Glücksbringer Was uns Stadtoriginale Gutes tun Im Interview: Mike Müller über seinen seltsamen Beruf
Werbung, Bagger, Komasuff – die hässliche Fratze des Wintertourismus
Nr. 291 | 4. bis 17. Januar 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.
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Auflösungen aus der Sondernummer «Lesen!» Heft Nr. 290 Lösungswort Kreuzworträtsel: Kino im Kopf Die Gewinner des Kreuzworträtsels werden unter den richtigen Einsendungen ausgelost und persönlich benachrichtigt.
Lösungen Sudokus:
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Mittelschwer
Teuflisch schwer
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Titelbild: Peter Lauth
«Anders», sagt Laurentius Moser, Zunftmeister der Luzerner Güüggali-Zunft, sei ein wichtiges Wort, wenn es um Stadtoriginale geht. Um Menschen, die nicht recht in den Alltag passen, sondern sehr eigensinnig ihren Weg gehen. Manche leben eine Art Rolle, bringen ungefragt ihre Kommentare an und stellen die Leistungsgesellschaft durch ihre blosse Anwesenheit infrage. Sie leben ihre eigene Utopie einer anderen Gesellschaft, und sie leben sie hier und jetzt. Für die meisten von uns aber gilt: Man sehnt sich nur sporadisch nach einem anderen Leben, und die Sehnsucht ist primär gelenkt durch den Ferienkalender. Ein paar Mal im Jahr sehnt man sich also nach ein bisschen Auszeit, nach ein paar Tagen, um rauszukommen aus dem Hamsterrad, das sich im Büro ja auch mal alleine weiterdrehen kann. Es wäre doch wohl der Sinn der Ferien, denkt man sich – und DIANA FREI erst recht der Sinn eines Urlaubs in den Bergen –, dass man einmal ein bisschen über REDAKTORIN den Dingen stehen kann. Plötzlich diese Übersicht, speziell in den Alpen. Und dann steht man da, bereit zur Horizonterweiterung, und es verstellt einem ein Porsche im Glaskasten die Sicht – auf die Piste gestellt zu Werbezwecken. Oder man steht an der Bergstation so tief in den leeren Bierflaschen, dass man genauso gut am Zürcher Seebecken hätte bleiben und dort an einem Botellon hätte teilnehmen können. Solche Szenen kann man in den österreichischen Alpen erleben, der Fotograf Lois Hechenblaikner stösst mit seinen Bildern unseren Blick darauf. Aber er hat nicht nur einiges zu zeigen über Österreich, sondern auch einiges zu sagen über die Schweiz, die er «edel-mafiös» nennt. Und dann noch zu was ganz anderem: Zu Mike Müller, zusammen mit Viktor Giacobbo Sonntag für Sonntag der Lustigmacher der Nation. Wir haben mit ihm gesprochen und herausgefunden, dass er findet, Lustiges solle einfach lustig sein. Aber auch, dass er vieles macht, das einfach interessant ist. Und dass die, die ein bisschen anders sind, sich besonders gut für einen Auftritt eignen. Müllers Paraderolle, der Burri Hanspeter, ist so einer, der ein bisschen anders ist. Ein Original sozusagen. Wir wünschen viel Spass beim Lesen – und gehen Sie 2013 zufrieden auf die Piste. Diana Frei
Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@vereinsurprise.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 291/13
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BILD: ZVG
Editorial Utopia
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Irgendwann laufen sie einem überall auf der Welt über den Weg: die Stadtoriginale. Es sind Leute, die auffallen und fern des normalen Arbeitsalltags ihre eigene Mission verfolgen. Aber nur in Luzern gibt es eine Zunft, die sich um sie kümmert. Und dafür sorgt, dass jeder merkt: Die Spinner und kurligen Typen sind eine Bereicherung für die Stadt. Weil sie stören. Weil sie Dinge infrage stellen. Weil sie Utopien leben.
14 Mike Müller «Die Beliebteren sind die, die hinken» BILD: ANDREA GANZ
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Inhalt Editorial Anders sein Bastelseite Pistenputzer Brief aus Mazedonien Das Land als Jazz-Session Zugerichtet Pflichtverteidiger als Marionette Hausmitteilung Heft Nr. 300 naht Starverkäufer Elmi Abdullah Porträt Mit Reinigungsmittel gegen Körpersäfte Wörter von Pörtner Den Weltuntergang überlebt Nils Althaus Ehrliches Kabarett Kultur Soundtrack gegen die Apartheid Ausgehtipps Was die Schweiz 2012 bewegte Verkäuferporträt Das Gärtnern aufgegeben Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP
BILD: PETER LAUTH
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10 Stadtoriginale Die Selbsterfinder
Keiner ist in der Schweiz so sehr auf allen Kanälen und Bühnen präsent wie er: Mike Müller ist – unter anderem – Late-Night-Talker, Parodist, Satiriker, Kino-, Fernseh- und Theaterschauspieler. Aktuell recherchiert er für ein Theaterstück über die Armee, ist im Kino als Velokurier und im Fernsehen als Bestatter zu sehen. Kann man sich im Theater besser selbstverwirklichen als beim Film? Und was findet er, als Schweizer Satire-Instanz, lustig und was nicht? Antworten im Interview.
BILD: LOIS HECHENBLAIKNER
17 Wintertourismus Wenn die Alpen ihr Gesicht verlieren
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Der Gast ist eine Diva, der man ständig einen neuen Schnuller hinhalten muss, sagt der Fotograf Lois Hechenblaikner. Wozu das in seiner Heimat geführt hat, dokumentiert der Tiroler seit bald 30 Jahren mit der Kamera. Zu Hause sind seine Bilder unerwünscht, in Bern kann er sie nun erstmals in einem grösseren Rahmen ausstellen. Wir haben mit Hechenblaikner gesprochen, zeigen eine Serie seiner Fotos – und stellen die Frage: Was hat das mit uns zu tun?
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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM
1. Nehmen Sie eine Stopfnadel und befestigen Sie sie mit Isolierklebeband an der Spitze Ihres Skistocks, sodass die Nadel etwa 2 cm über die Spitze hinausragt.
2. Nehmen Sie ein Robidog-Säckchen und kleben dieses mit einem weiteren Stück Isolierklebeband an den anderen Skistock.
3. Üben Sie erst im Flachen und mit grösseren Abfallprodukten wie Plastiksäcken oder Werbeprospekten. Versuchen Sie dann nach und nach auch in voller Fahrt Müll aufzupicken. Könner spiessen in der Anfahrt zu einem Salto einen Zigarettenstummel auf, versorgen ihn in der Luft im Säckchen am anderen Stock und landen dann stilsicher wieder auf beiden Skis.
Basteln für eine bessere Welt «Alles fahrt Schii!» Das gilt wieder umso mehr, seit die Skis fast wie Snowboards aussehen und damit auch bei Teenagern wieder angesagt sind – bei denjenigen also, die gerne mal eine Kippe vom Sessellift schnippen oder die leere Energy-Drink-Dose in der Berglandschaft platzieren. Gut, ist man wieder mit Stöcken unterwegs! Ein paar kleine Anpassungen machen den modernen Sportsfreund vom Litterer zum Ritter – und eröffnen Möglichkeiten für völlig neuartige Tricks. SURPRISE 291/13
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Brief aus Mazedonien Balkan Beats VON AMIR ALI
Ich ging Jazz hören. Ein mazedonisches Quartett spielte Coltrane und Parker. New York der Sechziger. Der Traum, aus dem Amerika längst erwacht ist, hat sich in den tiefsten Süden Ex-Jugoslawiens verirrt. Die Sehnsucht spielte und schuf vor privilegiertem Publikum eine Illusion für einen Abend. Verloren im Schwarzen Loch Europas – vielleicht war es auch nur der günstige Whiskey –, sah ich auf der Bühne plötzlich all die Menschen, denen ich auf dem Balkan begegnet war. Bassist und Drummer spielten grundsolide und leidenschaftlich. Sie trugen das Ganze, ohne Aufheben. So wie es sein soll. Ich dachte an die füllige Margitta, die mit einer Rente von 200 Euro ihren erwachsenen Enkel durchbringt und verschmitzt gegrinst hatte: «Ich gönne mir alles, was ich brauche.» Ich dachte an Danijel, der als blutjunger Arbeiter seine Beine an die jugoslawische Eisenbahn verloren hatte. Seit 16 Jahren wartet er auf seine Operation. «Nichts geschieht ohne Grund», hatte er zwischen zwei Schnäpsen gemeint. Der Gitarrist war stark, wenn er feinfühlig spielen durfte. Das ging nur, wenn das Saxophon still blieb – also fast nie. Ich dachte an Zlavko, den Philosophen vom See. Er war einmal um die Welt gefahren und zurückgekehrt in ein Land, das nicht mehr das seine war. «Sie liebt mich», blieb er stur. «Ich trage den Ring seit zweieinhalb Jahren mit mir herum.» Ich dachte an Filip. Er liebte Fussball, bis sie ihn schmieren wollten. Jetzt ist er Magier. «Genau das», sagte er ernsthaft, als mir sein Münzentrick ein Lachen aufs Gesicht zauberte, «dieses Lachen will ich hier wieder sehen.» Der Saxophonist hinter den schwarzen Gläsern machte alles kaputt. Er war ein Plärrer, der in jede Lücke drängte. Ich dachte an jene, die ich nicht getroffen hatte, die aber allgegenwärtig waren. Die mit den Blaulichtern auf den Geländewagen und den Fantasien von Grossserbien und Grossalbanien. Die mit den gigantischen Statuen, die geschundene Völker an ihre glorreiche Vergangenheit vor 2000 Jahren erinnern. Und dabei den Traum im Keim ersticken, der hier gerade erklang. Ihr wisst, wie man spielt, dachte ich. Aber schmeisst den Plärrer aus der Band.
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Zugerichtet Geheime Vorurteile Der Dezember ist für Gerichtsberichterstatter traditionell ein geschäftiger Monat. Warum, wird wohl nie restlos geklärt sein. Wohl eine Mischung aus Schreibtischaufräumen in den Amtsstuben und dem medialen Hang, dem weihnachtlichen Popanz möglichst viele Berichte grusliger Schandtaten gegenüberzustellen. Messerstich direkt ins Herz, Folter im Drogenmilieu, Vergewaltigung am dritten Jahrestag einer Ehe. Man kriegt schon ein Durcheinander – welcher Messerstecher hat jetzt wie viele Jahre gekriegt? –, da tritt ein zutiefst angepisster, sehr rauflustiger Pflichtverteidiger auf den Plan und konkret ans Rednerpult des Zürcher Obergerichts. Und stellt einen Befangenheitsantrag, einen Generalantrag auf Befangenheit, auf Absetzung des Gerichts also. Nicht nur des anwesenden dreiköpfigen «Spruchkörpers», sondern der Zweiten Strafkammer in ihrer Gesamtheit. Schliesslich erachtet der Strafverteidiger durch sie die Verteidigungsrechte der Beschuldigten in ihrer Gesamtheit verletzt. Dass auch der übelste Geselle nach der schrecklichsten Tat in seinen Rechten verteidigt wird, gilt als heiliger Gral eines demokratischen Rechtssystems. Konkret schreibt die Schweizer Strafprozessordnung die Verteidigung zwingend vor, wenn die U-Haft länger als 10 Tage dauert und bei Delikten, die mit mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet werden können. Hat die beschuldigte Person keinen eigenen Anwalt, muss der zuständige Staatsanwalt einen Pflichtverteidiger einsetzen. Die Schnittstellen zwischen Gerichten, Staatsanwaltschaften und Anwälten scheinen schon etwas vermurkst.
