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Wasserschlacht Der Kampf um unsere Flüsse Wehrt euch gegen Willkür – Rechtshilfe für Sozialfälle

Smartphones, Apps und Kids – die Schule wird digital

Nr. 302 | 14. bis 27. Juni 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Titelbild: Keystone Alessandro Della Bella

Editorial Die Lehren des Hochwassers

In dieser Ausgabe erzählen wir die Geschichte dieser Sanierung. Genauer: Wir lassen sie erzählen. Unsere Autorin traf sich mit Beteiligten, die als Ingenieur, Bauer oder Umweltschützer je eigene Bedürfnisse ans neue Linthwerk hatten. Die gegensätzlichen Interessen sorgten für Konflikte. Es gab Beschwerden und Anfeindungen, feindliche Übernahmen von Lobbygruppen und Einsprachen bis vor Bundesgericht. Eine Zeitlang tobte zwischen Walen- und Zürichsee eine ziemliche Schlacht ums Wasser.

BILD: DOMINIK PLÜSS

Die Wassermassen, die Anfang Juni für Überschwemmungen sorgten, sind abgeflossen. Im Grossen und Ganzen ist die Schweiz glimpflich davongekommen. Auch das frisch sanierte Kanalsystem in der Linthebene hat seine erste Bewährungsprobe bestanden.

RETO ASCHWANDEN REDAKTOR

Am Ende aber fanden sich Lösungen, mit denen alle leben können. Um den Preis, dass das fertige Bauwerk ein Kompromiss ist. Die Bauern mussten Land abgeben, erhielten aber Ersatzflächen, so dass keine Enteignungen nötig wurden. Naturfreunde hätten sich mehr Platz für die Tier- und Pflanzenwelt gewünscht, freuen sie sich nun aber am Eisvogel, der wieder in der Linthebene brütet. Eigentlich sehe das fertige Werk gar nicht so schlecht aus, sagt im Artikel Ruedi Seliner, einer der Bauern, die zunächst vehement gegen die Sanierungspläne gekämpft hatten. Die Leute in der Linthebene haben sich zusammengerauft, denn das übergeordnete Ziel – der Schutz vor Hochwasser – war ein Interesse, das sie teilten. Eine solche Herangehensweise wünschte man sich auch bei anderen Themen. Doch die Realität sieht anders aus. Ob Steuerdeal mit den USA, Energie- oder Asylpolitik – in vielen Sachfragen stehen sich Interessengruppen gegenüber, die kompromisslos auf ihrem Standpunkt beharren. Dahinter liegt oft das Gefühl, die eigenen Anliegen würden zu kurz kommen. Wer meint oder sich einreden lässt, er würde zugunsten anderer benachteiligt, gerät leicht in eine beleidigte Trotzhaltung, in der Neid und Kleinlichkeit gedeihen. Eine solche Haltung teilt die Mitmenschen in Freund und Feind und kennt keine andere Konfliktlösung, als solche, die Sieger und Verlierer produzieren – und im schlimmsten Fall den Untergang für alle bedeuten. Die Leute in der Linthebene können sich alle als Sieger fühlen. Ihr saniertes Kanalsystem hat den Wassermassen standgehalten; Menschen, Tiere und Häuser blieben von den Fluten verschont. Das Linthwerk steht für die Belastbarkeit gemeinsam gefundener Lösungen und ist ein Symbol für die Kraft des Miteinanders. Bleiben Sie trocken! Reto Aschwanden

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 302/13

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10 Gewässerbau Streit in der Idylle Der viele Regen der vergangenen Monate hat es wieder einmal gezeigt: Schweizer Flüsse müssen auch einem Hochwasser standhalten. Doch eine Flusssanierung wird heutzutage zur Demokratieprobe für alle Beteiligten: Ingenieure, Bauern, Umwelt- und Denkmalschützer kämpfen für ihre jeweiligen Interessen und müssen sich doch zusammenraufen. Wie das geht und was im Laufe der langjährigen Planungsund Bauarbeiten alles passieren kann, zeigt die Geschichte der Sanierung des Linthwerks.

BILD: MARKUS JUD

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Inhalt Editorial Die Kraft des Miteinanders Die Sozialzahl Die Freiwilligen sterben aus Aufgelesen Kleider für Coole Zugerichtet Der Fackelwerfer im Strafraum Leserbriefe Daneben geschossen Starverkäufer René Metzger Porträt Ein Syrer in Kleinbasel Sozialhilfe Gegen Behördenwillkür Fremd für Deutschsprachige Spiderman unterm Messer Film Aussenseiter als Filmstars Kultur Parabel der Gegensätze Ausgehtipps Im Bayreuther Bühnenbild Verkäuferporträt Selbstbestimmt wohnen Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

16 Medien Kinder des Digitalzeitalters BILD: LUC-FRANÇOIS GEORGI

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Schon Babys bekommen ein Smartphone in die Hand gedrückt, wenn sie im Kinderwagen quengeln. Manche Zweijährige wissen bereits bestens mit Tablets umzugehen. Neue Medien sind heute nicht mehr nur Kommunikationsmittel, sondern zum Mittel der Identitätsbildung geworden. Der Umgang mit digitalen Medien fordert nicht nur die Eltern, sondern auch die Schule. Was das für den Unterricht bedeutet, erklärt Pädagogikprofessor Beat Döbeli Honegger im Interview.

19 Black Sabbath Schlussakkord in Schwarz

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BILD: ZVG

Black Sabbath sind zurück, und zwar fast in Originalformation. Unser Mann in London traf Gitarrist Tony Iommi und Basser Geezer Butler zum Gespräch. Dabei erzählten sie, warum das neue Album gerade jetzt produziert werden musste, weshalb Satan für die vermeintlichen Okkultrocker bloss ein Symbol ist und wie Black Sabbath als junge Band in einer Zürcher Bar zu ihrem Stil fand. Die Geschichte einer stilprägenden Band.

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2010

2004

1997 25 % 20 % 15 % 10 %

Die Sozialzahl Gesucht: Freiw il

lige

Wer besucht alte Menschen dahe im und verbringt nen die Freizeit mit ih? Wer begleitet Menschen mit M tergrund zu Am igrationshintsstellen? Wer sp ringt kurzfristig Kinder berufstät ein, wenn iger Eltern kran k werden? Wer fon, wenn jung sitzt am Telee Menschen nich t mehr weiterw hilft Strafentlass issen? Wer enen, sich wieder in der Gesellsch zufinden? Freiw af t zurechtillige, Freiwillige, Freiwillige! Viele Sozialstaat ausm s, was den acht, was den so zialen Frieden pr gesellschaftlichen äg t un d den Zusammenhalt fö rdert, wäre ohne willige Engagem da s freient vieler Frauen und Männer ni und bezahlbar. cht denkDabei folgt die organisierte Frei willigenarbeit de kömmlichen Ro r herllenverteilung. M än ne r engagieren sic viel häufiger in h sehr Sportvereinen un d kulturellen In Frauen dagegen stitutionen, in sozial-karita tiv en Organisatione kirchlichen Insti n und tutionen. Frauen übernehmen viel sisaufgaben, wäh mehr Barend Männer sic h eher in Führun und Ehrenämte gsaufgaben rn einsetzen. Di es es geschlechtss Muster setzt sic pezifische h in der nicht or ganisierten Freiw (Nachbarschafts illigenarbeit hilfe, Unterstütz ung von Bekann zeigt sich schlies ten) fort und slich bekannterm assen auch in de lung der Haus- un r Aufteid Familienarbeit zwischen Frau un Unbezahlte sozi d Mann. ale Arbeit ist no ch immer prim arbeit. är FrauenWer die längerfri stige Entwicklung des freiwilligen ments im sozial Engageen Bereich betra ch te t, entdeckt eine sc chende Abnahm hleie, die beunruhigt . In den letzten 15 die Bereitschaft Jahren ist zur Freiwilligen arbeit in Hilfsor und im kirchlich ganisationen en Rahmen zurü ckgegangen. 1997 Prozent der Frau waren 5,3 en und 2,8 Proz ent der Männer in karitativen

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Männer

Politik

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Politik

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Sport/Kultur

Politik

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Sport/Kultur

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Frauen

Organisationen im freiwilligen Einsatz, 2010 sind es noch 3,6 Prozent der Frauen und 2,5 Prozent der Männer. Das freiwillige Engagement in kirchlichen Einrichtungen folgt dem gleichen Trend. Diese Entwicklung kann nicht erstaunen. In der gleichen Zeit hat das berufliche Engagement der Frauen deutlich zugenommen. Auch die zeitliche Belastung durch die Betreuung der Kinder und die Pflege der älteren Familienangehörigen ist kaum kleiner geworden. Zudem ist es trotz aller Notwendigkeit nicht gelungen, das freiwillige sozial Engagement in der gesellschaftlichen Wahrnehmung derart aufzuwerten, dass dieser Einsatz auch bei Männern auf wachsendes Interesse stossen würde. Damit kommt die Freiwilligenarbeit in karitativen Organisationen an strukturelle Grenzen, die nur schwer zu überwinden sein werden. Das schrumpfende Ausmass der Freiwilligenarbeit im sozialen Bereich steht einem grösser werdenden Bedarf an sozialen Hilfeleistungen gegenüber. Immer mehr Menschen sind auf Beratung, Betreuung und Begleitung angewiesen, um ihren Alltag zu meistern. Wenn der Sozialstaat unter dem Diktat des Sparens und die Hilfswerke mangels finanzieller Mittel diese Lücke nicht schliessen können, bleibt nur noch eine Option offen: Soziale Dienstleistungen werden vermehrt über den Markt angeboten und die Nachfrage wird infolgedessen über den Preis und die Kaufkraft der Hilfesuchenden gesteuert. Jenen, die sich diese sozialen Dienstleistungen nicht leisten können, droht ein Mangel an Hilfestellungen. Der Appell an die Eigenverantwortung ist nur noch folgerichtig – und zynisch. CARLO KNÖPFEL (C.KNOEPF EL@VEREI NSURPRISE .CH) BILD: WOMM

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Markenkleider für Obdachlose London. Abercrombie & Fitch-CEO Mike Jeffries trat einen Shitstorm der Entrüstung los, als er bezüglich Marken-Image sagte: «In jeder Schule gibt es coole und beliebte Kinder und solche, die nicht so cool sind. Wir sind nur an den coolen interessiert, den attraktiven mit vielen Freunden.» Aktivisten gingen daraufhin mit Säcken voll Abercrombie & Fitch-Kleider in die Armenviertel von Los Angeles und verteilten diese an Obdachlose. Was wiederum die Frage aufwirft: Wurden die Obdachlosen damit nicht benutzt?

Eiswürfel zum Abendessen Dortmund. Um den schlimmsten Hunger zu stillen, lutschte Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn nachts Eiswürfel, die sie in Kuchenkrümel getunkt hatte. Die heute 21-Jährige war magersüchtig. Als sie nur noch 37 Kilo wog, liess ihre Mutter sie in die Klinik zwangseinweisen. Hinter der Magersucht standen familiäre Probleme. Heute hat sie die Krankheit überwunden und ihre Erfahrungen im Buch «Kontrolliert ausser Kontrolle» verarbeitet. Doch Schäden sind geblieben – und nicht nur seelische: «Ich weiss nicht, ob ich je Kinder bekommen kann.»

Sehnsucht nach dem Winter Hamburg. Für die Obdachlosen in Hamburg war der vergangene Winter dramatisch wie nie zuvor. Die Notunterkünfte waren allesamt überbelegt. Denn die ursprünglich 20 500 Schlafplätze für Asylbewerber und Wohnungslose wurden auf 7800 runtergespart. «Das war kein Leben, das war nur Überleben», sagt der 60-jährige Milan. Und doch sehnt er sich nach der Unterkunft. Denn mit dem Winter endete auch das Hilfsprogramm. Nun schläft Milan wieder auf der Strasse.

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Zugerichtet Ein Spiel mit dem Feuer Radovan* sitzt auf der Anklagebank, als müsste er schon wieder mit einem schweren Treffer der gegnerischen Mannschaft rechnen. Er ist niedergeschlagen, fühlt sich angegriffen, fast genauso wie vor anderthalb Jahren, als GC-Fans die Flagge seines geliebten FCZ anzündeten. Immerhin hagelt es diesmal, bei der Verhandlung am Obergericht Zürich, keine Petarden, sondern nur Fragen. «Nun sagen Sie, wie haben Sie’s mit dem Fussball?», stellt der Oberrichter als Erstes die Gretchenfrage. Seit seinem Stadionverbot interessiere ihn Fussball kaum noch, er gehe den Leuten vom Fan-Club aus dem Weg, sagt der 25-jährige Anklagte. «Sie stiften einen nur zum Blödsinn an. Das ist ein schlechtes Umfeld für mich.» Fussball war Radovans Leidenschaft und sein Lebensinhalt. Ehrensache, dass er auch beim Derby FCZ-GC am 2. Oktober 2011 im Letzigrundstadion dabei war. Die Stimmung unter den Anhängern war gerade noch gelassen, dann aber stieg die Anspannung. Eine Provokation gegen einen gegnerischen Fan in der aufgeheizten Atmosphäre eines Stadions kann wirken wie der Schmetterlingsflügelschlag, der die Welt ins Chaos stürzt. Eine Provokation zurück. Und schon ist eine Massenkeilerei im Gang. GC hatte soeben das 2:1 erzielt, da zündeten seine Fans eine FCZ-Fahne an. Radovan und seine Kumpels erzürnte das derart, dass sie aus der Südkurve zur Ost-Tribüne in Richtung des FanBlocks der Hopper stürmten. Panik brach aus. Eine Feuerdusche prasselte auf Kinder und Frauen herab. Die Seenot-Rettungsfackeln, auch «Bengalos» genannt, entwickeln bis zu

2500 Grad Hitze, brennen 60 Sekunden lang und können nicht gelöscht werden. Die Schutzengel hatten alle Hände voll zu tun. In den darauffolgenden Tagen veröffentlichten Medien die Fotos der Bengalo-Chaoten. Radovan stellte sich. Entsetzen und Empörung schlugen über ihm zusammen. Vor einem Jahr wurde der Pöstler vom Bezirksgericht wegen Gefährdung des Lebens, versuchter einfacher Körperverletzung, mehrfacher Widerhandlung gegen das Sprengstoffgesetz sowie wegen Verstosses gegen das Vermummungsverbot zu zwei Jahren Freiheitsentzug bedingt verurteilt. Radovan hat ein offenes, freundliches Gesicht, kleidet sich gepflegt. Als intelligent, zuverlässig und konfliktfähig beschreibt ihn seine Chefin. Sein Verteidiger will den «blödsinnigen» Fackelwurf bloss als versuchte einfache Körperverletzung qualifiziert sehen. Niemand sei verletzt worden. Die Gefahr einer schweren Körperverletzung habe nie bestanden. Dem stimmt das Obergericht nicht bei. Das Risiko, eine solche zu verursachen, sei gross gewesen. «Hätten Sie ein Auge getroffen, wäre es weggeschmolzen, das Gesicht entstellt, die Haare in Brand gesteckt», sagt der Richter vorwurfsvoll. «Und das alles, weil Sie sich provoziert fühlten, als jemand einen Fetzen Stoff anzündete. Ich verstehe diese Fankultur nicht.» Das Obergericht bestätigt das Strafmass der Vorinstanz, allerdings stuft es die Tat als schwerer ein, nämlich als versuchte schwere Körperverletzung. Radovan und sein Verteidiger sind als Verlierer vom Feld gegangen. Allerdings wird es noch ein Rückspiel geben – vor Bundesgericht. * persönliche Angaben geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 302/13


