise Strassensport Liga. Dann gründete er ein eigenes Team und stellte selber ein Turnier auf die Beine. Am 16. Juni findet es zum dritten Mal statt. Wenn Birrer nicht gerade alle Hände voll zu tun hat mit den Vorbereitungen, träumt er von der eigenen Konzertagentur. AUFGEZEICHNET VON RETO ASCHWANDEN

«Am 16. Juni veranstalten wir zum dritten Mal unser eigenes Fussballturnier in Olten. Der Surprise Strassensport leiht uns dafür die Arena, und am anderen Tag findet am gleichen Ort das Turnier von Surprise statt. Ich spiele schon länger in der Strassensport Liga und fand einfach, so ein Turnier müsste auch mal in Olten stattfinden. Also habe ich das organisiert. Nach der ersten Durchführung kam gutes Feedback, gerade auch von der Schützi, dem Kulturzentrum, wo ich arbeite und auf dessen Vorplatz das Turnier stattgefunden hat. Da fand ich: Das muss weitergehen. Beim zweiten Mal hatten wir ein Team mit ehemaligen Nati-Spielern wie Andy Egli oder Ramon Vega. Ich fand es geil, wie viele Leute um die Anlage standen. Das hat mich motiviert, noch mehr zu investieren. Egli kommt auch dieses Jahr wieder, dazu Roger Wehrli und andere, die ein Promi-Team bilden. Bislang haben sich 16 Teams angemeldet, mein Ziel wären 20. Die Schützi und die Leute von Surprise unterstützen uns bei der Planung und Durchführung des Anlasses, denn es ist doch ein rechter Aufwand, den einer allein nicht bewältigen kann. Ich schaue für die Teams und organisiere mit den Kollegen von der Aktion Platz für Alle (APA) den Auf- und Abbau der Strassensport-Arena. Es sind die gleichen Leute, die mir auch bei den Konzerten helfen, die ich organisiere. Mit der Zeit merkst du, wer zuverlässig ist, auf wen du dich verlassen kannst. Zum Strassensport kam ich vor ein paar Jahren, als ich in der Stadtküche Olten als Taglöhner gearbeitet habe: Malerjobs, Hausräumungen und solche Sachen. Die Stadtküche hatte eine Mannschaft und brauchte noch Leute. Ich habe bis zu den C-Junioren im Fussballklub gespielt, also half ich aus und so habe ich das ganze kennen gelernt. Richtig gepasst hat es mir im Team der Stadtküche nicht. Darum habe ich mit Kollegen aus der Punkszene ein eigenes Team gegründet. Weil sich keiner ums Organisatorische kümmern wollte, habe ich das übernommen. Ich schaue, dass wir uns zu den Strassensport-Anlässen anmelden und auch bei Grümpelturnieren. Ein seriöses Training wie die Surprise-Nati machen wir nicht. Rumpfbeugen und Rundenlaufen – da würden mir die Spieler davonlaufen. Wir spielen einfach gegeneinander. Neben dem Sport organisiere ich für die APA Konzerte – vor allem Punk, aber auch Liedermacher. Oft bleibt die Arbeit an mir hängen, zumindest die Organisation, beim Auf- und Abbauen helfen schon ein paar Leute. Das läuft alles ehrenamtlich, Geld verdiene ich damit nicht. Angestellt bin ich in der Schützi, im Stundenlohn, um die Bühne umzubauen oder auch mal beim Putzen zu helfen. Gelernt habe ich ursprünglich Maler. Ich habe die Lehre abgeschlossen, aber kurz danach haben sie mich rausgeworfen. Danach lebte ich eine Zeit lang in den Tag hinein, trank viel Bier, das erste schon, bevor ich mischeln ging. Anders hätte ich es nicht geschafft, Leute anzubetteln. Auch als ich Surprise

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verkauft habe, brauchte ich immer ein, zwei Bier, bevor ich mich auf die Strasse stellen konnte. Der Heftverkauf hat mir persönlich gut getan und es brachte auch mehr Geld als das Betteln. Heute lebe ich strukturierter. Ich trinke zwar noch immer zu viel, aber zumindest weiss ich etwas mit meiner Zeit anzufangen. Vorläufig will ich in der Schützi weiterarbeiten, aber ich könnte auch zurück in meinen Beruf als Maler. Die Arbeit würde mir gefallen, aber dann denke ich wieder: 100 Prozent, jeden Tag, dann kommst du wieder in diesen Alltagstrott. Ein Traum wäre es, eine eigene Konzertagentur aufzubauen. Einen Namen habe ich schon: Lovis Connection. Lovis heisst mein Hund. Wenn ich wirklich professionell Konzerte veranstalten wollte, müsste ich über meinen Schatten springen. Dann könnte ich nicht mehr nur Musiker buchen, die mir gefallen, sondern müsste auch Bands bringen, die rentieren. Meine Kollegen würden da kaum mitziehen. Die wollen lieber etwas machen, das ihnen gefällt, seien es Konzerte oder Fussballspiele. Und sie sind froh, dass ich das Organisatorische übernehme. Offen zeigen sie das nicht, aber ich weiss, dass sie im Inneren dankbar sind.» ■ SURPRISE 276/12


Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich

Jovanka Rogger Zürich

Ausserdem im Programm SurPlus: Fatima Keranovic, Baselland Bob Ekoevi Koulekpato, Basel Jela Veraguth, Zürich

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Programm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

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Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden, Florian Blumer(Nummernverantwortlicher), Diana Frei, Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit texakt.ch (Korrektorat), Yvonne Kunz, Delia Lenoir, Irene Meier, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Etrit Hasler, Lucian Hunziker, Stefan Michel, Dominik Plüss, Hansueli Schärer, Sarah Stähli Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 15000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 61

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27 Claudia Pleuss, Patrick Würmli, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller l.biert@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 276/12


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