Aber dass sich einer hinstellt, die verfassungsrechtliche Keule schwingt und sagt, Berufungsprozesse seien eine komplette Farce, kommt nicht jeden Tag vor. Der Pflichtverteidiger verteidigt hier nichts weniger als den Rechtsstaat. Denn was sich hier abspiele, sei «ein verfassungsrechtliches Theater». Was den Verteidiger so erzürnt, ist die Praxis der informellen Urteilsberatung am Obergericht. Da würden die Deals schon vor der Verhandlung gemacht, unter Kollegen. Man ermuntere Verteidiger, sich mit den Richtern zur vorgängigen Absprache in Verbindung zu setzen – aus Zeit- und Kostengründen. «Urteile stehen schon vor der Verhandlung mehr oder weniger fest», poltert er. Kurzum: Das Obergericht fällt keine Urteile. Es fällt Vorurteile. Geheimer als ohnehin erlaubt. «Das ist zutiefst verfassungswidrig. Eine krasse Verletzung des rechtlichen Gehörs.» Zudem verstosse es gegen den guten Geschmack, wenn die Oberrichter in den Berufungsverhandlungen demonstrative Langeweile verströmten. Manchmal frage er sich, ob man ihm überhaupt zuhöre. Wohl nicht, die Pflichtverteidiger seien anwaltliche Feigenblätter. Die man etwas plaudern lässt, bevor man das Urteil verkündet, das schon vorher so gut wie feststand. «Eine Zumutung für die Verteidigungsarbeit.» Er könne ja von nun an seine Plädoyers telefonisch halten, ätzt er und dankt für die Aufmerksamkeit. Peinliche Berührtheit macht sich während des Vortrags im Saal breit. Der Staatsanwalt bohrt in der Nase und einer der Richter nuscht aufgeregt in Gesetzbüchern rum. Dann wird die Verhandlung zur Beratung des Antrags unterbrochen. YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 291/13
Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch
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Eitel Sonnenschein herrscht bei Surprise indes nicht. Bei aller Freude an einem gut aufgestellten, von motivierten Mitarbeitenden getragenen Betrieb bleiben die Finanzen ein Thema, das uns beschäftigt. Ich bin stolz darauf, dass der Verein Surprise noch nie einen Franken von der öffentlichen Hand genommen hat. Umso schwerer fällt es mir zu verstehen, dass die Behörden einzelner Kantone unseren Verkaufenden noch immer Steine in den Weg legen. Dank unseren Bemühungen hat sich die Situation im vergangenen Jahr mancherorts verbessert, doch nach wie vor erschweren unnötige bürokratische Hürden den Heftverkauf. Hier bleibt noch einiges zu tun. Unsere Hausaufgaben haben wir gemacht: Auf organisatorischer Ebene sind wir schlanker geworden. Wir haben die historisch gewachsene Doppelstruktur mit GmbH und Verein durch einen neuen Trägerverein ersetzt. Personell haben wir im Vorstand den Migrationsrechts-Experten Alberto Achermann mit grossem Dank verabschiedet und den Juristen Matthias Oesch, ab nächstem Monat Ausserordentlichen Professor an der Uni Zürich, als neues Vorstandsmitglied begrüsst. Trotz Defizit war 2012 alles in allem ein positives Jahr. Ich danke allen, die dazu beigetragen haben, unseren Mitarbeitenden in der Geschäftsleitung und im Betrieb, speziell auch in der Redaktion, ganz besonders aber den Verkäuferinnen und Verkäufern auf der Strasse, die unser Aushängeschild und unser
Stolz sind. Beim Vorstandsteam bedanke ich mich für die engagierte Zusammenarbeit. Speziell gilt unser Dank den Sponsoren, Spendern und Magazinkunden. Die Solidarität, die wir immer wieder erfahren dürfen, wird auch im neuen Jahr unser Ansporn sein. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute im neuen Jahr. Peter Aebersold, Präsident des Trägervereins Suprise
BILD: ZVG
Geht es Ihnen auch so? Für mich ist der Spätherbst eine Fahrt in einen düsteren Tunnel. Die Tage werden immer kürzer, Dunkelheit breitet sich aus. Und dann kommt am 21. Dezember die (Sonn-)Wende. Die Nächte sind zwar immer noch lang, aber das Licht nimmt wieder zu, es geht in die andere Richtung, und damit erwacht das Leben neu. So ähnlich läuft’s auch bei Surprise. Wir haben harte Zeiten hinter uns, doch nun beginnen wir das neue Jahr mit Zuversicht. Mitte Mai erscheint die 300. Ausgabe unseres Magazins, und dieses Jubiläum werden wir gebührend feiern. Bereits im April werden wir ein neues Projekt starten. Wir stecken derzeit mitten in der Planung, darum lassen wir die Katze noch nicht aus dem Sack. So viel sei aber verraten: Das neue Projekt führt Surprise zurück zu seinen Wurzeln. Ebenfalls auf der Strasse spielten sich zwei Projekte des vergangenen Jahres ab. Beim Surprise Charity Run rannten Verkaufende, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Sympathisanten an den Stadtläufen in Basel, Luzern und Zürich mit. Das brachte uns Spenden und auch mediale Aufmerksamkeit ein, vor allem aber konnten einige unserer Verkäufer ihre Freude am Laufen ausleben. Nicht dem Sport, dafür der Musik frönt unsere Gesangstruppe. Der Surprise Strassenchor absolvierte 2012 mehr Auftritte denn je zuvor und verbreitete sowohl bei Indoor-Veranstaltungen wie auch unter freiem Himmel gute Stimmung.
BILD: ZVG
Hausmitteilung Dem Jubiläum entgegen
Starverkäufer Elmi Abdullahi Franziska Di Giorgio aus Riehen nominiert Elmi Abdullahi als Starverkäufer: «Wenn ich in die Migros Riehen-Dorf einkaufen gehe und Elmi ist nicht da, dann fehlt schon fast etwas. Anfangs habe ich ihm nur das Heft abgekauft, doch mit der Zeit habe ich gemerkt, dass er viel besser Deutsch spricht, als ich dachte. Er erzählte mir, dass er regelmässig Deutschkurse besuche. Bei jeder Begegnung erkundigt er sich, wie es meiner Familie, den Kindern gehe, und ich freue mich, ein wenig mit ihm zu plaudern. Ich wünsche Elmi Abdullahi alles Gute für sein Leben!»
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Porträt Der Tatortreiniger Achtung: nur für starke Nerven. Sascha Torriani befreit Wohnungen von Leichen und Leichenteilen. Dies ist nicht nur ein belastender, sondern auch ein hochgefährlicher Job. VON OLIVIER JOLIAT (TEXT) UND LUCIAN HUNZIKER (BILD)
würgen! Aber das ist halt eine natürliche Schutzfunktion des Körpers vor den Gefahren.» Seit 2005 leitet Torriani die professionelle Tatortreinigung, eine Spezialabteilung im Putzinstitut seines Vaters. Der Job ist für ihn «mehr Berufung als Beruf», obwohl er sich anfangs sträubte, im Betrieb des Vaters zu arbeiten: «Ich wollte doch nicht putzen gehen, ich habe mich fast dafür geschämt!» Der gelernte Unterhaltungselektronik-Verkäufer suchte nach «etwas mit mehr Action» als im Laden und heuerte für vier Jahre beim Personenschutz einer Sicherheitsfirma an. Als ein Arbeitskollege bei einem Einsatz ums Leben kam, wollte er sich umorientieren. So landete er doch noch im Familienbetrieb – und zwar ganz unten. «Ich dachte, ich kann da ein bisschen Chef sein, aber mein Vater lehrte mich: Wenn du etwas willst, muss du erst was leisten!» Torriani Junior begann
«Blut ist immer verschmiert und meist liegen Gewebe- oder Knochenstücke drin. Schöne Lachen gibt es nur im Film», erklärt der 34-jährige Sascha Torriani die Realität eines Tatortreinigers. Seine Firma wird gerufen, wenn nach einem Todesfall gereinigt werden muss. Das geschieht nicht zwingend aufgrund eines Mordes oder einer Selbsttötung: «Auch bei einem natürlichen Tod zersetzt sich der Körper je nach Umstand schon nach wenigen Stunden. Leichenflüssigkeit läuft aus und durchdringt Bett, Teppich – sogar den Beton», erläutert Torriani und wischt mit dem Handrücken Gipfeli-Krümel vom Tisch. Seine Ausführungen wirken in der guten Stube einer Basler Quartierbäckerei surreal. Genau darum trifft sich hier jeden Morgen sein Team. «Es ist wichtig, dass wir ausserhalb des «Bei Suiziden wird uns oft die Frage nach Gott gestellt. Ich biete Geschäfts in entspannter Atmosphäre besprechen, wie der letzte Einsatz ablief und was den Angehörigen an, dass sie mich jederzeit anrufen können.» man verbessern kann. Es ist auch ein Mitarbeitercheck, bei welchem ich erkenne, wie es meinen Leuten geht. Man sich für komplizierte Spezialreinigungen zu interessieren. Eine TV-Redarf, ja muss hier Schwäche zeigen. Wir bewegen uns ja oft in Situatioportage über einen Tatortreiniger in New York brachte ihn dann auf die nen, die keiner verstehen kann.» Idee, so etwas in der Schweiz zu machen. Der ehemalige Personenschützer stuft das Sicherheitsrisiko eines TatDas Know-how musste sich Torriani selbst aneignen. Tatortreiniger ortreinigers als hoch ein – nicht nur psychisch, vor allem physisch. ist in der Schweiz kein geschützter Beruf. Jeder kann diese Dienste anSchliesslich weiss Torriani nie, was die genauen Todesumstände waren. bieten, zu welchen Konditionen auch immer. Das bringt den freundDie Staatsanwaltschaft hält Informationen aufgrund laufender Verfahlichen Torriani auf die Palme: «Konkurrenz ist voll okay – mein Team ren oder des Persönlichkeitsschutzes zurück. Darum betritt Torriani den kann ja nicht mal Basel abdecken –, aber dann bitte richtig qualifizierEinsatzort nur in voller Schutzmontur und testet mit seinem mobilen te!» Denn eine unsachgemässe Reinigung gefährde das Putzpersonal Labor, welche Keime, Pilze und sonstige Erreger sich seit Todeseintritt und alle, die den Raum danach betreten. Auch zahlen die Auftraggeber, gebildet haben. Besonders gross ist die Gefahr durch Krankheitserreger, oft Angehörige der verstorbenen Person, mangels gesetzlicher Richtliwie etwa Tuberkulose. Und davon hat es viele. Mit dem Mensch stirbt nien teils horrende Tarife. «Klebt Hirn an der Decke, zahlt man jedes auch sein Immunsystem. Fremde Erreger haben den perfekten NährboGeld für die Entsorgung», enerviert sich Torriani. Er ist daran, mit anden, um sich explosionsartig zu vermehren, was in geschlossenen Räuderen verantwortungsbewussten Berufskollegen den Verband Schweimen eine höchst infektiöse Atmosphäre schafft. zerischer Tatortreiniger zu gründen. Ist die Lage analysiert und sind die entsprechenden Chemikalien und Nebst handwerklichem Know-how und Tarif-Richtlinien ist auch eiMaschinen gerichtet, wird im Fünferteam gereinigt: Zwei Frontcleaner, ne psychologische Schulung nötig, für den eigenen Umgang mit den Erein Butler und ein Controller sind im Raum. Draussen wacht der Erlebnissen wie für den Umgang mit Angehörigen der Verstorbenen. Oft satzmann, dass keiner stört. Der Butler bringt Material von der Front sind die ja auch am Einsatzort. Der Tatortreiniger ist dann die erste, nach hinten oder versorgt die Front mit neuen Gerätschaften. Alle drei manchmal auch die einzige Anlaufstelle für Fragen. «Gerade bei SuiziMinuten gibt es einen Sicherheitscheck. Denn wenn auch die Hände mit den wird uns oft die Frage nach Gott gestellt. Ich versuche, religionsLatex-, Vinyl- und Nitril-Handschuhen dreifach geschützt sind, können neutral zu antworten und biete den Leuten an, dass sie mich jederzeit scharfe Gegenstände wie zerbrochenes Glas oder spitze Nadeln die anrufen können, auch um zwei Uhr nachts.» Schutzausrüstung doch zerstören. Oder Flüssigkeit läuft in den Kragen Aber Berufung und Leidenschaft hin oder her: Irgendwann muss oder den Übergang von Schutzanzug und Maske. Im Schweiss des Ovedoch auch der Tatortreiniger abschalten? «Am besten geht das in der Baralls und mit beschlagenem Visier bemerkt dies der Frontcleaner kaum. dewanne. Leider musste ich kürzlich ein Badezimmer reinigen, wo sich Dafür ist der Controller zuständig. Trotz rigorosen Schutzmassnahmen einer in der Wanne die Kehle aufgeschlitzt hatte. Abends holten mich gab es auch in Torrianis Team schon Unfälle: «Den betroffenen Körperdie Bilder der verwischten Fussspuren in der Wanne ein.» Ganz abteil steckt man sofort in hochdosiertes Jod. Danach beginnt das monaschalten könne er mit seiner zukünftigen Frau beim Westernreiten in telange Bangen, bis die letzten Testergebnisse vorliegen.» Eine Pilzinder unberührten Natur rund um Scuol. Seine Partnerin ist selber Frontfektion im Rachenraum war bislang sein übelstes Erlebnis. Zur Sichercleanerin in seinem Team: «Gerade in schwierigen Situationen, wie wir heit muss jeder Mitarbeiter alle drei Monate einen medizinischen Genesie antreffen, ist absolutes Vertrauen und Geborgenheit wichtig.» Aber ralcheck machen. Gar keinen Schutz gibt es jedoch vor dem Leichennun ist sie schwanger und hat aufgehört. Der Stress und vor allem das gestank, dem sogenannten Kadaverin. Torriani: «Da geh ich noch heute gesundheitliche Risiko sind definitiv zu hoch. ■
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Stadtoriginale Am anständigen Rand Die Güüggali-Zunft kümmert sich um Luzerns Stadtoriginale. Anfang Dezember lud sie sie zur Weihnachtsfeier ein: eine Gelegenheit für Gespräche mit einem Schwanenvater, einem Glücksbringer und einem ehemaligen Bettler. Was dabei herauskam, ist Philosophie am Rande der Gesellschaft.