Leserbriefe «Viele Kunden wenden sich kopfschüttelnd ab» Nr. 299: Ausgedruckt, abgedrückt 3D-Print «Ich sah erst einmal sehr erstaunt aufs Titelbild» Als ich gestern Vormittag bei meiner äthiopischen Surprise-Verkäuferin, die für mich zur Freundin geworden ist, im Einkaufszentrum von Stäfa das neuste Heft kaufen wollte, sah ich erst einmal sehr erstaunt aufs Titelbild. Eine Pistole, eine männliche, hellhäutige Hand mit dem Zeigfinger am Drücker, was soll das bedeuten? Bevor ich den Untertitel las, sagte mir meine Freundin schon, viele ihrer Kunden würden sich kopfschüttelnd abwenden. Sie würde lieber die Rückseite des Magazins hinhalten. Nachdem ich den Artikel auf den Seiten 10 bis 13 ausführlich gelesen hatte, wurde mir der Zusammenhang mit dem Titelblatt klar, aber für mich ist und bleibt es eine vollkommen falsche Bildwahl. Für die Verkäuferinnen und Verkäufer ist es kaum möglich, Kunden den Zusammenhang mit dem Artikel zu erklären. Ich stelle mir vor, dass nicht bloss meine Freundin aus Äthiopien mit dieser Ausgabe weniger Hefte verkaufen wird. «Glücklicherweise» ist es eine weisse Hand, die die Waffe hält, sonst würden Fremdenhasser rasch sagen, es sei die Hand eines kriminellen Asylbewerbers. Ich bin eine langjährige Kundin von Surprise, schätze die gut fundierten Artikel über aktuelle sozialpolitische Themen. Dank Surprise habe ich eine äthiopische Freundin gefunden! Ursula Bolli, Stäfa

«Ist Ihre Kreativität tatsächlich dermassen beschränkt?» Ein kleiner Kommentar zu Ihrem letzten Heft von einer regelmässigen Surprise-Leserin. In Ihrer Titelgeschichte präsentieren Sie den sehr kreativen 3D-Drucker. Ihre Kreativität beschränkt sich auf eine Pistole. Ist Ihre Kreativität tatsächlich dermassen beschränkt, oder war das eine bewusste Provokation? Doris Belz, Zürch «Eine Waffe abzubilden, finde ich eine echte Zumutung» Mit der Titelseite Nr. 299 habt Ihr aber gewaltig danebengegriffen! Eine Waffe abzubilden und dann noch von den Verkaufenden, die teilweise schlimme Kriege im Herkunftsland erlebt haben, zu erwarten, dass sie mit dieser Nummer auf die Strasse gehen, finde ich eine echte Zumutung! «Meine» Verkäuferin, die aus Somalia kommt, hat jedenfalls keine Freude am Verkauf gehabt. Das habe ich ihr schon von Weitem angesehen und das hat sie auch von sich aus bekundet. Ein entsprechendes Bild zum Artikel innen hätte genügt. Minie Storm Le Heux, per E-Mail «Kompliment, immer tolle Storys» Vorgestern habe ich Surprise wieder mal gekauft. Kompliment, immer tolle Storys! Vor allem die mit dem 3D-Drucker hat mich interessiert. Auch die Fotos sind toll. Vincenzo Larocca, Bern

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

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BILD: ZVG

Korrigendum – In der letzten Ausgabe (Nr. 301) ging der Fehlerteufel um: Die Kolumne Zugerichtet («Betrüger im Anzug») wurde nicht von Isabella Seemann verfasst, wie fälschlicherweise angegeben, sondern von Yvonne Kunz, die das Zugerichtet im Wechsel mit ihr schreibt. Und das Porträt über Jarosław Duda («Der Pfarrer mit der Liebes-Garage») stammt nicht von Fabienne Schmuki, sondern von Manuela Donati. Wir entschuldigen uns für die Verwechslung.

Starverkäufer René Metzger Daniela Bretscher schreibt uns: «René Metzger, der das Magazin in der Zürcher Altstadt verkauft, ist mein Lieblings-Surprise-Verkäufer. Immer gut gelaunt steht er bei jedem Wetter in der Münstergasse und bietet den Entgegenkommenden die neueste Ausgabe des Strassenmagazins an. Sein Lächeln leuchtet durch die Gasse und lädt zum Plaudern ein. Ich freue mich stets, ihn zu sehen.»

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Porträt Flucht in die Arbeit Alam Hajabo war bis vor Kurzem der Wirt des stadtbekannten Café Damas in Basel. Seine anpassungsfähige und zurückhaltende Persönlichkeit macht ihn zu einer Art Musterflüchtling – obschon er sein Heimatland Syrien vor vielen Jahren aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hat. Fernsehberichte über den Krieg in seiner alten Heimat verträgt er nicht. VON STEFAN BOSS (TEXT) UND LUCIAN HUNZIKER (BILD)

Seit zwei Jahren herrscht Krieg in Syrien, seiner alten Heimat. «Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht daran denke», sagt Alam. Seine Schwester, die noch dort lebt, weint oft am Telefon. Einmal sah er im Fernsehen, wie ein kleiner Junge durch eine Granate getötet wurde. Seither schaut er, der selber vier Kinder hat, nicht mehr fern. Er liest, spricht mit den Leuten und ist dadurch informiert, was in Syrien passiert. Er stammt aus dem Norden, aus dem Gouvernement Rakka, nur etwa 80 Kilometer von der türkischen Stadt Urfa entfernt. Das Gebiet ist unter der Kontrolle der Rebellen. «Die Aufständischen kommen zu dir ins Haus und nehmen sich, was sie wollen», sagt der Exil-Syrer bitter. Er entstammt einer begüterten Familie, Landbesitzer, die unter dem Regime der Assads – zuerst des Vaters, dann des Sohns und jetzigen Prä-

Er sitzt auf einem dreibeinigen Schemel gleich neben der Kasse in seinem Lebensmittelladen in Kleinbasel. Die Haare kurz geschnitten, blickt er mit wachen Augen immer wieder zum Eingang: So sieht er sofort, wenn ein neuer Kunde kommt. Im Sortiment seines arabischen Spezialitätengeschäfts führt er Fladenbrot, Hummus (Kichererbsen), arabische Gewürzmischungen. Und auch Wein – stört das die muslimische Kundschaft nicht? «Diejenigen, die sich daran stossen, kommen nicht», sagt Alam Hajabo, der sich selber Alam oder Herr Alam nennt. Der 53-Jährige stammt aus Syrien. In die Schweiz kam er vor fast drei Jahrzehnten – über Italien und eine Schweizerin, die er dort kennenlernte und später heiratete. Vor ein paar Jahren hatte er ein Geschäft mit ausschliesslich arabischen Spezialitäten, das lief nicht so gut. «Ich musste lernen, mich an «Eine Wand kann man rasch wieder reparieren, einen Menschen die lokalen Begebenheiten anzupassen», sagt wieder in die richtige Bahn zu bringen, braucht viel Zeit.» er. Deshalb verkauft er neben dem arabischen Fladenbrot nun auch Wein, Bier und Snacks. Der Laden an der Unteren Rebgasse befindet sich mitten in Kleinbasidenten – gut lebte. Vor dem Krieg brummte die Wirtschaft, die Bevölsel, einem Schmelztopf der Kulturen. Das Quartier gehört zu den lebenkerung habe davon profitiert, sagt Herr Alam. «Natürlich war Syrien im digsten der Stadt, ist wegen des hohen Ausländeranteils national beVergleich zur Schweiz eine Diktatur.» Im Vergleich zu Ägypten unter kannt. «Salem aleikum.» Ein arabisch sprechender Mann hat den Laden Hosni Mubarak, den die Aufständischen im Arabischen Frühling stürzbetreten, wechselt ein paar Worte mit dem Besitzer, kauft sich einen Imten, sei es aber schon fast eine Demokratie gewesen. biss. Es ist ein Palästinenser mit israelischem Pass, der ebenfalls in der Alam, der inzwischen Baklava und Tee aufgetischt hat, neigt dazu, Schweiz Zuflucht gesucht hat. die Schattenseiten des Assad-Regimes mit Licht auszufüllen. Dass seine Bis vor zwei Monaten hatte Herr Alam auf der andern Seite des Truppen möglicherweise chemische Waffen einsetzen, wie Le Monde Rheins, in Grossbasel, ein Lokal: Lange Jahre war er der Wirt des stadtschrieb, kann er nicht glauben. Wäre es am besten, wenn Assad den bekannten Café Damas, nur ein paar Schritte vom pulsierenden BarfüsAufstand niederschlagen könnte? Nein, es brauche eine Übergangsreserplatz entfernt. «Es ist sehr schade, dass ich dort weg musste», sagt er gierung und freie Wahlen, findet er. Dann könnte er sich auch vorsteltraurig. Die Kneipe war liebevoll eingerichtet, bekannt für knusprige Falen, wieder zurückzukehren. Aber das steht zurzeit nicht zur Diskuslafel zu einem günstigen Preis. Viele Besucher waren Schweizer. Die Besion. Der Krieg mache viel kaputt, sagt Alam. «Eine Wand kann man sitzerin, die Warteck Invest, saniert das Haus umfassend und will es dann rasch wieder reparieren, einen Menschen wieder in die richtige Bahn zu neu vermieten – zu deutlich höherem Preis. «Ich weiss nicht, ob sie die bringen, braucht viel Zeit.» erhoffte Miete hereinbringen können», sagt der Ex-Wirt diplomatisch. Die Arbeit lenkt ihn ab von den schrecklichen Geschehnissen in seiGeflüchtet aus Syrien ist er 1982, als ein Konflikt zwischen dem syriner Heimat. Er steht früh auf, zweimal pro Woche beliefert er Geschäfschen Regime und den Muslimbrüdern ausgebrochen war. Er sah für te und Restaurants in Zürich mit Fladenbrot, er macht den Direktimport. sich keine berufliche Perspektive mehr und befürchtete, als Reservist Und er ist auch Anlaufstelle für Asylbewerber aus Syrien und andern zum Militärdienst eingezogen zu werden. In der Schweiz dürfte er auch Ländern, die in seinen Laden kommen und eine Auskunft brauchen. von Menschen Anerkennnung finden, die sonst kein Herz für Vertriebe«Da nehme ich mir jeweils schon kurz Zeit.» ne haben. Er ist erfolgreich, arbeitsam, bescheiden, zurückhaltend und «Tor, Tor!», schreit auf einmal sein erwachsener Sohn begeistert. Er anpassungsfähig. Das Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene? hatte die ganze Zeit ziemlich schweigsam hinter der Ladentheke gesesFindet er unnötig. Zur Verschärfung des Asylrechts will er sich nicht sen und auf sein Handy gestarrt. Soeben ist St. Gallen gegen Grasshopäussern. Darüber sollen die Schweizer entscheiden, sagt Herr Alam. Er, pers 1:0 in Führung gegangen, dies hilft dem FC Basel im Rennen um der den roten Pass durch Heirat mit einer Schweizerin seit über 20 Jahdie Fussballmeisterschaft. ren besitzt, hat noch nie an einer Abstimmung teilgenommen. Das überSpäter konnten die Zürcher das Spiel zwar noch wenden, da aber auch lässt er den Eingesessenen. Sein Herz schlägt aber sportlich für die Basel seine Partie gewann, sicherte es sich quasi den Meistertitel. Es wurSchweiz: Wenn die Fussball-Nationalmannschaft oder Roger Federer de noch ein freudiger Abend für Herrn Alam und seinen Sohn. ■ spielen, dann fiebert er mit und hofft, dass sie gewinnen. SURPRISE 302/13

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BILD: MARKUS JUD, NIEDERURNEN

Gewässerbau Als in der Linthebene die Wogen hochgingen Ende April wurde das neue Linthwerk eingeweiht. Erstmals wurde ein grosses Schweizer Fliessgewässer nach dem neuen Wasserbaugesetz saniert. Das ging nicht ohne Konflikte: Bei der Ausführung haben sich Ingenieure, Bauern und Umweltschützer heftig gestritten. Vier Involvierte erinnern sich.

VON MARTINA HUBER

Die Dämme drohen zu brechen. Braune Wassermassen wälzen sich durch den Kanal und füllen ihn bis fast zu den Dammkronen. An manchen Stellen sickert das Nass durch das vor mehr als 100 Jahren aufgeschüttete Erdwerk. Über Tage hat es stark geregnet, und das Schmelzwasser des schneereichen Winters hat den Walensee gefüllt. So fliessen an Auffahrt 1999 jede Sekunde 330 Kubikmeter Wasser durch den Linth-

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kanal. Im Unterlauf, von Benken bis zur Mündung in den Zürichsee, ist das ein Problem: Hier liegt das Bett des Flusses höher als das umliegende Land. Holländische Verhältnisse. «Das Hochwasser 1999 hat uns geholfen», sagt Markus Jud gut 13 Jahre später vor dem Benkner Landgasthof Sternen. «Es hat allen gezeigt, dass die alten Dämme nicht mehr sicher sind und dringend saniert werden müssen.» Markus Jud ist Ingenieur und hat seit 1998 das Projekt «Linth 2000» begleitet, in dessen Rahmen der Linth- und der Escherkanal SURPRISE 302/13


saniert wurden (siehe Box). Nach zehn Jahren Planung und fünf Jahren Bauzeit ist das 126 Millionen Franken teure Projekt nun abgeschlossen. Als die Eidgenössische Tagsatzung am 28. Juli 1804 die Korrektion der Linth beschloss, war die Linthebene versumpft und eine Brutstätte für Mücken, die Bewohner litten unter «Gfrörer» und dem «kalten Fieber», die heute von manchen als Malaria gedeutet werden. Der Gebirgsfluss hatte in der Ebene so viel Geschiebe und Schutt angehäuft, dass der Walensee nicht mehr abfliessen konnte. So stieg der Seespiegel stetig, setzte Teile von Weesen und Walenstadt unter Wasser und liess die obere Linthebene immer mehr versumpfen. Deswegen plante man zwei Kanäle: Der Molliserkanal sollte die Linth in den Walensee leiten, der Linthkanal vom Walensee in den Zürichsee führen. Die Leitung für das ehrgeizige Projekt übertrug die Tagsatzung dem Zürcher Kaufmannssohn Hans Conrad Escher, der es zwischen 1807 und 1823 verwirklichte. Der Walensee senkte sich in der Folge deutlich ab, die Schifffahrt zwischen den beiden Seen war wieder sichergestellt.