VON DIANA FREI (TEXT) UND PETER LAUTH (BILDER)
Wenn Hans Sommerhalder voll kostümiert in den Zug einsteigt, schauen die Leute hin, erst recht, wenn er «De Samichlaus, de Samichlaus!» ruft, während er durch die Wagen geht. Er ist zwar nicht der Samichlaus, aber immerhin doch auch eine Figur von symbolischem Charakter, ein Kaminfeger nämlich. Er sieht mit seinem altmodischen Zylinder, den Putzbesen und der Leiter, die er mit sich herumträgt, aus wie die Verzierung auf einem Silvestercake mit Buttercremefüllung. Und er verteilt Einräppler, Glücksbringer: «Die Leute, die mich kennen, wissen es und haben Freude, besonders die Kinder. Wenn sie mich sehen, strecken sie schon die Hände aus.» Sommerhalder arbeitet wirklich als Kaminfeger, er wohnt in Geiss bei Menznau LU und ist bei einer Firma in Volketswil angestellt, er ist oft im Zug unterwegs. An Weihnachten und Silvester trägt er das traditionelle Kostüm, und an Hochzeiten steht er Spalier. Er kommt gar nicht auf die Idee, Rolle und Beruf zu trennen, es war halt schon immer so. Seit 1978 ist er Gast der Güüggali-Zunft. Sie kümmert sich um die Luzerner Stadtoriginale, lädt sie zum Sommerausflug ein und an die LUGA, die Zentralschweizer Erlebnismesse. Ihr Anliegen ist, dass Originale in der Öffentlichkeit akzeptiert werden; aufgenommen werden Leute, die aus dem Rahmen fallen, die das Stadtbild prägen. «Den Schwanevater kenne ich gut», sagt der Chömifäger, «er gibt immer Federn, zum Schreiben. Mir hat er auch welche geschenkt.» Der Chömifäger, der Schwanevater, Hau den Lukas, sie sind alle zur Weihnachtsfeier der Güüggali-Zunft auf der Bocciabahn des Vereins Pro Ticino auf der Luzerner Allmend gekommen, im engen Beizli geht es hoch her, es wird gehandorgelt, gejauchzt, getanzt. Friedel Emmenegger, genannt Päuli, legt sich ins Zeug und schlägt den Takt mit seinen Löffeln, er nimmt sich den ganzen Raum, für sich und seine Perkussion. Die 84-jährige Blanca Kammermann, die sich ein Leben lang um etliche Stadtoriginale gekümmert und sie gepflegt hat, bahnt sich entschlossen ihren Weg durch die Leute, um mit ihm zu tanzen, auch wenn er sie manchmal so wild herumschwingt, dass er sie schier wieder auffangen muss, damit sie nicht hinfällt. Duzis mit dem Stadtpräsidenten «Der Schwanevater holt im Winter die Schwäne ins Winterquartier», sagt der Chömifäger. «Ich muss sie nicht holen, die kommen!«, korrigiert der Schwanevater. «Wenn einer nestet, bringe ich Stroh mit, und sobald der Junge hat, kommen sie mir nach, die Cheibe, aber das macht mir nichts. Kürzlich kam einer mit mir über die Strasse bis in den Coop. Dann habe ich mit dem Strasseninspektorat Theater, wenn die zur Strasse hoch kommen.» Er besucht die Schwäne jeden Tag, sie warten am SURPRISE 291/13
Morgen schon auf ihn, dann gibt er ihnen zu fressen, und für die Videoaufnahmen der Touristen muss er sie ab und zu in kameragerechte Position bringen: «Die Japaner, die spinnen auf Schwäne.» Im Januar wird der Schwanevater 74, früher war er Mechaniker und als Maschinist viereinhalb Jahre auf See. «Da war ich immer unterwegs. Wo? Ich würde sagen: Wo nicht? Der Kapitän Müller sagte jeweils: ‹Bleiben wir auf unserer Erde, die Welt ist was anderes.› » Nachher war er bei der Schifffahrtsgesellschaft Vierwaldstättersee, und so hat sich das ergeben mit den Schwänen. «Würden Sie sich selber als Original bezeichnen?» «Ja.» «Finden Sie es wichtig, dass es solche Leute gibt in der Stadt?» «Ja.» «Wieso?» «Originale sind glatti Cheibe. Nicht so sturi Sieche, die in der Beiz hocken und saufen und fernsehen. Wir passen nicht so recht in diese Gesellschaft, wir sind – wie soll ich sagen – komische Typen. Ein Original ist man, wenn man das macht, was einem gefällt. Auch wenn es den Leuten nicht passt. Ich werde oft angefahren, man dürfe die Schwäne
«Vielleicht wollen nicht alle zu uns gehören. Die würden sich an den Rand gestellt fühlen. Zu de Halbtuble.» Schwanevater
nicht füttern. Da sage ich: Dumm schnörre dörf me au niid! Huere Saucheibe.» Der Schwanevater ist Steinbock, der kann auch austeilen, die Polizisten haben schon von Beamtenbeleidigung gesprochen. Aber der Schwanevater zu sein, das gefällt ihm. Es gibt auch viele Prominente, die finden, es sei wichtig, dass es Originale gebe in der Stadt. Jedes Jahr ist eine bekannte Persönlichkeit bei der Weihnachtsfeier dabei, Marianne Kaltenbach war einmal da und Hazy Osterwald, und immer mal wieder Politiker. «Auch den Stadtpräsidenten habe ich kennengelernt», sagt der Schwanevater, «da hat der zu mir gesagt: Ich bin der Stefan. Bei diesen Leuten werden wir anerkannt.» Aber eben, es gibt nicht mehr so viele Stadtoriginale, «und vielleicht», meint der Schwanevater, «wollen ein paar auch nicht zu uns gehören. Die würden sich an den Rand gestellt fühlen. Zu den Halbtuble.» Auf dem Platz des Hofnarren Die Grenze zwischen Spinner und Strassenphilosoph ist nicht leicht zu ziehen, entscheidend ist der Blick des Betrachters. An Emil Manser, den legendären Selbsterfinder mit Hauptquartier vor der Luzerner Kantonalbank, erinnern sich viele – an den Adventskranz mit den brennen-
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Lebte als Bettler in Paris: Angelo Bühler.
Früher pflegte sie Stadtoriginale, jetzt tanzt sie mit «Päuli»: Blanca Kammermann.
von ihrem Wesen her eine ständige Performance, wie man sie sonst ab den Kerzen, den er auf dem Kopf trug, oder an die Plakate, mit denen er und zu an einer Kunstmesse antrifft. Weil sie Grenzen überschreiten als Sandwichmann herumlief, geschminkt wie Charlie Chaplin. Es waund sie damit erst bewusst machen. Weil sie Wahrheiten offenlegen. ren Plakate mit Sprüchen drauf. In den öffentlichen Raum gestellte GeOriginale leben einen anderen Weg oder sogar eine Utopie vor. Sie lasdanken, ein bisschen wie die Aphorismen der amerikanischen Konzeptsen sich nicht in den durchorganisierten Alltag einbinden, sondern setkünstlerin Jenny Holzer, aber Manser bemühte dazu noch eine eigene zen sich auf den Platz des Hofnarren und halten dem Rest der Welt den Rechtschreibung, als Irritation obendrauf: «… Glükk (Für Sie) – Bettle Spiegel vor. heute zum halben Breis.» Manche Leute schmunzelten und liessen sich zum einen oder anderen ungewohnten Gedanken hinreissen. Andere Des Bettlers Basisphilosophie schüttelten den Kopf. 2004 hat er sich umgebracht, ist in die Reuss geAngelo Bühler, lange Jahre schon Gast der Güüggali-Zunft, ist Gegangen. «Abkürzung in den Himmel», schrieb er auf sein letztes Plakat. sellschaftstheoretiker. Aber auch Praktiker, Spezialist für das Leben an Viele markante Figuren sind in den letzten Jahren kurz nacheinander sich. Früher als Bettler, heute als IV-Bezüger, der sich mit Kartenlegen gestorben. Vergangenen August auch «Radio Müsli», der mit einem Kasund anderen Formen der Lebensberatung beschäftigt. In den Siebzigersettengerät im Kinderwagen durch Luzerns Strassen zog, selbst gemachte Radioreportagen auf Kassettli und ab und zu auch Schöggeli verkaufte. Stadtorigina«Der Bettler hat einen sehr grossen Auftrag zu erfüllen. Er le sind durch ihre blosse Anwesenheit ein Gegibt den anderen Menschen die Wichtigkeit, von sich etwas sellschaftskommentar. Einige sind Sozialhilfegeben zu dürfen.» empfänger, haben psychische Probleme. Aber Laurentius Moser, Zunftmeister der Güüggalijahren lebte er an der Gare de l’Est in Paris, er hatte einen Schlafsack daZunft findet: «Die Welt wäre ärmer ohne sie. Sie sind eine Belebung von bei und sonst nichts. Er führte ein Leben, das sich nur ums Existenzielunserem 08/15-Denken. Indem sie komplett gegen gewisse Normen verle drehte: Essen, Übernachten, Kleider. stossen, stellen sie Dinge infrage.» Heute sagt der ehemalige Bettler von der Gare de l’Est: «Ein Original In Zürich gab es im Tram die «Fründlichkeitskontrolle» von Daniel ist ein Mensch, der den Mut hat zu lernen. Nicht universitär, sondern Derungs, die die meisten Leute peinlich berührte. In Biel gibt es Parzidurch die Schule des Lebens. Es sind enorme Lebenskämpfe, existenval, den ökologischen Weltverbesserer im Kleinen, der für sich allein in zielle Überlebenskämpfe, die den Menschen so weit bringen, dass er das der «petrolfreien Zukunft» lebt. Und in Aarau war es Nelly Kunz, die alGanze infrage stellt und das Dasein an sich versteht.» Angelo Bühler mit les hamsterte, was gratis war und sich ohne Zögern auch an das Abdem lustigen Hut doziert wie ein Uniprofessor, freundlich, geduldig und dankungsessen von Annemarie Blanc im Dolder einlud. Originale sind
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Rolle und Beruf zu trennen, kommt ihm gar nicht in den Sinn: Der Chömifäger mit Siegrid Blöchlinger, die eine starke soziale Ader hat und auch an keinem Anlass fehlt.
zu geben. Das ist ein universales Gesetz: Nehmen und Geben muss sich logisch aufbauend. Ab und zu macht er mitten im Satz eine kurze Pauin dieser Symbiose treffen und auch als solche gesehen werden.» se, damit man mitschreiben kann, fährt dann höflich weiter, fragt zwischendurch: «Versteht man es?», und fügt freundlich hinzu: «Das ist Vom Schicksal zur Legende Basisphilosophie. Es geht um die Erfahrung, dass man ein Glied ist in Es gibt Leute, die sagen, die Stadtoriginale würden aussterben, weil dem Ganzen, das sich Gesellschaft nennt.» sie keinen Platz mehr hätten, sich zu entfalten. Weil sie keine Handlan«Aber gerade Originale leben doch am Rand der Gesellschaft?» gerjobs mehr bekommen, mit denen sich auch diejenigen durchschla«Dieser Rand ist ein anständiger Rand, eine anständige Lebensform. Ohne Rand kein Zentrum. Eine komplette Gesellschaft muss als ganzer Körper gesehen «Ein Original ist ein Mensch, der den Mut hat zu lernen. Nicht werden und nicht nur als Kopf. Die Originale universitär, sondern durch die Schule des Lebens.» sind eine Anregung, dass sich die Gesellschaft als Ganzes sehen muss, wenn sie in einer hugen können, die nie recht auf ein gesellschaftlich akzeptiertes Gleis einmanen, philanthropen Form weiterexistieren will. Sonst verliert sie alle gespurt sind. Keine billigen Wohnungen, in denen sie selbstbestimmt leOrgane, die diesen Körper bewegen.» ben können. Keine kleinen Beizen mehr, in denen man sich nicht dran Bühler wirkt zufrieden mit sich und der Welt, aber im normalen Bestört, wenn ab und zu ein «komischer Typ» auftaucht. Die Welt für Aufrufsleben hätte er keine Chance gehabt: wegen psychischen Faktoren, fällige wird kleiner. Depressionen, Psychosen, Schizophrenie. Als Kind ging er den Weg vom Gleichzeitig faszinieren die Selbsterfinder, die Utopisten und Spinner. Heim zur Fremdplatzierung und wieder ins Heim. Er war es sich von Es sind Lebensläufe, die im Laufe der Zeit zu Legenden werden, zu FiAnfang an gewohnt, am Rand zu stehen und die Dinge von da aus zu guren wie der eines Diogenes in der Tonne oder eines Till Eulenspiegel. betrachten. Er hat das Dasein verstanden, so wie man es nur verstehen Über Emil Manser ist postum ein Buch erschienen, das längst vergriffen kann, wenn man nichts mehr hat ausser das Leben an sich. Angelo Bühist, und sogar der Schwanevater trägt ein Gedicht bei sich, das ihm jeler sagt: «Das Leben hat mich genötigt, über den Tellerrand hinauszumand widmete. Das Berner Stadtoriginal Dällebach Kari hat es zweifach schauen.» Verbittert ist er nicht. Es ist gut so, er ist Teil des Körpers. auf die Kinoleinwand geschafft und von da sogar auf die Musicalbühne. «Ist auch ein Bettler wichtig für die Gesellschaft?» Plötzlich ist er mittendrin angekommen, der anständige Rand, und die «Der Bettler hat einen sehr grossen Auftrag zu erfüllen. Er gibt dem Leute bezahlen Eintritt. Die Schicksale werden zu Geschichten, zum anderen Menschen die Wichtigkeit, von sich etwas geben zu dürfen.» Stoff, aus dem die Träume sind. Und gleichzeitig verschwinden die ge«Und Nehmen ist nicht weniger edel als Geben?» lebten Utopien ganz leise aus dem Strassenbild. «Es ist fast edler, weil der andere erst so die Möglichkeit hat, etwas ■ SURPRISE 291/13
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Mike Müller «Jeder hat das Recht, dranzukommen.» Der 49-jährige Mike Müller ist seit Jahren inoffizieller Chefsatiriker der Schweiz an der Seite von Victor Giacobbo – und auch als Schauspieler dauerpräsent in Kino, Fernsehen und im Theater. Im Interview erklärt er, warum Schauspielerei vielleicht doch kein Beruf für erwachsene Menschen ist, was an Randfiguren so lustig ist und warum er Respekt vor Politikern hat.
VON FLORIAN BLUMER UND DIANA FREI (INTERVIEW) UND ANDREA GANZ (BILD)
Mike Müller, aktuell spielen Sie im Kino in «Dead Fucking Last» einen Velokurier, im Fernsehen die Hauptrolle in der neuen SRFKrimireihe «Der Bestatter», im März treten Sie mit Ihrem Stück «Truppenbesuch» auf der Bühne des Zürcher Neumarkttheaters auf. Dazu sind Sie Sonntag für Sonntag als Late-Night-Talker in «Giacobbo/Müller» zu sehen – gibt es einen roten Faden in all Ihren Engagements? Nein. Late Night Show, Kinofilm, Serie, Bühne, das sind völlig verschiedenartige Projekte – und das gefällt mir. Der rote Faden ist eher ein Kreuzstich.
Wie ist das in Ihrer Rolle als Bestatter? Bei einer Serie wie dem «Bestatter» ist die Abmachung wieder eine andere. Die Serie läuft am Dienstagabend, zwanzig Uhr nullnull, Prime Time. Da hat man also ganz viele Zuschauer, die seit Jahren Krimi schauen, ein Spezialistenpublikum. Die Autoren wissen: Da können wir jetzt keinen Scheiss bauen. Man muss sich immer überlegen, in welcher Abmachung man ist, und wissen: Wo kann ich mehr «jogglen», wo weniger? Stimmt der Eindruck, dass Ihre Engagements im Film eher eine Art Pflichtprogramm sind und das Theater der Ort, wo Sie sich verwirklichen können? Dass man sich im Theater verwirklichen kann, ist ein Mythos. Es kommt sehr darauf an, welche Position man hat – auch das Theater hat Produktions- und Budgetzwänge.
Machen die lustigen Rollen mehr Spass als die ernsten? Wenn Sie so fragen: Ja. Sie machen natürlich Spass, unmittelbar. Die Aber in den Dokumentar-Theaterstücken «Elternabend» und Frage ist: Muss immer alles Spass machen? Es gibt auch Dinge, die ein«Truppenbesuch» haben Sie die Themen – Migration und Armee – fach interessant sind. Natürlich, es macht das Leben ein klein wenig doch selbst gewählt? leichter, wenn etwas Spass macht. Aber ich muss es nicht immer lustig haben. Als Komiker muss man auch aufpassen. Es gibt das wunderbare Wort von David «Muss immer alles Spass machen? Es gibt auch Dinge, die Nichols aus dem Buch «Ein Tag für zwei»: Es einfach interessant sind.» kommt darin eine Frau vor, die ihren Freund, einen schlechten Stand-up-Comedian, nicht Ja. Ich würde einfach weniger von Selbstverwirklichung als von mehr aushält, weil er bei ihr einen «Tinnitus der Heiterkeit» auslöst. Das Selbstverantwortung sprechen. Ich bin heute 49 – ein Alter, in dem man ist das Syndrom Privatradio am Morgen, «Hoi mitenand!» (schneidet das Gefühl hat: Ich will auch mal meine Themen durchdrücken. Grimassen). Das hält man ja nicht aus. Und das ist auch bei einem Komiker so, der immer lustig ist. Was interessiert Sie denn an der Armee? Die Armee ist sehr viel in den Medien und Teil fast jeder Schweizer Brauchen Sie die ernsten Rollen also als Ausgleich zu Ihren AufFamilie. Trotzdem betrifft das Thema 50 Prozent der Bevölkerung, die tritten als Komiker? Frauen, nicht direkt. Dazu sind viele Leute ausgeschlossen, weil sie keiNein. Beim Spielen sehe ich keinen grossen Unterschied. Schauspiel nen Schweizer Pass haben. Also: Was ist das Militär? Ist es wirklich ein dreht sich immer um eine bestimmte Abmachung: Im Theater hat man identitätsstiftender Teil dieses Landes? Oder ist das ein Mythos? Und wir einen Bühnenraum und einen Zuschauerraum. Hier kommen Menschen wollen wissen: Wie geht es dort zu und her, was sind das für Leute? hinein, zahlen, werden zu Zuschauern, dort kommen Menschen hinein, Dann machen wir einen historischen Bogen auf, wir überlegen uns: Was bekommen Geld, werden zu Schauspielern. Nach spätestens 2 Stunden ist passiert 1989/90/91, als einerseits die Berliner Mauer fiel, anderer50 ist die Chose gelaufen. Es gibt aber diese Momente, in denen einem seits die Schweiz von der Fichenaffäre, vom Kulturboykott und von der auffällt, dass es ein etwas seltsamer Beruf ist. GSoA-Initiative geschüttelt wurde? Die Armee wurde enorm modernisiert seither. Was hat das verändert? Zum Beispiel? Zum Beispiel als ich am Schauspielhaus Zürich mit Gottfried BreitDas klingt nach einer sehr ernsten Auseinandersetzung mit dem fuss spielte, ich im goldenen Dirndl als Frau, er mit Pluderhosen. Wir Thema. Sie spielten ja seinerzeit in der Armee-Komödie «Achsind durch eine Falltür hochgekommen und haben uns dort geküsst. Da tung, fertig, Charlie!» – die Armee hat doch auch komisches Pomeinte Gottfried jeweils: Das ist kein Beruf für erwachsene Menschen, tenzial? ne? Nein, antwortete ich. Solche Momente hatte ich auch mit Viktor Komisches Potenzial interessiert mich bei der Recherche überhaupt (Giacobbo), als wir im Casinotheater Winterthur zusammen spielten: nicht – das heisst nicht, dass es nicht lustig werden kann! Aber bei der Wir sind befreundet, «bäggen» uns aber allabendlich an auf der Bühne – Armee Interviews zu machen, um herauszufinden, was alles lächerlich ist ja schon etwas komisch. Aber das ist die Abmachung.
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ist an autoritären Führungsstrukturen, das hat mich nicht interessiert. Ich glaube auch nicht, dass ich das irgendjemandem erklären muss. Ich bin aber überzeugt, dass lustiges Zeug zum Vorschein kommt. Komik kann eben auch im Unerwarteten liegen.
sicher nicht Unterhaltung. Dann unterhält sich nur der auf der Bühne – und bekommt auch noch Geld dafür. Dennoch: Sie haben eine klare politische Haltung. Das war zum Beispiel im «Club» zum Thema Mohammed-Video zu sehen, wo sie sehr pointiert gegen die Aussagen des SVP-Vertreters Stellung genommen haben … … ja, vielleicht zu pointiert. Sicher zu emotional.