Dennoch ist Stefan Paradowski nicht zufrieden. «Es ist ein hässlicher Kompromiss», sagt er. Die Linthverwaltung habe es allen Recht machen wollen. Und sogar eine geplante Massnahme wieder gestrichen, welche die Behörden als unabdingbaren Bestandteil des Projektes bezeichnet hatten: Die Aufweitung des Escherkanals beim sogenannten Kundertriet, die als Schutz gegen Hochwasser wie auch als Auenlandschaft als Rückzugsgebiet für Tiere fungieren sollte. Denkmalschützer sahen diese Massnahme als Zerstörung von Eschers Werk. An einer ausserordentlichen Gemeindeversammlung in Mollis sprachen sich zwei Drittel der anwesenden Stimmbürger dafür aus, dass der Escherkanal unverändert erhalten bleibe. In der Folge verzichtete die Linthkommission auf eine Verbreiterung des Flusslaufs im Kundertriet. So blieben nur zwei von drei geplanten Aufweitungen im Projekt, eine am Escher- und eine am Linthkanal. «Eine ökologische Minimalvariante», sagt Paradowski. Im Rahmen der Sanierung sind allerdings mehrere Hektaren Land der intensiven Landwirtschaft entzogen worden, um das Kaltbrunner Riet zu vergrössern und mit nahe gelegenen Schutzgebieten zu vernetzen. Sogar der Eisvogel brütet nun wieder an einigen Stellen in der Linthebene. Wo genau, verrät Paradowski nicht. Während sich Stefan Paradowski bei der Linthsanierung mehr Ökologie gewünscht hätte, kämpften andere von Anfang an gegen jeglichen Kulturlandverlust. So forderte etwa nach Veröffentlichung des Vorprojektes im Mai 2004 eine kantonale Petition, dass die Sanierung das bestehende Linthwerk nicht verändere und dass dabei kein landwirtschaftliches Kulturland «für unnötige Projekte» geopfert werde. 8836 Leute unterschrieben. Dennoch: Die Bauern, die vom Landbedarf des Projektes am meisten betroffen waren, machten keine Einsprache, als es im Herbst 2005 öffentlich aufgelegt wurde. Dass dies gelungen ist, ist nicht zuletzt dem

Wo Iltis und Hermelin jagen Nach seinem Tod erhielt Escher für seinen unermüdlichen Einsatz den Beinamen «von der Linth» sowie ein Denkmal bei Ziegelbrücke, und der Molliserkanal wurde ihm zu Ehren in Escherkanal umbenannt. «Auch ich bin ins Linth-Escher-Schulhaus gegangen als Bub», erinnert sich der Linth-Ingenieur Markus Jud, «Escher war unser Vorbild. Und so sind hier viele aufgewachsen.» Dass die Veränderung von Eschers Erbe manchen Leuten Mühe bereitete, kann er deshalb ein Stück weit nachvollziehen. Gefasst war er auch auf ein Ringen rund um Ökologie und Kulturland. Denn nach dem 1993 in Kraft getretenen revidierten Wasserbaugesetz müssen Gewässer bei einer Sanierung auch ökologisch aufgewertet werden, was oft auf Kosten von Landwirtschaftsflächen geht. Bei der Linthsanierung war zudem Kulturland nötig, um die Dämme in Benken breiter und stabiler zu machen. Um die Konflikte zu minimieren und gemeinsam Lö«Diese ökologische Minimalvariante ist ein hässlicher sungen zu finden, haben die Projektverantwortlichen sowohl die beschwerdeberechtigKompromiss», findet Umweltschützer Paradowski. ten Umweltverbände als auch die Landwirtschaft von Anfang an mit einbezogen. Beide Einsatz des Benkners Franz Schuler zu verdanken. Sein Hof liegt in der konnten ihre Interessen in der Begleitkommission vertreten. Dennoch Ebene links der Linth, noch in Benken. Während Jahren war er Gekam es zu Einsprachen bis vor Bundesgericht. Allerdings von einer Seimeinderat in Benken, CVP-Kantonsrat sowie Präsident des im Juli 2000 te, von der die Planer es nicht erwartet hätten. gegründeten Landwirtschaftsforums Linth. Als solcher vertrat er die Das Kaltbrunner Riet ist der letzte Überrest des Sumpfes in der LinthInteressen der Landwirtschaft in der Begleitkommission des Sanieebene. Wie eine Insel liegt das Flachmoor inmitten von Landwirtrungsprojektes – so lange, bis eine Gruppe wütender Bauern die Auflöschaftsland. Eine Insel, wo Iltis und Hermelin jagen, wo Laubfrosch und sung des Forums erreichte. Kammmolch noch einen Laichplatz finden, wo im Sommer der grosse Moorbläuling und die kleine Binsenjungfer fliegen. Ein sogenanntes Ein kleines Detail sorgt für grossen Ärger Ramsar-Schutzgebiet von internationaler Bedeutung, das Schnepfen Auch Franz Schuler war für ein Projekt mit möglichst wenig Kulturund anderen Wasservögeln den weit und breit einzigen Ort zum Brüten landverlust und möglichst wenig ökologischen Massnahmen. Dass für und zur Rast auf dem Durchzug bietet. die Sanierung des Linthkanals am Ende 28 Hektaren Kulturland für die Stefan Paradowski fühlt sich hier zu Hause. Der doktorierte KunsthisLandwirtschaft verloren gingen, davon 22 Hektaren auf dem Gebiet der toriker und ehemalige Geschäftsführer des WWF Glarus ist nur einige Gemeinde Benken, findet er heute noch schade. Das sei mehr Land, als 100 Meter entfernt aufgewachsen und schon als kleiner Bub hier umer selbst bewirtschafte. «Und es war intensiv genutzte Fläche. Land, auf hergestreift. Auf dem Hochsitz mitten im Moor hat er mehrmals Silvesdem man hätte Lebensmittel anbauen können.» Rein vom Hochwasserter gefeiert. Und nur einige hundert Meter weiter, im Schloss Grynau, schutz her hätte man das nicht gebraucht. «Aber die Gesetzgebung ist hat er 1999 mit andern Vertretern beschwerdeberechtigter Umweltvernun halt so.» bände den Verein Linthrat ins Leben gerufen. Er übernahm das Amt des Vor allem aber habe er von Anfang an gewusst, dass die LinthGeschäftsführers. verwaltung das Land bekommen würde. Notfalls mit Enteignungen. DesAls solcher hat er über die Jahre zahlreiche Exkursionen und Experhalb beschloss er, möglichst gut mit den Verantwortlichen zusammentenvorträge organisiert, an die 100 Medienmitteilungen verfasst, und zuarbeiten, sich einzubringen – und so das Bestmögliche für die Landschon lange vor der Projektleitung hat er bebilderte Broschüren herauswirtschaft herauszuholen. «Und ich denke, das haben wir. Es ist ein gutgegeben, die zeigten, wie eine ökologische Sanierung der Linth ausseschweizerischer Kompromiss.» Dass in Benken kein einziger Bauer Einhen könnte. Als die Umweltverbände Einsprache machten gegen das sprache gegen das Projekt gemacht habe, liegt laut Schuler vor allem darAuflageprojekt und ökologische Zusatzmassnahmen im Wert von zehn an, dass am Ende alle Realersatz für ihr Land bekamen. «Alle haben nun Millionen Franken vereinbaren konnten, sorgte dies in Bauernkreisen gleich viel Land wie vorher. Kein Einziger musste enteignet werden.» für Unmut. SURPRISE 302/13

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Markus Jud begleitete die Sanierung als Ingenieur.

Umweltschützer Stefan Paradowski erhob Einsprache gegen das Projekt.

kurz vor Projektauflage. Um die Aufweitung beim Hänggelgiessen zu Einsprachen gegen das fertige Projekt gab es dennoch. Nicht aus Benverhindern, gründeten die Schänner Bauern die IG Hochwasserschutz. ken, sondern aus der Nachbargemeinde Schänis. Von Bauern, die sich Um die einzige Vertretung der Landwirtschaft zu sein, traten sie dem bis Herbst 2005 nicht für das Projekt interessiert hatten. Weil sie glaubLandwirtschaftsforum bei und lösten es mit Mehrheitsbeschluss kurzten, es betreffe sie nicht. Denn bei Schänis fliesst die Linth noch in einem erhand auf. Nahmen sich einen Anwalt, erhoben Einsprache gegen das tiefen Bett, und so lange die Leute zurückdenken können, ist sie hier nie Projekt, legten Beschwerde bei Verwaltungsgericht ein. Ein Teil ging bis über ihre Ufer getreten. Erst vom sogenannten Hänggelgiessen an erhebt vor Bundesgericht. Ohne Erfolg. sich das Bett des Flusses über die Ebene. Mitglied bei der IG Hochwasserschutz waren auch Ruedi und Priska Und genau an dieser Stelle planten die Projektverantwortlichen den Seliner. Sie bewirtschaften das Land, das an den Hänggelgiessen grenzt, sogenannten Überlastfall. Das heisst: Falls der Kanal einmal mehr Wasund mussten selbst eine halbe Hektare für die Aufweitung geben. Direkt ser führt, als die Dämme in Benken zu fassen vermögen, wird hier Wasser in den Hintergraben, einen Nebenkanal zur Entlastung des Hauptflusses, herausgeleitet, Kulturlandverlust, Umweltschutz, Überlastfälle – die Konflikte um einen Dammbruch weiter unten zu verhinin der Linthebene wiederholen sich bei den Sanierungen von dern. Für die Ingenieure war der Überlastfall Rhone und Alpenrhein. ein Notfallkonzept für ein Hochwasser, das nur alle 300 Jahre einmal auftreten sollte. Ein an ihrem Hof vorbei fliesst der Steinerrietkanal, einer der Bäche, die technisches Detail, dessen emotionale Wirkung sie unterschätzten, wes2005 über die Ufer traten. Heute ist die Wut der Seliners verraucht. Auch halb sie die betroffenen Schänner Bauern nie direkt informierten. Erst in Angst ist nicht mehr spürbar, als sie über den neu erstellten rechten der Broschüre, die kurz vor Projektauflage an alle Haushalte der Region Linthdamm gehen und die Aufweitung betrachten. Wo früher noch ging, lasen die Betroffenen davon, dass ihre Ebene bei einem extremen Damm war, fliesst nun die Linth. Der neue Damm führt in einem Bogen Hochwasser unter Wasser gesetzt würde. um die grosse Kiesfläche herum, die noch vor vier Jahren eine von Bäumen umgebene Wiese war. Eigentlich sehe es gar nicht schlecht aus, fin«Es ist nicht gesund, sich ständig aufzuregen.» det Ruedi Seliner. Ein paar offene Fragen habe er schon noch. Aber er Dass das Millionenprojekt den Hochwasserschutz in ihrer Gemeinde wolle nicht mehr als Verhinderer hingestellt werden, er wolle Frieden. nicht verbessern, sondern ein neues Problem schaffen sollte, weckte ih«Es ist nicht gesund, sich ständig aufzuregen.» re Wut. Und die Angst, dass der Überlastfall mit einem Hochwasser der Dass Ruedi und Priska Seliner nun doch einigermassen zufrieden Schänner Wildbäche zusammenfallen könnte – denn diese hatten die sind mit dem Projekt, kommt aber nicht von ungefähr. Es hat mit einem Ebene immer wieder unter Wasser gesetzt, zuletzt im Sommer 2005,

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BILDER SEITEN 12 UND 13: MARTINA HUBER

Franz Schuler vertrat die Interessen der Bauern.

Ruedi und Priska Seliner wollen nicht als Verhinderer dastehen.

Hochwasser zu tun. Beziehungsweise mit einem Hochwasser, das nicht stattgefunden hat: Im Herbst 2012 regnete es stark – ähnlich stark wie 2005 oder 2007, als die Schänner Bäche über ihre Ufer traten. Doch im Herbst 2012 gab es kein Hochwasser. Die Bäche stiegen an – und flossen ab. Dass der Ausbau des rechten Hintergrabens von 55 auf 80 Kubikmeter Abflusskapazität tatsächlich etwas bringen würde, hatte Ruedi Seliner vor vier Jahren nicht geglaubt. «Aber nun habe ich es mit eigenen Augen gesehen.» Und er wagt sogar eine Prognose: «Ich glaube, ein Hochwasser wie 2005 werden wir hier in der Ebene nicht mehr erleben.» Laut Roberto Loat vom Bundesamt für Umwelt (BAFU), der «Linth 2000» in der Projektphase eng begleitete, hat die Linthsanierung Vorbildcharakter. Sie ist das erste grosse Hochwasserschutzprojekt der Schweiz, das nach Inkrafttreten des neuen Wasserbaugesetzes abgeschlossen wird. Als solches erfüllt sie nicht nur die gesetzlichen Mindest-Anforderungen, sondern auch alle zusätzlichen Mehrleistungen, die das BAFU erst 2008 definiert hat. Deshalb übernahm der Bund am Ende 45 Prozent der Projektkosten anstelle der 35 Prozent, die das Wasserbaugesetz vorsieht.

Linth-Ingenieur Markus Jud ist froh, ist das Projekt abgeschlossen. «Jetzt kommen plötzlich alle und gratulieren mir», sagt er. Viele hätten sich auch bei ihm entschuldigt. Er möchte nun einen Schlussstrich unter das Ganze ziehen. Obschon: «Ein fertiges Werk hinterlassen wir nicht.» Wie in den letzten 200 Jahren müsse auch in Zukunft immer wieder an der Linth gearbeitet werden. «Wir sind nur eine Episode in der langen Geschichte des Werks.» ■

Nur eine Episode Dass sich andere Hochwasserschutzprojekte an «Linth 2000» orientieren, zeigte sich schon während der Bauarbeiten: Laut Loat haben Projektplaner aus der ganzen Schweiz Ausflüge zur Linth unternommen, um sich genau zu informieren. Bei den laufenden Sanierungen von Rhone und Alpenrhein zeige sich zudem, dass sich andernorts dieselben Konflikte wiederholen, die an der Linth ausgetragen wurden: «Auch da wird heftig um Kulturlandverlust, um mehr oder weniger Ökologie und um den Überlastfall gestritten», sagt Loat. SURPRISE 302/13

Hochwasserschutz nach neuem Wasserbaugesetz Das Linthwerk umfasst den Escherkanal, der die Linth von Mollis an in den Walensee führt, den Linthkanal, der sie vom Walensee in den Zürichsee leitet, sowie verschiedene Nebenkanäle. Um das Linthwerk für weitere 100 Jahre hochwassersicher zu machen, beschloss man im Jahr 1998 seine Gesamtsanierung. Die Planung des 126 Millionen Franken teuren Projektes «Hochwasserschutz Linth 2000» dauerte bis 2005, die Umsetzung von September 2008 bis November 2012. Mit der Linthsanierung ist das bisher grösste Schweizer Hochwasserschutzprojekt abgeschlossen, welches nach Inkrafttreten des revidierten Wasserbaugesetztes angegangen wurde und dessen neuen Anforderungen nachkommen muss: Das Gesetz verlangt neben baulichen auch raumplanerische und ökologische Massnahmen – namentlich einen möglichst natürlichen Flussverlauf zur Schaffung von Lebensraum für eine vielfältige Pflanzen- und Tierwelt. In der Praxis gehen diese Massnahmen oft auf Kosten von Landwirtschaftsland.