Gewollt ist das Komische hingegen bei den Sketches, die Sie zusammen mit Viktor Giacobbo drehen. Und dort tritt eine ganze Reihe von Randfiguren und geistig Minderbemittelten auf: Hanspeter Burri mit seinem Sprachfehler, Fredi Hinz, der Junkie, die Ihre Aussagen sind nicht gut angekommen? aufgetakelte Debi Mötteli, der Albaner Mergim Muzzafer … eigEs ist klar, wer sich angegriffen gefühlt hat. Für die islamophoben und nen sich solche Figuren besonders gut für Komik? fremdenfeindlichen Kreise ist der Islam etwas Böses. Da sehe ich sehr Spezielle Charaktere sind in der Komik immer gut, man muss die Fiviele Stereotypen: Früher waren es einmal die Italiener, dann meinte man guren zuspitzen. Aber geistig minderbemittelt ist wahrscheinlich niemand ausser Frau Grütter, der bösen alten Frau. Fredi ist nicht ganz so unschlau, Burri «Sich über Opfer oder Minderheiten lustig zu machen, ist tritt halt nicht so gerne vor Leuten auf, auch schäbig. Leute mit Migrationshintergrund würde ich aber nicht Mergim ist nicht dumm. Er ist handgeschnitzt, mehr unbedingt als Minderheit bezeichnen.» klar, kein Gewinner. Aber ich muss sagen: Er ist nicht kriminell, er ist kein Betrüger. Er ist lange, es kämen die Schwarzen dran, nun sind es die Muslime. Es ist ein manchmal ein bisschen ein Rassist, aber das finde ich lustig (lacht). Wir bisschen eine Modefrage. Chauvinismus ist leider eine dauernde Mospielen ja auch Banker, arrogante Schnösel. Aber klar: Die Beliebteren deerscheinung, die sich ihr Subjekt immer wieder neu sucht. Unsere Sensind die, die hinken. dung ist aber nicht dazu da, dass wir am Sonntagabend unsere privaten Botschaften platzieren. Dafür halte ich mich auch für zu wenig wichtig. Satire zielt ja üblicherweise auf die Starken und die Mächtigen. Dennoch muss man eine Haltung haben, wenn man so etwas macht, und Ist es überhaupt legitim, sich über die sozial Schwachen lustig zu die dringt halt manchmal durch. Wichtig ist, dass man dies nicht in eimachen? nem anwaltschaftlichen Sinn macht. Die nationalkonservative Seite will Erst einmal: Jeder hat das Recht, dranzukommen. Aber es stimmt: nur, dass man gegen die linke Seite schiesst, links aussen gibt es wiedeSich über Opfer oder Minderheiten lustig zu machen, ist schäbig. Leute rum die grossen Moralisierer, die einem Vorhaltungen machen, wenn Tomit Migrationshintergrund bei uns würde ich aber nicht mehr unbedingt ni Brunner in der Sendung war und dort gut rauskam. Wir sind gegen als Minderheit bezeichnen. Diese bewusst auszulassen, ginge in eine beide Seiten relativ immun – wenn nicht sarkastisch. Political Correctness hinein. Sie müssen in der Satire Grenzen ausloten … … ausloten klingt mir zu mechanisch. Man spielt damit. Wie schätzen Sie von vornherein ab, wo diese Grenzen liegen? Das ist sehr einfach. Ich gebe eine unglaublich egoistische Antwort: Die Grenze ist der eigene Geschmack – ist etwas lustig oder nicht. Es gibt viele Themen, die einfach nicht lustig sind. Zum Beispiel das Behindertenheim in Deutschland, das gebrannt hat, 13 Tote. Da fällt einem einfach nichts Lustiges ein, oder? Das sind Opfer. Komik ist eigentlich immer das, was letztlich nicht scheitert. Es gelingt nicht ganz, aber es scheitert nicht. Scheitern ist Tragik. Dann gibt es viele Themen, aus der Wirtschaft zum Beispiel, die sich für die Sendung nicht eignen, weil sie zu sperrig sind, zu technisch. Denn wir sind kein politisches Magazin, wir sind eine Unterhaltungssendung. Ist Satire nicht immer auch politisch? Steckt da nicht auch ein gewisses Sendungsbewusstsein dahinter? Das ist kein Widerspruch. Aber Satire ist prinzipiell einmal Unterhaltung. Und darunter kann man sehr vieles subsumieren: Unterhaltung geht von den Teletubbies bis zu gewissen Leuten, die sich vor dem Einschlafen mit philosophischen Klassikern unterhalten. Das würde ich jetzt allerdings nicht tun (lacht). Wie ist das bei «Giacobbo/Müller»? Haben Sie den Anspruch, die Zuschauer zum Denken anzuregen? Nicht immer. Es gibt Leute, die wollen nur politische Satire, die machen wir vermutlich nicht so glücklich. Und es gibt Leute, die finden politische Witze langweilig, die schauen unsere Sendung wahrscheinlich auch nicht. Wir machen einfach das, was wir können. Wenn aber jemand das Gefühl hat, er müsse in einem Programm Wahrheiten loswerden, die die dummen Leute noch nicht begriffen haben, dann ist das
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Wer versteht mehr Spass, die Linken oder die Rechten? Konservative Politiker sind oft härter im Nehmen, sie moralisieren weniger. Ich spreche aber von Tendenzen. Es gibt auch auf der linken Seite sehr lustige Leute mit viel Selbstironie. Den Hang zum Moralisieren finde ich jedoch immer gefährlich in der Politik – weil Politik nicht so viel mit Moral zu tun hat. Ich sage jetzt aber nicht, Politik ist ein Drecksgeschäft! Wir machen übrigens auch nie Witze über die Politiker an sich. Nicht lustig? Nein. Zu simpel: «Politiker sind faul, korrupt …» Ich habe ein anderes Bild. Ich konnte unterdessen mit einigen Parlamentariern essen nach der Sendung, nicht nur mit Linken. Ich habe teils ziemlichen Respekt vor dem Engagement dieser Leute. Klar, es hat den einen oder anderen darunter, der etwas Geltungsdrang hat. Aber sorry … (lacht), das gehört auch ein bisschen dazu. ■ «Mike Müller ist Schauspieler», heisst es im ersten Satz kurz und deutlich auf seiner Website. Doch bekannt ist der 49-jährige Oltener, der heute in Zürich lebt, den meisten Schweizern als Late-Night-Talker in der SRF-Sendung «Giacobbo/Müller» und in seiner Paraderolle als «Burri Hanspeter», der mit Topffrisur und Sprachfehler so unbeholfen wie treffsicher die Schweiz und die Welt erklärt (legendär sein erster Auftritt mit der «Politischen Landschaft der Schweiz», siehe Youtube). Tatsächlich kann Müller aber auch auf eine eindrückliche Theaterlaufbahn verweisen: Er spielte unter anderem an den Zürcher Theatern Neumarkt und Gessnerallee, am Schauspielhaus Zürich und am Theater Basel unter der Regie von Werner Düggelin, Niklaus Helbling oder Stefan Bachmann. Als Filmschauspieler wirkte er in diversen Schweizer Kinoproduktionen wie «Ernstfall in Havanna» oder «Mein Name ist Eugen» mit. Aktuell ist er in «Dead Fucking Last» und im Fernsehen ab dem 8. Januar im SRF-Dienstagskrimi «Der Bestatter» zu sehen. (fer) SURPRISE 291/13
Gletscher-Event «Hannibal», Rettenbach-Gletscher, Ötztal, 2009
Wintertourismus «Grenzenloser Gebirgsgenuss» So lautet das Versprechen im aktuellen Werbeprospekt von Tirol Tourismus. Der grenzenlose Massentourismus in den Alpen blieb nicht ohne Folgen, der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner dokumentiert diese seit bald 30 Jahren mit der Kamera. In seiner Heimat sind die Bilder unerwünscht, in Bern sind sie nun erstmals in einer eigenen Ausstellung zu sehen. Wir zeigen eine Serie der umstrittenen Fotografien und stellen die Frage: Was hat das mit uns zu tun?
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Porsche-Showcase auf der Idalp, Ischgl, April 2011
Pistenlandschaft in Steinach am Brenner, Juli 2004
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Kunstschnee-Speicherbau Tiefenbach-Gletscher, Sรถlden, ร tztal, August 2009
Saisonabschluss auf der Idalp, Ischgl, April 2004 SURPRISE 291/13
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Kleine Scheidegg, Grindelwald, 2012
Wintertourismus Die Schweiz und das «Produkt intakte Natur» Sind die Bilder Hechenblaikners ein Grund, die grossen Skiorte Österreichs zu meiden? Vielleicht. Aber kaum zugunsten der Schweizer Ski-Arenen.
VON FLORIAN BLUMER (TEXT) UND LOIS HECHENBLAIKNER (BILD)
Zu Skiautobahnen umplanierte Berglandschaften, ein Dutzend Bagger, die wie im Tagebau eine Landschaft umgraben, und Komasäufer im Schnee: Hechenblaikners Fotografien sind ein Alptraum. Beim Betrachten eines Bilds mit einer von leeren Bierflaschen übersäten Schneefläche im Skigebiet fragte eine ältere Museumsbesucherin ihre Begleiterin erschreckt: «Meinsch das sig o so bi eus i de Schwiiz?» Das Medienecho auf die Ausstellung war gross, Selbstkritik jedoch wenig zu hören. Im Gegenteil. Die Tourismusverantwortlichen im Berner Oberland witterten die Chance, der verhassten Konkurrenz eins auszuwischen, und starteten gleich eine Medienoffensive. Der Blick am Abend höhnte über den Bildern Hechenblaikners: «So hässlich sind die Alpen … in Österreich.» Und der Präsident der «Destination Berner Oberland» durfte erklären, dass bei uns noch Qualität vor Quantität komme, dass man hierzulande noch um den Wert des «Produkts intakte Natur» wisse. Die Österreicher ausser Rand und Band, während sich in unseren Alpen noch Murmeltier und Steinbock Gute Nacht sagen? Museumsbesucher waren anderer Meinung: In der Medienschau am Ausgang hatte je-
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mand die betreffende Stelle fein säuberlich eingeklammert und an den Rand des Artikels geschrieben: «Lügner! Siehe Kleine Scheidegg im Sommer …» Ein anderer ergänzte: «Oder Les Portes du Soleil/Val d’Illiez im Sommer. Und, und, und …!!!» «… Titlis», schrieb ein weiterer Besucher dazu. Tourismusexperte Professor Dominik Siegrist von der Hochschule für Technik in Rapperswil ergänzt die Aufzählung auf Nachfrage mit der «Weissen Arena» in Flims/Laax und mit Samnaun, das sein Skigebiet mit Ischgl im Tirol zusammengeschlossen hat (!). Es gebe keinen Grund, so zu tun, als ob wir besser wären, meint Siegrist weiter, und: «Die Bilder hätte man auch hier machen können.» Als Beispiel für Umweltsünden nennt er die «Schandtaten der Walliser Bergbahnen». Auch die Werbung habe genauso in den Berglandschaften Einzug gehalten, mit dem einzigen Unterschied, dass hier – aufgrund der besser betuchten ausländischen Kundschaft – teurere Marken beworben würden. Und zu schlechter Letzt, womit wir wieder bei der Frage der besorgten Dame wären: «Am Open-Air in Samnaun, als für das Bon-Jovi-Konzert 30 000 Zuschauer mit der Seilbahn auf die Alp gefahren wurden, hätte man wohl genauso viele leere Bierflaschen gefunden.» ■ SURPRISE 291/13
Wintertourismus «Die Landschaft wird zur Fratze» Lois Hechenblaikner richtet die Linse dorthin, wo’s dem Betrachter weh tut. Auch verbal schiesst er scharf.
INTERVIEW VON FLORIAN BLUMER
Herr Hechenblaikner, Sie sind im Alpbachtal in Tirol geboren und aufgewachsen – wann ist Ihnen aufgefallen, dass in der heilen Bergwelt etwas nicht mehr stimmt? Das war so mit 25. Ich war damals ein stinknormaler, braver Landschaftsfotograf, der sich für die Schönheit der Natur interessierte. Ich merkte, dass ich immer mehr Kamerakosmetik betreiben musste, um noch unberührte Natur fotografieren zu können. Mit dem unheimlich raschen Einzug der Massentourismusindustrie sind da Bruchlinien aufgetreten, die mich als visuellen Menschen persönlich belastet habe. Und ich habe leider auch gesehen, wie uneinsichtig die Touristiker oft sind. Obwohl ich nachvollziehen kann, was bei denen abgeht: Was für mich «als visueller Mensch» eine Belastung ist, ist für sie der wirtschaftliche Erfolg. Was hat Sie denn besonders schockiert? Bei uns ist der Massentourismus einfach in einer unheimlichen Dichte aufgetreten. Dann war da das Verbot meiner Fotoausstellung in Zillertal über das Fanpublikum der Zillertaler Schürzenjäger, eine Arbeit inspiriert vom Werk «Masse und Macht» von Elias Canetti. Das war den Zillertalern etwas zu hoch. Die haben nur gesagt: Da will einer eine Störzone einrichten – und dann haben der Bürgermeister und der Tourismusobmann diese Ausstellung verboten. Sie haben einmal gesagt, Sie können Ihre Werke nur auswärts ausstellen? Ja, absolut. Sehen Sie, da herrscht eine riesige Verdrängungsmaschinerie, zu Hause werde ich totgeschwiegen. Beat Hächler, der neue Direktor des Alpinen Museums in Bern, war als kreativer Kopf mit einer Vision ein absoluter Glücksfall – für mich wie für das Museum. Waren Sie auch schon in der Schweiz? In der Schweiz kenne ich vor allem das Engadin. Dort ist das Ganze diskreter, ich nenne es gerne auch «edel-mafiös». Das Geld hat dort eine gewisse Kultiviertheit mit sich gebracht. Aber ich war kürzlich mit einem Kamerateam von Arte in Grindelwald: Auch auf der Kleinen Scheidegg steht ein fast fünf Meter hohes Indianerzelt mit Coca-Cola-Schriftzug, ähnlich der riesigen Coca-Cola-Dose in Sölden im Ötztal. SURPRISE 291/13
An beiden Orten haben die Älpler nicht die Kraft, Nein zu sagen. Deshalb schaut es auf der Kleinen Scheidegg genauso aus wie auf einem Migros-Parkplatz. Welche Entwicklungen haben Sie sonst in der Schweiz beobachtet? Was ich der Schweiz vor allem vorwerfe ist, dass die Gastronomie inzwischen schon sehr stark von der Convenience-Industrie unterwandert wurde: Es gibt immer mehr gefrorene Ware in den Bergrestaurants, viele betreiben eine reine Maschinen- und Mikrowellengastronomie. In der Ausstellung bilden Sie verschiedene Aspekte der touristischen Entwicklung in den österreichischen Alpen ab: die Naturverschandelung, Saufevents, Pyroshows auf dem Gletscher, Werbung auf den Pisten. Was schmerzt Sie als Einheimischer denn am meisten? Sehen Sie, als Künstler muss ich über den Schmerz hinausgewachsen sein. Ich will ja auch nicht missionieren! Ich dokumentiere mit einer professionellen Haltung visuelle Störzonen. Zum Beispiel die Verwandlung der Landschaft in eine Werbefläche. Der Industriezweig der Werbung erkannte: Hier fahren Tausende von Menschen in die Berge, also müssen wir ihnen auch dort eine Werbefläche vor das Gesicht knallen! Dadurch wird die Landschaft zur Fratze. Ich sehe hier eine Parallele zum Wahnsinn der plastischen Chirurgie: Auch die Landschaft verliert durch die Eingriffe ihr Gesicht. Haben Sie denn nicht auch Verständnis für die Tourismusverantwortlichen? Schliesslich sind die Bergregionen vom Tourismus abhängig. Selbstverständlich, sehr sogar! Ich bin als Künstler natürlich in einer privilegierten Position. Ich kann den Menschen, die in den Bergen leben, keine Arbeitsplätze anbieten. Es besteht hier eine wahnsinnige Ausgeliefertheit, der Bergtourismus ist eine riesige Wirtschaftsmaschine. Die Branche braucht dauernde Erneuerung, um der Diva, die der Gast ist, immer einen neuen Schnuller hinzuhalten. Denn der kommt in der neuen Saison her und fragt: So, was gibt’s Neues?
Wie stehen denn die Einheimischen zum Gast? Orte wie Sölden, Saalbach-Hinterglemm, das Zillertal oder Obertauern wachsen in der Hochsaison um das Zehnfache an. Und wenn der Gast in postkolonialer Manier einfällt, dann kippt das bei den Einheimischen schnell in Feindlichkeit um. Da entsteht dann diese schlitzohrige Art des Gastnehmens statt Gastgebens. Sie sagen sich: Es bringt mehr, wenn wir sie abmelken, nächste Woche kommen eh die Nächsten. Die Einheimischen werden zu Wegelagerern der Neuzeit. Sehen Sie denn eine Lösung? Die Einsicht kommt wohl erst, wenn die Natur eine Macht entwickelt hat, gegen die technische Waffen versagen. Bei Plustemperaturen kann man nicht mehr beschneien. Und irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, wo auch die Preisspirale nicht mehr zu halten ist. Schon heute kann es sich eine Arbeiterfamilie kaum mehr leisten, Skiurlaub zu machen. Die Frage ist: Wo beginnt der Schmerzpunkt? Für das Skigebiet Hochzillertal wurde kürzlich mit Unterstützung von BMW für 140 000 Euro eine Luxusgondel mit beheizten Massagesitzen gebaut. Ich sag dann: Da erreicht der Gast den Höhepunkt schon vor dem Gipfel (lacht). Das Ganze hat mittlerweile schon die Stufe der Dekadenz erreicht. ■ Die Ausstellung «Intensivstationen» ist noch bis zum 24. März im Alpinen Museum in Bern zu sehen. Am Do, 17. Januar, 19 Uhr führt Lois Hechenblaikner selbst durch die Ausstellung. www.alpinesmuseum.ch
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BILD: GUIDO SÜESS
Wörter von Pörtner Jenseits des Weltuntergangs Wenn Sie diese Zeilen lesen, ist die Welt vielleicht schon untergegangen. Wahrscheinlich aber eher nicht. Diesmal waren es die Maya, ein Volk, das, wie es scheint, den eigenen Untergang nicht hatte kommen sehen, dessen Berechnungen ergaben, dass am 21. Dezember 2012 Schluss sei. Würde ich daran glauben, bräuchte ich diese Kolumne nicht mehr zu schreiben. Aber die Welt geht ständig unter. Erinnert sich noch jemand an das Jahr 2000, als die Flugzeuge vom Himmel fallen und sämtliche Computer abstürzen sollten? Oder vor wenigen Jahren, als der Teilchenbeschleuniger im CERN in Betrieb genommen wurde: Da hätte die Welt sich in gigantische Spaghetti verwandeln und als solche ins All hinausgesogen werden sollen. Irgendwas mit Antimaterie und schwarzen Löchern halt.
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Die Begründungen für den Weltuntergang werden stets mit solchen pseudowissenschaftlichen «Fakten» untermauert. Damit sollen die Aussagen nicht nur glaubhafter, sondern vor allem zwingend und unausweichlich erscheinen. Seltsamerweise sind es oft eher wissenschaftskritische Menschen, die auf einmal felsenfest an solche Vorhersagen glauben. So auch bei den Maya. Wieso glauben Leute Berechnungen, die vor Tausenden Jahren mit einfachsten Mitteln angestellt wurden, während sie jenen, die heute mit modernen Computern und feinsten Messgeräten angestellt werden, misstrauen? Vermutlich ist der Mensch einfach so, und die Maya-Kalender-Ersteller sahen sich damals ihrerseits mit Kritikern konfrontiert, die sich über ihre modernen, kalten und systemkonformen Methoden mokierten und einen Weltuntergang vorhersagten, den sie aufgrund irgendwelcher ganz andersartiger Vorzeichen ins Haus stehen sahen. Oft habe ich an die amerikanischen Familien gedacht, die sich Ende 1999 waffenstarrend und mit Dosenvorräten für fünf Jahre in ihren Landhäusern eingebunkert hatten. Was ist aus ihnen geworden? Wagten es Frau und Kinder, dem Vater irgendwann mal zu sagen, dass er sich vermutlich getäuscht hatte? Sind sie eines Nachts einfach davongeschlichen? Harren sie immer noch aus? Das ist das Seltsame an Untergangspropheten: Ihr Ansehen nimmt keinen grossen Scha-
den, obwohl sie stets falschliegen. Wer immer einen Untergang vorhersagt, wird Anhänger finden. Ein leicht verwirrter Schullehrer, der die Teilchenphysik gerade mal vom Hörensagen kannte, brachte nicht wenige Menschen dazu, sich für die Abschaltung des Beschleunigers einzusetzen. Der Weltuntergang hat eben auch Vorteile. Die mühsame Zukunftsplanung fällt dahin. Das eigene Versagen, die eigenen Fehler wirken bedeutungslos und insignifikant, wenn doch alles zu spät ist. Der Weltuntergang hat etwas Gerechtes, weil er alle gleichermassen trifft. Kein Geld, kein Status können einen davor bewahren. Das hat etwas Beruhigendes, auch wenn darüber, was nachher geschieht, wieder ganz unterschiedliche Meinungen herrschen und nicht wenige Untergangspropheten versprechen, den Schlüssel zur Zukunft jenseits des Weltuntergangs zu besitzen. Die Welt ist auch diesmal nicht untergegangen, aber keine Angst, der nächste Weltuntergang kommt bestimmt.
STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER (MILENA.SCHAERER@GMX.CH) SURPRISE 291/13
Nils Althaus Abgründe, Abstürze und ein Happy-End BILD: ZVG
Nils Althaus ist Schauspieler, Kabarettist und bald Chemie- und Biolehrer. In seinem neuen Soloprogramm «Ehrlich gheit» bringt er seinem Publikum bei, wie man ehrlich stürzt und dabei Haltung bewahrt. VON MICHÈLE FALLER
Der junge Mann auf der Bühne zitiert Philosophen, Schriftsteller und die Bibel. Es geht um Aufrichtigkeit. Während sich die Weisheiten noch in den Köpfen der Zuschauer setzen, meint er: «Am bekanntesten ist ja aber dieses Sprichwort: Ehrlich gheit am lengschte.» Nils Althaus zitiert in seinem neuen Soloprogramm aber nicht nur sich selber, sondern lässt nach guter Kabarettistentradition auch andere Figuren zu Wort kommen. Den hemdsärmeligen Politiker, der seine leichte Rücklage mit dem vorgeschobenen Kinn auszugleichen scheint, den neugierigen und naivbeflissenen Hauswart, der sich in charmantem Schwäbisch über mangelnde Schnurspannung bei Altpapierbündeln aufhält, und einen bedächtigen und politisch hyperkorrekten Basler Hobbyornithologen. So schnell sich Althaus auf der Bühne verwandelt, so vielfältig ist der bisherige Lebenslauf des 31-Jährigen. Vor fünf Jahren gab er im Film «Breakout» sein Leinwanddebut, erhielt von «Swiss Films» den offiziellen Titel «Shooting Star 2007» und hat in seinem guten Dutzend Filme nicht nur den halbstarken Hip-Hopper und den coolen Verführer gegeben, sondern auch die tragische Figur des Dällebach Kari in «Eine wen iig». Dass der Mime ausserdem ein abgeschlossenes Biochemie-Studium und fünf Solo-Bühnenprogramme vorzuweisen hat, ist in diesem relativ jugendlichen Alter doch beeindruckend – oder unheimlich? Nicht eigentlich. Althaus und seine Vielseitigkeit kommen auf der Kleinkunstbühne sympathisch, locker und ganz natürlich rüber. Er springt von Figur zu Figur, fällt zwischendurch auch mal gewollt aus der Rolle und bildet so mit seinem Publikum eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft über die Rampe hinweg. Kleine Highlights für sich stellen seine grossartigen Mundartsongs dar. Einige erinnern von Stil und Melodie her an den grossen Mani Matter – keineswegs nur wegen des Dialekts und der wohlklingenden Stimme. Sie sind mindestens so intelligent und abgründig, aber ein gutes Stück böser; zuweilen richtiggehend fies – und unglaublich witzig. Und wenn es die nach ein paar Liedern schon etwas abgehärteten Zuschauer kaum fassen, dass die nette Geschichte von Herrn Gnägi und Frau Gnägi-Haselstaudenheim gut ausgeht, folgt nach dem Applaus der gnadenlose Epilog. Die titelgebende Ehrlichkeit verschafft sich im Programm zwar meist ungewollt Gehör; sei es durch technische Pannen oder im Affekt vorgebrachte Beleidigungen; doch zum Schluss wird unmissverständlich klar, wie der Urheber des Kabarettabends zur Ehrlichkeit steht. Er überrascht sein Publikum mit radikalen Wendungen und Wandlungen und schreibt mit dem Lied «Ehrlich gheit» kurzerhand das Schicksal von Narziss in der griechischen Mythologie um. Es fällt wohl jemand in den Teich, der sich ins eigene Spiegelbild verliebt hat, ertrinkt aber mitnichten, sondern landet weich und mit Blick in den blauen Himmel. «Ich habe die Geschichte ganz bewusst so umgedeutet, dass die Ehrlichkeit am Schluss eine Tugend ist», sagt Althaus. «Für mich ist es wichtig, klar Position zu beziehen, auch wenn das als ein bisschen ‹ältelig› gilt. Die Leute trauen sich das nicht mehr; drum gibt es so viel Ironie überall.» Er selber bringt Ironie samt klarer Haltung in seinem Programm unter. Mühelos schlägt er einen Bogen von der politisch korrekten «Mitmachen ist alles»-Mentalität hin zum Waffenexportgeschäft oder macht sich in einer «Plüsch»-Parodie über die Schweizerkrankheit Heimweh angesichts schwerwiegender Probleme in anderen Weltgegenden lusSURPRISE 291/13
Der Shootingstar wird bald Chemie unterrichten.