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BILD: ISTOCKPHOTO

Sozialhilfe Unter Behördendruck Eine neue Fachstelle hilft Sozialhilfeempfängern, die unter Behördenfehlern leiden. Ein dringend nötiges Angebot – denn Armutsbetroffene kommen durch die Missbrauchshysterie immer stärker unter Druck.

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VON KARIN FREIERMUTH

am Ende meiner Kräfte und dazu zum zweiten Mal schwanger. Es gab Tage, an denen ich kein Geld für das Essen hatte. Das Sozialamt wimmelte mich ab. Niemand glaubte mir, in welch prekärer Situation ich war.»

Es steht noch nicht viel in der neuen Wohnung von Arjona Basha*: ein Tisch, zwei Stühle, eine grosse Matratze und ein Fernseher – gebrauchte Rechtsschutz für die Schwächsten Ware, welche die junge Frau von Freunden geschenkt bekommen hat. BeGemäss Andreas Hediger von der UFS findet die persönliche, vor Arjona Basha Anfang März in ihre Blockwohnung im Kanton Zürich menschliche Beratung von Sozialhilfeempfängern auf vielen Ämtern zog, hatte sie nichts – nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Die 22-Jähnur marginal statt: «Das Wirtschaftliche steht meistens im Vorderrige ist Sozialhilfeempfängerin und bekam die neue Härte der Behörden grund.» Das Engagement der UFS kommt unterschiedlich an: «Die einen zu spüren: Das Sozialamt ihrer früheren Wohngemeinde stellte die hochÄmter reagieren skeptisch auf uns, korrigieren ihre Fehler aber jeweils schwangere Frau samt ihrer einjährigen Tochter auf die Strasse. umgehend. Die anderen wollen erst gar nicht mit uns reden, weil die Heute erhält sie Besuch von Andreas Hediger, Berater bei der UnabFronten dermassen verhärtet sind.» hängigen Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS). Er war es, der sich dafür Die Arbeit geht Andreas Hediger nicht aus, denn das Angebot der einsetzte, dass die monatelange Odyssee durch den Ämterdschungel für UFS wird intensiv genutzt: 2012 haben sich die Beratungen gegenüber Arjona Basha ein Ende nahm, indem er ihr zu ihrem Recht verhalf – und dem Jahr 2011 verdreifacht. Die 120-Prozent-Stelle, die Hediger mit eizu einer neuen Wohnung. «Ich fühle mich sehr wohl hier und bin froh, nem Rechtsanwalt teilt, reicht bei Weitem nicht aus. Deswegen hat das dass die Leidensgeschichte endlich vorbei ist», erzählt sie. Team die Kriterien für eine Mandatsübernahme massiv verschärft und Die UFS ist eine Fachstelle in Zürich, die Armutsbetroffene kostenlos muss nun Hilfesuchende abweisen. Zentral ist und bleibt für die UFS über ihre Rechte informiert und sie aktiv bei deren Einforderung unteraber, dass sie rasch und unbürokratisch Hilfe leisten kann, zumal viele stützt. Die Stelle braucht es, weil die Streichung oder Kürzung der SoziBetroffene sehr lange damit warten würden, aufs Sozialamt zu gehen. alhilfe verheerende Folgen haben kann, gerade für unbescholtene Armutsbetroffene. «Wem nicht einmal mehr die Sozialhilfe die Lebenskosten bezahlt, dem dro«Es gibt auf den Sozialämtern Mitarbeitende, hen Obdachlosigkeit, Kindswegnahme und welche den Klienten systematisch die UnterRuin», sagt Andreas Hediger. Bei Fehlentscheiden der Behörden sei es wichtig, dass sich die stützungsleistung kürzen wollen.» Betroffenen effizient und rasch wehren könnAndreas Hediger, Berater bei der UFS ten, was aber kaum möglich sei, da die Hürden auf dem Rechtsweg hoch seien. «Zudem verfü«Weil der Bürokratismus auf den Ämtern enorm gestiegen ist – Betrofgen die Personen nicht über die finanziellen Ressourcen für einen fene müssen viele Formulare ausfüllen und Unterlagen vorweisen –, Rechtsanwalt. Und oftmals sind sie zu sehr von der Befriedigung überdauert es teilweise recht lange, bis ein Klient unterstützt wird. Wenn jelebenswichtiger Bedürfnisse wie Nahrungsmittelbeschaffung oder Wohmand keinen Franken mehr hat, kann das zu schwierigen Situationen nungssuche absorbiert, sodass sie nicht die nötige Kraft haben, sich geführen.» Die UFS kann in solchen Fällen unkompliziert auf unmittelbare gen erlittene Rechtsverletzungen zu wehren.» Notlagen wie Wohnungssuche, medizinische Versorgung und Nahrungsmittel eingehen, etwa indem sie auch mal direkt mit einem VerAuf die Strasse gestellt mieter spricht. Denn für Andreas Hediger steht die unmittelbare UmHediger sieht ein, dass Fehler auf den Ämtern passieren können, zusetzung der Menschenrechte stets im Mittelpunkt. «Der Rechtsschutz mal das Sozialhilferecht kompliziert ist. Er stellt aber auch immer wiefür die Schwächsten ist mir ein Anliegen. Jeder hat Respekt verdient. der fest, dass vor allem kleinere Gemeinden mit dem Vollzug der SoziAusserdem darf man nicht vergessen, wie schnell es gehen kann, dass alhilfe überfordert sind und dass es an qualifiziertem Personal mangelt. eine Person, die bis vor Kurzem noch über ein gutes ErwerbseinkomDazu kommen der anhaltende Spardruck und das latente Misstrauen men verfügte, auf Sozialhilfe angewiesen ist.» gegenüber Sozialhilfebezügern. «Das führt dazu, dass Betroffene heute Arjona Basha hat das Engagement der UFS geholfen. Dank der regelrecht beweisen müssen, dass sie keine Betrüger sind. Zudem gibt Unterstützung durch die Fachstelle erhielt die junge Familie wieder eies auf den Ämtern Mitarbeitende, welche den Klienten systematisch die ne Aufenthaltsbewilligung und eine neue Wohnung in einer anderen Unterstützungsleistung kürzen wollen.» Gemeinde. Hier fühlt sich Arjona Basha wohl: «Mein neuer SozialarArjona Basha und ihrer älteren Tochter wurden die Leistungen von beiter kümmert sich wirklich um mich. Er ist interessiert an unserem ihrer früheren Wohngemeinde um 15 Prozent gekürzt, obwohl für diese Wohlbefinden.» Dass sie nur mithilfe der UFS zu ihrem Recht kam, Massnahme kein rechtskräftiger Behördenentscheid vorlag. Dies war wirft ein indes schiefes Licht auf die Zustände in der Sozialhilfe. aber nur ein Grund, warum Arjona Basha die UFS aufsuchte, denn ihre ■ Situation ist schwierig und kompliziert. Sie reiste vor 16 Jahren zusam* Name geändert men mit ihren Eltern als Asylsuchende in die Schweiz ein und besitzt den Ausweis F für vorläufig Aufgenommene. Das Verhältnis zu ihren ElRechtliche und soziale Hilfe tern ist schwierig. Ihre zwei kleinen Kinder zieht sie alleine auf, da ihr Die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht UFS ist ein gemeinFreund keine Aufenthaltsbewilligung erhielt und nach Italien weggenütziger Verein in Zürich, der Armutsbetroffene rechtlich und sozial wiesen wurde, als sie mit dem ersten gemeinsamen Kind schwanger unterstützt. Die zwei Mitarbeitenden – Andreas Hediger und Pierre war. Nach dessen Geburt lebte Arjona Basha in einer Notwohnung für Heusser – beraten die Klienten kostenlos bei Fragen zur Sozialhilfe, Asylsuchende. Das ging solange gut, bis ihr Freund illegal in die begleiten sie bei Behördengängen und vertreten sie anwaltschaftlich Schweiz einreiste, um erstmals sein Kind in den Armen halten zu könin sozialhilferechtlichen Verfahren. Sie kämpfen gegen Behördenentnen. Er wurde erwischt und ausgeschafft. Das Sozialamt legte den Bescheide, die fehlerhaft, willkürlich und existenzbedrohend ausfallen. such als Verstoss gegen die Hausordnung aus und kündigte Basha. Zur Zielgruppe gehören neben Sozialhilfeempfängern auch PersoUnterstützung bei der Suche nach einem neuen Obdach erhielt sie nen, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten oder denen die Sozialhilfenicht, im Gegenteil: Sie wurde dazu gedrängt, sich beim Einwohnerkongelder rechtswidrig verweigert werden. trollamt abzumelden – was fatale Konsequenzen nach sich zog: Das Telefonische Beratungen finden jeweils montags und mittwochs statt Bundesamt für Migration entzog ihr die Aufenthaltsbewilligung. «Ich war (Tel. 043 540 50 41). www.sozialhilfeberatung.ch SURPRISE 302/13

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Medien Smartphones im Chindsgi Wir leben in einer digitalen Welt. Das wird sich mit der Einführung des Lehrplans 21 auch im Schulunterricht und im Kindergarten niederschlagen. Beat Döbeli Honegger, Dozent für Medienbildung und Informatikdidaktik, plädiert für einen altersgerechten Unterricht mit digitalen Medien.

VON FABIENNE SCHMUKI (INTERVIEW) UND LUC-FRANÇOIS GEORGI (BILDER)

Herr Döbeli Honegger, wenn Sie über digitalen Mediengebrauch reden, verwenden Sie oft Begriffe wie «kollektiv» und «aktiv». Führen allgegenwärtiger Smartphone-Gebrauch und Facebook nicht eher zur Vereinsamung und zum Verlust sozialer Kontakte und Kompetenzen? Ich habe das Gefühl, spätestens seit dem Aufkommen von sozialen Medien wie Facebook ist klar, dass man nicht mehr einsam vor dem Computer sitzt. Jugendliche schauen das nicht als Technik an. Für sie sind das Kommunikationsmedien.

kaum mehr damit nachkommen, auf alle E-Mails, SMS, Tweets und Facebook-Nachrichten zu antworten. Ich finde diese Aussagen von Sherry Turkle sehr spannend. Früher konnten sich Kinder während einer Europareise von den Eltern lösen: Sie waren dann zwei Wochen nicht erreichbar. Heute sagen die Eltern: «Schick uns eine SMS, wenn du gelandet bist.» Unsere Studierenden, angehende Kindergärtner und Primarlehrerinnen, erschrecken häufig, wenn ich sie mit ihrem eigenen Medienkonsum konfrontiere. Heute geht man mit Langeweile anders um als früher. Wenn ich früher an der Tramstation gestanden bin, musste ich mich irgendwie beschäftigen – heute nehme ich mein Smartphone raus und schaue etwas an. Dasselbe gilt für die Kinder. Wenn es Kindern langweilig wird, dann lautet der erste Impuls: Ich möchte zu dieser Maschine greifen, die mich beschäftigt.

Dennoch sitzt der Jugendliche dabei alleine vor dem Computer In einem Ihrer Artikel schreiben Sie: «In den vergangenen 40 Jahund kommuniziert über einen Bildschirm. ren hat sich die Technik stark weiterentwickelt, in den Schulen Das ist eine etwas einseitige Beschreibung der Realität, Kinder und hat sich jedoch vergleichsweise wenig getan.» Jugendliche sitzen oft auch zu zweit oder zu dritt vor dem Computer! So betrachtet: Sind Bücher nicht Vereinsamungstechnologien? Im Internet kursiert ein «Jugendliche sitzen auch zu zweit oder zu dritt vor dem Comlustiger Text mit der Frage, wie es wäre, wenn puter. So betrachtet, kann man sich fragen, ob nicht Bücher es seit 500 Jahren Computer gäbe und erst jetzt Vereinsamungstechnologien sind.» Bücher aufkämen. Dann würde ein Proteststurm losgehen, die Leute würden sagen: «Das Das Bildungssystem ist ein sich selbst bestätigendes, relativ träges ist ja schrecklich! Diese Kinder sitzen nur noch alleine herum und lesen System. Das hat auch Vorteile. Bildung soll nicht jeden «Hype» mitmaund die Bücher haben nicht mal Ton oder Bild. Das macht die Kinder chen, sie sollte längerfristig gültig sein. Verschiedene Teilsysteme der einsam, sie werden dick und phlegmatisch.» Schule bestätigen sich selber darin, dass es gut ist, so wie es ist. Dasselbe gilt für das Vorstellungsvermögen von Bildungspolitikern: Meist Kinder des Digitalzeitalters haben also nicht weniger Bewegung wird damit argumentiert, wie man es selber erlebt hat, als man noch zur und weniger Austausch untereinander? Schule ging. Dabei steht ausser Frage, dass alle Leute etwas über CheEs gibt eine kleine Prozentzahl von Kindern und Jugendlichen, die mie lernen sollten, auch diejenigen, die nicht Chemiker werden. Wir hasuchtgefährdet sind. Aber deswegen muss man digitale Medien nicht ben eine Informationsgesellschaft, man muss eine Ahnung davon haauf der ganzen Breite verteufeln. Vor Kurzem hat ein Sportdidaktiker an ben, wie Computer funktionieren. Doch die Reaktion lautet häufig: Aus der Projektschule in Goldau untersucht, wie viele Schritte Fünft- und mir ist auch etwas geworden, ohne dass ich etwas von Informatik beSechstklässler im Kanton Schwyz pro Tag machen. Gleichzeitig hat er griffen habe. Dasselbe könnte man bei gewissen Leuten auch mit der in einem Fragebogen den Medienkonsum erhoben. Das Resultat zeigt: Chemie sagen. Medienkonsum korreliert nicht mit der Schrittanzahl. Eine weitere Untersuchung ist die JAMES-Studie*, die zeigt, dass non-mediale FreiEs gibt Eltern, die ihre Kinder vor zu viel Medieneinfluss «schützen» zeitbeschäftigungen bei Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren nicht wollen. Andere Eltern führen ihre Kinder schon sehr früh an digitaan Bedeutung verloren haben. Es ist den Jugendlichen genauso wichtig, le Medien heran. Gibt es ein richtiges Mass an Mediengebrauch? Freunde zu treffen oder Sport zu treiben, wie bisher. Der wichtigste Punkt ist, dass ich mein Kind bei der Mediennutzung begleite und mir überlege, wie mein eigenes Medienkonsumverhalten Sherry Turkle, Soziologin und Professorin am Massachusetts Insaussieht. Ich kann nicht dauernd vor dem Fernseher sitzen und meinem titute of Technology MIT, beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren Kind sagen: «Das ist nichts für dich.» Ich finde beide Extreme problemit den Folgen der Digitalisierung. Sie hat extrem gestresstes matisch: Man sollte Kinder weder allzu lange von Medieneinflüssen Verhalten an Jugendlichen beobachtet. Schüler würden häufig

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fernhalten noch ist es eine gesunde Haltung, zu sagen: «Ach, du verstehst das eh besser, nimm das Tablet doch mit ins Kinderzimmer.»