tig. Seine Soloprogramme liegen dem Künstler am Herzen: «Meine Meinung und Weltanschauung einem Publikum kundzutun, ist ein grosser Teil des Vergnügens dieser Arbeit – und ein Privileg.» Momentan lernt der Schauspieler für das Lehrdiplom; demnächst wird er am Gymnasium Chemie und Biologie unterrichten. «Ich möchte mich nicht abhängig machen vom Erfolg, sondern dann auf die Bühne gehen, wenn ich etwas zu sagen habe», erklärt Althaus. Dann habe er die Freiheit, auch mal ein Programm zu machen, das sich nicht rentiere. Und er möchte dazulernen: «Wenn man sich immer nur mit sich selber beschäftigt, ist das auch anstrengend.» Der Schauspieler grinst etwas verlegen. «Und der Erkenntnisgewinn ist marginal.» Was man aus Zuschauersicht ganz und gar nicht behaupten kann! ■ Nils Althaus: «Ehrlich gheit», Kabarettsolo mit Liedern, Di, 8. Januar Kleintheater Luzern; Fr, 18. Januar Kulturfabrikbigla, Biglen; So, 20. Januar Kulturgenossenschaft Alti Moschti, Mühlethurnen; Di, 22. Januar Theater am Hechtplatz, Zürich; Do, 24. Januar Casino Theater Burgdorf. Weitere Daten bis November 2013: www.nilsalthaus.ch
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BILD: ZVG
BILD: ZVG
Kultur
Alles hängt zusammen: Die Welt als Scherenschnitt.
Arbeiter in der Heimat, Held in Südafrika: Sixto Rodriguez.
Buch Welt in Schieflage
Film Die schönste Story der Welt
Der «Beschissatlas» listet schonungslos unser Sündenregister in Gesellschaft und Umwelt auf – und stellt diesem Lösungsansätze gegenüber, die Hoffnung machen.
Der Dokumentarfilm «Searching for Sugar Man» erzählt von der unglaublichen Karriere eines Sängers. Oder besser: seiner Musik. Wahrlich ein Trip über Raum und Zeit.
VON CHRISTOPHER ZIMMER
VON THOMAS OEHLER
Wenn Sie diese Zeilen lesen, haben Sie den Weltuntergang vom 21.12.12 gut überstanden. Kein Wunder, war dieser doch nur ein aufgebauschter Hype. Dennoch: Während Sie diese Zeilen lesen, steuern wir alle einer Apokalypse entgegen, deren Stichtag schon heute sein könnte – der vielbeschworenen und nicht weniger häufig ignorierten Zerstörung unseres Planeten. Die Nachrichten sind voll davon, und eigentlich wissen wir irgendwie alle: So kann es nicht weitergehen. An Fakten, Daten und Zahlen mangelt es wahrhaftig nicht. Doch statt zu informieren, vernebeln sie oft. Je grösser, abstrakter und unvorstellbarer die Millionen, Milliarden, gar Billiarden (Stichwort Schuldenkrise) sind, desto gleichgültiger werden wir gegenüber diesen Unsummen. Dem möchten die Autorinnen des «Beschissatlas» entgegenwirken: Mit Illustrationen statt Diagrammen wollen sie die empörende Realität sinnlich erfahrbar machen. Als Kriterium für ihre Auswahl und Bewertung dient ihnen die «gefühlte Gerechtigkeit» – man könnte auch sagen, der gesunde Menschenverstand. Zudem vermeiden sie das missbrauchte Label der Nachhaltigkeit und setzen an seine Stelle die Begriffe Zukunftsfähigkeit und Enkeltauglichkeit. Unterteilt in zwölf Kapitel von Ernährungs- über Verteilungs- und Demokratie- bis zu Klima- und Rüstungsbeschiss listen sie auf, wo die Welt in Schieflage geraten ist: die Verbrechen, die wir an unserem Planeten, an uns selbst und allen Mitgeschöpfen begehen – und nicht weniger die Verschleierungstaktiken, mit denen vieles beschönigt wird. Das ist in der Summe ein harter Brocken, dem man sich besser in Portionen stellt. Besonders aber sollte man dabei die Lösungsansätze beachten, die die Autorinnen all dem Horror zum Glück entgegensetzen. Hier kann sich jeder und jede eine persönliche Liste guter Vorsätze zusammenstellen, um einen Beitrag zu einer besseren Zukunft zu leisten. Denn auch aus den Taten von vielen Einzelnen können «Unsummen» einer positiven Kehrtwende entstehen. Ute Scheub, Yvonne Kuschel: Beschissatlas. Zahlen und Fakten zu
Da ist die Stimme. Klagend, intim, berührend. Da ist die reine Musik, ohne ein dazu gehörendes Gesicht. Da ist die Platte, aber keine aggressive Promotion. Diese Platte vermochte es, eine ganze Nation – namentlich: Südafrika – zu bezaubern, die Seelen ihrer Bewohner zu bewegen, ihnen Mut zu spenden und Kraft im Protest gegen ein diktatorisches Regime. Aber niemand weiss, wer er ist, dieser ominöse Sänger, dessen Musik allgegenwärtig geworden ist, von dem aber nur der Name bekannt ist: Rodriguez. Einige sagen, er habe sich anfangs der Siebziger auf der Bühne das Leben genommen. Zwei hartnäckige Musikjournalisten aus Kapstadt wollen mehr wissen und finden das Unerwartete heraus: Der Mann lebt! Als armer Bauarbeiter in Detroit. Sie holen ihn nach Südafrika und lassen ihn zum ersten Mal seit dem obskuren Erscheinen seiner Musik in diesem Land Konzerte geben. Wo er wie ein Held gefeiert wird. Es ist keine gewöhnliche Musikerdoku, die uns der schwedische Regisseur Malik Bendjelloul in seinem Debütfilm «Searching for Sugar Man» bietet. Zwar erzählt er von Rodriguez’ Lehrjahren in verrauchten Hinterhof-Clubs von Detroit, von seiner Entdeckung und dem Plattenvertrag, von Kritikern, die ihn mit Bob Dylan vergleichen. Aber dann floppen die Platten, und der Mann verschwindet. Und die Geschichte entfaltet ihre Schönheit. Die Musik, die auf der anderen Seite des Erdballs zu wirken beginnt und schliesslich zum Soundtrack der Anti-Apartheid-Bewegung gehört. Ein Künstler, dem endlich der verdiente Tribut gezollt wird. Die Begeisterung der Fans bei seinem ersten Konzert in Kapstadt – über die Kinoleinwand hinweg fassbar. Die Bescheidenheit des Künstlers trotz dieser Anerkennung. Und nicht zuletzt: Ein schwedischer Regisseur mit arabischem Namen macht einen Film über einen Musiker mit mexikanischer Herkunft, der in den USA lebt und in Südafrika bekannter als Elvis ist. Für einmal ist Globalisierung einfach nur – schön!
Ungerechtigkeiten in Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt.
Malik Bendjelloul: «Searching für Sugar Man», Dokumentarfilm,
Ludwig Verlag 2012. 29.90 CHF.
Schweden/UK 2011, 86 Min., mit Sixto Rodriguez. Ab 27. Dezember in den Deutschschweizer Kinos, in Bern ab 10. Januar.
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YTO BARRADA UND
© BILD: C-PRINT, 125X125CM,
GALERIE SFEIR-SEMLER, HAMBURG–BEIRUT, 2001/2010 (AUSSCHNITT)
Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.
Bildlich festgehaltenes Lebensgefühl: Mur des paresseux – Mauer der Müssiggänger.
Ausstellung Warten in der Sackgasse
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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich
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Girod Gründisch & Partner, Visuelle Kommunikation, Baden
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Paul & Peter Fritz AG, Literary Agency, Zürich
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TYDAC AG, Web-Mapping-Software, Bern
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Kaiser Software GmbH, Bern
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Balcart AG, Carton, Ideen, Lösungen, Therwil
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Lions Club Zürich-Seefeld
VON MONIKA BETTSCHEN
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Klimaneutrale Druckerei Hürzeler AG,
Es tut sich etwas in den Gassen der Hafenstadt Tanger. Während unzählige Migranten erwartungsvoll die Strasse von Gibraltar nach Europa überqueren wollen und gleichzeitig Millionen von Touristen auf der Suche nach etwas Wüstenromantik das Land besuchen, wird an allen Ecken emsig, aber konzeptlos, geplant und gebaut. Die Menschen Nordafrikas zieht es noch weiter in den Norden, aber die Stadt Tanger frisst sich immer weiter weg von der Küste Richtung Süden. Ältere, vom Zerfall gezeichnete Gebäude modern als traurige Backsteinriesen einem ungewissen Schicksal entgegen. Um sie herum tobt ein unbarmherziger Immobilienkapitalismus. Werden und Vergehen, Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit: Die marokkanisch-französische Künstlerin Yto Barrada wirft mit ihren Fotografien, filmischen Arbeiten und Skulpturen einen zugleich poetischen wie nüchternen Blick auf ihre Heimatstadt. Die 1971 geborene, in Paris und in Marokko aufgewachsene Barrada ist eine aussergewöhnlich gute Beobachterin gerade auch der jüngsten Umbrüche und Veränderungen im nordafrikanischen Raum. In ihrer Bildsprache kommt ein bedrückendes Lebensgefühl zum Ausdruck. Da schläft ein Mann mitten am Tag auf einer steinernen Bank, als wüsste er ganz genau, dass er sowieso nichts verpasst. Als habe er eingesehen, dass Tanger eine Sackgasse geworden ist. Zwei andere Männer hängen träge im Geäst eines verwitterten Baumes. Warten, der Dinge harren, die da noch kommen mögen – oder auch nicht. Für Urs Stahel, Direktor des Fotomuseum Winterthur, vermitteln Barradas Werke ein starkes Gefühl des Gestrandetseins zwischen zwei Welten. «Yto Barrada beschäftigt sich mit den inneren und äusseren Grenzen ihrer Heimat. Einerseits ist da die Nähe zu Europa, die Strasse von Gibraltar, Symbol unzähliger Menschen für ein besseres Leben. Andererseits zeigt die Künstlerin Grenzen innerhalb der marokkanischen Gesellschaft auf, bietet einen visuellen Einblick in die Geschichte des nordafrikanischen Landes seit dem Ende des französischen Protektorates 1956 – aber auch in ihre von der politisch motivierten Entführung ihres Grossvaters überschattete Familiengeschichte.»
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil
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Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG)
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Locher, Schwittay Gebäudetechnik GmbH, BS
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fast4meter, storytelling, Bern
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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen
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Schweiz. Tropen- und ‹ ›Public Health-Institut, BS
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seminarhaus-basel.ch
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Supercomputing Systems AG, Zürich
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AnyWeb AG, Zürich
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VXL gestaltung und werbung ag, Binningen
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Cilag AG, Schaffhausen
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Coop
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Zürcher Kantonalbank
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Kibag Management AG
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Knackeboul Entertainment
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Brother (Schweiz) AG
Die Künstlerin Yto Barrada thematisiert die Realitäten in ihrer marokkanischen Heimatstadt Tanger. Jenseits von 1001 Nacht.
Regensdorf
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.
Yto Barrada: «Riffs», Fotomuseum Winterthur, Grüzenstrasse 44 und 45, noch bis zum 10. Februar. www.fotomuseum.ch
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BILD: ANNETTE BOUTELLIER
BILD: TABEA HÜBERLI BILD: ZGB
Ausgehtipps
Bitte nehmen Sie Platz, die Ordner kommen.