«Die Lehrperson muss damit leben, dass der Schüler etwas besser weiss – oder Wikipedia in der Hosentasche des Schülers.»

Verändert sich das Weltbild von Kindern, wenn sie teilweise in einer virtuellen Welt aufwachsen? Sherry Turkles Untersuchungen im amerikanischen Raum haben beim Aufkommen des Internet gezeigt, dass sich die Identitätsfindung von Jugendlichen verändert hat. Plötzlich konnten sie in sozialen Netzwerken mit ihrer Identität spielen.

Müssten die Schulen gerade auf diesen Bereich der Identitätsfindung besonderen Wert legen? Ja, Identitätsbildung, das eigene Ich kennen, seinen Platz in der Gesellschaft finden zu können – dies hat schon immer zu den Aufgaben der Schule gehört. Auch das ist nicht brandneu: Die Diskussion über Markenkleider als problematische Präsentation des eigenen Egos ist älter als die digitalen Medien. Sie haben bereits mehrere Projekte mit digitalen Geräten auf Primarschulstufe durchgeführt. Gibt es Erkenntnisse, die Sie selber überrascht haben? Wir konnten vor allem unsere Erfahrungen bestätigen und Befürchtungen von Kritikern teilweise widerlegen. Unsere Praxis zeigte: Es kommt nicht so katastrophal raus, wie viele befürchten. Was mich überrascht hat, ist beispielsweise, dass die Kommunikation via soziale Medien in der Primarschule eine so grosse Rolle spielt. Ich meine das in positivem Sinne. Eine Klasse pflegte regen Austausch durch instant messaging, auch die Lehrperson war dabei. Der Lehrer sagte, er habe das Gefühl gehabt, diese Klasse sei enger miteinander verbunden gewesen während dieser Zeit. Und auch nachhaltiger. Der Lehrer hat sich nach dem Unterricht an einem virtuellen Gespräch mit der Klasse beteiligt? Ja, und nur schon durch Statusmeldungen hat er gewisse Schüler auch anders kennengelernt. Ein konkretes Beispiel: Eine gute, schüchterne Schülerin schreibt eine extrem schlechte Prüfung. Der Lehrer weiss dank der Statusmeldung der Schülerin, dass ihre Katze am Vorabend gestorben ist. Damit ist klar, dass diese Prüfung nicht normal gewertet werden würde. Das ist für mich ein kleines, feines Beispiel, das aufzeigt: Digitale Medien können dazu führen, dass man seine Schüler auf einem weiteren Kommunikationskanal anders anspricht. Ihrer Meinung nach sollte «Medienkompetenz» als eigenes Fach eingeführt werden. Ab Kindergartenstufe. Ja, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung je nach Schulstufe. Spannend ist zur Zeit Folgendes: Angehende Kindergartenlehrpersonen haben teilweise das Gefühl, sie würden den Erstkontakt der Kinder mit Medien herstellen. Dabei kommen heute schon Zweijährige mit Tablets und Smartphones in Berührung. Deshalb gilt: Wenn die Kinder in den Kindergarten kommen, haben sie bereits Medienerfahrung. Selbst Informatik kann ich auf einer sehr heruntergebrochenen Stufe in der Primarschule oder im Kindergarten unterrichten. Ein Kind, das ein Spiel mit starren Spielregeln spielt, befolgt eigentlich ein Programm. Ich kann in der frühen Primarschule sagen: «Wie könnte man die Spielregeln ändern? Was würde dann mit dem Spiel geschehen?» – Und schon fangen die Zusammenhänge an. Manche Kritiker sind der Meinung, Lehrer und Eltern, also «digital immigrants», könnten den Kindern, den «digital natives», nichts beibringen, da ihnen der Wissensvorsprung fehle.

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Beat Döbeli Honegger

Kinder bringen zum Teil das technische Wissen mit. Eltern und Lehrer die Lebenserfahrung. Also braucht es den Austausch. Ausserdem gehört das Thema «digitale Medien» in die Lehrerausbildung. Die Rolle der Lehrperson wandelt sich insgesamt. Die Lehrperson muss damit leben, dass der Schüler etwas besser weiss – oder Wikipedia in der Hosentasche des Schülers. Die Frage lautet: Wie geht die Lehrperson damit um? Sie sind selber auch Vater. Wie prägt das Thema «Kinder und digitale Medien» Ihren eigenen Alltag? Ich agiere stark nach dem Bauchgefühl. Im Hinterkopf höre ich jeweils meine eigenen Empfehlungen: Kinder müssen beim Umgang mit digitalen Medien begleitet werden. Dann denke ich mir: Ach, wie bequem wäre es jetzt, dem Kind einfach ein Computerspiel zu geben. Stattdessen sitze ich daneben und frage: «Was machst du jetzt da? Warum musst du das machen? Und was passiert, wenn du das machst?» Obwohl ich nach einem langen Arbeitstag todmüde bin und es schön wäre, ich könnte einfach Zeitung lesen. ■ * Jugend Aktivitäten Medien-Erhebung Schweiz JAMES (erarbeitet von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Zusammenarbeit mit Swisscom): Alle zwei Jahre werden über 1000 Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren in den drei grossen Sprachregionen der Schweiz zu ihrem Medienverhalten befragt. www.psychologie.zhaw.ch (Forschung > Psychosoziale Entwicklung und Medien) Beat Döbeli Honegger ist Professor an der Pädagogischen Hochschule Schwyz und Mitglied der Arbeitsgruppe «ICT und Medien» im Lehrplan 21. Er leitet die Projektschule Goldau, die Teil der Primarschule Goldau ist (www.projektschule-goldau.ch). Diese versucht, in einer Verbindung von Theorie und Praxis den Einsatz von digitalen Medien in der Schule zu erproben, zu untersuchen und zu dokumentieren. Döbeli Honegger ist 43 Jahre alt und hat einen fünfjährigen Sohn.

Der Lehrplan 21 ist der erste gemeinsame Lehrplan der 21 deutschund mehrsprachigen Kantone für die Volksschule einschliesslich Kindergarten. Er erleichtert die Mobilität und bildet eine einheitliche Grundlage für Lehrmittel und für die Lehrerausbildung. In einem Grundlagenprojekt wurde definiert, wie der Lehrplan konzeptuell aufgebaut wird. Im Sommer wird nun eine ausgearbeitete Version vorliegen, die in die Konsultation der Kantone gegeben und anschliessend überarbeitet wird. Im Herbst 2014 wird die Lehrplanvorlage zur Einführung an die Kantone übergeben. Über die Einführung entscheidet anschliessend jeder Kanton selber. Frühestens im August 2015 wird er in den ersten Kantonen in Kraft treten. Eingeführt wird «ICT (= information and communication technology) und Medien» als überfachliches Thema: Die Medienkompetenz soll nicht in einem eigenen Fach gelehrt werden, sondern in den allgemeinen Unterricht einfliessen. Die Schülerinnen und Schüler sollen die Bedeutung medialer Welten für die Gesellschaft und sich selber einschätzen können. Sie sollen zugrunde liegende Technologien und Konzepte kennen, die neuen Medien gezielt nutzen und zur Identitätsbildung und der Pflege sozialer Kontakte einsetzen können. www.lehrplan.ch SURPRISE 302/13


BILD: UNIVERSAL MUSIC

Black Sabbath Zugekifft in Zürich Rundherum schwärmten noch alle von Flower Power, da entdeckten Black Sabbath die Freuden der Dunkelheit und begründeten in einer Bar im Niederdorf einen ganzen Musikstil. Mehr als 30 Jahre nach ihrem letzten gemeinsamen Album will es die Band (fast) in Urbesetzung noch einmal wissen – und blickt im Gespräch zurück. SURPRISE 302/13

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VON HANSPETER KÜNZLER

aus einer Plastikflasche und ein bisschen Leder zwei neue Kuppen, stimmte die Gitarre so, dass die Saiten weniger stark angespannt waren, und zog statt konventionellen Gitarren-Saiten dünnere Banjo-Saiten auf. Auf diese Weise klang seine Gitarre anders, und Iommi machte sich emsig daran, seine Technik dem neuen Klang anzupassen. Die Riffs, die er dabei entwickelte, prägen den Heavy Metal bis heute.

Eigentlich hätte Ozzy Osbourne zum Interview erscheinen sollen. Aber, so erklärt die Plattenfirma, wegen einer «Familienkrise» habe er kurzfristig nach Los Angeles zurückfliegen müssen. Wie es sich herausstellt, sind mit der «Familienkrise» nicht seine Eheprobleme gemeint, welche gerade von der Boulevardpresse breitgeschlagen werden. VielEndloskonzerte im Hirschen mehr geht es um seine Tochter Kelly, die plötzlich zusammengebrochen Um die 20 Jahre alt waren sie alle – Osbourne, Iommi (seine italieniist und im Spital liegt, und um seinen 27-jährigen Sohn Jack. Dieser ist schen Eltern führten einen kleinen Laden), Butler und Jazz-Fan Ward –, an Multipler Sklerose erkrankt und muss sich dieser Tage einer Operaals sie sich im August 1968 zu einer Band zusammentaten. Das machte tion unterziehen, da wolle der Vater da sein für ihn. ihr Leben vorerst nicht einfacher. In Birmingham war Blues-Rock, wie Statt Ozzy, dem bauernschlauen Sänger mit den faulen Sprüchen, sitihn Black Sabbath in ihren Anfängen spielten, nicht gefragt, denn dort zen nun der für seinen zundertrockenen Humor bekannte Bassist Geewaren Soul und Reggae angesagt. Und in der smarten Londoner Szene zer Butler und der immer tadellos freundliche Gitarrist Tony Iommi auf hatten die Provinzknaben ohnehin keinen Stich. dem limousinenlangen Sofa im Luxushotel. Sie sollen erklären, warum Zu ihrem Stil, der sie berühmt machte, kamen sie eher zufällig. Es fiel eine Band, deren letzter Reunion-Versuch vor zwölf Jahren im Streit ihnen auf, dass die Schlange vor dem Kino immer dann am längsten endete, ausgerechnet jetzt ein neues Album mit dem Titel «13» veröfwar, wenn ein Horrorstreifen angesagt war. «Horror sells!», schlossen sie fentlicht. «Es ist unsere Sterblichkeit», erklärt Iommi, der im Februar 65 und tauften sich Black Sabbath. Es half, dass Butler, der die meisten Jahre alt geworden ist. Iommi leidet an Lymphdrüsenkrebs. «Ich erhielt Texte schrieb, aus gut-katholischer irischer Familie stammte und mit die Diagnose im Januar 2012. Es war natürlich ein Schock. Doch dann sagte ich mir: Jetzt erst recht! Wir hatten schon immer das Gefühl gehabt, es stecke «Wir schrieben ein Lied, mit dem wir eine glasklare pronochmal ein richtig gutes Album in uns. Die christliche Botschaft vermitteln wollten. Aber das Publikum Arbeit daran hatte bereits begonnen, als ich erwollte das nicht sehen.» krankte. Die Krankheit zeigte mir, dass ich keine Zeit hatte, herumzuhocken und zu warten.» dem Konzept von Satan wohl bekannt war. «Für mich war es eine starOb Iommi deshalb den armenischen Beitrag zum diesjährigen Eurovike Metapher», sagt er heute. «Das eigentliche Thema von vielen von unsion Song Contest komponierte, ist nicht bekannt. Tatsache ist, dass der seren Songs war – und ist – die Verrücktheit von Krieg und Konflikt. Die Song im Finale auf Rang 18 landete. wenigen Lieder, in denen es um Satanismus ging, sollten eine Warnung Die neue Dringlichkeit erklärt aber die Absenz von Schlagzeuger Bill davor sein, sich auf Dinge einzulassen, die man nicht richtig versteht. Ward, dem einzigen Urmitglied, das bei der Klassenzusammenkunft Wir schrieben ein Lied – ‹After Forever› –, mit dem wir eine glasklare fehlt. Iommi: «Die Verhandlungen mit ihm dauerten ewig. Wir konnten pro-christliche Botschaft vermitteln wollten. Aber das Publikum wollte einfach nicht mehr länger warten.» Der Drummer seinerseits stellte eine lange Erklärung auf seine Homepage, in welcher er sich bitterlich über den Vertrag beschwerte, den er hätte unterschreiben sollen – die Bedingungen seien geradezu beleidigend gewesen. «Ich weiss nicht, wie Ein anständiger Schlusspunkt er auf sowas kommt», erwidert Iommi. «Zwischen ihm und uns stand Zunächst nimmt man das erste ein Heer von Rechtsanwälten. Die haben das Klima vergiftet und sich Sabbath-Werk mit Ozzy Osbourdumm und dämlich daran verdient.» ne als Sänger seit 1978 relativ unbeeindruckt zur Kenntnis. Die Gitarrist ohne Fingerkuppen Band klingt mehr oder weniger Geld und Anwälte waren weit weg, als Iommi, Butler, Osbourne und wie auf ihren ersten Alben, atemWard in den späten Sechzigern ihre Band gründeten. In Aston, einer beraubend ist das nicht. Doch in grauen Ecke von Birmingham im englischen Mittelland, grassierte nicht der zweiten Hälfte zieht «13» eigerade die Arbeitslosigkeit, aber viele Möglichkeiten ausser einem nen dann doch in seinen Bann. Fliessband-Job in einer Fabrik gab es nicht. So fand Ozzy Anstellungen In Stücken wie «Age Of Reason» als Autohupentester und Schlachthofarbeiter, ehe er wegen eines Einund «Damaged Soul» (mit irrlichbruches drei Monate im Knast landete. Butler arbeitete in einem Büro, ternder Bluesharp) sind Sabbath ganz bei sich und demonstrieren, waaber damit war es vorbei, als er eines Tages erst am Nachmittag und darum sie die Väter des Heavy Metal sind und nicht einfach eine Hardzu sturzbetrunken zur Arbeit erschien. «Als ich mir dann die Haare Rock-Truppe. Ihre Stärke liegt eben nicht in der Härte, sondern in der wachsen liess, waren alle Anstellungschancen sowieso gestorben. Ich Schwere. Zähflüssig wie Lava bahnen sich die Stücke ihren Weg, hielt den Gedanken nicht aus, mit 17 Jahren einen Job anzutreten, den schleppend, stetig, unaufhaltsam – eine Lehrstunde für alle nachgeich dann wie alle anderen bis zur Rente ausüben müsste.» Auch Tony borenen Bands. Viele Songs dauern sieben Minuten und mehr und Iommi hatte gleich nach dem Schulabgang Arbeit gefunden. Ironischerbeinhalten Jam-Passagen, die Produzent Rubin von der Band verlangweise war es ein Arbeitsunfall, der ihn erst zum stilprägenden Gitarrite. Unvermittelt weicht das Dröhnen sphärischen Passagen und Solos, sten machte. Bei einem Unfall mit dem Schweissbrenner verlor er die die zurückführen zu den Anfängen, als Sabbath als Kinder ihrer Zeit Kuppen von zwei mittleren Fingern seiner linken Hand. Die Vorstellung, bei allem Teufelsgetue gern gniedelten wie die Hippies. «13» endet mit nie mehr Gitarre spielen zu können, sei schrecklich gewesen – alle hätden gleichen Regen- und Glockengeräuschen, die einst das Debütalten ihn trösten wollen: «Mit der Gitarre verdienst du sowieso nie etwas.» bum eröffneten. Es ist ein Spätwerk, das den Ruf seiner Schöpfer inNur ein Manager in seiner Fabrik erkannte, was der Verlust bedeutete: takt lässt und einen anständigen Schlusspunkt der Geschichte von «Er brachte mir eine Platte von Django Reinhardt, dem berühmten GiBlack Sabbath bildet. (ash) psy-Jazz-Gitarristen. Auch er hatte zwei Finger verloren und gehörte trotzdem zu den ganz Grossen. Das gab mir Flügel.» Iommi bastelte sich Black Sabbath: «13» (Vertigo/Universal)

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das nicht sehen und hat – wie immer – das hineingelesen, was es halt darin sehen wollte. Das erste Stück, das wir vom neuen Album veröffentlicht haben, heisst ‹God is Dead?›. Natürlich wird der Titel bei gewissen Leuten für Aufsehen sorgen. Dagegen haben wir nichts. Aber das Stück stellt ganz andere Fragen. Es dreht sich um 9/11.» Gewollt oder nicht, die zappendustere Musik, gekoppelt mit dem ikonenhaften Hexen-Cover des Debüt-Albums von 1970, traf mitten ins Schwarze des Zeitgeistes. Die Blumen-Utopie der Hippies war im Dezember 1969 mit der Ermordung eines Fans beim Rolling-Stones-Auftritt am Free Festival von Altamont endgültig vermodert. Greuelstories vom Vietnamkrieg und die brutale Unterdrückung des Prager Frühlings durch Sowjettruppen schürten Zorn, Ohnmachtsgefühle und Revolutionsgelüste, zu denen sanfte Flower-Power-Slogans nicht mehr passten. Da kam die Ekstase der Düsternis, die Black Sabbath mit tonnenschweren Grooves, finsteren Texten und Kreuzen auf der Brust zelebrierten, gerade recht. Das erste Album entstand in gerade mal zwölf Stunden in einem Studio in London. Die Band hatte einen Umweg gemacht auf ihrem Weg in die Schweiz, wo sie im Hirschen mitten im Zürcher Niederdorf ein mehrwöchiges Engagement als tägliche Live-Attraktion antreten sollte. Bei der Erinnerung daran brechen Butler und Iommi in nostalgisches Gelächter aus: «Furchtbar war das, und auch wieder richtig toll», grölt Butler. «Dort fanden wir erst unseren Stil. Jeden Abend mussten wir sechs Sets à je 45 Minuten spielen. Weil wir nicht genug Songs dafür hatten, haben wir oft endlos gejammt. So haben wir unseren Groove gefunden. Wir waren pausenlos zugekifft. Anders hätten wir das nie ausgehalten. Ozzy ist einmal mitten im Song eingepennt. Mehrmals passierte es uns, dass wir vor lauter Bekifftheit und Müdigkeit nicht mehr wussten, wie ein Stück aufhörte. Erst wenn das Licht anging, ahnten wir, dass es fertig war.» Fünf Alben lang, von «Black Sabbath» im Jahr 1970 bis «Sabbath Bloody Sabbath» drei Jahre später genossen Black Sabbath eine kreative Blütezeit. Wie es damals noch vorkam, fiel innovatives Schaffen mit dem Geschmack eines grösseren Publikums zusammen. Die Band hielt es allerdings für einen Scherz, als ihnen während eines weiteren EngaHuch, was kommt vom Himmel her: Iommi (vorn) und Butler (rechts) in jungen Jahren. gements, diesmal in Hamburg, eröffnet wurde, dass ihre erste Platte in die englische Top 10 gekracht sei. Heute stehen Black Sabbath im Pantheon des schweren Rock mit ihrem minimalistischen Hypnose-Groove streicht und mit den nackten Füssen in der Luft wedelt. «Das war geneben Led Zeppelin, Cream und Deep Purple ganz zuoberst. Mit dem wöhnlich seine Arbeitsposition», grinst Iommi. «Am Anfang war es Hinauswurf von Ozzy (die anderen hielten seinen Drogen- und Alkonicht leicht. Er wollte uns zur Arbeitsmethode unserer frühen Tage zuholkonsum nicht mehr aus) Ende der Siebzigerjahre war die grosse Schaffensphase vorbei. Derweil Ozzy als SoloStar die Stadien weiterhin füllte und mit sei«Warum soll ein Stück nicht acht Minuten dauern? Ihr seid nem Lebensstil für Schlagzeilen sorgte, lang, Black Sabbath. Ihr könnt machen, was ihr wollt.» bevor MTV daraus einen zum Heulen lustigen Reality-TV-Schlager machte, bemühten sich rückführen. Endlose Jams, schauen, was rauskommt. ‹Warum soll ein seine alten Kollegen in verschiedenen Personalkonstellationen mit Stück nicht acht Minuten dauern?›, sagte er. ‹Ihr seid Black Sabbath. Ihr unterschiedlichem Erfolg um die Publikumsgunst. Heute operiert die könnt machen, was ihr wollt.› » Der wichtigste Beitrag, den Rick geleisBand längst jenseits aller Moden und ist so etwas wie eine Alternativtet habe, betreffe allerdings Ozzy, den Sänger: «Er hat ihn tatsächlich Sekte geworden, die immer wieder neue Generationen von Jüngern zu dazu bewegen können, sich an eine Stimmlage zu halten, die er auch hypnotisieren vermag. meistern kann. Du weisst ja, wie Ozzy ist. Will höher und höher hinaus, bis er ‹up his own arse› verschwindet. Das passiert ihm diesmal nicht. Wenn der Produzent mit den Füssen wedelt Und darum klingt er frisch wie seit Jahren nicht mehr.» Ein Fan wurde auch Rick Rubin – allerdings erst, als er die UrsprünTony Iommi ist aufgrund des Krebses natürlich nicht wirklich frisch. ge der Rockmusik zu erforschen begann. Als Produzent von RunDoch nach einer Strahlen- und Chemotherapie geht es ihm wieder besD.M.C., Beastie Boys und LL Cool J prägte der Amerikaner die frühe ser. «Es ist eigentlich ganz okay», sagt er. «Ich werde schnell müde, muss Hip-Hop-Geschichte wie kein anderer. Seither hat er Johnny Cash zu mit meinen Kräften gut haushalten und aufpassen, was ich esse. Aber einem grandiosen Finale verholfen, dank Adeles «21» die Hitparaden ich brenne darauf, die neuen Songs auf die Bühne zu bringen.» dominiert und ZZ Top zu ihren Anfängen zurückgeführt. Um Black ■ Sabbath hat er sich schon lange bemüht. Ein amüsantes Video zeigt Rubin und Sabbath bei der Arbeit. Sabbath – mit dem statt Ward beigezogenen Ex-Rage-Against-the-Machine-Drummer Brad Wilk – sitzen im Kreis und spielen, derweil Rubin auf dem Bauch liegt, den langen Bart


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Fremd für Deutschsprachige Schnipp-Schnapp Eltern fällt es oft schwer, die Fragen ihrer Kinder nach Gott und dem Glauben zu beantworten – oder die daraus abgeleiteten, nur allzu konkreten Forderungen an den Menschen zu erklären. So rücken viele hilflose Eltern, wenn es an die Beschneidung ihres Jungen geht, nicht mit den blanken Tatsachen raus. Sie sagen zwar das Wort «Synet», für ihn deutlich hörbar, am Telefon, beim Familientreffen und vor dem Gutenachtkuss. Die dunkle Ahnung davon, was dieses für ihn bedeuten wird, kommt jedoch von einem belauschten Pausenplatzgespräch zwischen Drittklässlern und bleibt zu Hause erstmal unbestätigt. Spricht er die Eltern darauf an, was denn beim Synet genau passiert, werden sie von Hüsteln und Stottern erfasst. Sie kreiseln um das Thema, streicheln seine Stirn und vermögen weder zum medizi-

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nischen Vorgang noch zur religiösen Bedeutung Substanzielles zu sagen. Stattdessen sorgen sie für Ablenkung, indem sie mit Belohnungen wedeln und in bunten Farben das Fest schildern, das sie danach geben werden – nur für ihn! Und so kommen sie, im Bestreben, ihr Söhnchen wie sich selbst zu beruhigen, mit unbeholfenen kleinen Lügengeschichten an: Wir gehen in den Luna-Park, mein Schatz. Wir fahren zum See, mein Herz, wo wir schwimmen und Eis essen werden. Der Doktor schneidet nur das kleine Zöpfchen im Nacken ab, meine Seele. Und all dies geschieht ja auch. Davor. Mit sieben Jahren, im Zenit seiner Spiderman-Phase, wird nun der Sohn meiner Emmenbrücker Cousine beschnitten. Er schwärmt für allerlei aus der Marvel Universe ProduktePalette. Und mir schwant Übles: Eine prima Basis für die elterliche Trost- und Flunkergeschichte … Sie werden dem Kleinen das Vertrauen nehmen und seinen Helden obendrauf. Denn keine FLIK FLAK Armbanduhr GO-SPIDEY, keine Spiderman-Kinderschuhe BLINKIES, kein DICKIE Spiderman-RennstreckenSet SHOWDOWN macht dich mehr froh, wenn die Fahrt vom Spielzeugparadies in die Klinik führt. Und dein Held nichts anderes war als Teil der Verschleierungsgeschichte. Als meine Cousine die Beschneidungspläne ausführt, rütschle ich auf meinem Stuhl herum und bemühe mich um ein gleichmässig erwachsenes Gesicht. In meinem Kopf aber

springt ein Spiderman mit einem kleinen Zöpfchen im Nacken ziemlich unkontrolliert von einem Wolkenkratzer zum nächsten, auf der Flucht vor seinem Widersacher: noch einem Spiderman, der, mit Beschneidungsmesser und Softeis ausgerüstet, hinter ihm her ist. Mit welchen Worten kann ich die Cousine zur Ehrlichkeit motivieren, ohne besserwisserisch und respektlos zu sein (soso, die kinderlose Akademikerin weiss also mal wieder besser Bescheid über Erziehungsfragen)? An der Ecke über einer grossen Leuchtreklame gleitet Zöpfchenman ab – und fängt sich im letzten Moment mit einem Spinnenfaden. Während ich noch immer angestrengt überlege, wie ich meiner Cousine diese Ladung selbstgebastelte Sozialarbeit andrehen kann, hat sie längst angefangen, von Fussball zu reden: Sie und ihr Mann haben dem Kleinen, der jetzt immer im Spiderman-Kostüm tschutten geht, versprochen, ihn bei den Knirpsen des Fussballvereins anzumelden. Als Belohnung für die tapfer überstandene Bezwickung seines Zipfelchens. Ich bin erleichtert: Der Kleine kriegt die Wahrheit in Kinderformat, und Spiderman ist aus dem Schneider. Wenn auch nicht sein Zöpfchen. SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 302/13


Film Voll aus dem Leben gegriffen Regisseur Antej Farac hatte in München Alkoholiker, Drogensüchtige und Sozialfälle als Nachbarn. Er hat Stars des deutschen Films unter sie gemischt und aus dieser Kombination einen ungeschönten Film gemacht.

Gleich zu Beginn wird die Scheisse mit der Schaufel weggeschafft: Der Hausmeister findet ein Häufchen im Hof, und er weiss: Das ist keine Hundekacke, sondern die eines Menschen. Er schimpft so laut, dass alle Balkontüren aufgehen, eine Gestalt nach der anderen heraustritt und zurückschimpft. In einem einzigen Bild zeigt sich, wer da alles haust: Trinker, Drogensüchtige, Psychopathen und allerlei andere Gestalten, die im Leben irgendwie durch die Maschen gefallen sind. Die Stadt München hatte das ehemalige Hotel Annelie gemietet und in ein Obdachlosenheim umfunktioniert, bevor es abgebrochen wurde. Im Spielfilm «Annelie» spielen sich die Bewohner selber oder gegenseitig – zum grössten Teil. Regisseur Antej Farac hat auch ein paar Schauspieler daruntergemischt: Georg Friedrich, einst Shootingstar an der Berlinale und bekannt aus Filmen von Michael Haneke und Ulrich Seidl, Renate Muhri, die ihre Karriere unter Rainer Werner Fassbinder begann und die Schweizer Theaterschauspielerin Irène Fritschi. Erfunden ist – abgesehen von einem Kiss-Konzert – nichts im Film: Alles hat irgendwann mal stattgefunden im Obdachlosenhaus. «Leider», sagt Antej Farac. Sein Team und er haben es miterlebt, weil sie jahrelang Nachbarn waren und mit den Sozialfällen von gegenüber mit der Zeit Freundschaft schlossen. Auch ein Kind lebt inmitten der Hartz-IV-Empfänger: Kim, die tatsächlich in diesem Haus geboren und aufgewachsen ist. «Ich habe sie als kleines Mädchen gesehen, wie sie im Müll gespielt hat», erzählt Farac. «Sie war der Hauptgrund, wieso wir uns mit den Bewohnern angefreundet haben. Wir haben auf unserer Seite immer wieder Partys gemacht, und viele Freunde von mir hatten Kleinkinder. Da haben wir die Kim immer auch eingeladen, auf unserer Seite zu spielen.» Da und dort sind Dinge im Film etwas überzeichnet: Wenn etwa Franz und Güni im Streichelzoo herumspazieren und schliesslich eine Ziege mitnehmen, damit auch bei ihnen mal Fleisch auf den Tisch kommt, so waren es in Wirklichkeit Fische und Enten, die ihr Leben lassen mussten. Und dann ist da Max (Georg Friedrich). Ein Junkie, der auch von den Randständigen diskriminiert wird, denn Alkohol ist doch nochmals etwas anderes als Heroin, finden die Säufer. «Als Junkie bist du wie ein Tier», sagt Max als Erzähler, während wir mit ihm durch die Strassen pirschen, «geleitet von deinem kleinen Reptiliengehirn auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Irgendjemandem, den du anschnorren kannst». Diese Mischung von Schauspiel und dem echten Leben erinnert an Ulrich Seidl: Gerade eben haben sich in seinem «Paradies: Liebe» weisSURPRISE 302/13