Winterthur Geistreicher Jahresrückblick Das Jahr 2012 hatte es in sich: Ein Mädchen gewinnt das Knabenschiessen, Wulff geht, der Bär kommt, die Piraten steigen auf, ein Kreuzfahrtschiff sinkt, die Miss Schweiz wird nicht gewählt, das Gottesteilchen ist gefunden, einer prophezeit den Kulturinfarkt – und prompt hört Florian Ast auf zu singen. Weil die Schweiz lieb gewonnene Traditionen nicht so schnell aufgibt, geht im Januar zum fünften Mal ein «Bundesordner» über die Bühne: Für den satirischen Jahresrückblick hat eine neu formierte Gruppe von Kabarettistinnen und Kabarettisten (schön&gut, Heinz de Specht, Uta Köbernick, Anet Corti, Michael Elsener und Renato Kaiser) in den Akten des Jahres gewühlt und allerlei Stoff gefunden für überraschende Satire und geistreiches Liedgut. (mek)
Jari Antti (vorn) mit den aktuellen Mit-Navelern.
Aller Aufwand zwecklos: Tiffany kriegt keine Angst.
Auf Tour Rock-Räuber
Bern Mädchen-Räuber
Alle Jahre wieder formiert Jari Antti seine Navel neu. Seit «Neo Noir» von 2011 rotierte das Besetzungskarussell besonders schnell, und so präsentiert sich die Band mit Ausnahme ihres Leaders runderneuert. Zum Quartett gewachsen, geht es nun schon vor dem Erscheinen des neuen Albums «Loverboy» (kommt im Februar) auf Konzertreise. Musikalisch sind die Veränderungen weniger dramatisch als personell: Antti bleibt uramerikanischer Populärmusik verschiedener Herkunft treu. Allerdings hat er etwas Druck weggenommen, was zu einem helleren Klangbild führt. Bei Bedarf wird aber nach wie vor breitbeinig in die Saiten gedroschen und breitwandig gebrutzelt. Und dass der Songwriter das Räubern in der Rockgeschichte nicht verlernt hat, davon zeugt der Titelsong, der mit Klimperörgeli und Bluesgitarre die Doors – sagen wir – zitiert. (ash) Do, 17. Januar, 20.30 Uhr, ISC, Bern;
«Hoho, hoho, hoho!» Die drei Räuber mit den Bärten und den spitzen Hüten sind so schauderhaft furchterregend, dass sie alle inklusive Polizei in die Flucht schlagen. Mit Ausnahme des kleinen Mädchens Tiffany. Natürlich sind die drei zutiefst beleidigt, entführen das Waisenkind aber trotzdem – auf dessen Wunsch. Denn Tiffany soll ins Kinderheim zur bösen Tante, die die Kleinen Tag und Nacht für sich schuften lässt. In der Räuberhöhle schmieden die drei Räuber und das Mädchen einen gemeinsamen Plan zum Angriff auf das Waisenhaus. Seit bald 50 Jahren begeistert die Geschichte von Tomi Ungerer aufgeweckte Kinder genauso wie Erwachsene mit einem Hang zum Subversiven. Basierend auf dem gleichnamigen, hochgelobten Animationsfilm von 2007 bringt das Stadttheater Bern die anarchische Kindergeschichte nun erstmals auf die Theaterbühne. (fer)
Fr, 18. Januar, 21.30 Uhr, Ziegel Oh Lac, Zürich;
«Die drei Räuber», Theaterstück für Kinder ab sechs
Do, 24. Januar, 20.30 Uhr, Schüür, Luzern;
Jahren, Fr, 11. Januar, 19 Uhr,
Fr, 25. Januar, Selig, Chur;
Sa, 26. Januar, 15 und 19 Uhr und
Sa, 26. Januar, 21 Uhr, Kaserne, Basel.
So, 3. Februar, 15 Uhr, Stadttheater Bern.
Anzeigen:
«Bundesordner 2012 – Ein satirischer Jahresrückblick», 10. bis 20. Januar, jeweils 20 Uhr, sonntags 17 Uhr, Casinotheater, Winterthur. www.casinotheater.ch
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BILD: GREGOR BRÄNDLI
BILD: QUEER RAP, TRASHS UND KITSCH: BIG FREEDIA.
Queer Rap, Trash und Kitsch: Big Freedia.
Bern Metal, Trash und Satanismus Das Kulturnetzwerk Norient lädt zum vierten Mal zum Musikfilmfestival nach Bern. Der geografische Fokus liegt auf New Orleans: mit der amerikanischen Queer-Rap-Königin Big Freedia, Jazzmusikern, Poeten und einer Spitzenköchin. Thematisch dreht sich das Festival um Religion, Satanismus, Metal, Trash und Kitsch. Anlässlich seines zehnjährigen Jubiläums tauft Norient am Festival auch sein erstes Buch: In «Out of the Absurdity of Life – Globale Musik» diskutieren Künstler und Wissenschaftler das globalisierte Musikschaffen. (mek) 4. Norient Musikfilm Festival, 10. bis 13. November, Reitschule, Club Bonsoir, Turnhalle Progr, Bern. Programm: www.norient.com, jetzt reservieren.
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Schwarze Romantik in Giftgrün – M & The Acid Monks.
Basel Sex & Drugs und Acid Monks 2012 war ein gutes Jahr für The bianca Story. Es begann mit einem grandiosen Album, ging weiter mit vielen umjubelten Konzerten, und gegen Ende mischte Sänger Elia Rediger mit dem Slogan «Dancing People Are Never Wrong» den Wahlkampf ums Basler Stadtpräsidium auf. Da darf man schon kurz innehalten und zum Jahresauftakt ein bestehendes Programm wiederaufnehmen. Und so bringen The bianca Story Anfang Januar noch einmal das Stück «M & The Acid Monks» auf die Bühne der Kaserne Basel. Entstanden ist das Stück vor zwei Jahren in Kooperation mit den Theatermachern Adapt. Basierend auf E.T.A. Hoffmanns «Die Elixiere des Teufels» schrieb die Band zusammen mit dem Theatermacher Victor Moser ein «theatrales Konzert», oder salopper formuliert: eine Rockoper. Der Stoff bietet sich dafür an: Die schwarzromantische Romanvorlage erzählt von einem jungen Mönch zwischen Grösse(nwahn) und Verzweiflung, zwischen mönchischer Askese und überbordender Ausschweifung, also nichts anderes als die teuflische Mischung aus Sex & Drugs & Rock’n’Roll. (ash) Sa, 5. Januar, 20 Uhr; So, 6. Januar, 19 Uhr; Mo, 7. und Di, 8. Januar, 20 Uhr, Kaserne Basel.
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Verkäuferporträt «Ich fühle Zuversicht in mir» Roland Knuchel, 47, lebte ein gutbürgerliches Leben. Er war selbständiger Landschaftsgärtner und hatte eine Familie. Nach der Trennung von seiner Frau fiel er in ein Loch und gab sein Geschäft auf. Nun fängt er mit Surprise neu an und blickt zuversichtlich in die Zukunft.
«Zu Surprise gekommen bin ich durch einen Verkäufer, den ich im Gassenzimmer kennenlernte. Er hat mir davon erzählt. Dann habe ich mich im Vertrieb Basel gemeldet und angefangen. Das war im vergangenen August, und seither verkaufe ich die Hefte vor dem Pfauen in der Freien Strasse in Basel. Bis vor zwei Jahren habe ich eine gutbürgerliche Existenz gelebt. Ich hatte eine Familie, war Papi und arbeitete selbständig. Jetzt so allein, das ist schon ein neues Zeitalter für mich. Anfangs hatte ich Probleme damit, fiel in eine depressive Phase. Darum tut mir Surprise gut, denn es gibt mir eine Tagesstruktur und ich habe wieder eine Aufgabe. Das hatte ich davor eben nicht mehr. Ich habe eigentlich niemanden, der mir hilft, sondern ich schaue selber. Weil ich selbständig war, erhalte ich kein Arbeitslosengeld. Beim Sozialamt bin ich jetzt mal angemeldet, aber da laufen noch die Abklärungen. Im Moment lebe ich vorwiegend vom Surprise-Verkauf. 14 Jahre habe ich auf meinem Beruf als Landschaftsgärtner gearbeitet. Das sind die, die den Garten gestalten: Platten legen, Treppen bauen, Bepflanzungen. Im Winter schneidet man vorwiegend Bäume und Sträucher. Tiefe Temperaturen machten mir keine Probleme, denn beim Arbeiten wird dir warm. Ich habe alles selber gemacht, Angestellte hatte ich keine. Mit der Zeit wurde mir das aber zuviel. Ich gönnte mir selten Ferien, denn in dieser Zeit kommt ja kein Geld rein. Und wenn andere Feierabend hatten, musste ich noch das Büro machen. Das wurde mit der Zeit einfach zuviel, vor allem wenn du keine Unterstützung erhältst. Auf meinen Beruf zurück will ich nicht. Das Gastgewerbe wäre vielleicht eine Alternative, zum Beispiel im Service. Ich hatte schon als Landschaftsgärtner viel Kontakt mit den Kunden. Das hat mir gefallen, ich kann es gut mit den Leuten. Als ich den Beruf an den Nagel hängte, fanden es die meisten Kunden schade, dass sie keinen Gärtner mehr hatten, aber sie konnten verstehen, dass ich mich verändern wollte. Ursprünglich komme ich aus dem Thurgau. Als Bub habe ich Fussball gespielt, bei den Junioren des FC Arbon am Bodensee. So mit 15 oder 16 habe ich dann aufgehört. Und zwar der Brille wegen. Damit tschutten ging einfach nicht und meine Eltern hatten kein Geld, um mir Kontaktlinsen zu kaufen. Nach Basel bin ich vor 22 Jahren meiner Frau zuliebe gekommen. Sie wollte nicht in die Ostschweiz ziehen, also kam ich nach Basel. Das war schon eine Umstellung. Ich war es nicht gewohnt, aus dem Fenster zu schauen und gleich ans nächste Haus zu blicken. Aber ich bin anpassungsfähig und fühle mich in der Stadt genauso wohl wie auf dem Land. Früher ging ich öfter in Diskos, denn Musik ist etwas sehr Wichtiges für mich. Das geht von Schweizer Popmusik bis zu Reggae. Lieblingsbands habe ich mehrere: AC/DC und aus der Schweiz Patent Ochsner und Züri West. Oder auch Vera Kaa, die im Dezember auf dem Cover war. Musik schürt Emotionen und kann die Stimmung verändern, darum höre ich sie bewusst. Das letzte Konzert, das ich gesehen habe, ist schon eine Weile her, das waren die Toten Hosen. Die erste LP von de-
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BILD: ASH
AUFGEZEICHNET VON RETO ASCHWANDEN
nen war nicht schwarz wie üblich, sondern giftgrün. Ein Kollege hatte die damals und überspielte sie mir auf Kassette. Die Hosen höre ich heute noch gern, ein Kassettengerät habe ich allerdings keins mehr. Neulich habe ich gelesen, dass Sony aufhört, den Walkman herzustellen. Die Jungen wissen gar nicht mehr, wie ein Plattenspieler funktioniert. Meine Töchter waren ganz erstaunt, als ich ihnen das mal gezeigt habe. Ich sehe sie trotz der Trennung regelmässig, sie sind 15 und 17. Es geht gut mit ihnen – trotz Pubertät. Die Grössere lernt Krankenschwester, die Jüngere geht noch ein Jahr zur Schule. In einem Jahr wäre ich gern in einem Bergdorf, um in einem Restaurant zu arbeiten. Mir gefällt es in den Bergen. Ich gehe gern ins Berner Oberland wandern. In der Regel mache ich das allein – meine Töchter sind noch nie gern gelaufen. Für den Moment akzeptiere ich die Situation, wie sie ist. Ich kann sie ja nicht ändern. Ärgern und ausrufen bringt ja nichts. Ich spüre, dass wieder bessere Zeiten kommen werden. Ich fühle einfach eine Zuversicht in mir, dass es wieder aufwärts geht. Und Surprise ist dabei ein Anfang.» ■ SURPRISE 291/13
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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden, Florian Blumer, Diana Frei (Nummernverantwortliche), Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Amir Ali, Monika Bettschen, Michèle Faller, Andrea Ganz, Lois Hechenblaikner, Lucian Hunziker, Olivier Joliat, Peter Lauth, Thomas Oehler Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 15000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen
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