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VON DIANA FREI

Eine muntere Gesellschaft auf der Schattenseite des Lebens.

se Frauen – von Schauspielerinnen gespielt – mit echten kenianischen Beach Boys eingelassen. Die Realität wird in der Fiktion erforscht. Auch im Theater hat die Methode eine gewisse Tradition: Man denke an Christoph Schlingensief und seine echten Neonazis, Freaks und – ebenfalls Obdachlosen. Schon da hat sich gezeigt: Sind Story und Darsteller im wörtlichen Sinn aus dem Leben gegriffen, taucht schnell der Vorwurf auf, die echten Menschen würden als Material benutzt, um eine möglichst drastische Geschichte erzählen zu können. «Der Vorwurf kommt aus einem absoluten Missverständnis für die Haltung hinter der Sache heraus», sagt Farac, «wegzuschauen ist wesentlich einfacher, als sich mit der Realität auseinanderzusetzen, wie wir es getan haben.» Und er hat es bewusst nicht in einem Dokfilm getan: «Es gibt den Schrecken der Realität, den ich vermeiden wollte. Der ist schlimmer als ein Spielfilm, und die Menschen wenden sich gerne von Problemen ab. Viele Leute haben sozial Bedürftigen gegenüber eine ablehnende Haltung. Als ob Armut eine Grippe wäre, die überspringen kann.» Und so inszeniert Antej Farac die «Annelie» rasant mitsamt dem ganzen dramatischen Potenzial ihrer Bewohner und macht einen grossen Bogen um jegliche Sozialromantik. Er zeigt eine Wahrheit, die komisch und tragisch zugleich ist und damit unter die Haut geht. ■ Antej Farac: «Annelie», Deutschland/Schweiz 2012, 111 Min., mit Georg Friedrich, Renate Muhri, Irène Fritschi und Hartz-IV-Empfängern. Der Film läuft ab 20. Juni in mehreren Deutschschweizer Städten. www.annelie-derfilm.de

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TINA RUISINGER BILD:

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Kultur

Huch! Wie kann man nur so gegensätzlich sein.

Scheitern? Lebenskrise? Diese Darstellerinnen sehen nicht danach aus.

Buch Zwergenweitwurfweltmeister

Hörspiel An den Haaren hinaufgezogen

Die Zeichengeschichte «Du schon wieder» erzählt eine witzige Parabel über das Spiel der Gegensätze.

Die Welt von oben zu betrachten, kann betörend und gefährlich zugleich sein. Das SchalkTheater in Zürich spricht gar eine «Warnung vor dem Fliegen» aus – in einem Live-Hörspiel.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON MONIKA BETTSCHEN

Rocki ist gross, ein wahrer Riese, zu dem seine kleinen Eltern fassungslos aufschauen. Fredo dagegen ist klein, ein Winzling, nicht nur in den Augen seiner grossen Eltern. Und niemand weiss so recht etwas mit ihnen anzufangen, weder die Schule noch ihre Familien. Darum schicken diese die «missratenen» Kinder in die Welt hinaus. Nun möchte man meinen, dass sich Gegensätze anziehen. Doch so einfach ist es nicht. Denn Rocki schaut nicht zu Fredo hinab, und dieser nicht zu Rocki hinauf. Das ist unter ihrer Würde. Und weil sie sich nicht ausstehen können, gehen sie getrennte Wege. Rocki verschlägt es nach Schweden, wo er alles daransetzt, der stärkste Mann der Welt zu werden. Und Fredo eröffnet in Zypern ein Restaurant mit Mini-Portionen für Maxi-Personen. Aber die Redensart von den Gegensätzen ist eben doch mehr als nur eine Platitüde. Nachdem ihre Träume geplatzt sind, treffen die beiden in der Heimat wieder aufeinander. Über Schimpfen, Lachen und Weinen finden sie doch noch zueinander – und zu einer gemeinsamen Zukunft durch die Teilnahme an der ZWWWM, der Zwergenweitwurfweltmeisterschaft. Und da niemand so elegant fliegt wie Fredo, und niemand so kraftvoll wirft wie Rocki, werden sie zu reichen und gefeierten Weltstars. Doch dann führt eine einzige fiese Journalistenfrage zum Zerwürfnis, und schon treibt es sie wieder auseinander, Fredo in die Südsee zu Strand, Autos und Frauen, Rocki nach Alaska, wo er sich in einem Iglu traurig der Meditation hingibt. Bis die beiden sich endlich, im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe, wieder begegnen, liegt noch ein weiter Weg vor ihnen. Aber auch dann ist es noch lange nicht sicher, ob dies das letzte Kapitel dieser an Einfällen reichen Geschichte ist. Der Autor Zoran Drvenkar und der Zeichner Ole Könnecke haben eine, ganz im schlichten Schwarz auf Weiss gehaltene, Parabel geschaffen, die einerseits witzig ist und anderseits auf eine unaufdringliche, zeigefingerlose Weise zum Nachdenken anregt – nicht nur leicht verständlich für Kinder, sondern auch eine wunderbare Einladung für Jung und Alt, gemeinsam das Spiel der Gegensätze zu entdecken.

Ein Mann mit Hut steht auf einer Klippe, fühlt sich leicht wie ein Vogel, springt – aber anstatt zu fliegen, zerschellt er unten am Strand neben einer Flasche Sonnenmilch, Lichtschutzfaktor 18. Die Texte von Fritz Sauter, die vom SchalkTheater in Zürich gespielt werden, sind schaurig und humorig zugleich. Lauscht man dieser eigenwilligen Kurzprosa, kann es gut sein, dass sich eine Bildwelt ähnlich jener des Surrealisten René Magritte vor das innere Auge schiebt, in der oft Männer mit Hut über Dächern schweben. «Warnung vor dem Fliegen» präsentiert Episoden und Szenenfragmente, die bisweilen die Grenze des Fantastischen überschreiten. So kündigt ein Mann einer Frau arglos eine Geschichte an, bei der ihr angeblich die Haare zu Berge stehen würden. Doch bevor er überhaupt zur Geschichte anheben kann, wird die Frau langsam, aber unaufhaltsam von ihren Haaren in den Himmel hinaufgezogen, verwandelt sich laut protestierend in eine Wolke und verschwindet. Diese luftigen Geschichten erzählen von Figuren im Schwebezustand. Und vom Scheitern. Das kommt nicht von ungefähr. Neben dem künstlerischen Ansatz ist auch die Zusammensetzung der Schauspielerinnen und Schauspieler des SchalkTheaters eine Besonderheit: 2002 gegründet, um Menschen nach einer Lebenskrise wieder in den Alltag zu integrieren, spielen auch in diesem Jahr Männer und Frauen mit, die an unterschiedlichen Punkten im Leben stehen. «Bewusst haben wir keine geschlossene Handlung, sondern offene Geschichten ausgesucht, um Darsteller und Publikum gleichermassen anzuregen, eigene Ausgänge zu ersinnen», sagt Regisseurin Nina Hesse Bernhard. Die Schauspieler sprechen die Texte in von der Decke hängende Mikrofone. Geräusche und musikalische Begleitung werden auf der Bühne erzeugt. «Warnung vor dem Fliegen» verspricht einen Abend voller skurriler und grotesker Wendungen, an dem man auch mal die Bodenhaftung verlieren darf. «Warnung vor dem Fliegen», Theater Keller 62, Rämistrasse 62, Zürich, Do, 20. bis So, 23. Juni (Matinée), unterschiedliche Anfangszeiten, Ticketreservationen unter www.keller62.ch Das SchalkTheater freut sich über neue Mitspielende. Interessierte melden sich

Zoran Drvenkar (Text), Ole Könnecke (Zeichnungen): Du schon wieder.

unter n.hesse@schalktheater.ch oder 078 601 78 00.

cbj Verlag 2012, 14.90 CHF

www.schalktheater.ch

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Auf diese Art nicht mehr ganz fettfrei: Cannoli mit Ricotta-Füllung.

Piatto forte Frischer Käse aus Überresten Ricotta ist an sich nichts anderes als gesunde, geronnene Molke. Aber er kann zu Sündhaftem verarbeitet werden. VON TOM WIEDERKEHR

So ein Käse, wird sich der römische Schäfer gedacht haben, als er versehentlich die Molke nochmals aufwärmte und sie dabei gerann. Damit ist schon fast erklärt, was Ricotta ist und weshalb er so heisst. Ricotta – auf deutsch: nochmals gekocht – ist ein sogenannter Molkenkäse. Molke ist die wässrige Restflüssigkeit, welche bei der Herstellung von Käse übrig bleibt. Sie besteht aus 94 Prozent Wasser sowie Milchzucker und Eiweiss und ist nahezu fettfrei. Wenn die Molke nochmals erhitzt und dabei etwas Zitronensäure beigefügt wird, gerinnt das verbliebene Eiweiss und flockt aus. Diese Flocken wurden traditionellerweise mit Körbchen abgeschöpft und abgetropft. In der industriellen Herstellung reicht der verbliebene Eiweiss-Anteil in der Molke für die Gerinnung nicht mehr aus. Daher wird der Molke vor der Verarbeitung wieder etwas Milch oder Rahm beigefügt. Dadurch wird der Ricotta fein cremig, allerdings auch wieder etwas fetter. In vergangenen Zeiten war nicht nur die Herstellung anders. Auch die Haltbarkeit des Frischkäses war ein Thema. Daher hat man den Ricotta häufig im Ofen nachgetrocknet oder geräuchert. So entstand der Ricotta al forno oder affumicato, welcher sich dank seiner trockenen und kompakten Konsistenz bestens mit der Käseraffel über Pasta reiben lässt. Frischen Ricotta kann man süss oder salzig geniessen. Die wohl sündigste Variante sind die Cannoli: süsse, frittierte Teigrollen aus Sizilien, welche mit Ricotta und kandierten Früchten gefüllt sind. Aber auch bei der Herstellung von gefüllter Pasta wie Ravioli oder Cannelloni ist der Ricotta nicht wegzudenken. Zusammen mit verschiedensten Aromen wie frischen Kräutern, Spinat, abgeriebener Zitronenschale oder auch mit kräftigerem Käse wie Gorgonzola ist Ricotta die ideale Basis. Nicht Grundlage, sondern Hauptdarsteller ist der Ricotta bei Gnudis. Da wird der Ricotta zusammen mit Spinat und Parmesan ohne umhüllenden Pastateig «nackt» gekocht. Das braucht zwar ein bisschen Fertigkeit, damit diese zarten Gebilde beim Kochen nicht auseinanderfallen. Aber purer kann man diesen italienischen Frischkäse kaum geniessen.

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Applied Acoustics GmbH, Gelterkinden

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Buchhandlung zum Zytglogge, Bern

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hervorragend.ch, Kaufdorf

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Coop Genossenschaft, Basel

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Cilag AG, Schaffhausen

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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Novartis International AG, Basel

11

Solvias AG, Basel

12

Ernst Schweizer AG, Metallbau, Hedingen

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confidas Treuhand AG, Zürich

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ratatat – freies Kreativteam, Zürich

15

G.A.T.E.S., Hôteliers & Restaurateurs SA, Basel

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Claude Schluep & Patrick Degen, Rechtsanwälte, Bern

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homegate AG, Adliswil

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Sprenger & Partner Bauingenieure SIA USIC, Arlesheim

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Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

21

IBP – Institut für Integrative Körperpsychotherapie, Winterthur

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Knackeboul Entertainment

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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Girod Gründisch & Partner, Visuelle Kommunikation, Baden

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Paul & Peter Fritz AG, Literary Agency, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Bezugsquellen und Rezepte: http://piattoforte.ch/surprise

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Ausgehtipps

Russkaja bringen Turbo-Polka ins Freiburgerland.

Schmitten FR Wodka am Röstigraben Das Gute am Dauerregen der letzten Monate ist, dass der Himmel nun völlig ausgetrocknet ist und die anstehenden Open Airs allesamt bei bestem Wetter über die Bühne gehen können. Das freut uns besonders für die kleinen, lokalen Festivals. Zum Beispiel das Schmittner Open Air, das zwischen Düdingen und Flamatt angesiedelt ist (falls Sie in Geografie nie genügende Noten hatten: knapp diesseits der Sprachgrenze im Kanton Freiburg). Am Donnerstag geht’s los mit den Lokalmatadoren Philipp Fankhauser und den Kummerbuben, am Samstag kommen Oldies-Fans bei Animals and Friends (aber ohne Eric Burdon) und der Pink-Floyd-Tribute-Truppe Crazy Diamond auf ihre Kosten. Unsereiner empfiehlt allerdings besonders den Freitag, denn da rocken The Monofones die Garage und Clutch verbinden Stoner-Rock mit Blues. Damit nicht genug: Vorzeige-Immigrant Müslüm verpasst dem Publikum sein Süpervitamin und als Hauptact bringen Russkaja (bekannt aus der TV-Sendung «Willkommen Österreich») die Bühne mit Turbo-Polka zum Beben. Spätestens dann erübrigt sich auch die Frage ob Bier oder Wein, Santé oder Prost. Denn dann gibt’s nur noch Wodka. Nastrovje! (ash)

Marina Bar: Für Fernweh in der Grenzstadt.

In Bern tanzt der Bär auf Rädern.

Basel Strandgefühl der andern Art

Bern Mit Ollie und Kickflip durch Bern

Die Zwischennutzung im Basler Hafen ist gründlich schiefgegangen, an schönen Tagen aber gleichwohl einen Abstecher wert. Entlang des Klybeckquais, wo in den nächsten 20 Jahren ein neues Stadtquartier entstehen soll, waren ursprünglich zahlreiche kulturelle Projekte geplant. Verwirklicht wurden bislang eine Skateanlage, ein Stadtgarten – und die Marina Bar. Die alternative Bar serviert Currywurst mit hausgemachter Sauce, lokales Bier und freie Sicht auf den Rhein. Ein abgeschiedener Ort, ausserhalb der Enge der Grenzstadt, der Sehnsucht und der Ferne zugewandt. Wie gemacht für träge Sonntage, um die Gedanken wandern zu lassen. Gerade noch in Basel, aber auch schon ziemlich weit weg. (reb)

Wem gehört die Stadt? Den Bernburgern? Den Bünzlis? Den Tanz-dich-frei-Massen? Das hängt vom Blickwinkel ab. Aus jenem von Nick Heubergers Kamera ist der Fall klar: den Skatern. Auch oder gerade wenn Sie zu denjenigen gehören, die sich ihren Weg durch Bern üblicherweise ohne Ollies und Kickflips bahnen, lohnt sich der Blick aus der Skateboardperspektive: In seinem neusten Film «Bearings» zeigen Heuberger und seine Mitskater die Stadt für einmal aus einer ganz anderen Optik. Sie wird darin, in ihren Worten, «Quartier für Quartier auf alles Skatebare durchkämmt». Im Reitschul-Kino feiert der Film diesen Monat Weltpremiere. Danach ist er auch auf Youtube zu sehen. Besser aber, Sie kaufen ihn gleich auf DVD (erhältlich im Kitchener Sporting Goods und im Doodah), denn, mal ehrlich: Bern ist zu schön für Youtube-Bildqualität – egal aus welcher Optik. (fer)

Marina Basel. Geöffnet an schönen Tagen von Mittag bis Mitternacht.

«Bearings», Film von Nick Heuberger, 45 Min., Premiere am Do, 20. Juni, 20.30 Uhr im Kino in der Reitschule.

Anzeigen:

Schmittner Open Air, 20. bis 23. Juni, Schmitten FR. www.schmittneropenair.ch

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Jim Yellowhawk demonstriert Lakota-Tänze. Manchmal.

Zürich Indianergeburtstag

Psychedelischer Koloss: Chris Goss, der Master of Reality.

Düdingen/Zürich Der Taufpate des Wüstenrock Chris Goss ist ein Koloss. Sowohl von seiner Statur her als auch in Sachen Status. Manche bezeichnen ihn als «Taufvater des Wüstenrock», denn Goss produzierte Alben von Grössen wie Kyuss, den Queens Of The Stone Age und Mark Lanegan. Seine eigene Band sind seit gut 25 Jahren die Masters Of Reality. Der Konzertbesuch empfiehlt sich nicht nur für Anhänger harter Klänge, denn anders als seine Stoner-Schützlinge zieht er die psychedelische Melodie dem Lärm vor. Live allerdings klingt das dann doch – nun ja – kolossal. (ash) Di, 25. Juni, 20.30 Uhr, Bad Bonn, Düdingen; 26. Juni, 19.30 Uhr, Komplex Klub, Zürich.

Vor 50 Jahren hiess es noch Indianermuseum, heute etwas gepflegter Nordamerika Native Museum (NONAM), und es widmet sich seit zehn Jahren auch den Inuit. Kurz: Ein Ort, um fremde Welten kennenzulernen und sein Wissen fernab von Karl-May-Geschichten zu erweitern. Und das ist nicht nur für jene interessant, die gerne Indianerlis spielen und dabei jeweils die Cousine an einen Baum fesseln. Am Wochenende wird gefeiert: mit vielen indigenen Gästen aus Kanada und den USA, mit Kunst, Kultur und Kinderprogramm. Es werden traditionelle Geschichten erzählt und es wird Flöte gespielt; indianischer Reifentanz ist zu sehen und Kunsthandwerk gibt’s zu kaufen. Big Party. Abgesehen vom Fest: In der neuen Sonderausstellung «Lernen über Leben» geht’s um ein Leben ohne Schule. Davon träumen hierzulande manche Kinder vielleicht. Für die Kinder der Indianer und Inuit war es aber Wirklichkeit: Ob mit Tipi oder Teepuppen, uralten Geschichten oder geheimnisvollen Zeremonien – die Ausstellung zeigt, wie sie auch ohne Fräulein Lehrerin mehr als genug gelernt haben. Für alle, die schon immer wissen wollten, weshalb ein Tipi mehr ist als nur eine Behausung, warum Fragen für Kinder tabu waren und was es mit der Menschenfresserin Dzunukwa auf sich hatte. (dif) Nordamerika Native Museum: Jubiläumswochenende Sa, 15. Juni, 13.30 bis 17 Uhr, So, 16. Juni, 11 bis 17 Uhr, Seefeldstrasse 317, Zürich. Sonderausstellung «Lernen über Leben» noch bis 28. Februar 2014.

CAPRICONNECTION

Zürich Romantik vs. Ökonomie

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Tristan und Isolde? Die Theatergruppe CapriConnection serviert im Rahmen der Festspiele Zürich eine neue Version der episch-tragischen Liebesgeschichte um das Paar, das nicht zusammenfinden kann. So stellen sie die scheinbare Harmonie bereits im Titel in Frage: «Tristan oder Isolde» heisst ihre Interpretation. Gebaut haben sie ihr Stück auf Überresten der umstrittenen Wagner-Kultinszenierung von Christoph Marthaler an den Bayreuther Festspielen 2005. Das ist auch wortwörtlich zu verstehen: «In einer abenteuerlichen Aktion» hätten sie Teile des Bühnenbilds gerettet und nach Zürich verfrachtet. Entstanden ist dabei ein «Abgesang auf die romantische Liebe», missbraucht von der Ökonomie; ein Stück über Leidenschaft und Sehnsucht und deren Mühen mit unserer rationalen Welt. Und darüber, dass sie es doch immer wieder schaffen, sich ihren Weg durch das Kosten-Nutzen-Denken zu bahnen. (fer) «Tristan oder Isolde», ein Pastiche von CapriConnection, 20., 21., 22., 27., 28. und 29. Juni jeweils 20 Uhr, 23. und 30. jeweils 18 Uhr, Gessnerallee Zürich. SURPRISE 302/13

CapriConnection rettet Marthalers «Tristan und Isolde» – oder zumindest Reste davon.

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Verkäuferporträt «Ich bin gerne unter Menschen» BILD: ASH

Fabian Schläfli, 26, möchte trotz seiner Behinderung so selbständig wie möglich leben. Seine eigene Wohnung brachte ihn diesem Ziel ein Stück näher, doch hält das Leben immer wieder neue Schicksalsschläge für ihn bereit. AUFGEZEICHNET VON RETO ASCHWANDEN

«Als Zweijähriger hatte ich eine Hirnhautentzündung, an der ich fast gestorben wäre. Darum habe ich Mühe mit Lesen und Schreiben. Meinen Namen kann ich schreiben und auch einzelne Wörter lesen, aber bei einem Brief oder so verstehe ich die Zusammenhänge nicht. Wegen dieser Behinderung bekomme ich IV, eine Vollrente. Das heisst aber nicht, dass ich nicht arbeite. Bis vor Kurzem war ich beim Wohnwerk in Basel. Da habe ich nun gekündigt und dafür Anfang Juni bei Vebo angefangen, die Etikettierungen und Verpackungen macht. Surprise verkaufe ich seit etwa sechs Jahren, unter anderem am Bahnhof in Basel. Das macht mir Freude, vor allem, weil ich dadurch mit anderen Leuten in Kontakt komme. Ich bin gerne unter Menschen. Das ist auch der Hauptgrund, warum ich im Surprise Strassenchor mitmache: Ich kenne die Leute da und bin gerne mit ihnen zusammen. Die Lieder, die wir singen, gefallen mir. Teilweise finde ich sie etwas schwierig, weil ich keine Noten lesen kann, darum muss ich es mir von den anderen abschauen. Selber höre ich am liebsten Volksmusik: Oesch’s die Dritten, Hansi Hinterseer, Kastelruther Spatzen. Im November kommt Andy Borg mit dem Musikantenstadel nach Basel, da möchte ich hingehen, wenn ich es mir leisten kann. Das Geld reicht aber nie für alles, was ich möchte. Mein Ziel ist es, so selbständig zu leben wie die Leute, die sich in der freien Wirtschaft bewegen. Ein erster Schritt in diese Richtung gelang mir vor zwei Jahren, als ich eine eigene Wohnung beziehen konnte. Sie liegt in der Nähe des Dreispitz in Basel. Das Haus gehört der Christoph Merian Stiftung. Im Moment wohne ich mit meiner Schwester zusammen, die eine Lehre macht, aber Ende Jahr wird sie voraussichtlich ausziehen. Um selbständig wohnen zu können, habe ich eine Wohnschule gemacht. Die hat ein Heidengeld gekostet, und dort habe ich gelernt, wie man selber einen Haushalt führt: Wäsche machen, putzen, kochen und wie man ein Budget aufstellt. Heute mache ich den Haushalt grösstenteils selber, nur am Dienstag kommt die Spitex vorbei. Die hilft mir beim Böden putzen, den Kühlschrank sauber zu halten und kontrollieren, ob die Lebensmittel noch nicht über dem Verfalldatum sind. Zudem habe ich einen Beistand, der meine Finanzen verwaltet. Die IV geht direkt an den Beistand, der mir jede Woche Geld für Haushalt, Kleider und Sackgeld überweist. Seit zweieinhalb Jahren habe ich eine Freundin. Sie ist Brasilianerin, hat ebenfalls die Wohnschule gemacht und lebt in einer eigenen Wohnung in Liestal. Zusammenziehen gäbe Probleme, weil wir in verschiedenen Kantonen angemeldet sind. Wenn ich zu ihr ziehen würde, müsste die Beistandschaft gewechselt werden, und das wäre mühsam. Ich hatte früher mal in fünf Jahren fünf verschiedene Beistände: Die Erste war überfordert, die Zweite machte es eigentlich gut, wurde dann aber pensioniert. Der Dritte war an sich auch nicht schlecht, aber der wurde dann selber krank. Die Vierte wurde beurlaubt, als sie ein Kind bekam, und dem Fünften war es zu viel, wenn ich ihn einmal im Monat angerufen habe. Zudem hat er Geld unterschlagen, nicht nur bei mir, auch

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bei anderen. Am Schluss musste ich mit dem vor Gericht gehen. Ihm wurde dann gekündigt. Seit ich nicht nur in Basel wohne, sondern auch einen Beistand hier habe, läuft es gut, darum möchte ich nicht schon wieder wechseln. Anfang Jahr habe ich mir das Schien- und das Wadenbein gebrochen, als ich auf dem Weg zum Tram hingefallen bin. Ich dachte zuerst, es sei nur eine Verstauchung, aber die Knochen waren gebrochen. Sie mussten mich operieren, es wurden Schrauben und Platten eingebaut, dadurch wurde das Bein stabil, dafür wurde ich wetterfühlig. Mit der Zeit fand ich, das Zeug müsse raus, also wurde ich noch einmal operiert, aber danach wurde das Bein rot und schwoll an. Es stellte sich heraus, dass sich ein Infekt gebildet hatte. Also musste man das zuerst spülen, dann noch mal aufmachen und operieren, insgesamt fünf Mal in einem Monat. Jetzt geht es wieder einigermassen, zwei Stunden kann ich stehen, aber halt nicht mehr sechs, sieben Stunden wie davor. Darum setze ich mich beim Verkaufen zwischendurch hin. Zum Glück kaufen mir die Leute trotzdem Hefte ab.» ■ SURPRISE 302/13


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, U-Abonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Andreas Ammann Bern

Jela Veraguth Zürich

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Kurt Brügger Basel

Fatima Keranovic Basel

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Marika Jonuzi Basel

Peter Gamma Basel

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Jovanka Rogger Zürich

Ralf Rohr Zürich

Anja Uehlinger Aargau

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

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Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

302/13 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 302/13

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Geschenkabonnement für: Vorname, Name Impressum Strasse

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden (Nummernverantwortlicher), Florian Blumer, Diana Frei, Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Amir Ali, Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Renato Beck, Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Stefan Boss, Karin Freiermuth, Luc-François Georgi, Martina Huber, Lucian Hunziker, Hanspeter Künzler, Fabienne Schmuki Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 15000, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) l.biert@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 302/13


BILD: MARKUS CHRISTEN

Surprise Da läuft was

Grosser Auftritt vor der Kaserne in Basel: Die Surprise-Verkäufer und -Sängerinnen Manuela, Wolfgang, Sokha, Nadine, Rolf, Doris, Domi, Emsuda und Cabdisalan.

Theater Berührende Geschichten im «Salon Surprise» Glück und Tragik, direkt aus dem Leben gegriffen: Neun «Surprisler» hatten am Wildwuchs Festival in Basel einen grossen Auftritt. Die zahlreich erschienenen Zuschauer reckten die Hälse, als die Protagonisten in einer weissen, neun Meter langen Stretch-Limousine vorfuhren. Per Handkamera wurden Ihre ersten Dialoge aus dem Fond auf einen Bildschirm übertragen. Die Herren trugen Frack und Anzug, die Damen Abendrobe. Wolfgang wollte von Sokha wissen: «Bist du glücklich?» Am Ausgang des Stücks «Salon Surprise», das der Jungregisseur Lucius Heydrich mit den neun Surprislern in teils heiteren, teils nervenaufreibenden Proben über einen Zeitraum von vier Monaten einstudiert hatte, stand die Frage: Was ist mein persönlicher Reichtum? Die Geschichten, die die Surprise-Schauspieler danach sangen, erzählten und tanzten, waren allesamt authentisch, denn es sind die Geschichten ihres Lebens. Sie berührten uns schon während den Proben und erreichten am Tag X ebenso das Publikum. «Ich war tief beeindruckt und berührt von so viel Authentizität», sagte eine Zuschauerin nach der Vorstellung. Wolfgang, so erzählt er uns im Dialog mit Rolf auf der Bühne, ist reich an Gefühlen, an Erfahrung und Lächeln, aber auch an Wut und Enttäuschung. Manuela ist glücklich, wenn sie singen und tanzen kann. Sokha beglücken die Erinnerungen an seinen Vater, der ihm das

SURPRISE 302/13

Fischen und das Wissen über Heilpflanzen beigebracht hat. Doris hat das Land ihrer Träume in Griechenland gefunden und liebt dort das Licht und die Farben. Rolf lebt von seinen Ideen und liebt seine Freiheit. Er hat einen Energy-Drink erfunden und will damit ein Geschäft aufbauen – und mit dem verdienten Geld Gutes tun. Cabdisalan wünscht sich ein friedliches Somalia. In seinem Land hatte er Angst, aber keinen Stress. Hier hat er zwar keine Angst, aber dafür viel Stress. Emsuda hat einen offiziellen Brief bekommen, der ihr grossen Kummer bereitet – sie soll zurück in ihr Herkunftsland. Emsuda singt ein kroatisches Lied, das durch Mark und Bein direkt ins Herz geht. Dazu verteilt sie selbstgebackene «Herzgutzi» im Publikum. Nadine ist reich, da sie ein Dach über dem Kopf und genug zu essen hat. Domi zu guter Letzt rezitiert Gedichte. Er beschliess seine Performance mit Rilkes Worten: «… er lernte das Schweben, ich lernte das Leben, und wir haben langsam einander erkannt.» Wir sind sehr stolz auf das gelungene Theater. Herzlichen Dank an die Mitspielenden für das grosse Engagement und an die künstlerischen Leiterinnen des Wildwuchs Festivals für die Möglichkeit zur Teilnahme. Anette Metzner, Vertrieb Basel und Regie-Assistenz für «Salon Surprise»

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Macht stark.

www.vereinsurprise.ch â?˜ www.strassensport.ch â?˜ Spendenkonto PC 12-551455-3 Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, Tel. 061 564 90 90, Fax 061 564 90 99


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